Was ist Lam-rim und wie ging er aus den Lehren Buddhas hervor?
Der Stufenweg, „Lam-rim“, ist eine Art, an die grundlegenden buddhistischen Lehren heranzugehen und sie in das eigene Leben zu integrieren. Buddha lebte vor 2.500 Jahren, zusammen mit einer Gemeinschaft von Mönchen und später kam auch eine Gemeinschaft von Nonnen hinzu. Er legte seine Lehren nicht nur der Gemeinschaft der Ordinierten dar, sondern oft wurde er auch von unterschiedlichen Menschen nach Hause eingeladen, wo man ihm eine Mahlzeit darbot, und anschließend hielt er dann einen Vortrag.
Buddha lehrte stets auf eine Weise, die als „geschickte Methode“ bzw. „geschickt eingesetztes Mittel“ bezeichnet wird, d.h. er lehrte so, dass die jeweilige Person bzw. Zuhörerschaft seine Lehre verstehen konnte. Das war angemessen, weil es natürlich viele verschiedene Intelligenzgrade und unterschiedliche Stufen spiritueller Entwicklung gab und auch immer noch gibt. Infolgedessen lehrte Buddha eine große Vielfalt von Themen auf sehr verschiedenen Ebenen.
Viele von Buddhas Anhängern hatten ein phänomenales Gedächtnis. Zu jener Zeit wurde nichts niedergeschrieben, sondern die Mönche behielten das, was er sagte, im Gedächtnis und gaben es mündlich an spätere Generationen weiter. Schließlich wurden die Lehren niedergeschrieben und als „die Sutras“ (Lehrreden) bekannt. Jahrhunderte später versuchten zahlreiche große indische Meister dieses Material zu strukturieren und schrieben Erläuterungen dazu. Atisha, einer der indischen Meister, die nach Tibet reisten, verfasste im 11. Jahrhundert den Prototyp der Darlegungsweise des „Lam-rim“.
Atishas Prototyp stellt eine Methode dar, mit deren Hilfe sich jeder in Richtung eines Buddha entwickeln kann. Einfach wahllos irgendwelche Sutras zu lesen, gibt uns nicht unbedingt Aufschluss über den Verlauf des spirituellen Weges im Hinblick darauf, womit wir am besten beginnen oder wie wir zur Erleuchtung gelangen. All das Material dafür ist vorhanden, aber es ist nicht einfach, das alles zusammenfügen.
Genau das bietet der Lam-rim: Er stellt dieses Material in einer stufenweisen Reihenfolge dar. In der Zeit nach Atisha wurden in Tibet viele verschiedene, ausführlichere Fassungen davon verfasst. Wir werden hier eine Version zugrunde legen, die Anfang des 15. Jahrhunderts von Tsongkhapa verfasst wurde; sie ist vermutlich die umfassendste Ausführung dieses Materials. Ein hervorstechendes Merkmal von Tsongkhapas Werk ist, dass er darin eine Fülle von Zitaten aus den Sutras und den indischen Kommentaren anführt, sodass wir uns darauf verlassen können, dass er sich diese Inhalte nicht bloß ausgedacht hat.
Eine weitere herausragende Besonderheit ist, dass Tsongkhapa sehr ausführliche logische Beweisführungen für die einzelnen Punkte liefert, sodass wir basierend auf Logik und Begründungen noch stärkere Überzeugung von der Gültigkeit der Lehren gewinnen. Ein spezielles Charakteristikum von Tsongkhapa war, dass er nicht, wie viele der früheren Autoren, über die schwierigsten Punkte einfach hinweggeht, sondern gerade diesen besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt.
Diejenige der vier tibetisch-buddhistischen Traditionen, die auf Ausführungen Tsongkhapas zurückgeht, wird die Gelugpa-Tradition genannt.
Was ist die Bedeutung eines spirituellen Weges und wie strukturiert man ihn?
Die eigentliche Frage ist, wie man einen spirituellen Pfad strukturiert. Allgemein wurden in Indien viele verschiedene Methoden gelehrt. Methoden zur Entwicklung von Konzentration zum Beispiel waren zur Zeit Buddhas in allen anderen indischen Traditionen üblich. Sie sind nicht etwas, dass er entdeckte oder ersann. Alle stimmten darin überein, dass man sich im Zusammenhang mit der eigenen Weiterentwicklung damit befassen muss, wie man Konzentration und all die anderen Aspekte in den spirituellen Pfad integriert.
Buddha lieferte natürlich im Hinblick auf viele Punkte, wie man sich weiter entwickelt, andere Erklärungen, aber wirklich speziell ist sein Verständnis der spirituellen Ziele. Der wichtigste Grundsatz für diese spirituellen Ziele ist die Motivation, und diese wird in verschiedenen Stufen angelegt.
Die Bezeichnung für diese Literaturgattung lautet „Lam-rim“. „Lam“ wird als „Pfad“ übersetzt, und „rim“ bezieht sich auf die aufeinander aufbauenden Stufen dieses Pfades. Dieser Pfad beinhaltet die verschiedenen Geisteszustände, die in einer stufenweisen Abfolge zu entwickeln sind,, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Das ist vergleichbar mit einer Reise: Wenn wir über Land von Rumänien nach Indien reisen wollen, ist Indien das plötzliche Ziel. Aber zunächst wird es wohl nötig sein, durch die Türkei, den Iran usw. zu reisen, bevor wir schließlich Indien erreichen.
Die spirituelle Motivation: unserem Leben eine Bedeutung geben
Das, was im „Lam-rim“stufenweise aufeinander aufbauend dargestellt ist, ist im Wesentlichen die Motivation. Eine Motivation besteht gemäß buddhistischer Darstellung aus zwei Bestandteilen. Sie steht in Verbindung mit einem bestimmten Ziel, das wir haben, und sie beinhaltet eine Emotion, die die Antriebskraft dafür liefert, dieses Ziel zu erreichen. Noch genauer ausgedrückt: Wir haben einen Grund, warum wir ein Ziel erreichen wollen, und eine Emotion, die als Antriebskraft dient.
Diese Beschreibung ergibt auch im Hinblick auf unser gewöhnliches Leben Sinn. Wir haben in verschiedenen Phasen unseres Lebens unterschiedliche Ziele – etwa eine Ausbildung zu machen, einen Partner fürs Leben zu finden, eine gute Arbeitsstelle zu erlangen usw. Dabei können sowohl negative als auch positive Emotionen eine Rolle spielen; das ist von Person zu Person verschieden. Doch auf jeden Fall ist die Darstellung einer Abfolge von Motivationen etwas, das mit unserem ganz normalen Leben zu tun hat.
Dasselbe gilt auch für unsere spirituellen Motivationen. Dies sind Geisteszustände, die ausgesprochen relevant für unser tägliches Leben sind. Was machen wir mit unserem Leben? Da gibt es natürlich die „weltliche Ebene“, auf der es darum geht, eine Familie zu haben, eine Arbeitsstelle zu finden usw. Aber was tun wir in spiritueller Hinsicht? Auch das hat Einfluss darauf, wie wir leben. Wichtig ist, dass diese beiden Aspekte unseres Lebens nicht miteinander im Widerspruch stehen oder sich gegenseitig ausschließen, sondern auf harmonische Weise zusammenwirken.
Und sie müssen nicht nur im Einklang miteinander sein, sondern sich auch gegenseitig unterstützen. Unser spirituelles Leben gibt uns Kraft, unser gewöhnliches weltliches Leben zu führen, während unser weltliches Leben uns die Mittel verschafft, unser spirituelles Leben ausführen zu können. Alles, was wir durch die aufeinanderfolgenden Stufen des Lam-rim lernen, muss im täglichen Leben Anwendung finden.
Ein besserer Mensch werden
Was tun wir also mit Hilfe der buddhistischen Praxis, die hier dargelegt wird? Buddhistische Praxis im Allgemeinen kann in wenigen Worten zusammengefasst werden. Einfach ausgedrückt: Wir arbeiten an uns, um bessere Menschen zu werden. „Bessere Menschen“ mag vielleicht etwas wertend klingen, aber damit ist hier keineswegs eine Beurteilung gemeint. Darum geht es nicht. Wir versuchen einfach, destruktive Verhaltensweisen und negative Emotionen wie z.B. Ärger, Gier, Selbstsucht usw., die wir alle manchmal haben, abzulegen.
Der Buddhismus ist durchaus nicht das einzige religiöse oder philosophische System und nicht die einzige Praxis, die dieses Ziel verfolgt. Dieses Ziel finden wir auch im Christentum, im Islam, im Judentum, im Hinduismus und auch im Humanismus. Es ist überall vorhanden. Die buddhistischen Methoden, ebenso wie auch diejenigen, die wir in jenen anderen Systemen vorfinden, können uns helfen, diese Art Ziel zu erreichen, indem sie einen Ansatz bieten, schrittweise zu einem besseren Menschen zu werden.
Um ein „besserer Mensch“ zu werden, versuchen wir zuerst einmal aufzuhören, uns auf destruktive Weise zu verhalten, andere zu schädigen oder zu verletzen. Dafür ist es erforderlich, ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung zu üben. Sobald wir imstande sind, etwas Selbstbeherrschung zu üben, befassen wir uns auf einer tiefer gehenden Ebene damit, die Ursachen zu beseitigen, die bewirken, dass wir uns destruktiv (also in Form von Ärger, Gier, Anhaftung, Missgunst, Hass usw.) verhalten. Dafür ist es erforderlich zu verstehen, wie diese negativen bzw. destruktiven Emotionen entstehen und auf welche Weise sie wirken. So entwickeln wir bestimmte Arten von Verständnis, die uns helfen, diese störenden Emotionen zu verringern oder zu beseitigen.
Auf noch tiefer gehender Ebene können wir uns dann damit befassen, was eigentlich all diesen störenden Emotionen zugrunde liegt, indem wir unsere Selbstsucht erkennen und uns der selbstbezogenen Einstellung bewusst werden, mit der unsere Gedanken in erster Linie um uns selbst kreisen. Normalerweise denken wir, wir müssten immer unseren Willen bekommen. Wenn es nicht nach unserem Willen geht, werden wir meistens ärgerlich. Wir wollen immer, dass alles so läuft, wie wir es gern hätten. Aber warum sollte alles nach unseren Wünschen gehen? Außer dass wir es so wollen, gibt es keinerlei Grund dafür. Jeder möchte, dass es nach seinen Wünschen geht, und wir können nicht alle Recht haben.
Wir können uns allmählich so weit entwickeln, dass wir versuchen, diesen zutiefst grundlegenden Unruhestifter, unsere Selbstsucht zu überwinden. Unsere Selbstbezogenheit ist, wie sich bei genauerer Untersuchung herausstellt, von einer bestimmten Vorstellung von „mir“, von meinem „Selbst“, abhängig. Mit anderen Worten: unsere Vorstellung davon, wie wir existieren, beruht darauf, dass wir meinen, wir wären etwas ganz Besonderes – so, als wäre man selbst der Mittelpunkt der Welt, eine überaus wichtige Person, die unabhängig von allen anderen ist. Diese Sichtweise gilt es zu untersuchen, denn offensichtlich ist daran irgendetwas ziemlich verkehrt und verzerrt. Genau das ist es, was mit dem stufenweisen Weg in Angriff genommen wird.
Abgestufte Ebenen der Motivation: „Dharma light“
Für diese Art von Zielen sind die von Buddha gelehrten Methoden äußerst hilfreich. Eigentlich haben wir gute Gründe, warum wir destruktives Verhalten und störende Emotionen wie Ärger und Selbstsucht abwenden wollen. Der wesentliche Grund dafür besteht wohl darin, dass wir verstehen: Wenn wir unter ihrem Einfluss stehen, führt das zu Problemen, und diese Probleme wollen wir vermeiden. Sie sind alles andere als angenehm.
Wir können auch dieses Schaffen von Problemen schrittweise angehen. Wir machen uns klar: Wenn ich mich auf bestimmte Weise verhalte, verursacht das sogleich Probleme und Schwierigkeiten. Wenn wir zum Beispiel in Streit geraten und jemanden verletzen, können wir ebenfalls Verletzungen davontragen oder sogar im Gefängnis landen. Auf tiefer gehender Ebene können wir auch die langfristigen Folgen destruktiven Verhaltens in Betracht ziehen, denn wir wollen nicht nur jetzt vermeiden, dass Probleme auftreten, sondern auch für später. Indem wir diese Überlegungen weiterentwickeln, wollen wir vielleicht auch vermeiden, Schwierigkeiten und Probleme für unsere Familie zu schaffen, für diejenigen, die wir lieben, für unsere Freunde und für die Gesellschaft. All das bewegt sich im Rahmen dieses Lebens. Wir können sogar noch weiter gehen und in noch umfassenderem Sinne denken, etwas in dem Bestreben, Schwierigkeiten für künftige Generationen zu vermeiden, zum Beispiel im Hinblick auf die globale Klimaerwärmung.
Bei all diesen Motiven ist es keineswegs so, dass wir die früheren aufgeben, wenn wir die weiteren entwickeln, sondern sie erweitern sich zunehmend. Das ist das allgemeine Prinzip des stufenweisen Pfades. Alles, was bisher beschrieben wurde, ist das, was ich „Dharma light“ nenne. Es stellt die buddhistischen Lehren, den „Dharma“ ausschließlich in den Rahmen dieses Lebens, ohne dass dabei irgendetwas von Wiedergeburt erwähnt wird. Ich habe diese Ausdrücke „Dharma light“ und „echter Dharma“ in Anlehnung an die Slogans „Cola light“ und die ursprüngliche Coca Cola entwickelt.
Danach streben, dieses Leben zu verbessern, aber die Vorstellung von Wiedergeburt nicht von vornherein ausschließen
„Dharma“ ist ein Sanskrit-Wort und bezieht sich auf die Lehren des Buddha. „Light“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass irgendetwas falsch daran wäre, sondern nur, dass es sich nicht um die starke, ursprüngliche Version handelt. Die eigentliche Darstellung des Lam-rim, die wir in den tibetischen Traditionen finden, ist die echte Fassung. Aber diese echte Fassung des Dharma ist für die meisten von uns anfangs zu stark. Der wesentliche Grund dafür ist, dass diese Version ganz und gar davon ausgeht, dass man vollständig von Wiedergeburt überzeugt ist, und die Darstellung all der Themen auf der Prämisse beruht, dass es Wiedergeburt gibt. Unter diesem Gesichtspunkt arbeitet man dann darauf hin, zukünftige Leben zu verbessern und Probleme dafür zu vermeiden.
Wenn wir nicht an zukünftige Leben glauben, wie können wir dann aufrichtig motiviert sein, zukünftige Leben zu verbessern? Das geht einfach nicht. Wenn wir die Vorstellung von früheren und zukünftige Leben fragwürdig finden, nicht davon überzeugt sind oder vielleicht noch nicht einmal verstehen, was es damit auf sich hat, müssen wir mit „Dharma light“ beginnen. Es kommt darauf an, dass wir uns selbst gegenüber ehrlich sind in Bezug darauf, worauf wir mit unserer spirituellen Praxis eigentlich abzielen.
Die meisten von uns zielen darauf ab, dieses Leben ein bisschen besser zu machen. Das ist ein vollkommen berechtigtes Ziel. Es ist ein Anfang und ein sehr notwendiger Schritt. Wenn wir uns mit dieser Zielsetzung auf den Weg machen, ist es jedoch wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass es sich um „Dharma light“ handelt, dass es also sozusagen nicht die „Vollversion“ ist. Es ist wichtig, das nicht zu verwechseln, denn wenn wir beides durcheinanderbringen, reduzieren wir Buddhismus lediglich auf eine weitere Art von Therapie oder Selbsthilfe. Das wäre eine eingeschränkte Auffassung und wird dem Buddhismus nicht gerecht.
Wir müssen es uns auch eingestehen, wenn wir noch nicht darüber Bescheid wissen, worum es im echten Dharma geht, geschweige denn glauben, dass das alles wahr ist. Doch es ist sinnvoll, dem gegenüber aufgeschlossen sein, indem wir z.B. denken: „Ich bin mir nicht sicher, ob das, was da über zukünftige Leben gesagt wird, stimmt; aber vorläufig werde ich im Sinne von „Dharma light“ vorgehen. Wenn ich mich weiter damit beschäftige, die Inhalte studiere und darüber meditiere, werde ich vielleicht besser verstehen, was es mit dem echten Dharma auf sich hat.“ Das ist eine völlig berechtigte und vernünftige Vorgehensweise, die zudem auf Respekt vor dem Buddha basiert und davon ausgeht, dass Buddha nicht bloß Unsinn erzählte, wenn er von diesen Dingen sprach.
Wir können vielleicht auch anerkennen, dass bestimmte Vorstellungen, die wir in Bezug darauf haben, was zukünftige Leben, Befreiung und Erleuchtung bedeuten, nicht vollkommen korrekt sind. Vielleicht wird das, was wir uns darunter vorstellen, auch im Buddhismus gar nicht vertreten. Das, was darunter unserer Meinung nach zu verstehen ist und was wir für lächerlich halten, hätte vielleicht auch der Buddha als lächerlich bezeichnet, weil es lediglich ein falsches Verständnis davon ist; z.B., dass wir wie eine Seele mit Flügeln sind, die den Körper verlässt und dann in einen anderen Körper eingeht – so etwas würde auch der Buddha nicht akzeptieren. Er würde auch die Vorstellung verwerfen, dass wir selbst ein allmächtiger Gott werden können oder so etwas.
Die Vorteile davon, anfangslose Wiedergeburt in Betracht zu ziehen
Die meisten Methoden, die in diesem abgestuften Pfad dargelegt werden, können nach Art von „Dharma light“ oder im Sinne des echten Dharma angewendet werden. Einige Methoden jedoch beruhen wirklich auf dem Verständnis, dass es zukünftige Leben gibt. Eine der Methoden, um allen Wesen gegenüber gleichermaßen Liebe und Mitgefühl zu entwickeln, besteht darin zu erkennen: Wenn jeder seit jeher ohne Anfang immer neue Wiedergeburten erlebt und es eine endliche Anzahl von Lebewesen gibt, so folgt daraus, dass jeder irgendwann unsere Mutter gewesen ist und jeder für jeden irgendwann Mutter war. Man könnte für diese Logik einen mathematischen Beweis aufstellen, dass es sich bei einer Abfolge ohne Anfang und einer endlichen Zahl von Lebewesen so verhält. Wenn es sich um unendliche Zeit, jedoch auch eine unendliche Menge von Wesen handeln würde, könnte man keinen solchen Beweis aufstellen.
Zu solchen Themen kann man schwer einen Bezug herstellen, insbesondere, wenn wir überhaupt noch nie unendlich viele frühere Wiedergeburten in Betracht gezogen haben. Doch auf dieser Grundlage werden die Überlegungen hinsichtlich der mütterlichen Liebe angestellt, die man von allen Wesen empfangen hat und wertschätzt und erwidern möchte. Und darauf beruht dann die ganze Entwicklung entsprechender Geisteszustände. Zu diesen Erwägungen gehört es, zu erkennen: Es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese oder jene Personen die eigene Mutter war. Ob wir unsere Mutter zehn Minuten oder zehn Tage oder zehn Jahre nicht gesehen haben – sie ist immer noch unsere Mutter. Und auch wenn wir sie zehn Leben lang nicht gesehen haben, ist sie immer noch unsere Mutter. Das ist eine Denkweise, die sehr hilfreich ist, wenn man an Wiedergeburt glaubt. Wenn nicht, ergibt sie keinen Sinn.
Das gilt insbesondere dann, wenn solche Gedankengange nicht nur auf Menschen bezogen werden, sondern beispielsweise auf Mücken und man sich vorstellt: Diese Mücke war in einem früheren Leben meine Mutter, denn Wiedergeburt kann in jeder Form stattfinden, die geistige Aktivität hat. Die „Dharma light“-Version würde lauten: Ganz gleich, wem wir begegnen – es könnte gut sein, dass diese Person uns zu sich nach Hause einladen würde, sich um uns kümmern würde, uns etwas zu essen geben würde. Jeder könnte das tun. Wenn wir viel reisen, geschieht es häufig, dass völlig Fremde sehr freundlich zu uns sein können, uns ihre Gastfreundschaft anbieten usw. Das gilt gleichermaßen für Frauen und Männer, jeder kann wie eine Mutter zu uns sein. Ein Kind kann, wenn es älter ist, helfen, sich um uns zu kümmern. Solche Gedankengänge sind sehr von Nutzen, auch wenn sie ein bisschen begrenzt sind im Hinblick darauf, dass schwierig ist sich vorzustellen, dass dieser Moskito mich mit nach Hause nimmt und sich wie eine Mutter um mich kümmert.
Dieses Beispiel veranschaulicht ein bisschen, wie bestimmte Methoden auf der Ebene von „Dharma light“ und auf der Ebene des echten Dharma eingesetzt werden können. Beides ist auf die jeweilige Weise sehr von Nutzen, aber die Dharma-light-Version hat ihre Grenzen. Die echte Dharma-Version eröffnet ein größeres Universum von Möglichkeiten. Aber ob wir eine Methode nun im Sinne von „Dharma light“ oder im Sinne des echten Dharma anwenden – entscheidend ist, sie im täglichen Leben anzuwenden. Wenn wir in einem Verkehrsstau stecken oder in einer langen Warteschlange für etwas anstehen müssen und ärgerlich oder ungeduldig mit den anderen werden, können wir versuchen, die anderen Menschen so zu betrachten, als wären sie die eigene Mutter, sei es in irgendeinem früheren Leben oder in diesem Leben. Das trägt dazu bei, unseren Ärger zu beschwichtigen und mehr Geduld zu entwickeln. Wenn es wirklich unsere Mutter wäre, die da vor uns in der Schlange stünde, würde es uns gewiss nicht stören, wenn sie zuerst bedient wird. In dem Fall würde es uns vermutlich sogar freuen, wenn sie bevorzugt bedient wird. Auf diese Weise können wir versuchen, diese Betrachtungsweisen einzusetzen. Es geht nicht darum, diese Geisteszustände nur zu entwickeln, wenn wir auf dem Meditationskissen sitzen, sondern sie in unserem Alltag zur Anwendung zu bringen.
Meditation als Mittel, um an sich zu arbeiten
Das ist es, was gemeint ist, wenn dieser Prozess der Übung von Dharma als Arbeit an sich selbst bezeichnet wird. Wenn wir in einer ruhigen und geschützten Atmosphäre in unserem Zimmer meditieren, üben wir uns darin, diese Arten von Verständnis hervorzubringen und förderliche Geisteszustände zu entwickeln. Wir benutzen unser Vorstellungsvermögen, um uns andere Menschen vor Augen zu führen, an sie zu denken und ihnen gegenüber diese Einstellung zu entwickeln. Ich finde, dass es durchaus legitim ist, sich in der Meditation Fotos von Menschen anzusehen, auch wenn diese keine traditionelle Methode ist. Vor 2500 Jahren gab es noch keine Fotografien, und ich glaube nicht, dass es ein Problem darstellt, unsere heutigen technischen Möglichkeiten in diesen Prozess mit einzubeziehen.
Sobald wir uns hinreichend mit einem bestimmten positiven Geisteszustand vertraut gemacht haben, versuchen wir, ihn in unserem Alltagsleben anzuwenden. Das ist der Sinn des Ganzen. Nur liebevolle Gedanken zu hegen, während wir auf einem Kissen sitzen, und anschließend wütend auf unsere Familienangehörigen und Arbeitskollegen zu werden, ist nicht das gewünschte Ergebnis. In dem Fall stimmt etwas nicht. Es ist sehr wichtig, unsere Meditationspraxis nicht als Flucht vor dem Leben zu benutzen, indem wir bloß eine Weile für uns allein sein und unsere Ruhe haben wollen. Sie ist auch eine Flucht, wenn wir uns dabei in irgendein Fantasiereich begeben und uns alle möglichen erstaunlichen Dinge ausdenken. Meditationspraxis ist etwas ganz anderes: Wir üben uns darin, mit den Problemen des Lebens umgehen zu können.
Das ist harte Arbeit und wir sollten uns nicht vormachen oder vormachen lassen, dass es leicht wäre. Es ist nicht leicht, Selbstsucht zu überwinden und andere störende Emotionen abzulegen, denn sie beruhen auf tief eingeschliffenen Gewohnheiten. Die einzige Möglichkeit, sie zu überwinden, besteht darin, unsere Einstellung gegenüber den Menschen und Dingen zu ändern und die Verwirrung loszuwerden, die diesen destruktiven Geisteszuständen zugrunde liegt.
Zusammenfassung
Die Praxis des Buddhismus kann in „Dharma light“ und echten Dharma unterteilt werden. Mit „Dharma light“ wollen wir die Qualität dieses Leben verbessern, indem wir uns mit geistigen Werkzeugen ausrüsten, die uns helfen, besser mit den Problemen fertigzuwerden, die das Leben uns in den Weg stellt. Es ist ganz und gar nichts einzuwenden gegen „Dharma light“, aber genauso wie bei Cola light wird es nie so köstlich sein wie die echte Sache.
Traditionell wird in den Lehren des Lam-rim keines der Themen angeschnitten, die wir jetzt hier im Zusammenhang mit „Dharma light“ erwähnt haben, weil in den traditionellen Darstellungen die Überzeugung von früheren und zukünftigen Leben vorausgesetzt wird. Nichtsdestotrotz ist es ein unerlässlicher erster Schritt auf dem Weg zur Übung echten Dharmas, dass man zunächst einmal sein Leben verbessern und ein besserer Mensch werden will.