Kaiser Songtsen Gampo
Im 7. Jahrhundert n.Chr. eroberte Kaiser Songtsen Gampo das Land Zhang-Zhung, ein Königreich im Westen Tibets, in dem die Bön-Tradition ihren Ursprung hatte, und vereinte Tibet zu einem großen Reich. Da es Brauch war, durch Heirat Verbündete zu gewinnen, hatte er mehrere Ehefrauen, von denen mindestens eine aus China, eine aus Nepal und eine aus Zhang=Zhung stammte. Jede dieser Frauen brachte Texte aus ihrer eigenen Tradition mit nach Zentraltibet, und die Anfänge des Buddhismus in Tibet werden für gewöhnlich darauf zurückgeführt. Es gibt auch Legenden, dass im 1. Jahrhundert v.Chr. Texte vom Himmel gefallen seien. Wie dem auch sei, in dieser frühen Periode hatte der Buddhismus wenig Einfluss auf die tibetische Gesellschaft.
Songtsen Gampo wollte eine geschriebene Sprache entwickeln lassen, und deswegen sandte er seinen Minister Thönmi Sambhota nach Khotan, einem mächtigen buddhistischen Königreich an der Seidenstraße im Nordwesten von Tibet, wo die eindrucksvolle tibetische Gebirgskette von der tibetischen Hochebene bis hinunter auf Ebenen unter dem Meeresspiegel abfällt. Daran schließt sich die schöne, aber auch schreckliche Wüste Taklamakan an – „Taklamakan“ ist ein türkisches Wort mit der Bedeutung „hineingehen und nicht mehr herauskommen“. Heute ist dieses Gebiet die chinesische Provinz Xinjiang, doch zur Zeit Songtsen Gampos war es das das Land Khotan, das zu Füßen der Berge lag, kurz bevor die Wüste beginnt.
Diese Region war stark buddhistisch geprägt und überwiegend von der persischen Kultur beeinflusst. Die Sprache dort war den iranischen Sprachen verwandt und hatte, was in den schriftlichen Quellen der Geschichte selten erwähnt wird, starken Einfluss auf Tibet. Das tibetische Alphabet z.B. stammt eigentlich von der khotanesischen Schrift ab, die eine eigene Adaption des Sanskrit-Alphabets war. Die khotanesischen Lehrer, die Thönmi Sambhota zu treffen vorhatte, hielten sich zu jener Zeit zufällig gerade in Kaschmir auf, und man musste durch Kaschmir reisen, um nach Kothan zu gelangen. Daher heißt es oft, dass die tibetische Schrift aus Kaschmir stammt, aber bei genauer geschichtlicher Betrachtung wird ersichtlich, dass dies nicht der Fall ist. Überdies war das System der Übersetzungen ins Tibetische stark beeinflusst durch den khotanesischen Stil, Wörter zu zerlegen und den einzelnen Silben Bedeutung zuzuschreiben.
Zu der Zeit war der Buddhismus in Tibet noch nicht sehr weit entwickelt. Historischen Quellen zufolge stellte man sich Tibet als eine flach auf dem Boden ausgestreckte Dämonin vor, und um ihre schädliche Kräfte zu bändigen, mussten an bestimmten Akupunktur-Punkten ihres Körpers Tempel errichtet werden. Deswegen wurden über ein weitreichendes geographisches Gebiet verstreut 13 Tempel gebaut, um den ungezähmten Geist Tibets zu bändigen. Diese Tempel sowie die Texte und Statuen, die die Königinnen mitbrachten, stellen die Anfänge des Buddhismus in Tibet dar.
Später entwickelten sich weitere Kontakte mit China und Khotan und dann mit Indien. Die Prinzessin aus Zhang-Zhung brachte den Brauch zahlreicher Bön-Rituale mit, die dem Nutzen des Landes dienen sollten; diese unterschieden sich jedoch sehr von dem, was heute als Bön bekannt ist.
Kaiser Tri Songdetsen
Etwa 140 Jahre später, Mitte des 8. Jahrhunderts n.Chr., legte Kaiser Tri Songdetsen den Schwerpunkt darauf, das Reich zu erweitern, und führte Kriege mit China und verschiedenen Königreichen der Turk-Völker. Indem er sich nach einer Prophezeiung richtete, lud er den berühmten Abt von Nalanda, Shantarakshita, ein, sich aus Indien nach Tibet zu begeben, um dort zu lehren.
Zu jener Zeit gab es in der Regierung verschiedene politische Faktionen, darunter eine konservative und fremdenfeindliche Gruppierung, der diese Einladung überhaupt nicht gefiel. Als Shantarakshita ankam, trat unglücklicherweise etwa gleichzeitig eine Pocken-Epidemie auf, und man gab ihm die Schuld daran. So wurde er zum Sündenbock gemacht und aus Tibet verwiesen.
Shantarakshita kehrte nach Indien zurück, und unter dem Einfluss des Kaisers sorgte er dafür, dass Guru Rinpoche, Padmasambhava, nach Tibet eingeladen wurde. Es heißt, dass er dort hinkam, um Dämonen zu bändigen, aber der eigentliche Grund war, die Pocken-Epidemie bzw. die Dämonen, die sie verursacht hatten, unter Kontrolle zu bringen. All dies geht auf historische Quellen zurück; es handelt sich also nicht nur um eine Legende. Guru Rinpoche kam an, die Epidemie ebbte ab und danach wurde Shantarakshita erneut nach Tibet eingeladen. Zusammen mit den beiden Gästen aus Indien ließ Tri Songdetsen das erste Kloster in Tibet, Samye, errichten.
Davor hatte es zwar Tempel gegeben, aber keine Klöster mit ordinierten Mönchen. Guru Rinpoche hatte den Eindruck, dass die Menschen keineswegs empfänglich oder reif für fortgeschrittene Lehren waren, und deswegen verscharrte er in den Wänden und Säulen von Samye sowie an mehreren anderen Orten in Tibet und Bhutan Texte über Dzogchen, die höchste Art der Tantra-Lehren seiner Tradition. Auf ihn geht die Nyingma-Tradition in Tibet zurück.
Anfangs gab es drei Gruppen in Samye: Gelehrte aus China, Indien und Zhang-Zhung. Jede von ihnen arbeitet daran, Texte entweder aus ihrer Sprache oder in ihre Sprache zu übersetzen. Der Buddhismus wurde zur Staatsreligion gemacht und der chinesische Herrscher Dezong entsandte jedes zweite Jahr zwei chinesische Mönche nach Samye. Shantarakshita sagte voraus, dass dies zu Konflikten führen würde und empfahl, dass Tibet in der Zukunft seinen Schüler Kamalashila einladen möge, um beim Schlichten von Konflikten und Kontroversen behilflich zu sein.
Weitere Lehrer wurden nach Indien gesandt, um dort zu studieren, während andere Lehrer aus Indien kamen, um in Tibet zu lehren. Die konservative Faktion in der Regierung war sehr verärgert über diese Entwicklung, die sie als Verfolgung des Bön ansah. Das bezog sich im Grunde nicht auf religiöse Verfolgung, sondern „Bön“ bezog sich hier mehr auf eine Gruppe von Menschen, die mit Staatsangelegenheiten zu tun hatten; es ging also eher um gegen Zhang-Zhung gerichtete Tendenzen. Die staatlichen Rituale zu jener Zeit waren weiterhin die alten Bön-Rituale; es ging also eindeutig mehr um politische als um religiöse Angelegenheiten. Aber auch die Bönpos vergruben ihre Texte zur sicheren Aufbewahrung; sie empfanden ihre Tradition also offensichtlich als bedroht. Ich habe einmal Tuwa in Sibirien besucht, wo man der mongolischen Tradition des tibetischen Buddhismus folgt. Die Menschen dort hatten in der Stalin-Ära all ihre Texte in Berghöhlen versteckt. Aus diesen Geschehnissen in der jüngeren Geschichte wird klar, dass die Notwendigkeit, Texte zu vergraben, manchmal sehr real ist und nicht nur Legende.
Die Zhang-Zhung-Faktion wurde schließlich hinausgeworfen, und man war auch misstrauisch gegenüber den Chinesen. Es wurde beschlossen, eine große Debatte zwischen einem indischen und einem chinesischen Mönch abhalten zu lassen, um anhand dessen zu entscheiden, welche Tradition Tibet übernehmen würde. Der beste Meister der Debatte indischer Tradition – Kamalashila, den Shantarakshita empfohlen hatte – wurde gegen einen Zen-Mönch aufgestellt, der ungeschult in der Debattierkunst war, und so stand von Anfang an fest, wer gewinnen würde. Außerdem lag den Tibetern daran, den Chinesen hinaus zu werfen, und so lag es nahe, den Inder zum Gewinner zu erklären. Der Chinese verließ das Land und in Tibet wurde die indische Tradition übernommen.
Standardisierung von Begriffen und Ausdrucksweisen
Weiterhin wurden Texte übersetzt, einige aus dem Chinesischen, aber hauptsächlich aus dem Sanskrit. Im frühen 9. Jahrhundert wurde unter der Regierung eines weiteren großen Herrschers, des Kaisers Tri Ralpachen, ein Wörterbuch erstellt und die Begriffe und Ausdrucksweisen standardisiert. Er erließ eine Verordnung, dass kein tantrisches Material darin aufgenommen würde, weil das zu vielerlei Missverständnissen führen könne.
Mitte des 9. Jahrhunderts erließ Tri Ralpachen ein Dekret, dass für jeden Mönch sieben Haushalte verantwortlich sein sollten – objektiv betrachtet, könnte man sagen, dass er eine Art religiöser Eiferer war. Statt dass Steuergelder der Regierung zuflossen, wurde das ganze Geld dafür verwendet, Mönche und Klöster zu unterstützen, was sich schließlich wirtschaftlich verheerend auf das Land und die Regierung auswirkte. Tri Ralpachen ernannte auch Mönche zu seinen Ministern und die Klöster gewannen immer mehr Macht.
Der nächste Herrscher, Kaiser Langdarma, ist aufgrund seiner Verfolgung des Buddhismus als der große Buhmann in der Geschichte Tibets bekannt. Genauer betrachtet schloss er eigentlich nur die Klöster, weil sie zu mächtig geworden waren, und warf die Mönchs-Minister aus dem Regierungsrat hinaus. Er zerstörte keine der Kloster-Bibliotheken; als Atisha 150 Jahre später in Tibet ankam, war er sehr beeindruckt von den eingerichteten Bibliotheken. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass damals unter Langdarma nicht so schwere religiöse Verfolgungen stattgefunden hatten, wie es in Geschichten oft dargestellt wird.
Allerdings schaffte die Schließung der Klöster riesige Hindernisse für den Buddhismus. Das Land wurde zerstückelt, und da alle Mönche gezwungen wurden, in den Haushaltsstand überzutreten, wurde die monastische Überlieferungslinie unterbrochen und musste neu eingeführt werden. Ohne klösterliche Institution als Grundlage für die wichtigsten Lehren und Praktiken wurde alles in gewissem Ausmaß im Untergrund oder in privaten Rahmen weitergeführt. Vielerlei Missverständnisse und Missstände, vor allem bezüglich Tantra, entstanden dadurch, dass die Menschen alle Ausdrucksweisen wörtlich nahmen – insbesondere den sexuellen Aspekt und die Vorstellung von Befreiung des Bewusstseins. Bedingt durch extremes falsches Verständnis begannen etliche Menschen, Schlachtopfer zu bringen und Morde zu begehen.
Die neue Übersetzungsphase
Ende des 10. Jahrhunderts entstand in Westtibet wieder ein organisiertes Königreich und es bestand Interesse daran, die Lehren klarzustellen. Es gab überaus viele Missverständnisse bezüglich der Lehren in der Nyingma Tradition, und deshalb wurden weitere Übersetzer nach Indien und Nepal gesandt. Dies markiert den Anfang der neuen Übersetzungsphase. Im Grunde handelt es sich eher um eine Phase der „Neu-Übertragung“. Aus dieser Welle ging die Kadam-, die Sakya- und die Kagyü Tradition hervor. Wenn am Ende des Wortes ein „pa“ angehängt wird, wie z.B. in „Kagyüpa“, bezieht sich das Wort auf einen Angehörigen dieser Tradition. Nicht-Tibeter machen allerdings diese Unterscheidung heutzutage kaum noch.
Kadam und Gelug
Die Kadam-Tradition stammt von Atisha, einem großen Meister aus Bengalen. Sie betont die Lehren des Geistestrainings, Lojong. Diese Tradition teilte sich in drei Überlieferungslinien auf, die später von Tsongkhapa im 14. und frühen 15. Jahrhundert wieder zusammengeführt und von da an zur Gelug-Tradition wurden.
Die Nyingma-, die Sakya- und die Kagyü-Traditionen folgten größtenteils ein und derselben Art von Interpretation mit untergeordneten Variationen. Tsongkhapa war sehr radikal und erneuerte im Grunde die Interpretation fast aller Bestandteile der buddhistischen Philosophie. Er hatte von früher Jugend an all die verschiedenen Übersetzungen von Texten studiert und untersucht, um festzustellen, welche Abschnitte nicht korrekt ausgelegt worden waren. Er bewies das alles, indem er es durch Logik und zahlreiche schriftliche Quellen untermauerte.
Aufgrund dessen kam es zu einer gründlichen Überprüfung der tibetischen Übersetzungen einiger der schwierigeren indischen Texte. Anders als frühere Autoren ging Tsongkhapa nicht einfach über unklare Stellen hinweg. Es fand besondere Freude daran, gerade die schwierigen Stellen zu ergründen und zu erklären. So gelangte er bezüglich vieler wesentlicher Aspekte zu einer fundierten Interpretation, die sich radikal von früheren unterschied. Im Grunde war Tsongkhapa ein Revolutionär. Unter seinen zahlreichen Schülern befand sich ein Mönch, der später als der erste Dalai Lama bekannt wurde. Diese Bezeichnung wurde ihm posthum zur Zeit des dritten Dalai Lama verliehen. „Dalai“ ist ein mongolisches Wort und bedeutet „Ozean“.
Für etwa 150 Jahre herrschte in Tibet ein schrecklicher Bürgerkrieg, bis die Mongolen kamen und ihm ein Ende setzten. Zu jener Zeit setzten die Mongolen den fünften Dalai Lama in Tibet als politisches und spirituelles Oberhaupt ein, und sein Lehrer wurde als der vierte Panchen Lama bekannt. Im Jahr 2011 beendete der 14. Dalai Lama die jahrhundertelange Tradition, dass der Dalai Lama eine politische Position innehat.
Sakya
Die zweite Tradition, die aus der Phase der Neu-Übertragung Ende des 10. Jahrhunderts hervorging, ist die Sakya-Tradition, deren Überlieferungslinie auf Virupa und einige weitere Übersetzer zurückgeht. Ihre hauptsächliche, von Virupa begründete Lehre heißt „Lamdre“ – „lam“ bedeutet „Pfad“, und „dre“ „Resultat“. Dieses System des „Pfades und seiner Resultate“ ist eine Kombination aus Material nach Art des Lam-rim in Verbindung mit der tantrischen Praxis des Hevajra.
Die Sakya-Meister bilden im Grunde eine Überlieferungslinie innerhalb einer Familie, und die Überlieferung wird stets vererbt. Nach der Wiedervereinigung Tibets unter den Mongolen im 13. Jahrhundert regierte die Sakya-Familie Tibet für etwa 100 Jahre. Das rührte daher, dass Sakya Pandita, wohl der berühmteste Sakya-Meister, enge Beziehungen zu den Mongolen hergestellt hatte und gemeinsam mit seinem Neffen Phagpa der Tutor des Kublai Khan wurde.
Die Tibeter und die Uiguren – ein Turkvolk im Nordwesten Tibets – waren die einzigen, die nicht gegen Dschingis Khan kämpften, und wurden daher weitgehend in Ruhe gelassen. Die Uiguren verschafften den Mongolen mit ihrem Schriftsystem und administrativen Ansätzen zur Staatsgestaltung einen ersten Eindruck vom Buddhismus, während die Tibeter eine mehr organisierte Form des Buddhismus darboten. Unter diesen Rahmenbedingungen wurde Phagpa und den darauf folgenden Sakya-Lamas etwa ein Jahrhundert lang die politische Herrschaft über Tibet übertragen.
Die Sakya-Überlieferung enthält auch die Zweige der Überlieferungslinien von Ngor, Tsar und Jonang –von denen die Jonang-Schule manchmal als eine fünfte Schule des tibetischen Buddhismus betrachtet wird. Jeder dieser Überlieferungszweige hat seine eigenen Meister.
Kagyü
Innerhalb der Kagyü-Tradition gibt es zwei hauptsächliche Überlieferungslinien, nämlich die Shangpa-Kagyü und die Dagpo-Kagyü. Die Shangpa- Kagyü-Linie geht auf den tibetischen Lehrer Kyungpo Näljor zurück, der die Überlieferung aller drei Reihen der fortgeschrittenen Praxis der „sechs Yogas“ innehatte. Diese Yogas sollten eigentlich eher „Dharmas“, im Sinne von „Lehren“, genannt werden, aber der Ausdruck „Yogas“ hat sich mittlerweile dafür eingebürgert. Die eine der drei Reihen stammt von Naropa, dem Begründer der „sechs Yogas von Naropa“, die anderen beiden hingegen von großartigen weiblichen Praktizierenden: von Niguma und Sukhasiddhi. Diese drei Reihen der sechs Lehren werden in der Shangpa-Kagyü-Tradition bis heute weiterhin übermittelt. Der verstorbene Kalu Rinpoche, der in westlichen Ländern weithin bekannt ist, stammte aus dieser Tradition.
Die Dagpo-Kagyü-Tradition leitet sich aus der Überlieferungslinie von Tilopa über Naropa, Marpa, Milarepa und Gampopa ab. Gampopa verband die Mahamudra-Lehren der verschiedenen indischen Mahasiddhas (weit fortgeschrittene tantrische Meister) mit den Lojong-Lehren der Kadampas. Ausgehend von Gampopa entwickelten sich die zwölf Überlieferungslinien der Dagpo-Kagyu-Linie - zwölf Kagyü-Traditionen, die auf Gampopas Schüler und die nachfolgenden Schüler eines bestimmten seiner Schüler, Pagmodrupa, zurückgehen. Die am meisten verbreitete davon ist die Karma-Kagyü-Tradition, deren bekannteste Persönlichkeit der Karmapa ist. Außerdem gibt es noch die Drugpa-Kagyü- und die Drigung-Kagyü-Tradition, die ebenfalls Verbreitung im Westen fanden.
Nyingma
Wie schon erwähnt, hatten Meister der alten Nyingma-Tradition Dzogchen-Texte vergraben, doch die ganze Zeit über wurden weitere Texte übertragen, die immer noch eine Vielzahl von Missverständnissen enthielten. Ab dem frühen 11. Jahrhundert wurden die alten Texte wiederentdeckt, etwa ein Jahrhundert, nachdem die Bönpos ihre eigenen Texte wiederentdeckten. Dies fiel zeitlich zusammen mit einer neuen Welle der Ankunft von Lehrern aus Indien.
Eine Vielzahl von Texten wurde entdeckt, und es war verwirrend, zu einem Verständnis zu gelangen, wie sie alle zusammenpassen sollten. Im 13. Jahrhundert wurden sie von dem großen Nyingma-Meister Longchenpa standardisiert und erklärt – er ist im Grunde der Vater der Nyingma-Tradition, die wir heute vorfinden. Es gibt eine Unterteilung in die „nördliche und die südliche Schatz-Überlieferung“. Die Nyingma Tradition ist mehr fragmentiert als die anderen Traditionen und nicht zu einem einheitlichen Stil zusammengefasst.
Die Rime-Bewegung
Ein weiterer wesentlicher Faktor in der Geschichte des Buddhismus in Tibet ist die Rime-Bewegung („Rime“ bedeutet „nicht-sektiererisch“), die im 19. Jahrhundert von mehreren Persönlichkeiten in die Wege geleitet wurde; die herausragendste davon ist Kongtrul Rinpoche. Die Absicht bestand darin, im Dunkeln liegende Überlieferungslinien zu erhalten, die Gefahr liefen, auszusterben und in keiner der vier großen Traditionen mehr leicht aufzufinden waren.
Die Rime-Bewegung legte großen Wert auf die Jonang-Überlieferung, die unter historischen Gesichtspunkten aufgrund ihr doktrinären Sichtweise verfolgt und unterdrückt worden war, und verhalf ihr zur Wiederbelebung. Auch dabei spielten wiederum politische Faktoren eine Rolle, da sie mit einer bestimmten Faktion in den Bürgerkriegen jener Zeit verbunden war. In gewisser Weise entstand die Rime-Bewegung auch als Reaktion auf den wachsenden Einfluss der Gelug-Überlieferung in der zentralen Regierung.
Zusammenfassung
Der tibetische Buddhismus wurde im Verlauf mehrerer Jahrhunderte durch die Bemühungen einer großen Anzahl von Lehrern und Übersetzern in erster Linie aus Indien hergeleitet und entwickelte sich dann allmählich zu vier wesentlichen Traditionen. Die Nyingma-Tradition stammt aus der „alten Übersetzungsphase“, während die Sakya-, die Kagyü- und die Kadam-Tradition – welch letztere später zur Gelug-Tradition wurde – in der „neuen Übersetzungsphase“ entstanden. In Tibet unterliegt der Buddhismus gegenwärtig strengen Restriktionen, aber er floriert in Indien, Nepal und im gesamten Himalaja-Gebiet und findet langsam auch in der übrigen Welt Verbreitung.