Ehrerbietung an Lokeshvara
Ich verneige mich stets voller Hochachtung mit meinen drei Toren [Körper, Sprache und Geist] vor den höchsten spirituellen Meistern und dem Beschützer Avalokiteshvara, die sehen, dass es bei den Phänomenen kein Kommen und Gehen gibt, und einzig bemüht sind, für das Wohlergehen der umherwandernden Lebewesen zu wirken.
Vollkommen erleuchtete Buddhas, die Quellen von Glück und Nutzen, sind dadurch entstanden, dass sie den erhabenen Dharma verwirklichten. Da dies wiederum davon abhängig war, dass sie wussten, wie man sich darin übt, werde ich die Übungen der Bodhisattvas erklären.
Das kostbare menschliche Leben
(1) Die Übung der Bodhisattvas ist: jetzt, da wir das große Boot zur Verfügung haben, das so schwer zu finden ist, [nämlich ein menschliches Leben,] das mit reichen Ausstattungen versehen ist und uns Muße gewährt, Tag und Nacht unbeirrt zuzuhören, nachzudenken und zu meditieren, um uns selbst und andere aus dem Ozean des zwanghaften Daseinskreislaufs zu befreien.
Die Umstände, die am förderlichsten sind, um sich das kostbare menschliche Leben zu nutze zu machen
(2) Die Übung der Bodhisattvas ist, den Heimatort zu verlassen, wo uns einerseits die Anhaftung an Freunde aufwühlt wie Wasser und andererseits der Ärger über Feinde wie Feuer in uns brennt, und wo uns Naivität in Dunkelheit hüllt, sodass wir vergessen, was anzunehmen und was aufzugeben ist.
(3) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich der Einsamkeit abgelegener Orte anzuvertrauen, wo die störenden Emotionen und Einstellungen nach und nach verblassen, indem wir von der Beschäftigung mit abträglichen Objekten ablassen, und wo unsere aufbauenden Aktivitäten auf natürliche Weise zunehmen, weil es keine Ablenkungen gibt, und, indem wir unser Gewahrsein läutern, die Gewissheit hinsichtlich des Dharma wächst.
Tod und Vergänglichkeit
(4) Die Übung der Bodhisattvas ist, vom ausschließlichen Trachten nach den Belangen des jetzigen Lebens abzulassen, in dem sich Freunde und Bekannte, die lange vereint waren, schließlich doch trennen müssen, Reichtum und Besitztümer, die mit Anstrengung zusammengetragen wurden, doch zurückgelassen werden müssen, und unser Bewusstsein, der Gast, das Gasthaus des Körpers verlassen muss.
Warum es wichtig ist, die richtigen Freunde zu haben
(5) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich von schlechten Freunden zu trennen, in deren Gesellschaft sich die drei giftigen Emotionen in uns verstärken, sich unsere Aktivitäten des Zuhörens, Nachdenkens und Meditierens verringern und unsere Liebe und unser Mitgefühl schwinden.
(6) Die Übung der Bodhisattvas ist, die würdigen spirituellen Lehrer wertzuschätzen, mehr noch als unseren eigenen Körper, denn wenn wir auf sie vertrauen, verringert sich unser fehlerhaftes Verhalten und unsere guten Eigenschaften wachsen an wie der zunehmende Mond.
Sichere Ausrichtung (Zuflucht)
(7) Die Übung der Bodhisattvas ist, die sichere Richtung der höchsten Juwelen einzuschlagen, indem wir den Schutz derer suchen, die niemals trügen, denn wen können schon weltliche Götter beschützen, die selbst noch im Gefängnis von Samsara gefesselt sind?
Auf destruktives Verhalten verzichten
(8) Die Übung der Bodhisattvas ist, niemals schädliche Handlungen zu begehen, nicht einmal, wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, denn der fähige Weise lehrte, dass die Leiden der niederen Bereiche des Daseinskreislaufs, die so überaus schwer zu ertragen sind, das Ergebnis von schädlichem Handeln sind.
Auf die Befreiung hinarbeiten
(9) Die Übung der Bodhisattvas ist, mit regem Interesse nach dem höchsten, unvergänglichen Zustand der Befreiung zu streben, denn die Annehmlichkeiten der drei Bereiche zwanghafter Existenz sind Phänomene, die nur einen kurzen Augenblick währen und dann dahinschwinden wie Tautropfen auf der Spitze von Grashalmen.
Eine Bodhichitta-Ausrichtung entwickeln
(10) Die Übung der Bodhisattvas ist, die altruistische Absicht von Bodhichitta zu entwickeln, die darauf abzielt, die unendlich vielen Lebewesen zu befreien, denn wozu soll unser eigenes Glück gut sein, wenn unsere Mütter, die uns seit anfangsloser Zeit geliebt haben, leiden?
Sich selbst mit anderen austauschen
(11) Die Übung der Bodhisattvas ist, unser persönliches Glück wahrhaftig gegen die Leiden der anderen Wesen einzutauschen, denn unsere Leiden entstehen ausnahmslos aus der Begierde nach persönlichem Glück; vollkommene Erleuchtung hingegen entsteht aus der Absicht, anderen von Nutzen zu sein.
Das Verhalten eines Bodhisattva: Wie man damit umgeht, wenn einem Leid zugefügt wird
(12) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand unter dem Einfluss großer Begierde unsere Reichtümer stiehlt oder andere dazu veranlasst, ihm dennoch unseren Körper, unsere Ressourcen und unsere konstruktiven Handlungen aus allen drei Zeiten zu widmen.
(13) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand uns den Kopf abschlägt, obwohl wir überhaupt nichts falsch gemacht haben, dennoch die schlimmen Folgen seiner Handlung mit der Kraft des Mitgefühls auf uns zu nehmen.
(14) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand in tausend, Millionen, Milliarden von Welten vielerlei Unrühmliches über uns verbreitet, als Erwiderung liebevoll von seinen guten Eigenschaften zu sprechen.
(15) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn uns jemand öffentlich bloßstellt und schlecht über uns redet, uns voller Achtung vor ihm zu verneigen und unterscheidend festzustellen, dass die Person unser spiritueller Lehrer ist.
(16) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand, um den wir uns gekümmert und den wir geschätzt haben wie unser eigenes Kind, uns nun feindselig gegenübertritt, ihm besondere Zuneigung zu schenken, wie eine Mutter ihrem Kind, wenn es von Krankheit heimgesucht wird.
(17) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn uns jemand aus Arroganz beleidigend behandelt, sei er gleichgestellt oder unterlegen, voller Achtung vor ihm das Haupt zu neigen wie vor unserem spirituellen Meister.
Zwei kritische Situationen, die der Dharma-Praxis bedürfen
(18) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn wir in Armut leben und von anderen Menschen verachtet werden, von schlimmer Krankheit befallen oder von Geistern heimgesucht werden, uns nicht entmutigen zu lassen und stattdessen die negativen Kräfte und Leiden der anderen Lebewesen zu übernehmen.
(19) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn wir mit wohlgefälligen Worten gerühmt werden und zahlreiche Wesen respektvoll den Kopf vor uns neigen, oder wenn wir in den Besitz von Reichtümern gelangen, die denen des [Reichums-Gottes] Vaishravana gleichen, niemals eingebildet zu werden, da wir erkennen, dass weltlicher Reichtum ohne Essenz ist.
Feindseligkeit und Anhaftung überwinden
(20) Die Übung der Bodhisattvas ist, unseren Geistesstrom mit der Macht von Liebe und Mitgefühl zu zähmen, denn wenn wir unsere eigene Feindseligkeit nicht überwunden haben, mag es zwar sein, dass wir äußere Feinde bezwingen, doch sogleich werden sich wieder neue erheben und immer zahlreicher werden.
(21) Die Übung der Bodhisattvas ist, alle Objekte, die unser Hängen an etwas und unsere Anhaftung anwachsen lassen, sogleich aufzugeben, denn die Objekte der Begierden sind wie Salzwasser: Je mehr wir davon zu uns nehmen, umso größer wird der Durst.
Das tiefste Bodhichitta, die Verwirklichung der Leerheit, entwickeln
(22) Die Übung der Bodhisattvas ist, [den scheinbar] innewohnenden Merkmalen der wahrgenommen Objekte und des wahrnehmenden Geistes keine Aufmerksamkeit zu schenken, in dem Wissen, wie die Dinge wirklich existieren: denn ganz gleich, wie sie erscheinen mögen – die Erscheinung entstammt unserem eigenen Geist. Und der Geist selbst ist von Anbeginn an ohne die extremen Vorstellungen, die er fabriziert.
(23) Die Übung der Bodhisattvas ist, davon abzulassen, an gefälligen Objekten, auf die wir treffen, zu hängen und danach zu greifen - sie vielmehr zu betrachten wie einen Regenbogen im Sommer: Er erscheint wunderschön, doch ist er nicht wahrhaft existent.
(24) Die Übung der Bodhisattvas ist, widrige Umstände, auf die wir treffen, als Trugbilder anzusehen, denn vielerlei Leiden sind wie der Tod unseres Kindes im Traum – wie aufreibend, derlei trügerische Erscheinungen für wahr zu halten!
Die sechs weitreichenden Geisteshaltungen
(25) Die Übung der Bodhisattvas ist, freigebig zu sein, ohne etwas dafür zu erwarten oder in der Hoffnung auf karmische Ergebnisse. Denn wenn diejenigen, die Erleuchtung wünschen, sogar den eigenen Körper hergeben müssen, was braucht man da von äußerem Besitz überhaupt noch zu reden?
(26) Die Übung der Bodhisattvas ist, ethische Selbstdisziplin zu wahren, ohne weltliche Bestrebungen zu hegen. Denn wenn wir ohne ethische Selbstdisziplin nicht einmal unser eigenes Wohl verwirklichen können, ist es lachhaft, das Wohl der anderen bewirken zu wollen.
(27) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich Geduld anzugewöhnen, ohne irgendjemandem gegenüber Feindseligkeit zu hegen. Denn für einen Bodhisattva, der einen Reichtum an positiver Kraft aufbauen will, sind alle, die Schaden anrichten, wie ein kostbarer Schatz.
(28) Die Übung der Bodhisattvas ist, freudige Ausdauer aufzubringen - die Quelle von guten Qualitäten zum Nutzen der umherwandernden Wesen, denn wir sehen, dass selbst Shravakas und Pratyekabuddhas, die lediglich ihr eigenes Wohl verwirklichen, eine solche Ausdauer haben, dass sie sich von einem Feuer abwenden würden, das über ihrem Kopf ausbricht.
(29) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich geistige Stabilität zu eigen zu machen, die rein über die vier formlosen (Vertiefungen der Meditation) hinausreicht, denn wir wissen, dass ein Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, verbunden mit einem Zustand, der völlig still und zur Ruhe gekommen ist, die störenden Emotionen und Geisteshaltungen ganz und gar überwinden kann.
(30) Die Übung der Bodhisattvas ist, das unterscheidende Gewahrsein zu kultivieren, das mit wirksamen Methoden verbunden ist und keine Vorstellungen [wahrhafter Existenz] der drei Sphären hegt, denn ohne das unterscheidende Gewahrsein können die fünf [anderen] weitreichenden Geisteshaltungen nicht zur Verwirklichung vollkommener Erleuchtung führen.
Die tägliche Praxis eines Bodhisattva
(31) Die Übung der Bodhisattvas ist, fortwährend unsere Selbsttäuschungen zu untersuchen, denn wenn wir nicht selbst überprüfen, wo und wie wir uns täuschen, kann es passieren, dass wir etwas tun, das zwar die [äußeren] Form von Dharma hat, aber nicht Dharma ist.
(32) Die Übung der Bodhisattvas ist, nicht über die Fehler von jemandem zu reden, der sich auf den Mahayana-Pfad begeben hat, denn wenn wir unter dem Einfluss störender Emotionen und Geisteshaltungen über die Fehler von anderen reden, die Bodhisattvas sind, mindern wir nur uns selbst herab.
(33) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich von der Anhaftung an das häusliche Leben von Verwandten, Freunden und an die Wohnstätten von Mäzenen zu befreien, denn wenn wir unter dem Einfluss [des Begehrens nach] Gewinn und Ansehen stehen, werden wir miteinander streiten und unsere Aktivitäten des Zuhörens, Nachdenkens und Meditierens werden nachlassen.
(34) Die Übung der Bodhisattvas ist, barsches Reden aufzugeben, das den Geist anderer verstört, denn grobe Worte wühlen andere auf und bewirken, dass unser Bodhisattva-Verhalten sich verschlechtert.
(35) Die Übung der Bodhisattvas ist, dafür zu sorgen, dass die Wächter der Wachsamkeit und Vergegenwärtigung kraftvolle Abwehrmittel ergreifen und störende Emotionen und Geisteshaltungen wie Anhaftung usw. augenblicklich vertreiben, sobald sie erstmals aufgetreten sind. Denn wenn wir uns an die störenden Emotionen und Geisteshaltungen gewöhnen, wird es schwer sein, sie durch Gegenmittel abzuwenden.
(36) Kurz gesagt: Die Übung der Bodhisattvas ist, das Wohl der anderen zu bewirken, indem wir stets Vergegenwärtigung und Wachsamkeit aufrechterhalten und, wo immer wir sind und wie wir uns auch verhalten, uns fragen: In welcher Verfassung ist mein Geist?
(37) Die Übung der Bodhisattvas ist, mit dem unterscheidenden Gewahrsein, dass die drei Sphären völlig rein sind, die förderlichen Kräfte, die durch Bemühungen wie diese entstanden sind, der Erleuchtung zu widmen, um die Leiden der zahllosen umherwandernden Wesen zu beseitigen.
Abschließende Erklärung
Ich habe diese siebenunddreißig Übungen der Bodhisattvas gemäß der erhabenen Bedeutung dessen, was in den Sutras, Tantras und Abhandlungen kundgetan wurde, für diejenigen zusammengestellt, die sich auf dem Pfad der Bodhisattvas schulen wollen.
Da ich nicht sehr intelligent und nur wenig gebildet bin, sind sie nicht in einem Versmaß abgefasst, das die Gelehrten erfreuen würde, doch da ich mich auf die Sutras und die Worte der Erhabenen gestützt habe, denke ich, dass die [hier dargelegten] Bodhisattva-Übungen ohne Täuschung sind.
Nichtsdestotrotz bitte ich die Erhabenen, Nachsicht zu haben mit meinen vielen Fehlern, falls sich zum Beispiel etwas widersprechen sollte oder unzusammenhängend ist, denn für solche von so geringer Intelligenz wie mich ist es schwer, die Tiefe der großen Wogen des Bodhisattva-Verhaltens zu ermessen.
Mögen mithilfe der konstruktiven Kraft, die daraus entstanden ist, alle umherwandernden Wesen durch das höchste letztendliche und konventionelle Bodhichitta dem Beschützer Avalokiteshvara gleich werden, der weder im Extrem zwanghafter samsarischen Existenz noch in der Selbstzufriedenheit des Nirvana verweilt.
Diese Verse wurden in der Rinchen-Höhle in Ngulchu von dem disziplinierten Mönch Togme, einem Lehrer der Schriften und der Logik, zum eigenen Nutzen sowie auch zum Nutzen anderer verfasst.
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