Kurzer Rückblick
Wir haben gesehen, dass Togme-Sangpo sein Gedicht mit einer Darstellung der wesentlichen Punkte beginnt, die sich im Lam-rim, dem Stufenweg, finden. Nachdem er seine Ehrerbietung an Avalokiteshvara zum Ausdruck gebracht hat und das Versprechen geäußert hat, den Text zu verfassen, spricht er von der Bedeutung des kostbaren menschlichen Lebens und der Notwendigkeit, es sich voll und ganz zunutze zu machen. Togme-Sangpo beschreibt die Umstände, die dafür am meisten förderlich sind, nämlich die Heimat zu verlassen und in Abgeschiedenheit zu leben. Zudem besteht große Dringlichkeit, dieses kostbare menschliche Leben zu nutzen, weil es nicht lange dauern wird. Um uns zu veranlassen, diese Dringlichkeit zu erkennen, spricht er über Tod und Unbeständigkeit.
Die Bedeutung geeigneter Freunde
Wir sind nun bei Vers fünf, der sich mit dem Thema befasst, wie wichtig es ist, geeignete Freunde zu haben. Es ist von großer Bedeutung, angemessene Unterstützung für unsere Übung im Dharma zu haben. Im Hinblick darauf ist es erforderlich zu erkennen, was für Freunde einen irreführenden Einfluss auf uns haben, die so genannten „schlechten Freunde“, und welche Freunde uns auf unserem spirituellen Weg wirklich helfen können.
(5) Die Übung der Bodhisattvas ist, sich von schlechten Freunden zu trennen, in deren Gesellschaft sich die drei giftigen Emotionen in uns verstärken, unsere Aktivitäten des Zuhörens, Nachdenkens und des Meditierens nachlassen und unsere Liebe und unser Mitgefühl schwinden.
Schlechte Freunde bzw. irreführende Freunde sind solche, die uns, meist in durchaus guter Absicht, im Grunde von unserer Übung im Dharma entfernen. Sie sagen: „Komm, vergnüg dich“ oder unverblümter: „Warum vergeudest du deine Zeit mit Verbeugungen, Meditation und dem Besuch von Dharma-Vorträgen?“ Sie sind eigentlich keine schlechten Menschen - ich denke, das ist hier keineswegs gemeint -, aber es sind Menschen, die das, was wir im Hinblick auf unsere spirituelle Entwicklung tun, überhaupt nicht schätzen oder anerkennen, sich vielleicht sogar darüber lustig machen, und im Grunde versuchen, uns davon abzubringen.
Togme-Sangpo kennzeichnet sie mit den Worten: in deren Gesellschaft sich die drei giftigen Emotionen in uns verstärken. Wenn wir mit ihnen zusammen sind, fachen sie die erste unserer unzuträgliche Emotionen an, z.B. in Form von Verlangen danach, auszugehen, sich zu betrinken oder durch andere Drogen zu berauschen, an oberflächlichen Vergnügungen teilzunehmen usw. Manchmal brauchen wir natürlich Entspannung und etwas, das uns Spaß macht. Aber jemand, der uns ermutigt, unablässig solchen Aktivitäten nachzugehen, sodass keine Zeit für unseren spirituellen Weg übrig bleibt, ist ein irreführender Freund.
Ein Schüler von mir, der oft Drogen nahm, wohnte auch noch mit jemandem zusammen, der ebenfalls Drogen nahm. So sehr er auch versuchte, damit aufzuhören - unter dem Einfluss seines Mitbewohners, der die ganze Zeit Dope rauchte und ihn dauernd dazu animierte, fing er über kurz oder lang auch wieder damit an, weil er seinen Mitbewohner nicht ständig zurückweisen wollte.
Es ist also durchaus von Bedeutung, was für Freunde wir haben, besonders wenn wir viel Zeit mit ihnen verbringen. Wenn sie ausgehen und wütend werden und streiten, gleichen wir uns an und stimmen mit ein, und so wird die zweite giftige Emotion verstärkt, Ärger und Hass. Derartige Freunde verstärken auch die Tendenz, dass die dritte giftige Emotion in uns aufsteigt, indem wir naiv werden, weil wir die möglichen Folgen unseres Verhaltens vergessen, einfach mitmachen und uns auf ihre Art von Aktivitäten einlassen. Dann kommt es dazu, wie Togme-Sangpo sagt, dass sich unsere Aktivitäten des Zuhörens, Nachdenkens und Meditierens verringern. Wir haben immer weniger Zeit, Dharma-Vorträge zu besuchen, zu studieren, uns der Kontemplation zu widmen, zu meditieren, und unsere Liebe und unser Mitgefühl schwinden.
Es gibt noch viele andere Arten von irreführenden, schädlichen Freunden. Es gibt Menschen, die andere zu Aktivitäten verleiten wie etwa Häuserwände mit Graffiti zu bedecken, Autos zu zerkratzen und dergleichen mehr. Es gibt solche, die ständig schlecht über andere reden, und auch davon kann man sich leicht beeinflussen lassen. Wenn wir mit jemandem zusammen sind, der unaufhörlich über Politik redet und sich aufregt und darüber ärgert, wie schlecht die Regierung ist, neigen wir dazu, mit einzustimmen und es ihm gleichzutun.
Vor allem wenn wir noch nicht gefestigt sind in unserer Übung des Dharma, sind die Freundschaften, die wir pflegen, von wesentlicher Bedeutung. Wenn wir derart fehlgeleitete Freunde haben, bleibt uns nichts anderes übrig als uns, wie der Vers nahelegt, von ihnen zu trennen. Das heißt nicht, dass wir schlecht von ihnen denken. Wir haben immer noch den Wunsch, dass sie glücklich sein mögen und nicht unglücklich, aber wir müssen nicht mit ihnen herumhängen.
Die Sache beginnt kompliziert zu werden, wenn wir z.B. mit jemandem verheiratet sind, der oder die als irreführender Freund gelten würde, vor allem, wenn Kinder mit uns zusammenleben. Solch eine Situation ist alles andere als einfach. In einer jeden solchen Beziehungen ist es notwendig zu entscheiden, ob es förderlicher ist, sie fortzusetzen oder sie abzubrechen. Das Wesentliche, woran man denken sollte, wenn man sich für eine Trennung entscheidet, ist, dies im Guten zu tun, nicht im Bösen und voller Hass. Selbst wenn der Partner uns eine Menge Wut und Missgunst entgegenbringt, ist es vonnöten, zumindest von unserer Seite aus zu versuchen, das nicht zu erwidern.
Allerdings denke ich, dass es wichtig ist, zumindest den Versuch zu unternehmen, auch eine solche Beziehung fortzusetzen. Es gelingt vielleicht nicht immer, aber wir können versuchen zu erklären und zu zeigen, dass unsere Beschäftigung mit Dharma-Aktivitäten keine Zurückweisung der anderen Person ist. Doch wenn die meiste Zeit, die wir mit der anderen Person verbringen, auf destruktive Weise abläuft, indem man sich ständig streitet und einander anschreit, mag es angebracht sein, sich das noch einmal zu überlegen. Solch eine Situation ist keineswegs einfach. Was ist zum Beispiel, wenn die Kinder anfangen, dem Dharma die Schuld an der Trennung ihrer Eltern zu geben? Das könnte sich sehr negativ auf ihre Einstellung zum Dharma auswirken. Auf so etwas müssen wir achten.
Wenn Streit darüber ausbricht, dass wir unsere Zeit damit verbringen, uns mit Buddhismus zu beschäftigen, kann es hilfreich sein, die Angelegenheit zu entschärfen, indem wir nicht die Schuld auf den Buddhismus schieben. Konstruktiver ist es, die Trennung so zu erklären, dass wir unterschiedliche Wertvorstellungen haben, die wir aber nicht speziell als buddhistisch postulieren. Das könnte, wie gesagt, einen ziemlich negativen Effekt nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Einstellung unseres Partners gegenüber dem Dharma haben. Wenn wir Umstände dafür schaffen, dass jemand eine sehr negative Einstellung gegenüber dem Dharma entwickelt, kann sich das verheerend auswirken. Im Grunde macht es keinen Unterschied aus, ob wir dem Buddhismus, Hinduismus oder einer abendländischen Religion oder sonst irgendetwas anhängen. Das ist eigentlich nicht der Streitpunkt; es geht nicht um spezielle Lehren, denen wir folgen, sondern vielmehr um unterschiedliche Werte, die wir im Hinblick darauf haben, wie wichtig spirituelle Aspekte im Leben sind.
(6) Die Übung der Bodhisattvas ist, die würdigen spirituellen Lehrer wertzuschätzen, mehr noch als unseren eigenen Körper, denn wenn wir auf sie vertrauen, verringert sich unser fehlerhaftes Verhalten und unsere guten Eigenschaften wachsen an wie der zunehmende Mond.
Das Wort, das hier als „spiritueller Lehrer“ übersetzt ist, bedeutet wörtlich eigentlich eher „spiritueller Freund“: jemand, der das genaue Gegenteil von einem schlechten Freund ist. Auch das Wort „spirituell“ ist im Tibetischen nicht explizit vorhanden. Der Ausdruck lautet: „Freund für konstruktives Verhalten“, wobei das Wort „konstruktiv“ manchmal auch als „tugendhaft“ übersetzt wird, und gemeint ist damit ein Freund, mit dem unser konstruktives Verhalten immer weiter wächst. Die gesamte Beziehung ist etwas Förderliches. Der Freund ist förderlich und wir werden konstruktiver und positiver, indem wir eine Beziehung zu ihm pflegen.
Dieser Ausdruck bezieht sich normalerweise auf einen hervorragenden spirituellen Lehrer, der uns auf dem Weg anleitet, uns Unterweisungen gibt und uns dazu inspiriert, uns auf konstruktive Weise im Einklang mit dem Dharma zu verhalten. Ich denke aber, dass es hier auch unsere üblichen Dharma-Freunde miteinzuschließen gilt. Das bezieht sich jedoch nicht einfach auf irgendjemanden, der das Dharma-Zentrum besucht, in dem wir verkehren, und mit dem wir an einem Kurs teilnehmen und anschließend ein Bier trinken gehen. Der Ausdruck würde sich in diesem Zusammenhang vielmehr auf jemanden beziehen, der z.B. vorschlägt, dass wir zusammen meditieren oder Dharma-Inhalte studieren oder darüber diskutieren, jemanden, der uns ermutigt, ehrenamtliche Aufgaben zu übernehmen, in einem Krankenhaus oder einer Suppenküche für Bedürftige zu helfen usw.
In jeder Art von Freundschaft ist eine gewisse karmische Verbindung vorhanden, die bewirkt, dass man sich miteinander wohlfühlt. Es kann hingegen auch passieren, dass Leute uns ansprechen und sagen: „Komm, lass uns einen Platz suchen und meditieren“ oder „Lass uns zusammen Niederwerfungen machen“, und es fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Vielleicht haben wir das Gefühl, dass die betreffende Person sich selbst für besonders fromm hält, und das verschafft uns ein unbehagliches Gefühl. Ein wirklicher spiritueller Freund ist jemand, in dessen Gegenwart wir uns völlig entspannt fühlen. Wenn wir miteinander etwas Positives tun, fühlt es sich ganz natürlich an und die gemeinsamen Aktivitäten sind angenehm im Fluss.
In diesem Vers liegt natürlich der Schwerpunkt auf dem spirituellen Lehrer oder Mentor. Im Hinblick auf diesen Lehrer hebt seine Heiligkeit der Dalai Lama immer hervor, dass es nicht darum geht, uns auf den möglicherweise berühmten Namen eines Lehrers zu verlassen. Es gibt viele Lehrer mit hochrangigen Titeln, großer Anhängerschaft usw., aber das heißt nicht unbedingt, dass es sich um qualifizierte Lehrer handelt. Wichtig ist, auf die Qualifikation des Lehrers zu achten. Seine Heiligkeit bezieht sich mit dieser Aussage hauptsächlich auf Tulkus, reinkarnierte Lamas mit dem Titel „Rinpoche“. Darunter gibt es natürlich viele, die von ihrem Vorgänger einen sehr berühmten Namen übernommen haben, aber in diesem Leben nicht sonderlich mit Studium oder Praxis des Dharma befasst sind.
Doch auch, wenn ein Lehrer sehr qualifiziert ist, heißt das nicht unbedingt, dass er zu uns passt. Auch in diesem Zusammenhang müssen wir die Art der karmischen Verbindung mit in Betracht ziehen, die wir mit dem Lehrer haben. Fühlen wir uns wohl in seiner Gegenwart oder nicht? Zwar ist es so, dass ein spiritueller Lehrer uns Informationen über den Dharma geben kann, aber die können wir auch aus Büchern erhalten. Lehrer können uns spezielle Fragen beantworten, etwas, was ein Buch nicht kann, aber das Wesentliche, was ein spiritueller Lehrer für uns bewirken kann, ist, dass er uns inspiriert. Die meisten überragenden spirituellen Lehrer sind heutzutage viel auf Reisen. Sie haben zahlreiche Schüler, und es ist ziemlich schwierig, eine Möglichkeit zu finden, dass sie sich persönlich um uns kümmern. Doch auch wenn wir keinen derartig engen Kontakt mit einem großartigen Lehrer haben, können wir dennoch enorme Inspiration durch ihn gewinnen. Außerdem muss man Anstrengungen unternehmen, um eine solche enge Beziehung herzustellen. Es ist nicht sinnvoll, einfach darauf zu warten, dass ein Lehrer für uns vom Himmel fällt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass solch ein hervorragender, qualifizierter Lehrer einfach auftaucht und zu uns sagt: „Komm, meine Liebe/mein Lieber, ich habe schon auf dich gewartet; nun folge mir.“
Wenn wir auf die würdigen spirituellen Lehrer vertrauen, so sagt Togme-Sangpo, verringert sich unser fehlerhaftes Verhalten. Das Wort „würdig“ bedeutet hier einfach, dass es sich um jemanden handelt, der sehr geachtet wird, und das Wort „vertrauen“ hat hier eine wichtige Bedeutung, die jedoch nicht einfach zu verstehen ist. Oftmals wird es als „Hingabe“ übersetzt, etwa in der Formulierung „Hingabe an den Guru“, aber ich finde diesen Ausdruck äußerst irreführend, denn zumindest im Englischen wird damit oft eine Einstellung in Verbindung gebracht, die quasi auf blinde Verehrung des Lehrers hinausläuft. Der ursprüngliche Begriff ist eigentlich ein Verb und wird nicht nur für spirituelle Lehrer verwendet, sondern zum Beispiel auch für Ärzte, d.h. wir vertrauen uns ihrer Behandlung an. Das impliziert, dass wir ihnen vertrauen, beruhend darauf, dass wir uns ihrer Qualifikation vergewissert haben und das Gefühl haben, dass sie kompetent sind und uns helfen können. Wenn wir krank sind und auf einen Arzt vertrauen, dann vertrauen wir uns seiner oder ihrer Behandlung an. Mit anderen Worten: Wir tun, was der Arzt uns rät, damit es uns besser geht. Die gleiche Art von Einstellung gilt für den spirituellen Lehrer. Wir vergöttern den Arzt nicht und auch nicht den spirituellen Lehrer.
Die Situation erfordert ein hohes Maß an Feingefühl, denn im Zusammenhang mit einem spirituellen Lehrer kommen oft alle möglichen Emotionen auf, und obwohl wir starke Zuneigung zu ihm empfinden, soll das nicht heißen, dass wir uns in ihn verlieben. Wenn wir eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Lehrer hegen, sind die Emotionen sehr erhebend. Ein Aspekt von überzeugtem Vertrauen zum Lehrer besteht darin, dass es unseren Geist klärt und von störenden Emotionen läutert. Das ist ein sehr interessanter Punkt. In vieler Hinsicht sind unsere Emotionen dann insofern klarer, als die störenden Emotionen sich legen. So, wie trübes Wasser sich klärt, wenn darin herumschwimmende Sedimente zu Boden sinken, so ist unser emotionaler Zustand dann ohne Trübung. Aber wir hängen nicht an dem spirituellen Lehrer in dem Sinne, dass wir uns an ihn klammern. Wir empfinden keine sehnsüchtige Begierde und haben nicht das verzweifelte Gefühl, dass wir immer direkt bei ihm sein müssten. Wir empfinden keine Eifersucht auf andere Schüler. Wir sind nicht verärgert und enttäuscht, wenn der Lehrer keine Zeit für uns hat. Wir sind nicht so naiv zu glauben, dass der Lehrer eine Art Gott wäre, der nicht manchmal Ruhe oder etwas Komfort bräuchte.
Wie es hier im Text heißt, bewirkt die Beziehung zum spirituellen Lehrer, dass sich unser fehlerhaftes Verhalten verringert. Unsere störenden Emotionen kommen zur Ruhe, und indem wir den Anleitungen unseres spirituellen Mentors folgen, sind wir auch imstande, die Fehler, die wir haben, allmählich zu beseitigen. All das setzt natürlich voraus, dass wir ausgereifte Persönlichkeiten sind, wenn wir in Beziehung zu einem spirituellen Lehrer treten. Wir sollten uns nicht vorstellen, dass der Lehrer am Anfang irgendeine magische Handlung vollzieht und schon lassen unsere störenden Emotionen nach. Es ist erforderlich, selbst Anstrengung in diese Beziehung zu investieren, und das hängt eindeutig davon ab, dass wir reif genug sind, eine gesunde Beziehung zu dem spirituellen Lehrer aufzubauen. Eine ungesunde Beziehung kann viele bedauerliche Folgen haben.
Die letzte Zeile weist darauf hin, dass unsere guten Eigenschaften anwachsen wie der zunehmende Mond. Wenn wir tatsächlich Zeit mit dem spirituellen Lehrer verbringen, fangen wir an, unsere guten Qualitäten zu entwickeln. Unsere Persönlichkeit entwickelt sich zum Besseren, indem wir dem Lehrer bei seinen Aktivitäten helfen, großzügig sind und vieles mehr. Unsere guten Qualitäten nehmen immer mehr zu. Je mehr wir uns nach den Lehren richten, umso mehr entwickeln sich natürlich auch unsere Liebe, unser Mitgefühl und unser Verständnis.
Im Hinblick auf spirituelle Lehrer heißt es im Text, es sei angemessen, sie wertzuschätzen, mehr noch als unseren eigenen Körper. Was bedeutet das? Eine Ebene der Bedeutung ist, dass wir dann mehr an ihr Wohlbefinden als an unser eigenes denken – dass sie es bequem haben usw. Wir möchten sie unterstützen, insbesondere dabei, anderen zu helfen - auch wenn wir müde sind und es unbequem für uns ist. Ich musste für meinen Lehrer Serkong Rinpoche häufig von Dharamsala hinunter nach Delhi reisen, um all die Visa für seine Reisen zu beschaffen. Das war eine unangenehme Aufgabe, aber ich erledigte sie gern, weil es ihm dabei half, andere unterrichten zu können. Wenn wir so etwas tun, stellen wir unsere eigenen physischen Unannehmlichkeiten in den Hintergrund.
Sichere Richtung (Zuflucht)
Im siebten Vers beschreibt Togme-Sangpo, wie wir uns die Vorteile unseres kostbaren menschlichen Lebens zunutze machen können. Im Zusammenhang mit der anfänglichen Stufe der Motivation im Lam-rim besteht das Ziel darin, die Qualität zukünftiger Leben zu verbessern. Zuerst einmal geht es darum, dass wir unserem Leben eine sichere Richtung geben, etwas, das auch als „Zuflucht nehmen“ bezeichnet wird. Das ist die Grundlage für alle Stufen buddhistischer Praxis.
(7) Die Übung der Bodhisattvas ist, die sichere Richtung der höchsten Juwelen einzuschlagen, indem wir den Schutz derer suchen, die niemals trügen, denn wen können schon weltliche Götter beschützen, die selbst noch im Gefängnis von Samsara gefesselt sind?
Ich verwende lieber den Ausdruck „sichere Richtung“ als „Zuflucht“, denn „Zuflucht“ scheint mir ein bisschen zu passiv zu klingen. Wenn jemand „Zuflucht nimmt“, so hört sich das so an, als würde er sie von jemand anderem erhalten, aber das ist nicht der Fall. Wir tun vielmehr etwas sehr Aktives, indem wir unserem Leben eine sichere Richtung geben, und diese sichere Richtung wird von den so genannten den drei höchsten Juwelen angezeigt. Wenn von den drei Juwelen bzw. den drei seltenen und kostbaren Juwelen die Rede ist, sind damit Buddha, Dharma und Sangha gemeint.
Dharma ist das wesentliche unsere Ziele. Das eigentliche Dharma-Juwel ist die dritte und vierte edle Wahrheit im geistigen Kontinuum eines jeden höher entwickelten Wesens, vom Arya bis hin zum Buddha. Es ist das, was uns eigentlich die Richtung angibt. Solche Wesen haben einen Zustand verwirklicht, der nun in ihrem geistigen Kontinuum vorhanden ist, und in welchem im Falle von befreiten Wesen etliche, im Falle von Buddhas sämtliche störenden Emotionen und mangelndes Gewahrsein für immer beseitigt sind. Das sind die wahren Beendigungen - die dritte edle Wahrheit. Die vierte edle Wahrheit stellt die wahren geistigen Pfade dar, die zu Befreiung und Erleuchtung führen. Diese geistigen Zustände bestehen allgemein im Verständnis der vier edlen Wahrheiten, und besonders im Verständnis der Leerheit. Sie führen zu wahren Beendigungen; und auch Resultate von wahren Beendigungen gehören zu den wahren Pfaden. In diese Richtung wollen wir gehen. Wir möchten diese wahren Beendigungen und wahren Pfade erreichen. Das ist die sichere Richtung, in die wir selbst gehen.
Sangha bezieht sich eigentlich nicht auf die Mitglieder eines Dharma-Zentrums; diese Art, das Wort zu verwenden, ist eine westliche Erfindung. Der Begriff „Sangha-Juwel“ bezieht sich auf alle Aryas - das sind diejenigen, die eine Erkenntnis der Leerheit erlangt haben, welche nicht mit begrifflichen Vorstellungen vermischt ist, und somit einige, aber nicht notwendigerweise alle, wahren Beendigungen und wahren geistige Pfade erreicht haben. Es ist egal, ob diese Personen Mönche oder Nonnen oder Leute mit Hausstand sind.
Die ursächlichen drei Juwelen sind Buddha, Dharma und Sangha, wie sie hier gerade erklärt worden sind. Nochmals: Es sind diejenigen, die jene wahren Beendigungen und wahren geistigen Pfade erreicht haben, und das wirkt als Ursache dafür, dass wir inspiriert werden, in dieselbe Richtung zu gehen. Aber wir können auch die „resultierende Richtung“ als Orientierung nehmen, nämlich die sichere Richtung der drei Juwelen, die wir selbst erlangen bzw. sein werden, wenn wir ein Arya und, wenn wir den Weg noch weiter fortsetzen, ein Buddha werden.
Togme-Sangpos Worte „indem wir den Schutz derer suchen“ beziehen sich auf die drei Juwelen. Diese Juwelen sind solche, die niemals trügen; aber auf welche Weise beschützen sie uns eigentlich? Auch hier liegt der Schwerpunkt nicht auf einem allmächtigen Wesen, das uns beschützt und dessen Schutz wir nur annehmen und uns ihm überlassen müssten, um gerettet zu werden. Es ist vielmehr so, dass wir vor Leiden geschützt sein werden, wenn wir darauf hinarbeiten, diese wahren Beendigungen und wahren geistigen Pfade zu erreichen. Mit anderen Worten: Wir schützen uns letztlich selbst. Wir werden somit nie betrogen, denn wenn wir diese wahren Beendigungen und wahren geistigen Pfade erreichen, so wie auch die Buddhas und Arya sie erreicht haben, werden diese Zustände uns vor Leiden beschützen. Wir beseitigen tatsächlich die Ursachen des Leidens für immer.
Im Gegensatz dazu können uns weltliche Götter diese Art von Hilfe nicht bieten. Im Text ist das in Form einer rhetorischen Frage formuliert: Wen können schon weltliche Götter beschützen, die selbst noch im Gefängnis von Samsara gefesselt sind?
Wenn wir an weltliche Götter denken, oder vielleicht sogar an den heutigen Gott Geld, müssen wir feststellen, dass diese Art Götter uns eigentlich nicht vor etwas schützen. Wir können beobachten, dass Menschen, die sehr reich sind, oftmals nur umso mehr leiden. Sie machen sich Sorgen, wie sie ihr Vermögen investieren und wie sie vermeiden können, zuviel Steuern zu bezahlen, und sie sind stets besorgt, dass ihnen ihr Reichtum abhanden kommt oder gestohlen wird. Sie haben den Verdacht, dass andere sie aufgrund ihres Vermögens achten und nicht um ihrer selbst willen. Es ist wirklich erstaunlich, wie viele reiche Leute unglücklich sind. Weltliche Götter können uns eindeutig nicht beschützen, da sie selbst noch im Gefängnis von Samsara gefesselt sind. Sie sind selbst noch gebunden, mit allen möglichen störenden Emotionen verknüpft und bewirken, dass unsere eigenen störenden Emotionen zunehmen.
Auf der anfänglichen Ebene der Motivation ist das hauptsächliche Ziel, die Qualität unserer künftigen Leben zu verbessern. Es ist nicht so, dass wir in den Himmel kommen möchten oder dergleichen, sondern wir möchten weiterhin mit einem kostbaren menschlichen Leben wiedergeboren werden, bis wir Befreiung und Erleuchtung erreichen. Es heißt immer, dass das Kriterium, ob jemand ein spiritueller Mensch ist oder nicht, darin besteht, ob er in seinem Streben zukünftige Leben im Sinn hat oder nicht. Das ist das Kriterium im Zusammenhang mit Dharma, aber natürlich wird in vielen Religionen gelehrt, darauf hinzuarbeiten, im Leben nach dem Tod in den Himmel zu kommen; diese Ausrichtung auf eine zukünftige Perspektive ist also nichts speziell Buddhistisches. Damit sie zu einer buddhistischen wird, ist es erforderlich, im Zusammenhang mit der beschriebenen sicheren Richtung an zukünftige Leben zu denken. Unser eigentliches Ziel sind Befreiung und Erleuchtung bzw., genauer gesagt, die wahren Beendigungen und die wahren geistigen Pfade. Wir möchten weiterhin kostbare menschliche Leben erlangen als Sprungbrett, um diese wahren Beendigungen und wahren geistigen Pfade erreichen zu können, damit wir schließlich Befreiung und Erleuchtung erlangen. Wir praktizieren unsere Übungen nicht, damit wir in den Himmel kommen. Solange wir die oben beschriebene anfängliche Motivation nicht haben, können wir eigentlich nicht ernsthaft den Wunsch nach Erleuchtung hegen, denn es ist sehr unwahrscheinlich, Befreiung und Erleuchtung noch in diesem Leben zu erreichen. Das wird sehr lange dauern und deshalb brauchen wir noch viele Wiedergeburten als Mensch, um den Weg dahin zurücklegen zu können.
Um auf eine kostbare menschliche Wiedergeburt hinzuarbeiten, ist es natürlich erforderlich, tatsächlich an Wiedergeburt zu glauben, denn wie könnten wir sonst nach Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten streben? – eben darum geht es ja bei der Befreiung. Wir wollen Befreiung von zwanghaft immer wieder auftretender Existenz im Daseinskreislauf, und deshalb ist es notwendig, sich anzustrengen, die buddhistischen Lehren über Wiedergeburt zu verstehen. Das ist kein einfaches Thema, sondern wirklich ein sehr anspruchsvolles. In diesem Zusammenhang hängt alles von dem Verständnis ab, wie das Selbst existiert und wie Ursache und Wirkung funktionieren. Ohne die Leerheit des „Ich“ sowie Ursache und Wirkung zumindest in gewissem Ausmaß zu verstehen, ist es ungemein schwierig zu begreifen, worum es in Buddhas Lehren über Wiedergeburt überhaupt geht.
Sich von destruktivem Verhalten zurückhalten
Um sicherzustellen, dass wir in Zukunft wieder ein kostbares, menschliches Leben erlangen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf Ursache und Wirkung richten, insbesondere im Hinblick auf unser Verhalten. Um dieses Thema aufzugreifen, spricht Togme-Sangpo davon, sich von destruktivem Verhalten zurückzuhalten:
(8) Die Übung der Bodhisattvas ist, niemals schädliche Handlungen zu begehen, nicht einmal, wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, denn der fähige Weise lehrte, dass die Leiden der niederen Bereiche des Daseinskreislaufs, die so überaus schwer zu ertragen sind, das Ergebnis von schädlichem Handeln sind.
In diesem Vers geht es um Karma, was natürlich ein äußerst komplexes Thema ist; aber wir können es hier allgemein halten: Wenn wir schädlich handeln, resultiert daraus Unglücklichsein, und wenn wir konstruktiv handeln, so führt das zu Glück. Was wir vor allem tun müssen, um dafür zu sorgen, dass wir nicht in schlimmeren Bereichen wiedergeboren werden, ist, uns von destruktivem Handeln zurückzuhalten. Destruktives Handeln baut eine enorme Menge negativer Kraft in unserem geistigen Kontinuum auf und diese negative Kraft bzw. dieses negative Potenzial führt zu Wiedergeburt in schlimmen Situationen des Daseinsbereiches, aus denen man nur schwer wieder entkommen kann.
Was ist nun hier mit schädlichem Handeln bzw. destruktiven Handlungen gemeint? Was wäre das Gegenteil davon? Was wäre konstruktiv? Die Art, wie das erklärt wird, lautet: Im Falle von konstruktivem Verhalten halten wir uns von destruktivem Verhalten zurück. Es ist wichtig, dies gründlich zu verstehen. Es mag zum Beispiel sein, dass wir Jagen und Fischen nicht ausstehen können und deswegen nie zum Fischen oder Jagen gehen würden. Einfach nur nicht fischen oder jagen zu gehen ist in dem Fall keine Zurückhaltung von einer destruktiven Handlung, auch wenn es bedeutet, dass wir die Handlung nicht begehen. Zurückhaltung bezieht sich vielmehr auf die Art von Situationen, wenn uns z.B. eine Mücke um den Kopf schwirrt und wir sie am liebsten erschlagen möchten, aber uns davon zurückhalten, weil wir die karmischen Folgen vermeiden möchten. Wir denken an die negative Kraft, die dadurch entsteht, dass wir auf etwas, das uns lästig ist, einfach so reagieren, dass wir es vernichten wollen. Konstruktives Verhalten ist in diesem Fall, sich vom Töten zurückzuhalten und eine friedlichere Möglichkeit zu finde, die Mücke aus unserem Zimmer zu entfernen.
Ich nehme an, wir verstehen alle, dass diese Art von konstruktivem Verhalten erheblich schwieriger ist als die erstere. Wenn wir zum Beispiel gar kein Kuchen mögen oder jemand uns einen Kuchen anbietet, den wir ganz und gar nicht mögen, ist es keine Heldentat, ihn nicht zu essen, weil wir ihn ja sowieso nicht essen wollen. Aber wenn jemand uns Kuchen anbietet, den wir überaus lecker finden, unseren Lieblingskuchen, dann ist es ungemein schwer, sich davon zurückzuhalten, etwa weil wir gerade eine Diät machen oder so etwas, und wenn wir das schaffen, ist es eine wesentlich konstruktivere Handlung.
Konstruktives Verhalten bedeutet also, sich von negativem Handeln zurückzuhalten, obwohl wir den Wunsch danach verspüren bzw. wenn das negative Verhalten eine Gewohnheit von uns ist oder wir eine Neigung dazu haben. Wir nehmen Abstand davon, weil wir die negativen Folgen im Hinblick auf Karma bedenken, nämlich das, was wir künftig erleben werden; also nicht nur, weil wir denken: „Ich will ein guter Buddhist sein“, sondern weil wir in Betracht ziehen, was wir als Folge davon selbst in Zukunft zu erleben hätten.
Oftmals finden wir in den Texten Formulierungen wie „niemals schädliche Handlungen zu begehen, nicht einmal, wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht“, aber ich muss sagen, dass es schwer ist, das wirklich für sich selbst als Handlungsrichtlinie zu akzeptieren. Überlegen Sie einmal: Wie würden wir denn tatsächlich mit so einer Situation umgehen? Ich lebe in Deutschland und manchmal diskutiere ich mit meinen deutschen Freunden darüber. Was hätten wir denn tatsächlich getan, wenn wir z.B. in der Nazizeit in dem Alter gewesen wären, in dem wir zur Armee eingezogen würden und erschossen würden, wenn wir der Einberufung nicht folgten? Was würden Sie tun? Das war wirklich eine Frage von Leben oder Tod. Es war nicht so wie in den Vereinigten Staaten während des Vietnam-Krieges, als man einfach nach Kanada ausweichen konnte, um einer Einberufung zu entgehen. Im Nazi-Deutschland wurde man erschlossen, wenn man nicht zur Wehrmacht ging. Was sollte man also tun? Ich denke, dass wir wirklich ernsthaft über so etwas nachdenken müssen, wenn es heißt: „auf Kosten des Lebens“. Das ist ein wunderbares Ideal, aber könnten wir das wirklich umsetzen? Ich weiß es nicht.
Einige Menschen hatten natürlich Glück, weil sie in der Wehrmacht der Nazis als Koch eingesetzt wurden. Irgendjemand musste Koch sein oder für die Wäsche zuständig sein und dergleichen. Wenn es darum ging, auf den Feind zu schießen, hatte ein Soldat natürlich die Möglichkeit, danebenzuzielen und absichtlich nicht zu treffen. Er lief allerdings Gefahr, dass andere auf ihn schießen und ihrerseits sehr gut zielen. Wiederum geht es darum, dass bestimmte Vorsätze zwar großartige Ideale sind, aber ich meine, dass wir uns selbst ehrlich einschätzen müssen im Hinblick darauf. Wenn wir imstande sind, schwerwiegende negative Handlungen selbst auf Kosten unseres Lebens zu vermeiden, heißt das, dass wir bereit sind, tatsächlich unser Leben zu opfern, und so weit muss man erst einmal sein.
Es gibt natürlich Menschen, die bereit sind zu sterben und es eher auf sich nehmen, gefoltert zu werden, als ihre Grundsätze aufzugeben. Ich denke da an zahlreiche Mönche und Nonnen in Tibet, die bereit sind, Foltern über sich ergehen zu lassen und 20 oder 30 Jahre in Konzentrationslagern zu verbringen, weil sie sich weigern, Seine Heiligkeit den Dalai Lama zu verleumden. Das kommt in die Nähe dessen, was hier gemeint ist. Hätten wir die Stärke, uns so zu verhalten? Das ist wohl eine Frage für das, was wir im Westen „Gewissensforschung“ nennen.
Auf Befreiung hinarbeiten
Der neunte Vers führt uns zur mittleren Ebene der Motivation, die im Lam-rim beschrieben wird, nämlich dem Streben nach Befreiung:
(9) Die Übung der Bodhisattvas ist, mit regem Interesse nach dem höchsten, unvergänglichen Zustand der Befreiung zu streben, denn die Annehmlichkeiten der drei Bereiche zwanghafter Existenz sind Phänomene, die nur einen kurzen Augenblick währen und dann dahinschwinden wie Tautropfen auf der Spitze von Grashalmen.
Der Ausdruck „zwanghafte Existenz“ bezieht sich auf Samsara: unsere fortgesetzte Existenz mit immer weiteren Wiedergeburten, die wir notgedrungen annehmen. Es gibt drei Bereiche, in denen wir wiedergeboren werden können: (1) der Bereich erstrebenswerter Sinnesobjekte, (2) der Bereich feinstofflicher bzw. sehr subtiler Formen und (3) der Bereich der formlosen Wesen, d.h. Wesen, die keinen grobstofflichen Körper haben und in sehr tiefen meditativen Trance-Zuständen weilen.
Für die meisten von uns ist es ziemlich schwierig, sich all diese Bereiche von Existenz und die unterschiedlichen Arten von Wiedergeburt vorzustellen, die möglich sind. Wir haben Schwierigkeiten, uns die Wesen vorzustellen, die in den absolut unerfreulichen Bereichen gefangen sind, die „Höllen“ genannt werden, und die Hungergeister. Weitere Bereiche sind die der „gebeugt gehenden Wesen“, d.h. der Tiere, sowie die der himmlischen Wesen, der „Götter“, und zudem gibt es noch die so genannten „Gegengötter“ – eine Art Götter-Anwärter oder Halbgötter, die eifersüchtig und kämpferisch sind und gern Götter wären. Ich denke, eine Möglichkeit, die all das ein bisschen verständlicher macht, ist, sich das Spektrum der Erfahrungen klarzumachen, die wir erleben können.
Was zum Beispiel die visuelle Wahrnehmung betrifft, so können wir als Menschen nur einen bestimmten Teil des Lichtspektrums sehen. Ultraviolett, infrarot usw. können wir nicht sehen, doch andere Lebensformen sind unter Umständen dazu in der Lage. Viele Tiere können z.B. im Dunkeln sehen, während wir schon nichts mehr erkennen können. Was das Hörvermögen betrifft, so können wir nur eine bestimmte Bandbreite von Tönen wahrnehmen, wohingegen Hunde erheblich höhere Töne hören können als wir. Wenn wir diese Überlegungen auf das Spektrum an Glück und Unglücklichsein, von Schmerz und Wohlgefühl anwenden, so lässt sich feststellen, dass wir als Menschen, wenn Schmerzen oder Leiden ein bestimmtes Ausmaß erreichen, das Bewusstsein verlieren; oder wenn Wohlgefühl bzw. Lustgefühle ein bestimmtes Ausmaß erreichen, setzen wir ihnen ein Ende. Wenn man sich z.B. dem enormen Lustgefühl des Orgasmus nähert, drängt es uns unweigerlich, ihn zu erreichen, womit wir im Grunde ja dem Lustgefühl ein Ende setzen. Wenn wir einen Juckreiz genauer untersuchen und objektiv analysieren, was vor sich geht, ist festzustellen, dass es sich eigentlich um eine Art Lustgefühl handelt und nicht um Schmerz, und wenn der Reiz zu intensiv wird, kratzen wir, damit er aufhört. Wir müssen ihn zum Aufhören bringen.
Wenn es Lebensformen gibt, die andere Bereiche des Lichtspektrums und der Bandbreite von Geräuschen wahrnehmen können, warum sollte es dann nicht auch Lebensformen geben, die weitere Bereiche des Spektrums von Schmerz und Wohlgefühl sowie von Glück und Unglücklichsein erleben können als wir Menschen? Tatsächlich ist der Geistesstrom eines jeden Wesens durchaus fähig dazu, das gesamte Spektrum von Glück, Unglücklichsein, Wohlgefühl und Schmerz zu erleben. Es ist nur eine Frage der Art der Lebensform, in der wir wiedergeboren werden und die bestimmen wird, welchen Teil des Spektrums wir in dem betreffenden Leben erfahren können. Ich denke, im Hinblick auf diese anderen Lebensformen geht es nicht so sehr darum, wo sie zu lokalisieren sind und wie sie aussehen - das ist im Grunde zweitrangig und ziemlich belanglos. Wichtig ist, das Verständnis davon nicht einfach auf psychologische Zustände von Menschen zu reduzieren, sondern sich klarzumachen, dass das Kontinuum unseres Geistes fähig ist, erheblich mehr auf der Skala von Wohlgefühl und Schmerz oder Glück und Unglücklichsein zu erleben als unsere menschliche Ausstattung zulässt.
Der Punkt ist, das wir von all dem Befreiung erlangen möchten, denn ganz gleich, welchen Teil des Spektrums von Wohlgefühl und Schmerz, Glück und Unglücklichssein wir erleben - es wird nicht dauern. All diese Lebensformen entstehen aufgrund von Verwirrung und führen einfach zu weiterer Verwirrung; das hört erst auf, wenn man ein Arhat ist. Aufgrund dieser sich ständig selbst fortsetzenden Natur von Samsara geht unserer Erleben von Wohlgefühl und Schmerz, Glück und Unglücklichsein ständig auf und ab, wobei es keinerlei Sicherheit oder Gewissheit gibt. Was wir erreichen möchten, ist ein unverändert befreiter Zustand, ein Zustand dauerhaften Befreitseins, das sich nicht ändert. Dann werden wir fortwährend die Art von Glück erleben, die nicht mit Verwirrung einhergeht, und das ständige Auf und Ab hat ein Ende.
Erleuchtung anzustreben fällt uns leichter, wenn wir erkennen, dass jegliche Annehmlichkeiten, die wir in den drei Bereichen zwanghafter Existenz finden, Phänomene sind, die nur einen kurzen Augenblick währen und dann dahinschwinden wie Tautropfen auf der Spitze von Grashalmen, wie Togme-Sangpo sagt.Diese Annehmlichkeiten sind nie von Dauer; wir wissen nie, was als nächstes kommt; und sie stellen uns nie wahrhaft zufrieden. Um Befreiung zu erlangen, müssen wir das mangelnde Gewahrsein beseitigen, das wir die ganze Zeit haben, diese Verwirrung. Wenn wir sie loswerden können, dann können wir die störenden Emotionen und Geisteshaltungen beseitigen, die daraus hervorgehen, und folglich werden wir die karmischen Tendenzen und Potenziale nicht mehr aktivieren. Wir werden kein weiteres Karma mehr ansammeln, indem wir zwanghaft oder impulsgesteuert handeln, und wir werden nicht mehr das so genannte makelhafte Glück und das Unglücklichsein erleben, das aus den karmischen Potenzialen heranreift.
Um das mangelnde Gewahrsein zu beseitigen und Befreiung zu erlangen, ist es nötig, den drei „höheren Schulungen“ zu folgen. Die erste davon ist die Schulung höherer ethischer Selbstdisziplin. Wir beginnen damit, indem wir insbesondere unseren Körper und unsere Sprache zügeln, denn den Geist zu zügeln ist noch etwas schwieriger. Wenn wir jedoch zumindest unseren Körper und unsere Sprache im Zaum halten und uns davon zurückhalten können, körperlich und sprachlich destruktiv zu handeln, gibt uns das die Kraft, dann auch unseren Geist mit höherer Konzentrationsfähigkeit zu bändigen. Mit höherer Konzentration arbeiten wir daran, Kontrolle über geistiges Abschweifen, geistige Trägheit usw. zu gewinnen.
Es ist natürlich auch von wesentlicher Bedeutung, zu versuchen sich von destruktivem geistigen Verhalten zurückzuhalten, z.B. Gedanken mit starker Begehrlichkeit, etwa „Ich muss unbedingt haben, was die anderen haben.“ Zur Begehrlichkeit gehört auch, Pläne zu schmieden, wie man etwas in seinen Besitz bringen kann. Desgleichen gilt es, sich von boshaftem Denken zurückzuhalten und von Racheplänen. Wenn wir uns davon zurückhalten können, hilft uns das natürlich, uns auch generell von geistigem Abschweifen zurückzuhalten. Doch die geistige Aspekte sind erheblich schwerer zu bewältigen als die körperlichen und sprachlichen. Auf der Grundlage der Schulung höherer Konzentration können wir diese Konzentration dann für höheres unterscheidendes Gewahrsein anwenden. Mit anderen Worten: Wir können uns dann auf die Leerheit konzentrieren, und das wird schließlich das mangelnde Gewahrsein für immer beseitigen.
Fragen
Warum ist es, gemäß den buddhistischen Aussagen, so, dass wir uns von einem Leben zum nächsten nicht daran erinnern können, was wir in früheren Leben gelernt haben hinsichtlich spiritueller Schulung usw. - etwas, was unsere Übung in diesem Leben ja erheblich effektiver machen würde?
Zunächst einmal ist zu erwähnen, dass es tatsächlich einige Menschen gibt, die sich an bestimmte Dinge erinnern. Das Wesentliche, das wir mitnehmen, sind starke Neigungen, d.h., wenn wir viel geübt hatten, hat das starke Gewohnheiten geschaffen, die es in einem späteren menschliche Leben erheblich leichter machen, wieder mit dem Dharma in Berührung zu kommen. Wenn wir studieren, müssen wir uns dann im Grunde die Inhalte nur wieder ins Gedächtnis rufen. Das heißt: Man sagt uns etwas einmal und wir wissen es quasi gleich wieder. Mein Lehrer Serkong Rinpoche war einer der Lehrer Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, und er erzählte mir, dass niemals in irgendeiner der Unterrichtsstunden, die Seine Heiligkeit erhielt, irgendetwas ein zweites Mal wiederholt werden musste. Man brauchte ihm alles nur einmal zu sagen und schon wusste er es.
Wir können uns vielleicht eine solche Erfahrung besser vor Augen führen, wenn wir als Kind oder Jugendlicher eine Sprache gelernt haben, die wir dann in unserem Leben lange Zeit nicht mehr verwendet haben. Ich habe zum Beispiel in meiner Jugend Chinesisch gelernt, aber vor etwa 40 Jahren damit aufgehört. Ich konnte die Sprache einigermaßen fließend sprechen, aber jetzt kann ich mich kaum noch an die Wörter erinnern. Doch es reicht, wenn mir jemand das betreffende chinesische Wort sagt – dann fällt es mir sofort wieder ein und es ist wieder präsent. Die meisten von uns können bestenfalls so etwas in dieser Art hoffen hinsichtlich Erinnerung an Kenntnisse aus früheren Leben. Es gibt natürlich auch hervorragende spirituelle Meister, die sich, ohne dass man sie lehrt, an etwas erinnern und es mühelos rezitieren können, das sie in früheren Leben auswendig gelernt haben, aber so etwas ist sehr selten.
Es scheint, dass viele von uns Westlern erst auf den Dharma treffen, wenn wir schon ziemlich alt sind. Es wäre natürlich ideal, wenn wir genügend Zeit hätten, um die verschiedenen Inhalte und Erklärungen zuerst kennenzulernen und zu verstehen und dann darüber zu meditieren, aber oft ist es vordringlich, mit emotionalem Aufruhr in unserem Geist fertigzuwerden, und es mangelt uns an der Fähigkeit, mit all dem zurechtzukommen. Dann verstehen wir die verschiedenen Inhalte, die in den Lehren dargelegt werden, nicht recht und haben keinen Kontakt zu Lehrern. Wie können wir mit dieser Situation umgehen?
Heutzutage stehen immerhin schon viel mehr Bücher zur Verfügung als vor 40 oder 50 Jahren. Selbst wenn keine Lehrer in der Nähe sind, gibt es eine Menge gute Bücher, die man lesen kann. Zudem gibt es inzwischen Internet und Webseiten wie diese, auf denen zahlreiche Lehren und Audio-Dateien in mehreren Sprachen zu finden sind, die man sich anhören kann.
Die größte Menge an Materialien ist natürlich auf Englisch verfügbar, und wenn wir es nicht verstehen, ist es vielleicht eine gute Idee, etwas Englisch zu lernen. Doch noch viel mehr Material gibt es natürlich auf Tibetisch, also entgeht auch denjenigen, die Englisch sprechen, einiges. Wenn es uns wirklich ernst ist mit dem Wunsch, Erleuchtung zu erlangen, müssen wir allerhand Anstrengungen unternehmen. Einer der Aspekte dieser Anstrengungen könnte vielleicht sein, eine andere Sprache zu lernen.
Im Dharma versuchen wir, unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln, und eines der wesentlichen Dinge, die es zu entwickeln gilt, ist die Ausdauer, sich anzustrengen. Befreiung und Erleuchtung sind keineswegs einfach zu erreichen, und niemand wird sie uns mundgerecht servieren. In jeder beliebigen Biografie großer tibetischer und indischer spiritueller Meister lesen wir, dass sie alle eine Menge Schwierigkeiten durchzumachen hatten, um Dharma zu studieren. Warum sollte das bei uns anders sein?
Die Menschen im Westen neigen dazu, ein geringes Selbstwertgefühl zu haben, und deshalb lassen wir uns leicht entmutigen. Daher ist es hilfreich, ihnen Ermutigung zu geben, z.B. durch Lehren über die Buddha-Natur, die besagen: „Du kannst das auch!“ Aber es ist nicht hilfreich, wenn das dazu führt, dass man das Ausmaß an Arbeit und Anstrengung unterschätzt, die für Befreiung und Erleuchtung erforderlich sind. So ist es nun einmal. Unsere störenden Emotionen und schlechten Gewohnheiten sind sehr stark, und wir können das selbst erkennen, wenn wir aufrichtig hinschauen. Es gibt keine einfache Lösung. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass wir nicht zu Fuß von Tibet nach Indien laufen müssen, um an die Lehren zu gelangen; wir brauchen stattdessen bloß noch den Computer einzuschalten und die Internet-Verbindung herzustellen. Wenn man es so betrachtet, gibt es eigentlich wirklich keine Ausreden mehr.
Eine der inspirierendsten Geschichten stammt aus der Biografie von Marpa, dem Übersetzer. Er war das erste Mal in Indien gewesen und hatte die Sprache erlernt und einen ganzen Stapel von Texten übersetzt. Auf dem Weg zurück nach Tibet, mit all den Übersetzungen im Gepäck, musste er den Ganges überqueren und das Boot kenterte. Er verlor alle seine Übersetzungen, und er musste zurück und alles noch einmal machen, und das tat er. Wenn unsere Festplatte kaputtgeht, können wir uns die Situation von Marpa vor Augen führen!