Das kostbare menschliche Leben

Einführende Verse und Vers 1 bis 4

Einführung

Wir beginnen hier mit der Erläuterung des berühmten Textes „37 Übungen der Bodhisattvas“, der im 14. Jahrhundert in Tibet von Togme-Sangpo, einem Meister aus der Sakya-Tradition, verfasst wurde. Togme-Sangpo war wohlbekannt als ein wirklicher Bodhisattva, und sein Text wird in allen tibetischen Traditionen studiert.

Togme-Sangpo schrieb noch etliche andere Texte; der berühmteste davon ist sein Kommentar zu Shantidevas Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“. Er verfasste auch den frühesten Kommentar zu Geshe Chekawas „Schulung der Geisteshaltung in sieben Punkten“. Diese frühen Lehren des Mahayana-Buddhismus sind die Quelle für die Art von Übungen, die er beschreibt. Anhand dieser Kommentare sowie auch seiner „37 Übungen der Bodhisattvas“ selbst können wir erkennen, dass er mit Gewissheit ein Spezialist für den Weg der Bodhisattvas war.

Die Zahl 37 hat eine spezielle Bedeutung; sie taucht in buddhistischen Texten immer wieder auf. Es gibt 37 Praktiken bzw. Faktoren, die zu einem Zustand der Reinheit führen. Dazu gehören die vier festen Ausrichtungen der Vergegenwärtigung, der achtfache Pfad und anderes mehr. Das sind wohlbekannte Praktiken, die jeder anwendet, wenn er, der Hinayana-Tradition folgend, den Weg zur Befreiung beschreitet, oder, der Mahayana-Tradition folgend, auf dem Weg zur Erleuchtung ist. Aus diesem Grund wurde hier für die Bodhisattva-Übungen die Zahl 37 gewählt.

Wie es in Indien üblich war, beginnt der Text mit einer Ehrerbietung:

Ehrerbietung an Lokeshvara.

Lokeshvara ist ein anderer Name für die Buddha-Gestalt Avalokiteshvara. Buddha-Gestalten sind Repräsentationen verschiedener Qualitäten eines Buddha, in diesem Fall der Qualität des Mitgefühls. Fast alle Texte beginnen damit, dass der Autor seine Ehrerbietung an die Buddhas oder an eine Buddha-Gestalt zum Ausdruck bringt. Die anfängliche Ehrung weist gewissermaßen auf die Quelle der Inspiration für die Lehren hin, die in dem jeweiligen Text enthalten sind. Für einen Text über Bodhisattva-Übungen ist es also recht angemessen, dass dem Mitgefühl die Ehre erwiesen wird. Der Ehrung bzw. Ehrerbietung folgt eine Verbeugung:

Ich verneige mich stets voller Hochachtung mit meinen drei Toren [Körper, Sprache und Geist] vor den höchsten spirituellen Meistern und dem Beschützer Avalokiteshvara, die sehen, dass es bei den Phänomenen kein Kommen und Gehen gibt, und einzig bemüht sind, für das Wohlergehen der umherwandernden Lebewesen zu wirken.

Wenn wir uns verneigen, so geschieht das immer mit unseren drei Toren. Dabei handelt es sich um die drei Zugangswege bzw. Tore, mittels derer wir handeln, sprechen und denken, und dieser Ausdruck bezieht sich auf Körper, Sprache und Geist.

Vor wem verneigen wir uns? Zuerst und vor allem vor den höchsten spirituellen Meistern, den spirituellen Lehrern. Zweitens vor unserem Beschützer Avalokiteshvara, wobei das Wort „Beschützer“ darauf hinweist, dass er uns in gewisser Weise inspiriert und diese Inspiration uns davor beschützt bzw. behütet, selbstsüchtig und ohne Mitgefühl zu handeln. Es ist von Bedeutung, dass die spirituellen Meister noch vor Avalokiteshvara genannt werden. In den meisten Texten ist die Reihenfolge, in der die Worte genannt werden, aus einem bestimmten Grund so gewählt worden. Man muss bei der Übersetzung gut aufpassen, dass die richtige Reihenfolge eingehalten wird. Die spirituellen Lehrer sind die Quelle, aus denen alle Buddhas, und folglich Buddha-Gestalten, hervorgehen, in diesem Fall Avalokiteshvara.

In der Lebensgeschichte des indischen Meisters Naropa und seines Schülers Marpa, des berühmten tibetischen Übersetzers, wird das anschaulich beschrieben. Naropa offenbarte eines Tages das gesamte Mandala der Buddha-Gestalt Hevajra – etwa so wie ein riesiges Hologramm des Palastes von Hevajra und allen Gestalten darin. Dann fragte er Marpa: „Vor wem wirst du dich zuerst verbeugen, vor mir oder vor Hevajra?“ Marpa antwortete: „Nun, Sie sehe ich jeden Tag, aber dies ist das erste Mal, dass ich je Hevajra gesehen habe! Es ist wohl angebracht, dass ich mich zuerst vor Hevajra verneige.“ Da schnipste Naropa mit den Fingern und das ganze Mandala verschwand. Er berichtigte Marpa und sagte: „Du hast gerade einen großen Fehler gemacht, der mit Sicherheit nachteilige Folgen für dich haben wird. Du musst immer im Sinn behalten, dass es ohne die spirituellen Lehrer unmöglich ist, diese Buddha-Gestalten je zu verwirklichen. Die spirituellen Meister sind vorrangig.“

Dieser Bericht zeigt ganz klar, dass wir die verschiedenen Buddha-Gestalten nicht einfach so verehren wie Heilige, und ebenso wenig verehren wir die spirituellen Meister wie Heilige - sie werden uns nicht von ihrer Seite aus retten. Wir können vielmehr selbst Befreiung und Erleuchtung erreichen, indem wir ihren Anleitungen folgen und uns von ihnen inspirieren lassen.

Der Text nennt dann ein Charakteristikum der höchsten spirituellen Meister und von Avalokiteshvara, nämlich dass sie sehen, dass es bei den Phänomenen kein Kommen und Gehen gibt. Das steht in Verbindung mit den Lehren über die Leerheit, die sie vollkommen verstehen. Sie sehen klar und deutlich, dass nichts irgendeine unmögliche Art von Existenz hat, wozu auch unmögliche Arten von Kommen und Gehen gehören würden – ein Punkt, der auch von dem berühmten indischen Meister Nagarjuna in dem Vers der Ehrung hervorgehoben wurde, den er seinen „Wurzelversen zum mittleren Weg“ voranstellte:

Ich verneige mich vor dem vollkommen erleuchteten Buddha, dem besten aller Lehrer, der das abhängige Entstehen gelehrt hat, in dem geistige Fabrikationen zur Ruhe gekommen und (somit) befriedet sind, und das ohne Aufhören, ohne Entstehen, ohne Vernichtung, ohne Beständigkeit, ohne Kommen, ohne Gehen (und daher) nicht etwas Verschiedenes und auch nicht Eines ist.

Wir können dies in Zusammenhang mit unseren eigenen störenden Emotionen und den Schwierigkeiten und Problemen setzen, die durch diese störenden Emotionen verursacht werden. Wenn wir die verschiedenen Probleme untersuchen, die wir alle haben, wird klar: Es ist nicht so, dass diese als aus sich selbst heraus begründete, gegenständliche Entitäten existieren würden. Sie kommen und gehen nicht wie Tischtennisbälle, die in unserem Geist emporschießen und Unruhe stiften. All unsere störenden Emotionen und Probleme entstehen vielmehr in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen und setzen sich in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen fort. Wenn wir also diese Ursachen und Umstände beseitigen, werden wir die störenden Emotionen los. Wenn die störenden Zustände des Geistes einfach von sich aus auf feststehende Weise und unabhängig existieren würden, könnten wir nichts daran ändern. Was immer wir auch versuchen würden, um sie loszuwerden, hätte keine Wirkung, da sie ja von sich aus entstanden wären und weiterbestehen würden. Um anderen zu helfen, ist es notwendig zu erkennen, dass nicht nur störende Emotionen, sondern sämtliche Phänomene kein wahrhaft existentes, in sich selbst begründetes Kommen und Gehen haben.

Aufgrund dieses Verständnisses sind die höchsten spirituellen Meister und Avalokiteshvaraeinzig bemüht, für das Wohlergehen der umherwandernden Lebewesen zu wirken. Nur auf der Grundlage dieses Verständnisses der Leerheit - der eigentlichen Realität - kann man tatsächlich wirksame Anstrengungen unternehmen, um anderen zu nutzen. Wenn wir kein realistisches Verständnis davon haben, auf welche Weise Menschen und ihre Probleme existieren, wie könnten wir ihnen dann wirksam helfen? Oft kommen dabei nur weitere Missverständnisse und am Ende noch mehr Probleme für sie heraus.

Wenn es heißt, dass die Meister und Buddhas „einzig bemüht sind“, so bedeutet das, dass ihr alleiniges Ziel darin besteht, anderen zu helfen. Sie zielen nicht auf eigene, egoistische Zwecke ab, sondern handeln in der Absicht, ganz und gar für andere zu wirken. Deswegen ist hier die Rede von höchsten spirituellen Meistern, nicht bloß von irgendwelchen Meistern, denn es gibt viele spirituelle Lehrer, die zwar möglicherweise anderen helfen, aber eigentlich auch auf ihren eigenen Nutzen aus sind.

In der Formulierung „für das Wohlergehen der umherwandernden Lebewesen“ bezieht sich der Ausdruck „umherwandernde Lebewesen“ auf uns alle. Manchmal wird stattdessen auch der Ausdruck „fühlende Wesen“ verwendet. Wir wandern hilflos von einer Wiedergeburt zur nächsten, und diese sind alle voller Leiden und Probleme. Für das Wohlergehen der Lebewesen zu wirken heißt, ihnen dabei zu helfen, das für sie angemessene spirituelle Ziel zu erreichen, welches sie anstreben, sei es Befreiung oder Erleuchtung.

Der zweite einleitende Vers lautet:

Vollkommen erleuchtete Buddhas, die Quellen von Glück und Nutzen, sind dadurch entstanden, dass sie den erhabenen Dharma verwirklichten. Da dies wiederum davon abhängig war, dass sie wussten, wie man sich darin übt, werde ich die Übungen der Bodhisattvas erklären.

Dieser Vers beinhaltet das Versprechen, den Text zu verfassen, mit dem der Autor bekundet, dass er etwas Bestimmtes erklären wird. Eine solche Absichtserklärung ist in indischen und tibetischen Texten üblich. Der Vers beginnt mit den Worten „Vollkommen erleuchtete Buddhas, die Quellen von Glück und Nutzen“. Damit wird zum Ausdruck gebracht: Durch ihre Lehren erlangen wir den Nutzen, dass wir Befreiung von allen Leiden oder auch Erleuchtung und das damit verbundene Glück erlangen, und im Zustand der Erleuchtung sind wir imstande, jedem von Nutzen zu sein.

Wie wurden die Buddhas zu Quellen von Glück und Nutzen? Das kam dadurch zustande, dass sie den erhabenen Dharma verwirklichten. Wenn vom erhabenen Dharma die Rede ist,so ist darunter das so genannte Dharma-Juwel zu verstehen, das in Verbindung mit der dritten und vierten edlen Wahrheit steht. Die dritte edle Wahrheit bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die wahre Beendigung aller Probleme und ihre Ursachen im geistigen Kontinuum eines Buddha, während die vierte edle Wahrheit den wahren Pfad darstellt, d.h. die geistigen Bahnen, die zu Befreiung und Erleuchtung führen. Es handelt sich dabei um das Verständnis der Realität, das als Pfad wirkt, um zu dieser wahren Beendigung zu gelangen, und auch das Verständnis, welches das Resultat jener Beendigung ist. Damit wird ein Zustand beschrieben, in dem alles Leiden, alle Probleme, störenden Emotionen und derartigen Einschränkungen aufgehört haben, und überdies alle nur möglichen Erkenntnisse verwirklicht worden sind. Ein vollkommen erleuchteter Buddha hat das verwirklicht, d.h., er oder sie hat all das tatsächlich in seinem geistigen Kontinuum zustande gebracht.

Buddhas waren nicht schon seit jeher erleuchtet, sondern sie waren nicht anders als wir auch. Sie unternahmen harte Anstrengungen, um all die Verwirrung, die störenden Emotionen, die Leiden usw. zu beseitigen, die ihren Geist umhüllten. Es ist von wesentlicher Bedeutung, zu wissen, dass diese „flüchtigen Makel“ einfach wie Wolken sind, die den Geist umhüllen. Sie gehören keineswegs zur Natur des Geistes, denn sie können vollständig beseitigt werden.

Um all das zu verstehen und tatsächlich Überzeugung davon zu gewinnen, ist natürlich allerhand Studium und Überlegung erforderlich. Aber es ist notwendig, dass wir versuchen, zu der Überzeugung zu gelangen, dass es tatsächlich möglich ist, durch korrektes Verständnis all die Verwirrung loszuwerden und Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Es ist wichtig, zu dem Verständnis zu gelangen, dass nicht nur andere Menschen dazu imstande sind, sondern dass wir selbst imstande sind, dieses korrekte Verständnis zu entwickeln und es jederzeit zu haben. Jede/r von uns kann all die Verwirrung im Geist loswerden und, wie ein Buddha, wahre Beendigung all dessen erlangen, indem wir die vierte edle Wahrheit verwirklichen – die wahren Pfade des Geistes.

Wie konnte Buddha all das erreichen? Zuerst einmal entdeckte er die eigentlichen Übungen, mit denen sich das bewerkstelligen ließ; er erfuhr davon und hörte genau zu. Dann sann er darüber nach, überlegte und analysierte, bis er ein korrektes und vollständiges Verständnis erlangt hatte, und meditierte schließlich darüber, um all das tatsächlich zu integrieren und zu verwirklichen. Es ist sehr wichtig, sich klarzumachen, dass dies, wie Togme-Sangpo hier sagt, davon abhängig war, dass sie wussten, wie man sich darin übt. Mit anderen Worten: Wir müssen erfahren, was diese Bodhisattva-Übungen sind: was wir in die Tat umsetzen müssen, um selbst Buddhas zu werden. Da Buddhaschaft davon abhängig ist, kündigt Togme-Sangpo nun an, dass er sie erklären wird, sodass wir sie kennenlernen können. Aufgrund dessen können wir dann darüber nachdenken, versuchen, sie zu verstehen, und anschließend darüber meditieren, sodass wir sie schließlich in die Tat umsetzen können.

Das kostbare menschliche Leben

Genau wie in den Lehren des Lam-rim, des Stufenweges, beginnt auch Togme-Sangpo hier damit, wie man sich dieses kostbare menschliche Leben vollständig zunutze macht, denn es ist die Grundlage dafür, dass wir tatsächlich Befreiung und auch vollkommene Erleuchtung erlangen können.

Auf diese Weise beginnt Togme-Sangpo also den ersten der 37 Verse:

(1) Die Übung der Bodhisattvas ist: jetzt, da wir das große Boot zur Verfügung haben, das so schwer zu finden ist, [nämlich ein menschliches Leben,] das mit reichen Ausstattungen versehen ist und uns Muße gewährt, Tag und Nacht unbeirrt zuzuhören, nachzudenken und zu meditieren, um uns selbst und andere aus dem Ozean des zwanghaften Daseinskreislaufs zu befreien.

Wenn man dies liest, hat man ein kostbares menschliches Leben zur Verfügung - das, was Togme-Sangpo als das große Boot bezeichnet. Dieses Bild findet sich auch in Shantidevas Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“:

(VII.14) Im Boot der menschlichen Wiedergeburt sitzend, überquert den mächtigen Fluss des Leidens! Jetzt, mit diesem Boot, das ungemein schwer nochmals zu erreichen sein wird, ist es nicht an der Zeit zu schlafen, ihr Toren!

So wie wir mit einem Schiff riesige Meere überqueren können, gleicht unsere menschliche Wiedergeburt einem Schiff, das uns über den Ozean von Samsara zur anderen Seite hinübertragen kann, zur Befreiung. „Samsara“ ist die Bezeichnung für unsere zwanghaft immer wieder auftretenden Wiedergeburten in immer wieder neue Leben voller Probleme und Verwirrung. Welche Merkmale kennzeichnen das große Boot des kostbaren menschlichen Lebens? Es sind die acht Arten von Ruhepausen und zehn Bereicherungen.

Das Wort „Ruhepause“ bezeichnet so etwas wie eine Zeit der Muße. Einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargye, pflegte zu sagen, dass es sehr hilfreich sei, uns selbst als Touristen aus den schlimmsten durch Wiedergeburt erreichbaren Stätten zu betrachten, die sich nur für einen kurzen Urlaub im menschlichen Bereich aufhalten. Wir genießen eine kurze Auszeit, aber dann werden wir uns zweifellos wieder zurück zu schlimmeren Stätten begeben. Wir brauchen hier nicht die ganze Liste der acht Arten von Ruhepausen und zehn Bereicherungen durchzugehen. Kurz gesagt: Die Bereicherungen sind Qualitäten bzw. Aspekte, die das gegenwärtige Leben bereichern und uns hervorragende Möglichkeiten für spirituelle Praxis verschaffen. Wenn wir in einem der schlimmeren Bereich für Wiedergeburt leben würden oder als Mensch an einem Ort, wo es keinen Zugang zum Dharma gibt oder wo alle Arten spiritueller Praxis verfolgt werden usw., hätten wir gewiss nicht die Muße, einem spirituellen Weg folgen zu können. Wenn wir als Kakerlake geboren worden wären, was könnten wir da schon zustande bringen, wenn jeder, der uns sieht, uns bloß zertreten will?

Unser Leben ist voller reichhaltiger Möglichkeiten. Wir haben Zugang zu den Lehren, es gibt spirituelle Lehrer, Bücher, Menschen, die Dharmazentren unterstützen, und vieles mehr, was es uns ermöglicht, einen spirituellen Weg zu beschreiten. Solch eine Situation ist überaus selten und schwer zu finden, wie Togme-Sangpo in seinem Text betont. Allein wenn wir uns die Anzahl von Insekten und Tieren bewusst machen, die diese Welt bevölkern, ganz zu schweigen von Wesen in anderen Bereichen, die wir nicht wahrnehmen können, wird klar, dass die Anzahl menschlicher Wesen im Vergleich dazu ungeheuer klein ist. Und wie viele dieser Menschen haben tatsächlich Zugang zum Dharma? Vielleicht nimmt die Anzahl dieser Menschen mit der Verbreitung des Internets zu, aber wie viele von denjenigen, die Zugang dazu haben, sind tatsächlich ernsthaft am Dharma interessiert? Wie viele Leute werfen auf Webseiten mit Dharma-Inhalten nur einen kurzen Blick und überspringen sie dann? Wie viele derjenigen, die Interesse am Dharma und Zugang dazu haben, halten es für wichtig genug, um ihm einen wesentlichen Platz in ihrem Leben einzuräumen? Und wie viele davon unternehmen große Anstrengungen, um etwas darüber zu lernen, darüber nachzudenken und zu meditieren? Tatsächlich sind das sehr wenige. Die meisten Menschen, selbst wenn sie interessiert sind, haben einfach keine Zeit oder messen ihm nicht die Priorität zu, die eigentlich angemessen wäre.

Die beste Art, sich die Vorteile dieses kostbaren menschlichen Lebens zunutze zu machen, das so schwer zu erlangen ist, besteht darin, es dafür zu verwenden, Tag und Nacht unbeirrt zuzuhören, nachzudenken und zu meditieren. Das weist darauf hin, dass es notwendig ist, Dharma tatsächlich zu lernen; wir müssen zuhören, was die Lehren besagen, und sie dann studieren. Ursprünglich wurden alle Lehren mündlich weitergegeben, ohne dass es schriftliche Aufzeichnungen gab; deswegen ist in den Texten immer noch davon die Rede, dass man die Lehren „hören“ muss. In der heutigen Zeit kann das aber auch einschließen, dass man Dharma liest und studiert. Das ist der Anfang: Wir müssen etwas darüber erfahren, denn, wie Togme-Sangpo weiter oben im Text erwähnte, hängt die Verwirklichung des Dharma davon ab, dass man weiß, wie man sich darin übt.

Es ist nicht nur erforderlich, Dharma zu lernen, sondern auch, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass er aus verlässlicher, authentischer Quelle stammt. Damit wir nicht verwirrt oder irregeführt werden, ist es notwendig zu unterscheiden und zu entscheiden, wem wir zuhören und was wir studieren. Das ist schwierig, denn es sind enorm viele Bücher im Umlauf und Lehrer unterwegs, auf die man sich nicht verlassen kann. Seine Heiligkeit der Dalai Lama erklärt stets, dass wir zwar nicht sehen können, was im Kopf eines Lehrers vor sich geht, aber zumindest darauf achten können, wie sie sich in konventioneller, weltlicher Hinsicht verhalten, wie sie mit ihren Schülern umgehen und was sie allgemein für ein Leben führen. Eines der Bodhisattva-Gelübde besteht darin, alles zu unterlassen, was andere veranlassen würde, den Glauben an den Dharma zu verlieren; wenn ein Lehrer sich also unehrenhaft verhält, hält er seine Bodhisattva-Gelübde nicht ein.

Auch hinsichtlich Büchern und Webseiten gilt es zu unterscheiden, denn nicht alle davon sind authentisch oder enthalten gute Übersetzungen. Es ist ratsam, das, was wir lesen, mit anderen Texten zu vergleichen, um festzustellen, ob es einen Sinn ergibt, und wir können auch Menschen, die wir schätzen und respektieren, um ihre Meinung fragen, was sie von diesem oder jenem Buch halten. Nachdem wir uns Gewissheit über die Authentizität der Quellen und Lehrer verschafft haben, ist es wichtig, eine Weile damit zu verbringen, wirklich darüber nachzudenken, was wir gelernt und gelesen haben, damit wir es verstehen können. Das ist nicht etwas, das schnell vonstatten geht - es erfordert eine Menge Zeit. Wenn wir versuchen, über etwas zu meditieren, ohne zu verstehen, was wir da eigentlich tun, oder wenn wir diesbezüglich noch voller Zweifel sind, wird das nur noch mehr Verwirrung stiften.

Deswegen kommt in der buddhistischen Tradition der Debatte ein wichtiger Platz als Lernmittel zu; ihr Zweck besteht darin, auf die Meditation vorzubereiten, indem jegliche Zweifel hinsichtlich eines bestimmten Themas geklärt und ausgeräumt werden. Man hinterfragt das eigene Verständnis selbst nie sonderlich stark, doch andere fordern es unnachgiebig heraus, und genau deswegen ist es wichtig, mit anderen zu debattieren. Alle Schüler müssen sich in der Debatte üben; niemand kann einfach nur in der Klasse sitzen und vor sich hin dösen. Debatte findet in den tibetischen Traditionen in einem Rahmen statt, in dem alle gleichzeitig debattieren, und zwar sehr laut und in kleinen Gruppen direkt nebeneinander. Das ist sehr von Vorteil, denn so sind die Teilnehmer gezwungen, sich zu konzentrieren. Ohne gute Konzentrationsfähigkeit ist es völlig unmöglich, im tibetischen Stil zu debattieren. Und diese Konzentrationsfähigkeit kann man dann in der Meditation verwenden.

Außerdem ist es in der Debatte unvermeidlich, dass jemand etwas Törichtes sagt und alle in Gelächter ausbrechen. Das ist sehr nützlich, um ein großes Ego etwas zu dämpfen, und auch das ist ein wichtiger Aspekt, der in die Meditation mit eingebracht wird. Wenn wir mit einem großen Ego meditieren und uns einbilden, ein großartiger Meditierer zu sein, oder uns aufspielen: „Seht, wie ich 100.000 Wiederholungen von diesem oder jenem schaffe“, dann dient das nur der Verstärkung des Ego, statt es zu verringern. Auch wenn wir nicht die Möglichkeit haben zu debattieren, ist es unerlässlich, wirklich über den Dharma nachzudenken und die Inhalte zu hinterfragen. Es ist wichtig, immer nachzuhaken und Fragen zu stellen! Ich habe festgestellt, dass Übersetzen, Aufschreiben der Lehren, Transkripte Erstellen usw. hervorragende Gelegenheiten sind, über die Lehren nachzudenken. Um etwas erklären oder übersetzen zu können, muss man es verstehen.

Und es ist unerlässlich, zu meditieren. Meditieren bedeutet eigentlich, die förderliche Gewohnheit eines neuen Verständnisses oder einer neuen Geisteshaltung aufzubauen, indem man dieses Verständnis bzw. diese Geisteshaltung wieder und wieder übt. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Es ist wie beim Klavierspielen-Lernen – man muss üben. Wenn wir genug üben, fällt es uns irgendwann leicht und wird zu etwas ganz Natürlichem für uns. Wir können dann spielen, ohne bewusst zu überlegen, wo diese oder jene Note auf der Tastatur angeschlagen werden muss. Ähnlich ist es, wenn wir immer wieder über Liebe, Mitgefühl, ein korrektes Verständnis der Leerheit usw. meditieren - diese Qualitäten werden uns dann allmählich selbstverständlich werden.

Es ist notwendig, wie Togme-Sangpo hervorhebt, das Tag und Nacht unbeirrt zu tun. Das heißt: Man muss konsequent dabeibleiben. Das Wort „unbeirrt“ kann auch so verstanden werden, dass es bedeutet: ohne geistig abzuschweifen. „Tag und Nacht“ bedeutet, dass man sich, wann immer sich die Gelegenheit bietet, Dharma zu hören, Zeit dafür nimmt und dem Priorität einräumt. Wir müssen nicht formell in einer bestimmten Umgebung sitzen, um über Dharma nachzudenken; wir können das überall und jederzeit tun. Selbst unter der Dusche oder beim Essen oder ganz gleich, was wir gerade tun, können wir die Zeit nutzen, um über diesen oder jenen Inhalt des Dharma nachzudenken. Es ist klar, dass wir nicht jede Sekunde unseres Lebens dafür verwenden können; das wäre unnatürlich. Doch es geht darum, dass wir nicht eine spezielle Sitzung daraus machen müssen, die in einem besonderen Raum mit allen möglichen Dekorationen und Utensilien stattfindet, welche nach Meinung vieler Leute in einem Meditationsraum vorhanden sein müssen. Das brauchen wir alles nicht. Milarepa hatte das sicher nicht, und wir brauchen es auch nicht.

Wir sollten unsere Meditation nicht auf etwas beschränken, das lediglich auf einem Meditationskissen stattfindet. Wenn wir zum Beispiel an einer Kasse anstehen oder in einem Verkehrstau stecken, ist das eine ausgezeichnete Gelegenheit, über Geduld zu meditieren und sie zu üben. Viele Menschen üben buddhistische Meditationen, die mit Liebe und Mitgefühl zu tun haben, nur mit visualisierten Wesen, sind aber nicht imstande, sie auf reale Menschen anzuwenden. Das ist ein großer Fehler. Es geht darum, zu versuchen, all die guten Gewohnheiten, die wir mithilfe der Meditation aufbauen, auf reale Situationen im Leben mit wirklichen Menschen anzuwenden. Deswegen heißt es in Togme-Sangpos Text „Tag und Nacht“.

Was ist der Grund dafür bzw. der Zweck davon, dies zu tun? Togme-Sangpo nennt diesen Grund in der nächsten Zeile: um uns selbst und andere aus dem Ozean des zwanghaften Daseinskreislaufs zu befreien. Uns aus dem Daseinskreislauf (Samsara) zu befreien bedeutet, dass wir uns Befreiung und Erleuchtung als Ziel gesetzt haben, womit wir die Fähigkeit erlangen, auch andere aus diesem Ozean zu befreien. Das Wort „Ozean“ steht natürlich wieder mit dem Bild in Verbindung, das zu Beginn des Verses genannt wurde, dem großen Schiff als Analogie für das kostbare menschlichen Leben.

Sich die Vorteile des kostbaren menschlichen Lebens zunutze machen

Als nächstes erklärt Togme-Sangpo die Umstände, die am förderlichsten dafür sind, sich das kostbare menschliche Leben, das wir gegenwärtig haben, zunutze zu machen.

(2) Die Übung der Bodhisattvas ist, das Heimatland zu verlassen, wo uns einerseits die Anhaftung an Freunde aufwühlt wie Wasser und andererseits der Ärger über Feinde wie Feuer in uns brennt, und wo uns Naivität in Dunkelheit hüllt, sodass wir vergessen, was anzunehmen und was aufzugeben ist.

Wenn wir in unserer Heimat bleiben, sei es ein Dorf, eine Stadt, ein Land oder sonst irgendein Ort, an dem wir aufgewachsen sind, sind die Erfahrungen und Beziehungen, die wir haben normalerweise von schlechten Gewohnheiten und störenden Gefühlen geprägt. Deshalb wird geraten, wenn möglich unsere Heimat zumindest eine gewisse Zeitlang zu verlassen, sodass wir Abstand von diesen negativen Gewohnheiten und einen anderen Blickwinkel auf unser Leben gewinnen. Man könnte sich z.B. eine Weile in ein Klausurzentrum zurückziehen, an einem intensiven Studienprogramm für Dharma teilnehmen, nach Indien oder Nepal reisen – es gibt viele verschiedene Möglichkeiten.

Wenn wir zu Hause bleiben, so erklärt Togme-Sangpo, erleben wir oft, dass uns Anhaftung an Freunde aufwühlt wie Wasser. Stellen Sie sich ein Blatt vor, das irgendwo hingeweht wurde, wo es vom Wasser davongetragen und umhergeschleudert wird. Ähnlich ergeht es uns, wenn wir an Freunden hängen, die uns vielleicht zu einem Kneipenbummel ermutigen; wir lassen uns einfach mitziehen, wie ein Blatt, das vom Wasser mitgerissen wird. Wenn Freunde uns eine Zigarette oder Alkohol anbieten, schlagen wir es nicht ab, denn wir hängen an ihnen und derartigen Annehmlichkeiten. Wir wollen sie nicht enttäuschen, wir möchten, dass unsere Freunde uns mögen und nicht etwa denken, wir wären ein Sonderling. Wir möchten dazugehören und unsere Freunde nicht verlieren. Solche Anwandlungen kommen auf und hindern uns daran, in unserer Dharma-Praxis „den Kurs zu halten“, wie man im Tibetischen sagt.

Andererseits kommt es vor, dass Ärger über Feinde wie Feuer in uns brennt. Die Leute, die wir am besten kennen, gehen uns oft am meisten auf die Nerven, nicht wahr? Das passiert, wenn sie nicht tun, was wir möchten, oder etwas nicht so machen, wie wir es tun würden. Wenn der Freund nicht angerufen hat oder unser Auto kaputtgeht, werden wir sehr ärgerlich, weil wir die Erwartung haben, dass die vertrauten Menschen und Gegenstände uns immer zur Verfügung stehen und sich so verhalten, wie wir es möchten.

Die dritte nachteilige Einstellung, die besonders bei fortwährendem Aufenthalt in der Heimat mit den altvertrauten Leuten hervortritt, ist Naivität, verbunden damit, dass wir vergessen, was anzunehmen und was aufzugeben ist. Der Ausdruck „was anzunehmen und was aufzugeben ist“ bezieht sich auf die konstruktiven Handlungen, die es anzunehmen gilt, und die negativen, die es aufzugeben gilt. Wenn wir mit unseren Freunden zusammen sind oder mit Leuten, die wir nicht mögen und die uns auf die Nerven gehen, neigen wir dazu, die Einstellungen und Verhaltensweisen zu vergessen, die wir annehmen bzw. entwickeln wollten. Was wollten wir denn eigentlich in unserem Geist beseitigen? Es geht um Ärger, Anhaftung usw.. Wenn wir naiv sind, sind wir uns nicht darüber im Klaren, was für uns und andere förderlich und was schädlich ist. Diese Naivität hüllt uns in Dunkelheit- fast so, als würden wir uns eine Papiertüte über den Kopf ziehen.

(3) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich der Einsamkeit abgelegener Orte anzuvertrauen, wo die störenden Emotionen und Einstellungen nach und nach verblassen, indem wir von der Beschäftigung mit abträglichen Objekten ablassen, und wo unsere aufbauenden Aktivitäten auf natürliche Weise zunehmen, weil es keine Ablenkungen gibt, und, indem wir unser Gewahrsein läutern, die Gewissheit hinsichtlich des Dharma wächst.

Das wären die Umstände, die am förderlichsten dafür wären, sich dieses kostbare menschliche Leben zunutze zu machen. Nachdem wir unser Heimatland verlassen haben, ist es empfehlenswert, sich an einen ruhigen, abgelegenen Ort zu begeben. Wenn wir unsere Heimat gegen eine Wohnstätte in einer geschäftigen, lärmigen Großstadt eintauschen, ist das vermutlich bei Anfängern der Dharma-Praxis nicht besonders förderlich. In der Tat war so etwas im traditionellen Indien eine der Übungen für jemanden, der eine bestimmte Ebene der Stabilität in seiner spirituellen Praxis erreicht hatte. Die großen Yogis zogen dann los, um „direkt an der Kreuzung“ zu leben, so lautete der Ausdruck, also wörtlich an einer geschäftigen Straßenkreuzung. Das war wirklich eine Herausforderung und half ihnen zu erkennen, ob ihre spirituelle Praxis und Errungenschaften tatsächlich stabil waren. Aber sich solchen Herausforderungen auszusetzen ist eine Übung, die erst viel später in der spirituellen Entwicklung ihren Platz hat; anfangs ist das Leben in Abgeschiedenheit wichtig.

Diese beiden Verse erinnern stark an das, was Shantideva im „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ schrieb:

(VIII.37) „Ich will in lieblichen, ergötzlichen Wäldern mit wenig Sorgen in Glück und Wohlbefinden in Abgeschiedenheit leben und alle Ablenkungen zum Schweigen bringen.
(VIII.38) Nachdem ich von allen anderen Vorhaben abgelassen habe, strebe ich mit konzentrierter Absicht, die einzig auf dieses Ziel gerichtet ist, danach, meinen Geist in vertiefter Konzentration zur Ruhe zu bringen und ihn zu zähmen.

Worauf können wir hoffen, wenn wir in Abgeschiedenheit leben? Nun, indem wir von der Beschäftigung mit abträglichen Objekten ablassen, werden die störenden Emotionen und Einstellungen nach und nach verblassen. Der Ausdruck „abträgliche Objekte“ bezieht sich auf etwas, woran wir sehr hängen, oder auf etwas, was uns sehr ärgert. Er kann sich auch auf ein Übermaß an Speisen oder die Verfügbarkeit von Alkohol und Drogen beziehen, die uns benebeln oder geistig träge machen. Wenn wir uns von dem befreien, was störende Emotionen in uns aufsteigen lässt, ist das zwar keine endgültige Lösung dafür, diese ganz zu beseitigen, aber es hilft doch dabei. Dann verblassen die störenden Emotionen und Geisteshaltungen allmählich, d.h. sie werden gedämpft. Auf diese Weise lassen sie allmählich nach.

Ich denke wir kennen so etwas aus eigener Erfahrung. Wenn z.B. unsere Ehe gescheitert ist und wir geschieden sind, wäre es sehr schwierig, damit fertigzuwerden, wenn wir unseren früheren Ehepartner jeden Tag sehen. Der Ärger und die störenden Emotionen würden immer wieder aufwallen. Doch wenn wir ihn oder sie für längere Zeit nicht gesehen haben, nimmt die Stärke unseres Ärgers und Unmuts ab, nicht wahr? Das Gleiche gilt, wenn wir noch an jemandem hängen, der uns verlassen hat. Wenn wir ihn oder sie ständig sehen, werden das Verlangen und der Schmerz immer weiter andauern. Doch mit etwas Abstand lassen diese störenden Emotionen nach.

Was für Vorteile hat Abgeschiedenheit noch? Togme-Sangpo sagt, dass weil es keine Ablenkungen gibt, unsere aufbauenden Aktivitäten auf natürliche Weise zunehmen. Wenn wir uns ganz und gar von E-Mails, Mobiltelefonen, Filmen, Unterhaltungsprogrammen, Vereinen, Partys, Fernsehen und all dem fernhalten könnten, gäbe es kaum Ablenkungen, und wir würden natürlich unsere Zeit konstruktiver nutzen, wenn das der Zweck unserer Abgeschiedenheit ist. Das Gleiche gilt für Musik. Viele Menschen sind derart süchtig nach Musikberieselung, dass sie nur noch mit eingestöpselten Kopfhörern herumlaufen und es ihnen schwerfällt, auch nur ein paar Augenblicke ohne Musik auszukommen. Im Grunde hindert sie das daran, konzentriert über irgendetwas nachzudenken. Ohne solche Ablenkungen haben wir Gelegenheit, unserem Geist gegenüberzutreten, und können versuchen zu verstehen, was in ihm vorgeht.

Es ist auch erstaunlich, das extreme Phänomen unaufhörlicher Beschäftigung mit dem Smartphone zu beobachten. Immer wenn ich Leute im Bus oder Zug betrachte, wird klar, dass die große Mehrheit unfähig ist, einfach nur da zu sitzen; jeder spielt auf seinem Handy oder mit irgendeinem elektronischen Gerät herum. Es ist wirklich seltsam. Wenn wir diese Ablenkungen loswerden, nehmen unsere konstruktiven Aktivitäten natürlicherweise zu, weil wir mehr Zeit haben.

In der letzten Zeile des Verses heißt es, dass, indem wir unser Gewahrsein läutern, die Gewissheit hinsichtlich des Dharma wächst. Wenn wir in Abgeschiedenheit leben, wird unser Gewahrsein, Verständnis usw. klarer, weil wir fern von jenen abträglichen Objekten und Ablenkungen sind. Mit mehr Zeit und weniger Ablenkungen sind wir in der Lage, unsere Zweifel usw. zu untersuchen und uns wirklich auf den Dharma zu konzentrieren. Dann wächst unsere Überzeugung und Gewissheit in Bezug auf den Dharma. Das ist wirklich lohnenswert.

Doch wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass einfach in Abgeschiedenheit zu leben und unsere Heimat zu verlassen keine Garantie dafür bietet, dass die störenden Emotionen und Ablenkungen sich verringern. Selbst an etwas so Kleinem wie unserem Meditationskissen können wir sehr hängen oder uns ungemein über Moskitos ärgern oder, wenn wir an einer Gruppenklausur teilnehmen, über die anderen Leute, die husten oder herumzappeln. Wir können uns nicht einfach bloß auf den Aufenthalt in Abgeschiedenheit verlassen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die störenden Emotionen nachlassen, ist größer, wenn die vertrauten Objekte nicht mehr da sind, durch die sie immer wieder angestachelt werden. Als zusätzliches Mittel, um zu gewährleisten, dass wir den störenden Emotionen usw. nicht nachgeben, denken wir an Tod und Unbeständigkeit.

Tod und Unbeständigkeit

(4) Die Übung der Bodhisattvas ist, vom ausschließlichen Trachten nach den Belangen des jetzigen Lebens abzulassen, in dem sich Freunde und Bekannte, die lange vereint waren, schließlich doch trennen müssen, Reichtum und Besitztümer, die mit Anstrengung zusammengetragen wurden, doch zurückgelassen werden müssen, und unser Bewusstsein, der Gast, das Gasthaus des Körpers verlassen muss.

Wir haben dieses kostbare menschliche Leben und es ist angebracht zu versuchen, dessen Vorteile voll und ganz zu nutzen. Wie können wir das bewerkstelligen? Erst einmal ist es notwendig, über die Zeit dieses Lebens hinaus zu denken. Selbst wenn wir uns in Abgeschiedenheit begeben, kann es sein, dass wir uns immer noch um unsere Freunde und Besitztümer usw. sorgen. Togme-Sangpo sagt, dass es notwendig ist, vom ausschließlichen Trachten nach den Belangen des jetzigen Lebens abzulassen. Wie seine Heiligkeit der Dalai Lama erklärt, ist es unrealistisch und wahrscheinlich nicht möglich, zu sagen, wir hätten unser Interesse an den Angelegenheiten dieses Lebens zu 100% aufgegeben. Schließlich müssen wir unseren Lebensunterhalt verdienen, uns von etwas ernähren, und wenn wir eine Familie haben, auch für sie sorgen. Am besten, so sagt seine Heiligkeit, wäre eine Aufteilung 50/50 – 50% des Interesses auf die weltlichen Dinge dieses Lebens gerichtet und 50 % auf die spirituellen Ziele, die über dieses Leben hinausgehen.

Die Art und Weise, wie wir davon ablassen, unser Interesse ganz und gar auf dieses Leben auszurichten, besteht darin, zu überlegen, dass sich Freunde und Bekannte, die lange vereint waren, schließlich doch trennen müssen, wie Togme-Sangpo erwähnt. Das ist so wahr! Wenn wir Tod und Unbeständigkeit in Betracht ziehen, erweist sich das ganz deutlich. Der große tibetische Meister Gungtang Rinpoche veranschaulicht das sehr schön in seinem Text „Übungen, in Versen, wie man über Unbeständigkeit meditiert“:

(11) Freunde, Verwandte, Begleiter und Anhänger sind wie Blätter, die von einem starken Wind zusammengetrieben wurden. Nach einer Weile zerstreuen sie sich über Berg und Tal. Nie wieder zusammenzukommen liegt am Ende allen Zusammenkommens.

Wir und diejenigen, die uns jetzt nahestehen, sind sie Blätter, die vom Baum gefallen sind und vom Wind umhergeweht werden. Für kurze Zeit reisen wir in den Winden des Karma gemeinsam, aber schließlich treibt der Wind die Blätter auseinander und sie fliegen in verschiedene Richtungen davon.

Reichtum und Besitztümer, die mit Anstrengung zusammengetragen wurden, müssen zurückgelassen werden. Wenn wir sterben, können wir nichts mitnehmen. Diejenigen von Ihnen, die Verwandte, vielleicht Eltern, hatten, die gestorben sind, haben vermutlich festgestellt, dass nachdem jemand gestorben ist, oftmals selbst seine liebsten Besitztümer nur noch Gerümpel sind. Niemand möchte sie behalten und schließlich wird fast alles weggeworfen. Wenn jemand wohlhabend war, geschieht es oft, dass die Verwandten in Streit geraten, sich anfeinden und darum kämpfen, wer das Geld bekommt. Klar wird: Es hat wenig Sinn, alle unsere Anstrengungen darauf zu verwenden, Reichtum und Besitz anzuhäufen, der dann bloß auf dem Sperrmüll landet oder zu Streit unter den Nachfahren führt. Shantideva schreibt:

(III. 11cd) Da das Hingeben aller Dinge (mit dem Tod) zusammenfällt, ist es am besten, den begrenzten Wesen (jetzt etwas) zu geben.

Während wir noch die Zeit dazu haben - bevor wir sterben -, ist es ratsam, Besitztümer und Gegenstände anderen zukommen zu lassen, die sie tatsächlich brauchen.

Ich habe das bei meinem eigenen Lehrer, Serkong Rinpoche, erlebt. Er schien ziemlich genau zu wissen, wann er sterben würde, und bevor er starb, verschenkte er einen Großteil dessen, was er besaß. Viele seiner Bücher, darunter die gesammelten Werke Tsongkhapas, gab er einem Kloster, und seine kostbarsten Ritualgegenstände schenkte er anderen. Es war ganz klar, dass er den Rat befolgte, dass Reichtum und Besitztümer, die mit Anstrengung zusammengetragen wurden, zurückgelassen werden müssen.

Nun kommen wir zur letzten Zeile, die besagt, dass unser Bewusstsein, der Gast, das Gasthaus des Körpers verlassen muss. Shantideva verwendet das gleiche Bild:

(VIII.33) So, wie Reisende, die auf Straße wandern, eine Herberge aufsuchen, so nehmen Reisende, die auf der Straße der zwanghaften Existenz wandern, eine Wiedergeburt als Aufenthaltsort an.

Es ist wichtig, beide Verse richtig zu verstehen. Es geht nicht um ein festes „Ich“, das in unserem Körper sitzt wie eine Entität, die ihn bewohnt, benutzt und durch ihn Dinge genießt und dann am Ende wieder hinausfliegt. Was in diesen Versen zum Ausdruck gebracht werden soll, ist vielmehr, dass die karmischen Impulse in unserem Geisteskontinuum bewirken, dass es als physische Grundlage in verschiedenen Leben verschiedene Arten von Körpern annimmt, und dass der spezielle Körper in diesem Leben nur vorübergehend ist.

Shantideva schreibt sehr viel darüber im Zusammenhang damit, wie man die Anhaftung an den Körper überwindet.

Wenn unser Körper beispielsweise nach dem Tod noch einige Tage oder länger aufbewahrt wird, will niemand ihn in seiner Nähe haben, weil er zu verwesen und zu stinken beginnt. Jeder möchte sich von ihm fernhalten – was kann also so Wunderbares an diesem Körper sein? Nicht nur unsere Besitztümer werden zur Abfall sondern auch unser Körper, der uns normalerweise so wertvoll ist. Die Menschen wollen ihn so bald wie möglich verbrennen oder vergraben, wie Abfall. Das ist die Realität. Sie ist nicht sehr glanzvoll oder romantisch, aber so ist es, Leute! Wie Shantideva schrieb:

(VIII.29) Wann werde ich endlich, nachdem ich auf dem Friedhof war, darauf kommen, dass mein Körper und die Knochenhaufen der anderen von gleicher Beschaffenheit sind: nämlich, dass es in seiner Natur liegt, zu verwesen.
(VIII.30) Eben dieser mein Körper wird gleichfalls so werden, und sein Geruch wird so sein, dass nicht einmal mehr Schakale sich ihm nähern werden.

Wenn wir uns wirklich dessen gewahr sind, dass das kostbare menschliche Leben, das wir jetzt haben, und unser Körper, unsere Besitztümer, Familie und Freunde allesamt nur zeitweilig sind und vergehen werden, dann werden wir nicht mehr so versessen auf all das sein. Und aufgrund dessen können wir dann die Gelegenheit ergreifen, die unser kostbares menschliches Leben bietet, und alles nutzen, was für unser Studium und unsere Übung des Dharma förderlich ist.

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