Karma und die Vier Edlen Wahrheiten
Karma ist im Buddhismus ein zentrales Thema. Man kann seine Relevanz erkennen, wenn man betrachtet, wie Karma in die Vier Edlen Wahrheiten, also in die vier Tatsachen, die von allen hoch verwirklichten Wesen als wahr angesehen werden, hineinpasst. Diese vier Tatsachen sind das, was Buddha als Grundstruktur in seinen Unterweisungen lehrte.
Die erste Tatsache im Leben ist, dass das Leben schwierig und voller Probleme ist. Was sind das für Probleme? Es sind im Grunde genommen die Gefühle von verschiedenen Ebenen des Glücklich- und Unglücklichseins, die man jeden Moment empfindet. Das ist das wahre Problem.
Manchmal erlebt man ungeheure Leiden, Frustration und Schmerzen; das sind offensichtliche Probleme. Aber manchmal erlebt man auch ein Glück, das flüchtig ist, das nicht dauerhaft ist. Dieses flüchtige Glück bringt viele Schwierigkeiten mit sich; es wird daher „beflecktes Glück“ genannt, denn es ist mit Verwirrung befleckt. Das heißt: Es ist nicht nur so, dass dieses Glück nicht anhält, sondern dass es keine Befriedigung gibt. Wenn wir zufrieden sind, weil wir gut gegessen haben und uns satt fühlen, hält das nicht an; es löst das Problem, dass wir Hunger empfinden nicht dauerhaft. Je mehr man während einer Mahlzeit isst, umso glücklicher sollten wir werden; aber das ist nicht der Fall. Wenn man zu viel isst, wird einem übel. Es gibt auch keine Gewissheit darüber, was dem Glück folgt, wenn es endet. Man kann über etwas anderes glücklich sein oder sich unglücklich fühlen oder auch einfach neutral. Man kann in diesem flüchtigen Glück keine Sicherheit finden, darum ist es auch ein Problem. Man freut sich vielleicht über dieses flüchtige Glück als das, was es ist, aber es ist nichts, was die Probleme wirklich lösen kann. Man braucht immer mehr davon.
Die dritte Art von Problem liegt in der Erfahrung, in der man neutrale Gefühle hat. Man geht schlafen und fühlt sich irgendwie neutral, es ist nicht viel passiert. Aber wiederum löst das die Probleme nicht. Wir können schließlich nicht für immer schlafen.
Eine dieser Empfindungen – glücklich, unglücklich oder neutral – begleitet jeden einzelnen Augenblick der samsarischen Existenz. Diesen Umstand hat der Buddha als das wahre Problem beschrieben. Das Problem ist nicht, dass man keine Arbeit findet. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass hier über jeden einzelnen Augenblick gesprochen wird und nicht nur über zeitweilig auftretende Momente.
All diese problematischen Lebenserfahrungen entstammen einer Ursache. Eigentlich ist die Ursache dieser problematischen Lebenserfahrungen das Karma und die störenden Emotionen und störenden Geisteshaltungen. Lassen wir es dabei. Die wahren Probleme sind das Heranreifen von Karma und die wahren Ursachen sind Karma. Deshalb ist die wahre Beendigung die wahre Beendigung des Karma und der störenden Gefühle, und der wahre Pfad bzw. wahre Pfadgeist ist das Verständnis, das diese wahre Beendigung im eigenen Bewusstsein hervorbringt. Das Karma ist ein sehr zentrales Thema in den buddhistischen Unterweisungen. Deshalb ist es sehr wichtig, dieses Thema zu verstehen.
Die Definition von Karma
Wenn man die Definition von Karma betrachtet, fällt auf, dass es in den verschiedenen buddhistischen Überlieferungslinien unterschiedlich definiert ist, wie fast alles im Buddhismus. Bleiben wir hier bei der einfachsten Version, nach der das Karma ein geistiger Drang (tib. sems-pa) ist. Es ist der geistige Drang, der einen in die Richtung einer bestimmten Erfahrung bringt. Karma an sich ist keine Handlung. Die Leute sind sich oft über den Sachverhalt im Unklaren: Sie glauben, dass sich Karma auf Handlungen bezieht, vor allem da einige Übersetzer Karma als „Handlung“ übersetzt haben. Karma ist überhaupt keine Handlung. Karma ist der Drang zu handeln.
Dieser Drang, der uns zum Handeln bringt, ist ein Geistesfaktor und wird immer von drei anderen Geistesfaktoren begleitet. Der erste Faktor ist das Unterscheiden (tib. ‚ du-shes), gewöhnlich als „Wahrnehmung“ oder „Erkennen“ übersetzt. Man unterscheidet ein Objekt innerhalb eines Wahrnehmungsbereichs der Sinne; man unterscheidet diese Person von jener Person, man diese Sache im Gegensatz zu jener Sache wahr. Man muss das Objekt, auf das sich unser Handeln bezieht, von anderen Objekten unterscheiden. Der zweite Geistesfaktor ist eine Intention (tib. ‚ du-shes), die zugleich das Ziel ist: Was möchte ich tun? Wir möchten dieser Person Leid zufügen oder ihr helfen. Dann ist da als dritter Geistesfaktor eine Emotion, welche die anderen Geistesfaktoren begleitet. Es kann sich dabei um eine störende Emotion handeln, wie etwa Ärger, oder um eine positive Emotion, wie beispielsweise Liebe. Wir möchten einem anderen Menschen vielleicht Leid zufügen, weil wir ärgerlich auf ihn sind; oder wir möchten dem Menschen helfen, weil wir Liebe für ihn empfinden. Der Drang, der dazu führt, die Handlung auszuführen, ist das Karma.
Das buddhistische Verständnis von “Motivation”
Ein weiteres Wort in diesem Zusammenhang, das für uns im Westen manchmal unklar ist, ist das Wort „Motivation” (tib. kun-slong). In der westlichen Verwendung des Wortes bezieht es sich normalerweise auf die Emotion, die einer Handlung zugrunde liegt. Wir sagen, dass unser Handeln von Ärger oder Liebe motiviert ist. Wenn man allerdings das Wort „Motivation“ in einem buddhistischen Zusammenhang hört, handelt es sich dabei um die Übersetzung eines Wortes, das nicht die Bedeutung des Wortes „ Motivation“ im westlichen Sinn hat. Aus buddhistischer Sicht ist die Intention oder das Ziel der wesentliche Aspekt von „Motivation“; die Emotion, die diese Absicht unterstützt, ist zweitrangig. Es ist wahrscheinlich besser, dieses Wort statt mit „Motivation“ mit „motivierender geistiger Grundstruktur“ zu übersetzen.
Es ist hilfreich, alle geistigen Faktoren, die hier diskutiert werden zu differenzieren, weil wir sie dann entsprechend der aktuellen Situation anpassen können, wenn mit einem von ihnen etwas nicht stimmt. Wenn wir diese Differenzierung nicht vornehmen, dann ist es sehr schwierig zu verstehen, wie man den eigenen Geisteszustand korrigieren und entsprechend anpassen soll.
Materielles, verbales und mentales Karma
Man hat also einen Drang oder Karma. Wenn man von materiellem, verbalem und mentalem Karma spricht, ist der Drang gemeint, etwas zu tun, zu sagen oder zu denken. Das Letztere führt uns normalerweise nicht dazu, lediglich nur für einen Moment an etwas zu denken, sondern dass wir länger über etwas nachzudenken, wie etwa, wenn wir uns genau überlegen, wie wir uns an jemandem rächen können. Wenn wir von materiellen oder verbalen Taten sprechen, dann haben auch sie ihren Anfang in einem geistigen Drang, das heißt, sie haben ihren Ursprung in geistigem Karma. Der Drang etwas zu tun ist zuerst vorhanden. Zum Beispiel handelt es sich bei dem Gedanken „Ich werde jetzt jemanden anrufen.“ um einen geistigen Drang. Der Gedanke wird von seinen eigenen Emotionen begleitet, hat seine eigene Absicht und so weiter. Der Gedanke hat auch seine eigene Unterscheidung des Objekts. Das tatsächliche materielle oder verbale Karma ist also der Drang, mit dem man beginnt, zu handeln, und der Drang, der in jedem Moment vorhanden ist, um die Handlung aufrecht zu halten, bis sie beendet ist. Das ist das materielle oder verbale Karma.
Natürlich können sich die begleitenden Geistesfaktoren verändern. Wenn man zum Beispiel denkt, dass man mit einer Freundin spricht, aber deren Tochter den Telefonhörer abgenommen hat, und man meint, es wäre die Stimmer ihrer Mutter, und dann beginnt zu erzählen. Oder das ursprüngliche Gefühl für jemanden war Liebe, aber mitten in einem Gespräch werden wir dann auf unser Gegenüber ärgerlich. Oder man hatte die Intention etwas Nettes oder etwas Gemeines zu sagen, und während man spricht, wird man unterbrochen, und vergisst dann zu sagen, was man sagen wollte. All dies sind veränderliche Variablen und das Karma ist lediglich der Drang, etwas tun zu wollen, wie z. B. der Drang zu reden. Natürlich entsteht der Drang nicht aus sich selbst heraus – er entsteht zusammen mit all diesen anderen Geistesfaktoren – aber weder der Drang noch die Geistesfaktoren ist die Handlung selbst. Die Handlung an sich ist noch etwas anderes.
Die Handlung selbst nenne ich eine „positive karmische Kraft“ (tib. bsod-nams) oder eine „ negative karmische Kraft“ (tib. sdig-pa). Sie wird normalerweise als „Verdienst“ (engl. merit) oder „Sünde“ (engl. sin) übersetzt. Sie bezieht sich auf die Handlung an sich, die als karmische Kraft wirkt. Wenn sie beendet ist, entsteht ihre karmische Hinterlassenschaft, die mit dem geistigen Kontinuum fortbesteht – also mit dem karmischen Potenzial, den Tendenzen, Gewohnheiten und so weiter. Diese sind recht abstrakt. Ich möchte jetzt jedoch nicht mit einer Erörterung über die verschiedenen Arten karmischer Hinterlassenschaften beginnen, weil das zu umfangreich wäre. Wenn aber störende Emotionen und Geisteshaltungen diese Hinterlassenschaften aktivieren, reifen sie zu unterschiedlichen Konsequenzen in der Moment-für-Moment-Erfahrung heran.
Das Heranreifen karmischer Hinterlassenschaften
Zu was reift die karmische Hinterlassenschaft heran?
- Empfindungen von Glück, Frustration oder Neutralität – wir haben heute vielleicht gleiche getan wie gestern; aber gestern haben wir uns dabei glücklich gefühlt und heute fühlen wir uns dabei unglücklich. Das kommt durch das Heranreifen von Karma zustande. Ich verwende den Ausdruck „Heranreifen des Karma“ hier auf eine sehr weitläufige Art.
- Die Erfahrung der Wiedergeburtszustände und des Umfeldes, in das wir geboren werden und in welchem wir uns nach der Geburt wiederfinden – so finden wir uns in dem Körper wieder, den wir angenommen haben, mit dem Bewusstsein, was wir haben und mit der Intelligenz, die wir erhalten haben oder eben nicht erlangt haben. In unserer jetzigen Wiedergeburt erleben wir verschiedene Momente von Glück und Leid.
- Das Gefühl, dass man genau das tun möchte, was man gerade zuvor getan hat – zum Beispiel, „Ich möchte gerne jemanden anrufen; ich möchte dich jetzt am liebsten anschreien.“ „Was würdest du jetzt gerade gerne tun?“ „Ich möchte mich gerne am Kopf kratzen“. Das ist das Heranreifen von Karma: das, was man gerne tun möchte. Aus dem Gefühl, etwas tun zu wollen, kann der Drang entstehen, es zu tun. Etwas tun zu wollen (tib.`dod-pa) und der Drang es zu tun sind zwei verschiedene Dinge.
- Eine Situation in ähnlicher Weise erleben, wie wir eine vergleichbare Situation in der Vergangenheit erlebt haben, als uns ähnliche Dinge widerfahren sind – zum Beispiel, wir schreien vielleicht häufig andere Menschen an und nun erleben wir, dass wir selbst angeschrien werden. Oder aber wir sind immer nett zu anderen und jetzt erleben wir, dass andere Menschen uns nett behandeln.
All diese Dinge befinden sich in einem Auf und Ab, wobei sich alles in seinem eigenen Rhythmus bewegt. Das bedeutet, dass unterschiedliche Dinge zu unterschiedlichen Zeiten heranreifen, sich auf unterschiedliche Weise vermischen und man nie weiß, was als Nächstes kommt. Wir wissen nie, ob wir uns im nächsten Moment glücklich oder unglücklich fühlen werden, und wir wissen auch nicht, wie wir uns in fünf Minuten fühlen werden. Die Dinge und unsere Empfindungen verändern sich die ganze Zeit über. Jemand ruft an und möchte uns am Telefon etwas verkaufen oder… wer weiß, was als Nächstes passiert? Manchmal sind diese Dinge schön und manchmal sind sie sehr unangenehm. Es geht immer auf und ab und wir haben keine Ahnung, was als Nächstes kommt – das nennt man Ungewissheit. Das ist schrecklich, nicht wahr? Und nicht nur das, denn auf einer höheren Ebene gehen auch die Wiedergeburtszustände auf und ab.
Aus der Sicht des Mahayana gibt es noch etwas anderes, das aus dem Karma heranreift: Jeden einzelnen Augenblick bringen wir etwas hervor und erleben etwas, das ich nenne als
- „Periskop-Wahrnehmung“ – wir können nur ein kleines bisschen von dem wahrnehmen, was passiert, und wir wissen auch wenig über die Ursachen, warum etwas geschieht. Auch das ist ein Resultat von Karma. Wir haben keine Ahnung, weshalb Dinge passieren oder was die Resultate des Handelns sind, und deshalb haben wir diesen sehr beschränkten Tunnelblick. Auch das ist ein Resultat von Karma. Das macht uns zu „ eingeschränkten oder begrenzten Wesen“, Wesen mit beschränktem Geist, im Gegensatz zu den allwissenden Buddhas.
Alles, was als Karma heranreift, gehört zur ersten Edlen Wahrheit, also zur Wahrheit, die besagt, dass es wahre Probleme gibt. Ich glaube wir können so besser verstehen, was der Buddha mit seiner ersten Tatsache des Lebens, dass es wahre Probleme gibt, gemeint hat. Es ist das Heranreifen des Karma. Das Schreckliche ist, dass wir so voller Verwirrung sind, dass wir das Heranreifen des Karma verursachen, und somit ein verstärkter Drang entsteht, den Kreislauf am Laufen zu halten. Das wird in den zwölf Gliedern des abhängigen Entstehens beschrieben.
Es ist wichtig daran zu denken, dass in der Diskussion über Karma, von einem Drang gesprochen wird, der nicht nur destruktives Verhalten, sondern auch konstruktives Verhalten, das mit Verwirrung vermischt ist und unbestimmtes Verhalten, das mit Verwirrung vermischt ist, mit einschließt. Eine konstruktive Handlung, die mit Verwirrung vermischt ist, wäre z. B.: „Ich möchte dir helfen, weil ich möchte, dass du mich magst und freundlich zu mir bist.“ Oder: „Ich möchte dir helfen, damit ich mich gebraucht fühle, denn dann fühle ich mich wichtig und nützlich.“ Es könnte auch der Drang sein etwas Unbestimmtes zu tun, das weder konstruktiv noch destruktiv ist, wie etwa die Finger zu verdrehen, auf den Tisch zu klopfen oder mit den Knien zu wippen. Wir sind oft naiv, denn wir begreifen nicht wirklich, dass unser Verhalten andere Menschen vielleicht nervt, und dass wir dabei blöd aussehen.
Karma meint all diese verschiedenen Arten von Verhalten. Karma ist der Drang, der diese Verhaltensweisen verursacht.
Die vier allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Karma
Es gibt vier allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Karma.
Die Gewissheit eines Ergebnisses
Das zeigt sich auf eine sehr spezielle Art. Wenn wir unglücklich sind, dann ist es gewiss, dass dieses Gefühl der Unzufriedenheit aus vorhergegangenem destruktivem Verhalten herangereift ist. Es heißt nicht, dass wenn wir destruktive Handlungen begehen, dass es gewiss ist, dass diese zu einem Gefühl der Frustration heranreifen. Warum ist das so? Weil wir negatives Karma reinigen können. Wenn destruktives Handeln automatisch zu Unzufriedenheit und Leid bei uns führen würde, hieße dies, dass es unmöglich wäre, sein eigenes Karma zu reinigen. Wenn wir uns unglücklich fühlen, können wir sicher sein, dass es von destruktiven Handlungen stammt. Wenn wir uns glücklich fühlen, können wir sicher sein, dass es aus konstruktiven Handlungen herangereift ist. Es ist sehr wichtig, die Beziehung zwischen unserem Verhalten und dem Empfinden von verschiedenen Graden von Glück oder Leid, zu verstehen. Das heißt jedoch nicht, dass wenn wir destruktiv handeln, dies notwendigerweise dazu führen muss, dass wir uns unglücklich fühlen.
Lassen sie uns die vielen Varianten dieser Beziehung zwischen Empfindungen und Handlungen anschauen. Hier geht es nicht um das Glück oder Leiden, welches das eigene Verhalten für andere mit sich bringt; da gibt es keine Gewissheit. Zum Beispiel: Ich habe kürzlich meinen Computer in ein Geschäft gebracht, um ihn dort reparieren zu lassen; er wurde aus dem Geschäft gestohlen. Ich war sehr froh, denn der Computer ist immer abgestürzt und jetzt kann ich Geld von der Versicherung bekommen und mir einen neuen Computer kaufen. Der Diebstahl hat bei mir kein Leid verursacht. Diese Gesetzmäßigkeit des Karma bezieht sich auf das Glück oder Leid der Person, die die Handlung begeht.
Es ist auch nicht sicher, was wir fühlen, während wir eine bestimmte Handlung begehen. Das Gefühl ist nicht notwendigerweise auf die Handlung bezogen. Man kann sich zurückgehalten haben, eine unangemessene sexuelle Handlung zu begehen, wie etwa mit dem Partner einer anderen Person Sex zu haben, und sich dabei sehr unglücklich fühlen. Es ist also überhaupt nicht sicher, wie wir uns gleich, nachdem wir die Handlung begangen haben, fühlen werden. Beispielsweise: „Ich habe jemandem geholfen, und als er nach Hause ging, fühlte ich mich deprimiert.“ Und, wie bereits erwähnt, ist es noch nicht einmal sicher, dass diese Empfindungen später weiter heranreifen, denn wir können uns selbst von den karmischen Konsequenzen der eigenen Handlungen reinigen. Das Einzige, was sicher ist, ist Folgendes: Wenn wir diese Empfindungen erleben, egal wann, dann sind sie ein Ergebnis vorangegangener konstruktiver oder destruktiver Handlungen. Wenn wir uns unglücklich dabei fühlen, während wir uns selbst davon abhalten, einen Seitensprung zu begehen, dann ist dies das Heranreifen einer vorangegangenen destruktiven Handlung.
Um Sie nicht zu verwirren, sollte ich noch erwähnen, was eine konstruktive Handlung überhaupt ist. Sich davon zurückzuhalten, jemanden umzubringen ist eine konstruktive Handlung. Wenn ich nicht daran denke, andere Menschen umzubringen, dann ist die Tatsache, dass ich es nicht tue, keine konstruktive Handlung des Zurückhaltens. Eine konstruktive Handlung wäre, wenn eine Mücke um meinen Kopf herumschwirrt und ich sie erschlagen möchte und dann an die Konsequenzen des Tötens denke und es nicht tue. An diesem Punkt wird das Zurückhalten vom Töten zu einer konstruktiven Handlung. Das ist ein aktiver Vorgang, nicht einfach ein: „Ich töte sowieso niemals und deshalb kann ich auch schwören, es nicht zu tun.“ Das ist nicht stark genug. Natürlich ist es immer heilsam ein Versprechen abzugeben, aber eine wahre konstruktive Handlung ist es erst, wenn wir etwas tun möchte und sich dann zurückhält, weil wir die Konsequenzen der Handlung gewahr sind. Natürlich gibt es auch andere konstruktive Handlungen, wie wenn wir tatsächlich jemandem helfen oder etwas geben. Das ist eine andere Art konstruktiver Handlungen.
Eine Intensivierung der Wirkungen
Aus einer kleinen Handlung können große Folgen entstehen. Wir sagt etwas Gemeines zum Partner, und je länger wir warten, ohne den Konflikt zu lösen, desto größer wird der Ärger. Jeder kennt das aus eigener Erfahrung.
Wenn wir eine bestimmte Handlung nicht ausführen, werden wir auch nicht die Resultate dieser Handlung erleben
Viele Menschen sterben bei Flugzeugabstürzen, aber einige überleben dabei. Warum ist das so? Die Überlebenden haben keine Ursache dafür geschaffen, bei dem Unfall zu sterben, und deshalb erleben sie auch nicht das Resultat. Wenn wir uns selbst gänzlich vom Karma gereinigt haben, dann gibt es nichts mehr, vor dem wir uns fürchten müssten. Auch wenn wir an einen gefährlichen Ort gehen, an dem es Diebe gibt, werden wir nicht die Erfahrung machen, überfallen zu werden, da wir uns selbst von der karmischen Ursache dafür, überfallen zu werden, gereinigt haben. Niemand könnte zum Beispiel einen Buddha verletzen.
Wenn wir eine Handlung ausgeführt haben, wird die karmische Hinterlassenschaft dieser Handlung in unserem geistigen Kontinuum nicht von selbst verschwinden
Die Hinterlassenschaft wird kein beliebig hohes Alter erreichen, so dass sie schließlich gar nicht mehr zu einem Resultat heranreift. Die karmische Hinterlassenschaft wird schließlich zu einem Zeitpunkt zur Reife kommen, es sei denn, wir haben sie zuvor bereinigt. Es mag eine Million Jahre dauern, aber sie wird heranreifen, solange wir sie nicht gereinigt haben.
Das sind die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Karma. Eine Handlung kann auch zahlreiche Wirkungen über viele Lebensspannen verteilt nach sich ziehen. Das Beispiel, das in den Schriften dafür verwendet wird, ist Folgendes: Jemand hat einen Bodhisattva als Affen beschimpft und wurde als Auswirkung dieser Handlung dann fünfhundert-mal als Affe wiedergeboren. Ob wir solch einem Beispiel Glauben schenken oder nicht, ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass die ganze Sache nicht linear verläuft. Eine Handlung kann viele Wirkungen über viele Lebensspannen hinweg nach sich ziehen; und viele Handlungen können zusammengenommen eine bestimmte Wirkung verursachen. Dieses Beispiel ist dann hilfreich, wenn es uns dazu anregt, zweimal darüber nachzudenken, ob wir Polizisten als „Schweine“ bezeichnen.
Die vier Faktoren, die nötig sind, um karmische Wirkungen hervorzubringen
Wenn wir von karmischen Handlungen sprechen, müssen vier Faktoren erfüllt sein, um eine Wirkung hervorzubringen. Wenn einer dieser Faktoren fehlt, dann wird die Wirkung nicht so stark ausfallen. Das heißt jedoch nicht, dass es keine Wirkung geben wird.
- Die Grundlage – es muss eine Grundlage geben, also ein Wesen oder ein Objekt, auf das die Handlung ausgerichtet ist. Wir sind zum Beispiel der Meinung, jemand würde sich zu lange im Bad aufhalten und fangen an ihn anzuschreien, aber dann stellt sich heraus, dass dort niemand im Badezimmer ist. Das Herumschreien wirkt sich dann nicht so stark aus, als wenn wirklich jemand im Bad gewesen wäre. Damit sich die volle Wirkung der Handlung entfaltet, muss jemand unser Schimpfen hören, und begreifen, dass wir ihn meinen; und jemand muss auch daran glauben, dass unser Gezeter genau so gemeint war. Wenn die Person, die wir anschreien, taub ist, oder sie das Radio angestellt hat und das Gesagte nicht hört, dann wirkt es nicht so stark.
- Der motivierende Rahmen – eine Kombination von drei Bestandteilen. Zunächst einmal muss ein fehlerfreies Unterscheiden des Objekts erfolgen. Zum Beispiel glaube ich, dass dies hier mein Regenschirm sei, und nehme ihn mit. Aber ich habe mich geirrt und habe daher deinen Regenschirm aus Versehen mitgenommen. Wenn wir das aus Versehen machen, dann wirkt es nicht so stark, als wenn wir den besten Regenschirm in einem Schirmständer auswählen und ihn einfach mitnehmen. Aber auch wenn wir ihn aus Versehen mitnehmen, handelt es sich doch immer noch um eine destruktive Handlung. Es ist lediglich so, dass es eine nicht so stark wirkende Handlung ist. Der zweite begleitende Bestandteil ist die motivierende Absicht. Wenn keine Intention vorhanden ist, ist es so, wie wenn wir mit jemandem tanzen. Wir haben nicht die Absicht gehabt unserem Tanzpartner auf den Fuß zu treten; es ist aber passiert. Das wirkt sich weit weniger stark aus, als wenn wir ihm oder ihr absichtlich auf den Fuß getreten wären. Und der dritte Bestandteil ist: Wenn es um eine destruktive Handlung geht, muss eine motivierende störende Emotion vorhanden sein. Wenn wir eine Mücke erschlagen, die um den Kopf unseres Babys schwirrt, und wenn wir die Mücke nicht deshalb erschlagen, weil wir sie hassen, sondern um das Kind zu schützen und weil wir Liebe für das Baby empfinden, dann ist das ist etwas ganz anderes, als wenn wir die Mücke umbringen, weil wir sie hassen. Und das Ganze ist der zweite Faktor, der motivierende Rahmen.
- Das Durchführen einer Vorgehensweise, die bewirkt, dass die Handlung vonstatten geht – wir müssen tatsächlich etwas tun, damit die Handlung stattfindet. Wenn ich vorhabe, dich anzuschreien, aber dann klingelt jemand an der Tür oder das Telefon läutet, und ich habe dich nicht wirklich angeschrien, dann ist die Hinterlassenschaft nicht so schwerwiegend, wie wenn ich es getan hätte. Wenn ich nur davon träume, jemanden umzubringen, so habe ich es im richtigen Leben nicht unbedingt wirklich getan. Auch wenn das Träumen, jemanden umzubringen, eine destruktive Handlung ist, und von viel Ärger und anderen Geistesfaktoren begleitet sein kann – man kann im Traum mit voller Absicht jemanden töten – dann wiegt das nicht so schwer, wie tatsächlich eine Person umzubringen, weil keine Handlung vorliegt.
- Das Erreichen eines Abschlusses – wenn wir mit der Absicht auf jemanden schießen, um ihn zu töten, und dann unser Ziel verfehlen und den anderen nur am Arm treffen, dann hat die Handlung das eigentliche Ziel verfehlt. Die Handlung ist dann nicht so schwerwiegend, als wenn wir den anderen erfolgreich getötet hätten. Wenn wir jemanden dadurch verletzten möchten, dass wir zu ihm etwas Böses sagen, und es denjenigen dann gar nicht verletzt, weil er uns nicht glaubt oder was auch immer, dann wirkt sich unsere Sprache auch nicht so schwer, als wenn wir die Person tatsächlich mit unseren Worten getroffen hätte. Das gleiche gilt, wenn wir lügen und einem nicht geglaubt wird. Wir können erkennen, dass die Auswirkungen der eigenen Handlungen wirklich sehr komplex sind. Viele verschiedene Faktoren sind daran beteiligt.
Es gilt das auch für positive Handlungen. Wenn ich dir zum Beispiel helfen möchte, und habe dann stattdessen einer anderen Person geholfen. Oder ich hatte nicht direkt vor, dir zu helfen, aber das was ich getan habe, hat dir geholfen. Oder ich habe etwas getan, um dir zu helfen, und das hat dir dann gar nicht geholfen. So etwas passiert oft. Wir kochen ein schönes Essen für jemanden, um ihm eine Freude zu machen, und er verschluckt sich am Essen und muss ins Krankenhaus. Oder das Essen schmeckt ihm nicht. All das gilt für konstruktive Handlungen auch.
Werfendes und vervollständigendes Karma
Eine andere Aufteilung von Karma ist das, was man „werfendes und vervollständigendes Karma” nennt.
- Werfendes Karma (tib. ‘phen-byed-kyi las) ist ein Drang, der uns zu einem künftigen Leben bringt. Um es genauer zu sagen, handelt es sich dabei um den Drang etwas zu tun, der so stark ist, dass seine karmische Hinterlassenschaft uns in ein zukünftiges Leben werfen kann. Die karmische Hinterlassenschaft kann die Art der Wiedergeburt formen, die wir annehmen werden, z. B. als Hund oder Mensch. Das geschieht, wenn der Drang von einer sehr starken Intention und sehr starken begleitenden Gefühlen begleitet wird. Wenn man diesen Drang ausagiert und er sein intendiertes Ziel erreicht, kann es die Art von Wiedergeburt formen, die einen annimmt. Das wird als „werfendes Karma“ bezeichnet.
- Das vervollständigende Karma (tib. rdzogs-byed-kyi las) tritt dann ein, wenn die Intention oder Motivation und die begleitenden Emotionen nicht so stark sind. Das vervollständigende Karma wird sich auf die Umstände auswirken, die die Wiedergeburt in diesem speziellen Wiedergeburtszustand vervollständigen, z. B. ob man als streunender, räudiger Hund in den Straßen von Indien lebt oder ob man als Pudel im Haus einer wohlhabenden Person eines westlichen Landes lebt. Es gibt vier Möglichkeiten: Es kann ein positives werfendes Karma und ein negatives vervollständigendes geben, ein negatives werfendes Karma und ein negatives vervollständigendes Karma und so weiter.
Ausgeführtes Karma und verstärkendes Karma
Dann gibt es noch eine Einteilung, die wirklich sehr interessant ist, nämlich das „ausgeführte Karma” und das „verstärkendes Karma”.
- Ausgeführtes Karma (tib. byas-pa’i las) bezieht sich auf jeden materiellen oder verbalen karmischen Drang, der dazu geführt hat, dass wir tatsächlich eine körperliche oder verbale Handlung ausgeführt haben, egal ob sie vorher bedacht war oder nicht.
- Verstärkendes Karma (tib. bsags-pa’i las) bezieht sich auf einen karmischen Drang, der die karmischen Potenziale und Tendenzen steigert, die er im geistigen Kontinuum hinterlässt, indem er ihre Kraft auffrischt. Bei diesen karmischen Antrieben überlegt man vorher, ob man eine bestimmte Äußerung oder Handlung tut, und entscheidet sich dann dafür.
Aus dieser Art der Unterscheidung ergeben sich vier Möglichkeiten. Zum Beispiel: Ich habe geplant, dich zu verletzen oder dir zu helfen, aber ich habe den Plan nicht wirklich ausgeführt. Ich habe nicht vorgehabt, dir zu helfen, aber ich habe es dennoch getan. Ich habe vorgehabt, dir zu helfen oder dir Leid zuzufügen und habe es dann getan. Oder: Ich habe es nicht geplant und auch nicht getan.
Nur für Handlungen, die wir geplant haben und dann schließlich ausgeführt haben gilt, dass wir mit Sicherheit Wirkungen erfahren werden.
Nun ist es oft so, dass die Menschen diese Klassifikation missverstehen und meinen, dass es Handlungen gibt, die nicht zwangsläufig zu Wirkungen führen, und dass es andere Handlungen gibt, bei denen es sicher ist, dass sie bestimmte Wirkungen hervorbringen werden. Die Differenzierung, die hier aufgezeigt wird, ist jedoch eine andere – obwohl es natürlich schon so ist, dass wenn wir unser geistiges Kontinuum reinigen, wir die Wirkungen nicht erfahren muss. Aber wenn man in diesem Kontext von Wirkungen spricht, die mit Sicherheit eintreten werden, dann ist vor allem damit gemeint, dass die Wirkungen mit Sicherheit zur Reife kommen werden. Es gibt keine Gewissheit darüber, wann die Handlungen, die man plant und dann nicht ausführt, zur Reife kommen. Sie können jederzeit heranreifen – in diesem Leben, im nächsten Leben, in irgendeinem Leben danach. Wenn man nicht an zukünftige Leben glaubt – so wie das bei vielen Abendländern der Fall ist – dann ist es wichtig zu wissen, welche Handlungen in diesem Leben heranreifen. Denken Sie daran, diese müssen geplant und tatsächlich ausgeführt worden sein.
Karmische Handlungen: die Wirkungen dessen, was in diesem Leben heranreift
Im Allgemeinen gibt es vier Arten von karmischen Handlungen, entweder destruktive oder konstruktive, die Wirkungen hervorbringen, die in diesem Leben beginnen Früchte zu tragen. Das Heranreifen der Auswirkungen des eigenen Handelns kann sich jedoch auch in künftige Leben fortsetzen.
- Das erste Paar dieser karmischen Handlungen bezieht sich einerseits auf die destruktiven Handlungen, die von extremer Anhaftung an unseren Körper, unseren Besitz oder an unser Leben herrühren, und andererseits auf die konstruktiven Handlungen, die von extremer Gleichgültigkeit oder Geringschätzung gegenüber diesen Dinge herrühren. Zum Beispiel: Ich hänge so sehr an meinem Auto und du bist gegen mein Auto gestoßen, und deshalb gehe ich jetzt zu deinem Auto und zertrümmere es mit einem Baseballschläger. Oder es kann sein, dass ich so daran hänge, nicht krank zu werden, dass ich mich weigere, jemandem zu helfen, der eine ansteckende Krankheit hat. Auf der anderen Seite kann ich so wenig Anhaftung an meinen Körper haben, dass ich in ein brennendes Gebäude laufe und ein Kind rette, das darin eingeschlossen ist.
- Das zweite Paar bezieht sich einerseits auf destruktive Handlungen, die durch extrem böswillige Gedanken, die ich in Bezug auf andere Lebewesen hege, hervorgebracht wurden, wie zum Beispiel einen Häftling zu quälen. Andererseits bezieht sich dieses Paar auf konstruktive Handlungen, die durch außergewöhnliche Gedanken von Altruismus und Liebe hervorgebracht wurden, wie etwa einen verwundeten feindlichen Soldaten zu pflegen.
- Das dritte Paar beinhaltet destruktive Handlungen, die von dem starken Wunsch, einem Buddha, dem Dharma, dem Sangha oder den spirituellen Lehrern und so weiter zu schaden, herrühren, wie etwa ein Kloster zu zerstören und die Mönche zu töten. Es beinhaltet auch konstruktive Handlungen, die durch einen äußerst vertrauensvollen Glauben an die guten Qualitäten der drei Juwelen und der spirituellen Lehrer herrühren. Ferner beinhaltet es konstruktive Handlungen, wie beispielsweise eine Stupa zu errichten, eine Spende für die Produktion von einer Dharma-Publikation zu machen oder ein buddhistisches Zentrum aufzubauen.
- Das vierte Paar bezieht sich einerseits auf destruktive Handlungen, die auf einem gänzlichen Fehlen von Dankbarkeit und Respekt basieren. Hierbei richtet sich unser destruktives Handeln gegen Menschen, die uns im Leben sehr geholfen haben, wie etwa unsere Eltern oder Lehrer. Andererseits bezieht sich das Paar auch auf konstruktive Handlungen – die beispielsweise auf unsere Eltern und Lehrer bezogen sind – die von dem Wunsch begleitet werden, ihre Freundlichkeit zu erwidern. Es ist beispielsweise destruktiv, nicht für die eigenen Eltern zu sorgen, wenn diese alt und krank sind. Ebenso destruktiv ist es, die spirituellen Lehrer, nicht bei ihren Projekten zu unterstützen. Aber denken Sie an Folgendes: Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, die zuvor beschriebenen Projekte zu unterstützten, und das nicht einfach nur spontan tun oder wenn wir dazu gedrängt werden.
Faktoren, die die Stärke des Heranreifens von Karma beeinflussen
Die karmischen Hinterlassenschaften unserer Handlungen können zu etwas Kräftigem oder Gewichtigem heranreifen oder zu etwas Leichtem, Unwesentlichem. Das letzte Thema, das ich hier erörtern möchte, behandelt einige der unterschiedlichen Faktoren, welche die Stärke der Wirkungen betrifft, die aus positivem oder negativem Karma heranreifen. Diese Liste von Faktoren ist ziemlich lang.
- Der Natur der beteiligten Handlung oder des beteiligten Phänomens – der Faktor bezieht sich auf das Leiden oder Glück, welches die Handlung bei unserem Gegenüber verursacht. Jemanden umzubringen wirkt stärker, als dessen Auto zu stehlen. Jemandem das Leben zu retten wirkt stärker, als ihm Geld zu geben.
- Die Stärke der störenden oder positiven Emotionen, die den Drang begleiten – einem Menschen Leid zuzufügen und dabei sehr starken Hass zu empfinden, wirkt sehr viel stärker, als wenn wir diesen Menschen verletzen und dabei lediglich ein kleines bisschen Ärger empfinden. Um Zeit zu sparen, werde ich für die restlichen Punkte der Liste überwiegend Beispiele für destruktive Handlungen geben, aber man kann diese Beispiele genauso gut auf konstruktive Handlungen übertragen.
- Der verzerrte, unwiderstehliche Drang – oder anders ausgedrückt: Unabhängig davon, ob die Handlung von einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung begleitet wird oder nicht, glauben wir, dass alles, was wir tun, in Ordnung sei, und wir glauben auch, es sei gut das zu tun. Zum Beispiel ziehen wir in den Krieg, um in diesem Krieg alle Menschen einer bestimmten ethnischen Gruppe umzubringen, und wir sind der Überzeugung, dass unser Verhalten absolut richtig sei, und wir sind davon überzeugt, dass jeder, der etwas anderes glaubt, dumm sei. Das ist eine verzerrte, feindselige Geisteshaltung. Oder wir glauben, dass es ganz in Ordnung sei, Tiere zu töten, weil sie lediglich zu unseren Diensten und unserem Nutzen existieren würden. Wenn solch eine Geisteshaltung in uns vorhanden ist, dann wirkt sie schwer.
- Die tatsächliche Handlung – dieser Faktor bezieht sich auf die Schwere des Leidens, das dem Opfer widerfährt, wenn die Handlung ausgeführt wird. Einer Fliege die Flügel herauszureißen ist viel schlimmer, als sie einfach mit einer Fliegenklatsche zu erschlagen.
- Die Grundlage, auf welche die Handlung abzielt – das variiert entsprechend der Menge an Positivem, das wir selbst oder andere von dem Lebewesen in der Vergangenheit erhalten haben oder im gegenwärtigen oder zukünftigen Leben erhalten werden, und variiert auch entsprechend der positiven Qualitäten dieses Wesens. Diese positiven Qualitäten beziehen sich auf das Ziel, das das Wesen erreicht hat oder das es erreichen möchte. Es wiegt zum Beispiel stärker, wenn man einen Mönch oder eine Nonne umbringt, als wenn man einen Laien umbringen würde. Das Heranreifen von Karma variiert also deshalb, weil Mönch oder Nonne und der Laie unterschiedliche Errungenschaften oder Lebensziele haben, und weil sie verschiedene Grade guter Qualitäten in sich entwickelt haben. Das Karma reift stärker heran, wenn man einen Mahatma Gandhi umbringt, und weniger stark, wenn man einen Kriminellen oder ein Huhn umbringt.
- Der Status oder die Errungenschaften des Wesens, auf das die Handlung bezogen ist – das Heranreifen des Karma wirkt stärker, wenn das Opfer jemand ist, der gerade eine Meditationszeit beendet hat. Wenn wir jemandem Leid zufügen, der krank ist, dann wirkt sich das gleichfalls stärker aus, als bei jemandem der gesund ist.
- Das Ausmaß an Respekt, das wir gegenüber dem Wesen empfinden – jemanden zu verletzen, den man respektiert, wirkt anders als jemanden zu verletzen, den man nicht kennt. Ich empfinde viel Respekt für meinen spirituellen Lehrer – demnach ist das heranreifende Karma schwerwiegender, wenn ich meinen Lehrer anlüge, als wenn ich einen mir fremden Menschen anlügen würde, vor dem ich keinen Respekt habe.
- Die unterstützende Bedingung – es ist schwerwiegender, wenn wir jemanden töteten und zuvor einen Schwur geleistet haben, keinem Lebewesen sein Leben zu nehmen, als wenn wir einen solchen Schwur nicht geleistet haben.
- Die Häufigkeit oder Gewohnheit – wenn wir eine Handlung in der Vergangenheit oft ausgeführt haben, dann wird sie sich schwerer auswirken. Wenn man das ganze Leben lang Tiere gejagt hat, dann wirkt das schwerer, als wenn man nur einmal ein Wild geschossen hat.
- Die Anzahl der Menschen, die in die Ausübung der Handlung involviert sind – wenn man Teil einer ganzen Gruppe ist, die jemanden verprügelt, dann wirkt das stärker, als wenn man es alleine tut. Im Gegensatz dazu ist eine Puja, an der eine große Anzahl von Menschen teilnimmt, eine kraftvollere positive Handlung, als wenn wir die Puja für uns alleine in unserem Zimmer ausführen. Deswegen mögen die Tibeter Pujas mit vielen Menschen sehr gern.
- Das Fortschreiben der Handlung – ob man die Handlung in der Zukunft wiederholt oder nicht.
- Die Gegenwart oder das Fehlen von entgegenwirkenden Kräften – mit anderen Worten: ob wir, wenn wir etwas Destruktives tun, diese Handlung mit vielen konstruktiven Aktivitäten ausgleichen oder ob wir in der Vergangenheit etwas Positives getan haben, und ob diese positiven Handlungen möglicherweise von vielen destruktiven Handlungen aufgehoben oder ausgeglichen worden sind.
Obwohl dies eine lange Liste von Faktoren zu sein scheint und es vielleicht etwas langwierig und nervtötend ist, sie durchzugehen, weist sie trotzdem auf einige Punkte hin, die sehr hilfreich sind, wenn wir etwas Negatives oder Positives tun wollen, und wir gerne wissen möchten, wie wir unsere negativen Handlungen hinterher abschwächen oder die positiven Handlungen verstärken können. Wenn wir etwas Destruktives tun müssen, wie etwa das Haus wegen eines Kakerlakenbefalls auszuräuchern oder etwas Ähnliches, dann kann man zumindest versuchen, diese Handlungen ohne Hass auszuführen, sie zudem nicht so häufig zu tun, und nicht noch zusätzlich auch noch Freunde einzuladen, um eine Kakerlaken-Tötungs-Party zu feiern, und zu denken, dass man dabei viel Spaß haben wird. Im Gegenzug ist es so, dass wenn man etwas Positives tut, es sehr gut ist, Freunde einzuladen und dies mit starken positiven Gefühlen zu tun, und es regelmäßig zu tun, wie zum Beispiel bei sich zuhause eine Puja zu feiern.
Diese Faktoren geben uns Hinweise, wie wir die Auswirkungen der eigenen Handlungen beeinflussen können – auch dann, wenn wir derzeit noch impulsiv und unter dem Einfluss von Verwirrung handeln. Wenn wir anderen Menschen helfen möchten, dann können wir beispielsweise damit beginnen, jenen Menschen zu helfen, die am freundlichsten zu uns waren, wie beispielsweise unsere Eltern. Wenn wir jemanden verletzen oder enttäuschen müssen – wenn wir beispielsweise keine Zeit haben, alle jene Menschen anzurufen, mit denen wir mal wieder telefonieren sollten – dann sollten wir zumindest nicht diejenigen Menschen enttäuschen, die sehr freundlich zu uns waren, wie etwa unsere Eltern.
Diese Liste ist also nicht einfach nur eine nervige Liste, sondern etwas, mit dem wir in unserem Alltag, bei unseren Handlungen mit anderen Menschen arbeiten müssen.
Die Abwesenheit oder das Vorhandensein von entgegenwirkenden Kräften
Der letzte Punkt auf dieser Liste, nämlich die Abwesenheit oder das Vorhandensein von entgegenwirkenden Faktoren ist besonders wichtig. Hier kommen wir wieder zum Anfang unserer Erörterung zurück, also zum Reinigen von Karma. Auf diesen Punkt möchte ich an diesem Abend nicht im Detail eingehen. Aber lassen Sie mich zumindest ein paar wichtige Punkte erwähnen. Eine destruktive Handlung ist sehr schwerwiegend, wenn
- Wir sie nicht als Fehler erkennen und wird negative Konsequenzen haben – als Gegenmittel gegen diese destruktive Handlung wirkt es, wenn wir öffentlich zugeben, dass die negative Handlung ein Fehler war, und dass es unangemessen war, so zu handeln. Auch wenn wir geglaubt haben, dass unser Handeln richtig war, als wir es getan haben: Wenn wir im Nachhinein zugeben, dass wir falsch gehandelt haben, wird dies den Grundstein dafür setzen, die Konsequenzen, die sich aus unseren negativen Handlungen ergeben werden, zu reinigen oder sie zumindest abzuschwächen.
- Wir sie mit Freude ausführen, kein Bedauern verspüren, und glücklich sind, dass wir sie getan haben – dem wirkt das Bedauern entgegen.
- Wir weder den Wunsch noch die Absicht verspüren, die Handlung nicht mehr wieder zu tun – wie wenn wir denken: „Ich werde weiterhin die ganze Nacht hindurch meine laute Musik anhören. Es interessiert mich nicht, wenn ich dadurch meine Nachbarn störe.“ Das Gegenstück dazu wären folgende Gedanken: „Ich werde versuchen, diese Handlung nicht mehr zu wiederholen.“
- Wir nicht daran denken, den Schaden wieder gut zu machen – diesem Faktor wirkt entgegen, wenn wir die entgegenwirkenden konstruktiven Handlungen anwenden.
Auf diese Weise kommen wir zu den vier entgegenwirkenden Kräften, deren Anwendung in der Vajrasattva-Meditation und jeder anderen Art von Reinigungspraxis so wichtig ist. Jeder der vier entgegenwirkenden Kräfte wird für einen speziellen Zweck empfohlen.
Man muss zu diesem Punkt über die Abwesenheit oder das Vorhandensein entgegenwirkender Kräfte noch etwas hinzufügen.
- Wir etwas tun, ohne dabei ein Gefühl für ethische Selbstwürde zu haben und wenn es uns egal ist, wie unsere Handlungen auf andere wirken – wir kümmern uns nicht um das eigene Ehrgefühl, und wir kümmern uns auch nicht darum, was die Leute von unseren Familien, Lehrern, Landsleuten denken und so weiter. Die dem entgegenwirkende Kraft ist, wenn wir ein Gefühl von moralischem Selbst-Respekt entwickeln und auch Sorge dafür tragen, wie unsere Handlungen auf andere wirken. In diesem Rahmen versichern wir uns der sicheren Ausrichtung, die wir in unserem Leben eingeschlagen haben, und bekräftigen unsere Bodhichitta-Ausrichtung: „Ich tue etwas Positives in meinem Leben.“ Ein Beispiel für diesen Punkt ist ein Deutscher, der irgendwo in Urlaub fährt, dort sehr laut ist, Randale macht und sich nicht überhaupt nicht darum schert, was die Menschen dort aufgrund seines Benehmens über Deutschen im Allgemeinen denken.
Fragen
Aufgrund der gegenwärtigen Maul- und Klauenseuche hat die Regierung beschlossen, alle Rinder zu töten. Weil ich ein Mitglied der Gesellschaft bin, in der das passiert, ist das eine Gruppen-Tat, oder? Werde ich die karmischen Ergebnisse dieser Gruppenhandlung erleiden oder nicht? Wie kann ich das vermeiden?
Denken Sie zuerst an die vierte Karma-Gesetzmäßigkeit: Wenn wir eine Tat nicht begangen haben, erfahren wir auch ihre Auswirkungen nicht. Wenn wir selbst keine Tiere getötet haben, sind wir auch nicht an der karmischen Tat beteiligt. Die verschiedenen Menschen, die das Töten ausführen, sind diejenigen, die tatsächlich an der karmischen Handlung beteiligt sind.
Es gibt jedoch den Punkt, der sich auf die Freude über die Handlungen anderer bezieht. Wenn man sich über konstruktive Handlungen anderer freut, baut man positive karmische Kräfte auf. Wenn man sich über die destruktiven Handlungen anderer freut, baut das eine negative karmische Kraft auf. Wenn man also glaubt, dass das Töten der Rinder eine tolle Sache sei, ist das eine Sache. Aber wenn man denkt, dass es schrecklich für sie ist, getötet zu werden, und man für sie großes Mitgefühl empfindet, ist das eine positive Denkweise.
Wir müssen jedoch aufpassen, dass wir dem nicht mit Naivität begegnen. Diese Tiere, die Rinder, wären sowieso für die Fleischproduktion getötet worden, und so ist es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie getötet werden. Mitgefühl mit ihnen zu haben, bloß weil sie aufgrund der Epidemie getötet wurden, sich jedoch nicht darum zu kümmern, dass sie für die Produktion von Fleisch getötet werden, wäre naiv. Dieses Denken, das hier mit Mitgefühl verbunden ist, ist eine konstruktive Handlung, sie wird jedoch von den störenden Emotionen der Naivität begleitet. Wir müssen stets besonnen alle Gedanken und Handlungen analysieren.
Zusammenfassung
Wir sehen, wie wichtig es ist, die verschiedenen Faktoren des Karmas zu verstehen, auch wenn sie sehr komplex sind – vielleicht das umfangreichste Thema im Buddhismus – trotzdem: Je mehr wir diese Faktoren verstehen, desto besser können wir darauf einwirken und unser Verhalten verändern, und damit auch die Schwere der Konsequenzen unserer Handlungen. Wie in diesem Beispiel kann man versuchen, allgemein Mitgefühl für Rinder zu entwickeln, und nicht nur weil sie krank sind.
Möge alle positive Kraft, die durch die Erörterung aufgebaut wurde, stärker und stärker werden, und möge jede Art von Verständnis, das wir erreicht haben, tiefer und tiefer werden, damit wir langsam beginnen können, die Auswirkungen unseres Karma abzuschwächen und es schließlich zu überwinden, damit wir anderen bestmöglich helfen können.