Das politische und religiöse Klima unter den Tanguten
Mit der Errichtung kitanischen Liao-Dynastie in der Mongolei, der Mandschurei und in Teilen des nördlichen Han-China im Jahr 947 und mit der Wiedervereinigung des übrigen Han-Chinas durch die Nördlichen Song im Jahr 960 wurden die Tanguten sowohl vom Norden als auch vom Osten bedrängt. Im südlichen Gansu, Ningxia (Ning-hsia) und im westlichen Shaanxi (Shan-hsi) besetzten die Tanguten ein strategisch wichtiges Gebiet am direkten Tor von Zentralasien nach Chang‘an, dem östlichen Endpunkt der Seidenstraße, die im Besitz der Nördlichen Song war. Obwohl die aus dem Westen kommenden Handelswege die Tanguten umgehen konnten, indem die Händler vom Gansu-Korridor aus durch Tsongka zogen, verlief der direkteste Weg durch das Gebiet der Tanguten. Viele Machthaber waren darauf aus, ihnen das Gebiet wegzunehmen. Die Tanguten widerstanden aber allen Angriffen. Nach sich hinziehenden Kriegen gegen die Kitan und die Nördlichen Song, erklärte sich der Tanguten-Herrscher Jiqian (Chi-chìan) (reg. 982 – 1004) im Jahr 982 selbst zum ersten König einer unabhängigen Tanguten-Dynastie (982 – 1226), die im Chinesischen als Xixia (Hsi-hsia) und im Tibetischen als Minyag (Mi-nyag) bekannt war.
Die Tanguten hatten den Wunsch ihr Reich westwärts auszudehnen, um so einen größeren Abschnitt der Seidenstraße kontrollieren zu können. Daher führten sie in den kommenden fünfzig Jahren ununterbrochen Kriege gegen eine Allianz, die sich aus ihren unmittelbaren Nachbarn zusammensetzte, nämlich aus den Gelben Yuguren und den Tibetern von Tsongka. Der Hof der Nördliche Song pflegte sowohl freundschaftliche Beziehungen mit den Gelben Yuguren als auch mit den Tibetern, und versuchte diese aus der Einflusssphäre der Kitan abzuwerben. Folglich hielten die Tanguten ihre feindseligen Beziehungen zu den Han-Chinesen und den ständig drohenden Kitan im Norden weiter aufrecht.
Der Buddhismus kam ursprünglich im siebten Jahrhundert von Tang-China zu den Tanguten. Als die drei tibetischen Mönche, die vor der Verfolgung des Buddhismus in Tibet durch König Langdarma (reg. 836 – 842) flohen, in Tsongka ankamen, gaben sie einem einheimischen Buddhisten, dem sie den spirituellen Namen Gewasang (dGe-ba gsang) gaben, religiöse Unterweisungen. Die Tatsache, dass sich dieser Initiierte dann für weitere Studien ins Territorium der Tanguten begab, weist darauf hin, dass der Buddhismus damals unter den Tanguten ziemlich weit verbreitet war, zumindest in aristokratischen Kreisen.
Die traditionelle Religion der Tanguten war eine Mischung aus einer nicht-konfuzianischen Art der Ahnenverehrung, die mit Formen des Schamanismus und des Tengrismus verbunden wurden, denen die meisten zentralasiatischen Völker folgten, die mit den mongolischen Steppen in Verbindung standen. So wie die Türken, gab es auch bei den Tanguten einen Kult um heilige Berge. Den heiligen Bergen wurde gehuldigt, weil die Menschen annahmen, dass die Berge ein Sitz der Macht für ihre Herrscher seien. Auch wenn der König der Tanguten, Jiqian, nachdem er den Thron eingenommen hatte, seine einheimische Tradition ehrte, indem er einen Ahnentempel errichtete, der enthusiastische Unterstützung beim Volk fand, respektierte er auch den Buddhismus. Er ließ zum Beispiel seinen Sohn, den künftigen König Deming (Te-ming) (reg. 1004 – 1031), als Kind buddhistische Texte studieren.
Die Situation in den tibetischen Gegenden
Inzwischen erholte sich Zentraltibet langsam vom Bürgerkrieg, der auf die Ermordung von Langdarma im Jahr 842 folgte. Nach einigen durchsetzungsschwachen Regierungen, die vom adoptierten Sohn des letzten Königs und seinen Nachfolgern angeführt wurden, teilte sich Tibet im Jahr 929 in zwei Königtümer. Eines verblieb auf einer schwachen politischen Grundlage in Zentraltibet. Das andere Königtum, die Ngari-(mNga‘-ris)Dynastie, richtete sich selbst im alten Zhang-zhung-Heimatland im Westen ein. Schließlich interessierten sich beide Königtümer dafür, die buddhistische monastische Tradition der Mönche in Tsongka wieder zum Leben zu erwecken.
Der Buddhismus gedieh in Tsongka, unberührt von der Verfolgung durch Langdarma, weiter. Im Jahr 930 begannen Tibeter den Menschen in dieser Gegend zu helfen, buddhistische Texte aus ihrer Sprache ins Uigurische zu übersetzen. Dies war fünf Jahre nachdem die Kitan die uigurische Schrift als ihr zweites Schreibsystem angenommen hatten und war somit die Zeit, als der uigurische Kultureinfluss auf die Kitan ihren Höhepunkt erreichte. Es ist nicht klar, ob die religiöse Zusammenarbeit der Tsongka-Tibeter mit den Uiguren ausschließlich mit ihren unmittelbaren Nachbarn im Norden, den Gelben Yuguren, stattfand, oder auch mit den Kocho-Uiguren weiter im Westen. Die zwei türkischen Gruppen verband dieselbe Sprache und Kultur.
Die religiöse Begegnung zwischen Tibetern und Uiguren gedieh, und die Übersetzungsarbeit nahm im Laufe der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts zu, insbesondere während der Zeit, als die Tibeter und Gelben Yuguren im Krieg gegen die Tanguten verbündet waren. Der han-chinesische Pilger Wang Yande (Wang Yen-te) besuchte im Jahr 982, als das tangutische Königreich gegründet wurde, die Hauptstadt der Gelben Yuguren und berichtet von mehr als fünfzig Klöstern.
König Yeshe-wo‘s Anstrengungen, den Buddhismus in Westtibet wiederzubeleben
Die buddhistische monastische Übertragungslinie der Ordination wurde in Zentraltibet in der Mitte des zehnten Jahrhunderts durch die drei tibetischen Mönche wiederbelebt, die von Tsongka nach Kham gingen. Anschließend unternahmen die Ngari-Könige von Westtibet große Anstrengungen, den Buddhismus wieder auf den früheren Stand zu bringen. Im Jahr 971 schickte König Yeshe-wo (Yeshe-wo) den Übersetzer Rinchen-zangpo (Rin-chen bzang-po, 958 – 1055) und einundzwanzig junge Männer nach Kaschmir, wo sie religiöse Instruktionen erhalten und Sprachen lernen sollten. Sie besuchten auch die Klosteruniversität Vikramashila im zentralen Nordindien.
Kaschmir befand sich damals in der letzten Phase der Utpala-Dynastie (856 – 1003), die der Karkota-Herrschaft folgte. In der Utpala-Zeit gab es in Kaschmir viele Bürgerkriege und viel Gewalt. Gewisse Aspekte des Buddhismus hatten sich mit der shaivitischen Form des Hinduismus vermischt. Zu Beginn des zehnten Jahrhunderts hatte der kaschmirische Buddhismus jedoch dadurch neuen Antrieb erhalten, dass die buddhistische Logik durch den Kontakt mit den nordindischen Klosteruniversitäten zu neuem Leben erweckt wurde. Ein kurzer Rückschlag erlebte die Wiederbelebung des Buddhismus während der Herrschaft von König Kshemagupta (reg. 950 – 958), als dieser eifernde Hindu-Herrscher viele Klöster zerstört hatte. Zu Zeiten des Besuchs von Rinchen-zangpo war die buddhistische Tradition allmählich wieder neu etabliert worden.
Obwohl der Buddhismus, der für Jahrhunderte mit Westtibet eng verbunden war, kürzlich erst seinen Höhepunkt in Khotan erlebte, entbrannte im Jahr der Abreise von Rinchen-zangpo in Kashgar ein bewaffneter Kampf zwischen Khotan und den Karachaniden. Khotan war nicht länger ein sicherer Platz, um sich buddhistischen Studien widmen zu können. Darüber hinaus wollten die Tibeter Sanskrit direkt an seiner Quelle erlernen, d. h. auf dem indischen Subkontinent. Sie wollten Texte selber aus der Originalsprache übersetzen. Die Khotaner gaben buddhistische Sanskrittexte häufig in Paraphrasen wieder, wohingegen die Tibeter lieber präziser vorgehen wollten und sich mit der buddhistischen Doktrin mühten. Daher war der indische Subkontinent der einzige relativ sichere Ort in der Nähe, wo die Tibeter verlässliche Instruktionen erhalten konnten, auch wenn sich der Buddhismus in Kaschmir in einer ungewissen Position befand.
Nur Rinchen-zangpo überlebte die Reise und das Training in Kaschmir und den indischen Gangesebenen. Bei seiner Rückkehr nach Westtibet im Jahr 988 hatte Yeshe-wo bereits einige buddhistische Übersetzungszentren mit den kaschmirischen und indischen Mönchsgelehrten errichtet, die Rinchen-zangpo mit zahlreichen Texten nach Tibet zurückgeschickt hatte. Mönche, die vom Kloster Vikramashila eingeladen wurden, begannen eine zweite Übertragungslinie der monastischen Ordination.
In den letzten Jahren des zehnten Jahrhunderts errichtete Rinchen-zangpo einige Klöster in Westtibet, das damals Teile von Ladakh und Spiti im heutigen Transhimalaya-Indien einschloss. Er besuchte auch zwei Mal Kaschmir, mehr um Künstler einzuladen, die diese Klöster gestalten sollten, um dadurch die Hingabe der einfachen Tibeter zu gewinnen. Dies geschah trotz des Wechsels der Dynastie in Kaschmir mit der Gründung der Ersten Lohara-Linie (1003 – 1101). Der dynastische Übergang fand friedvoll statt und störte die Situation des kaschmirischen Buddhismus nicht.
Die Belagerung von Khotan durch die Karachaniden begann im Jahr 982, sechs Jahre vor Rinchen-zangpos Rückkehr. Bei seiner Ankunft strömten bereits viele Buddhisten als Flüchtlinge in Westtibet zusammen, was zweifellos auch bei der Wiederbelebung des Buddhismus hier half. Sie kamen vermutlich aus Kaschmir und den Gebieten zwischen Kaschmir und Khotan, die entlang der Versorgungslinie der Karachaniden lagen. Obwohl die meisten Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Tibet wohl durch Ladakh mussten, kehrten sie nicht in den Westen zurück und ließen sich in der Nähe von Kaschmir nieder; eine weniger schwierige und kürzere Reise. Dies geschah vielleicht wegen des Ngari-Königreichs, das aufgrund von Yeshe-wos entschlossener Herrschaft und seiner Gönnerschaft politisch und religiös stabiler erschien. Ein anderer Faktor könnte die seit langem bestehenden kulturellen Bande zwischen dieser Region und Tibet gewesen sein. Im Jahr 821 flohen auch Mönche von Khotan nach Westtibet, um vor Verfolgung Zuflucht zu suchen.
Tibetische Militärhilfe für Khotan
Das westtibetische Ngari-Königreich war gerade ein paar Jahre alt, als die Karachaniden von Kashgar in den 930er-Jahren vom Buddhismus zum Islam konvertierten. Ngari war zunächst militärisch schwach, da es als eine politische Splittergruppe aus einem Nachfolgestreit mit Zentraltibet im Jahr 929 hervorgegangen war. Es konnte sich eine Feindschaft aufgrund von religiösen Differenzen einfach nicht leisten. Um zu überleben, musste es freundliche Beziehungen zu seinen Nachbarn unterhalten.
Nach späterer tibetisch-buddhistischer Geschichtsschreibung eilte König Yeshe-wo von Ngari allerdings dem belagerten Khotan zur Zeitenwende des elften Jahrhunderts zu Hilfe. Dies geschah zweifellos mehr aus Angst vor weiterer politischer Expansion der Karachaniden als aus Sorge um die Verteidigung des Buddhismus. Obwohl die Tibeter und die Karluken/ Karachaniden über Jahrhunderte hinweg Verbündete waren, hatten sie nie die Territorien des anderen bedroht. Ferner hatte Tibet immer Khotan als innerhalb seiner legitimen Einflusssphäre betrachtet. Daher veränderten sich die Beziehungen zwischen den beiden Nationen, nachdem die Karachaniden die Grenze dieser Sphäre überschritten. Laut traditioneller buddhistischer Geschichtsschreibung wurde König Yeshe-wo von den Karachaniden (tib. Garlog, türk. Qarluq) als Geisel genommen, erlaubte aber seinen Untertanen nicht, das Lösegeld zu bezahlen. Er riet ihnen, ihn stattdessen im Gefängnis sterben zu lassen und die Geldmittel zu verwenden, um damit weitere buddhistische Lehrer aus Nordindien einzuladen, insbesondere Atisha aus der Klosteruniversität Vikramashila. Viele kaschmirische Meister besuchten zu Beginn des elften Jahrhunderts Westtibet und einige verbreiteten dort eine verfälschte buddhistische Praxis. Da diese verfälschte Praxis sich mit dem bereits ärmlichen Verständnisniveau des Buddhismus in Tibet vermischte, was sich durch die Zerstörung der monastischen Studienzentren zu Zeiten Langdarmas auf so niedrigem Niveau befand, wollte Yeshe-wo dieses Durcheinander beseitigen.
Es gibt viele historische Ungereimtheiten in Bezug auf diesen frommen Bericht, dem gemäß Yeshe-wo sein Leben opfert. Die Belagerung von Khotan endete im Jahr 1006, während Yeshe-wo im Jahr 1027 ein letztes Edikt seines Hofes erließ, mit dem er die Übersetzung buddhistischer Texte regulieren wollte. Daher starb er nicht während des Krieges im Gefängnis. Laut der Biographie von Rinchen-zangpo starb der König nach einer Krankheit in seiner eigenen Hauptstadt.
Trotzdem deutet dieser zweifelhafte Bericht indirekt darauf hin, dass die Westtibeter damals keine starke militärische Macht waren. Sie konnten die Belagerung von Khotan nicht aufheben und stellten keine ernsthafte Bedrohung für die Karachaniden dar, die ihr Gebiet zukünftig gerne entlang des südlichen Tarim-Zweiges der Seidenstraße erweitern wollten. Sie wären nicht fähig gewesen, die tibetischen Nomaden, die dort lebten, zu verteidigen.
Eine mögliche Militärstrategie der Karachaniden
Die Kocho-Uiguren kontrollierten den nördlichen Zweig der Seidenstraße. Auch wenn diese rivalisierenden Turkvölker nicht besonders kriegerisch waren, waren sie Vasallen der Kitan, die zu der Zeit eine ansehnliche militärische Macht darstellten. Wenn zum Beispiel die Karachaniden das Gebiet der Kocho im nächstgelegenen Kucha angreifen sollten, würden die Kitan unzweifelhaft in den Krieg hineingezogen werden. Demgegenüber war Khotan, das auch keine militärische Tradition hatte, sehr viel verletzlicher. Obwohl es Gesandtschaften an einige han-chinesische Höfe geschickt hatte, um Unterstützung zu erhalten, stand Khotan grundsätzlich isoliert da. Ngari hätte schwerlich eine effektive Verteidigung aufbauen können, um zu Hilfe kommen zu können.
Der südliche Zweig der Seidenstraße wurde im Jahr 938 von den Khotanern wiedereröffnet, nachdem er nahezu eineinhalb Jahrhunderte nicht mehr gebraucht wurde und führte wieder den Jadehandel nach Han-China. Der südliche Zweig der Seidenstraße war aber größtenteils verlassen, abgesehen von ein paar tibetischen Nomaden, die dort lebten, und wurde zudem auch nur dürftig verteidigt. Um die nördliche Route zu erobern, würde es einer Reihe von Schlachten benötigen, um dadurch jede der von den Kocho-Uiguren gehaltenen Oasen von Kucha bis Turfan zu erobern, während die südliche Route mit dem Sieg einer einzigen Schlacht, nämlich durch eine Schlacht um Khotan, gewonnen werden könnte.
Sollten die Karachaniden Khotan einnehmen und es ihrem Reich hinzufügen, das sich westlich von Khotan durch Kashgar und weiter zu den Hauptstädten von Sogdien erstreckte, würden sie automatisch den ganzen südlichen Zweig der zentralasiatischen Seidenstraße bis ganz nach Dunhuang hin beherrschen, wo die Seidenstraße auf den nördlichen Zweig trifft. Sie würden dann eine alternative Handelsroute zu derjenigen kontrollieren, die unter der Herrschaft der Kocho entlang des nördlichen Tarim verläuft. Dabei würden sie sowohl finanziell, als auch durch erhöhte Anerkennung, enorm profitieren. Sie bräuchten keinen militärischen Feldzug zu beginnen, um dadurch Einfluss auf Kocho zu gewinnen, sondern könnten sie stattdessen wirtschaftlich unterstützen, anstatt sie vom Seidenstraßenhandel abzuschneiden. Ein wichtiger Faktor bei der Planung von Militärstrategien zur Eroberung des südlichen Zweiges der Route war jedoch zu erwägen, wie die Staaten im Osten auf ein Vorgehen der Karachaniden reagieren würden.
Die Verbindungen der Tanguten
Seit den 890er-Jahren, in denen die Gelben Yuguren den unabhängigen Staat von Guiyijun erobert hatten, regierten sie über Dunhuang am östlichen Ende der südlichen Tarimroute, wo die Straße auf den nördlichen Zweig trifft. Das Territorium der Gelben Yuguren, seit den 930er-Jahren unter der unumschränkten Herrschaft der Kitan, erstreckte sich von dort aus südostwärts und schloss den Gansu-Korridor, durch den die Seidenstraße weiterführte, ein. Die Route verlief dann durch das südliche Gansu im Besitz der Tanguten, bevor sie in Han-China einmündete oder südwärts zur Kokonor-Region abzweigte, dem Endpunkt der arabisch-tibetischen Handelsbewegungen, der damals vom tibetischen Königreich Tsongka regiert wurde.
Da die Tanguten zu dieser Zeit den Nördlichen Song gegenüber extrem feindlich gesonnen waren, verhinderten sie jeglichen Handel Han-Chinas durch ihr Territorium und wurden selbst die wichtigsten Abnehmer der Waren. Die Handelsroute nach Chang‘an wurde in der Folge umgeleitet, um die Tanguten einzukreisen, indem sie nach Süden vom Territorium der Gelben Yuguren aus nach Tsongka verlief und von da weiter nach Han-China ging. Daher begann der König der Tanguten, Jiqian, mit der Errichtung seiner Dynastie im Jahr 982 sofort einen Expansionskrieg, um die Territorien der Gelben Yuguren und Tsongka zu erobern und schnitt jeglichen Zugang der Nördlichen Song zu den zentralasiatischen Ländern im Westen ab.
Der klassischen Strategie folgend: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, errichteten die Karachaniden schnell freundliche Beziehungen mit den Tanguten. Dass die Tanguten dem Buddhismus den Vorzug gaben, scheint kein Hindernis für diplomatische Verhandlungen gewesen zu sein. Geopolitische Bedenken scheinen schwerer ins Gewicht zu fallen als religiöse Erwägungen, wenn wirtschaftlicher Gewinn auf dem Spiel steht.
Mögliche militärische Abkommen mit den Tanguten
Auch wenn es keine eindeutigen Aufzeichnungen zu dem Thema gibt, scheint es doch vernünftig zu sein anzunehmen, dass die Karachaniden und Tanguten ein Abkommen miteinander trafen. Diese Vermutung wird durch die Tatsache belegt, dass die Karachaniden im Jahr 982 auch eine Belagerung in Gang brachten. Eine Möglichkeit wie das Abkommen zustande gekommen sein könnte ist: Die Tanguten würden die Eroberung von Khotan und dem südlichen Tarim durch die Karachaniden nicht behindern, im Gegenzug würden die Karachaniden sich bei einer Invasion der Tanguten im restlichen Gansu und der Kokonor-Region nicht einmischen. Wenn die Kitan zur Verteidigung der Gelben Yuguren einschreiten würden, wären die Tanguten in einer viel besseren Position als die Karachaniden, um sie zurückzuschlagen. Wollten die Karachaniden ihre eigenen Angriffe auf die Gelben Yuguren in Gang bringen und hätten sie zudem auch die Kitan zu bekämpfen, würde dies eine unhaltbare Versorgungslinie durch die südliche Tarim-Wüste erfordern.
Würden die Karachaniden und die Tanguten beide mit ihren militärischen Offensiven Erfolg haben, würden sie die unangefochtene Kontrolle über die südliche Seidenstraße vom nordöstlichen Tibet und den Grenzen von Han-China bis Samarkand gewinnen und dabei effektiv die Nördlichen Song und die Kocho-Uiguren von jeglichem Anteil am Handel ausschließen. Auch wenn die Buddhisten von Khotan möglicherweise den Widerstand der Kashgarer gegen den Islam unterstützt haben, hätte dies zweifellos die Karachaniden nur mit einem moralischen Argument versorgt, ihnen eine Belagerung aufzuzwingen. Damals benötigten die Nationen aber noch keine Ausreden, um eine militärische Offensive starten zu können.
Es ist auch möglich, die Abfolge von Ereignissen zu erklären, ohne dabei über einen gegenseitigen Nichtangriffspakt der Karachaniden/Tanguten zu spekulieren, der sich auf ihre Interessen an Khotan und den Gansu-Korridor bezieht. Auch wenn die zwei Nationen sich die Kontrolle über den Handel der Seidenstraße hätten teilen müssen, hätten die Kaghane der Karachaniden zweifellos auch gewünscht, die Gelben Yuguren in diese Einflusssphäre als Führer aller türkischen Stämme einzubinden. Sollte die direkte militärische Konfrontation entweder mit den Kocho-Uiguren oder den Gelben Yuguren durch eine mögliche Intervention der Kitan zu riskant sein, gäbe es andere Mittel ihre Untertanentreue zu erreichen.
Sollte sich zum Beispiel der Kaghan der Karachaniden großer militärischer und wirtschaftlicher Erfolge durch die Eroberung der südlichen Tarim-Handelsroute erfreut haben und sie mit seinen Territorien in Westturkistan verbunden haben, wären die beiden uigurischen Gruppen von seiner überlegenen spirituellen Macht (qut) überzeugt worden. Den Sieg des Kaghan als eine klare Demonstration seiner rechtmäßigen Autorität über alle Türken, als Schützer des heiligen Berges Balasaghun, anerkennend, hätten sie vielleicht jegliche Hoffnung aufgegeben, den Otukan von den Kitan zurückzubekommen, und sie hätten sich stattdessen an ihren rechtmäßigen Führer gewandt. Wenn sie gesehen hätten, dass der Kaghan mit der Konvertierung zum Islam die richtige Religion gewählt hätte und dadurch übernatürliche Macht erlangt hätte, um Balasaghun und den südlichen Tarim zu erobern, hätten sie sich ganz natürlicherweise vom Buddhismus zum Islam gewandt – nicht als ein Zeichen der Unterwürfigkeit gegenüber Allah, sondern als ein Zeichen der Unterwerfung unter den Kaghan der Karachaniden.
Das wichtigste Operationsziel des Kaghan bei seinem Feldzug im südlichen Tarim war dann zweifellos nicht die tatsächliche Verbreitung des Islam aus Gründen der Rechtschaffenheit oder um Märtyrer zu rächen. Viel wahrscheinlicher war es sein Ziel, kurzfristig wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, territoriale Eroberungen zu machen und langfristig die religiöse Bekehrung der Türken zu erreichen – diese Dinge benutzte der Kaghan als Mittel, um zu erreichen, dass sie ihm gegenüber, durch das gewichtige Argument der Annahme eines fremden Glaubens, eine vereinte politische Loyalität zeigten. Dies ist die Schlussfolgerung, die wir aus den historischen Vorbildern früherer türkischer Herrscher ziehen können, die ihr Volk daran heranführten, zum Buddhismus, Schamanismus und Manichäismus zu konvertieren. Ohne Rücksicht auf die Motive des Kaghan, waren viele Türken aber unzweifelhaft ernsthaft in ihrer Konvertierung zum Islam.
Das Verschwinden des Buddhismus in Khotan
Berichte der Besetzung von Khotan durch die Karachaniden, die der Belagerung und dem anschließenden Aufstand folgt, sind durch ein Schweigen in Bezug auf die einheimische Bevölkerung gekennzeichnet. Ein Jahr nachdem der Aufstand niedergeschlagen wurde, umfasste die Handels- und Tributmissionen der Khotaner, die nach Han-China gesandt wurde, nur türkische Muslime. Die türkische Sprache der Karachaniden ersetzte vollständig die der Khotaner, und der gesamte Staat wurde islamisch. Der Buddhismus verschwand vollständig.
Die Tibeter verloren in einem solchen Ausmaß den Kontakt mit ihren früheren Besitzungen, dass der tibetische Name für Khotan, Li, seine ursprüngliche Bedeutung verlor, und im Kathmandu-Tal in Nepal als Abkürzungswort für seine frühere Herrscherdynastie, die Licchavi (386 – 750), verwendet wurde. Auch alle buddhistischen Mythen, die Khotan betrafen, wurden nach Kathmandu übertragen, wie beispielsweise der Mythos der Gründung Kathmandus durch Manjushri, der einen See dadurch trockengelegt hat, dass er einen Berg mit seinem Schwert gespalten hat. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert verloren die Tibeter aus den Augen, dass sie je mit Khotan in Verbindung standen. So fand nach tibetisch-buddhistischen Berichten das Ereignis, bei dem der König Yeshe-wo sein Leben geopfert haben soll, und der von den „Garlog“, den Karachaniden-Karluken, gefangen gehalten wurde, widersinniger Weise in Nepal statt. Da zwischen 1039 und 1045 in Nepal Bürgerkrieg herrschte, gab es in dieser Zeit schwerlich irgendwelche türkischen Stämme dort, und schon gar keine Karluken.
Durch dieses Beweisstück, das unserer vorherigen Analyse hinzugefügt wird, scheint es, dass das Verschwinden des Buddhismus bei der Bevölkerung Khotans eher das Resultat der Bevölkerungsdezimierung war, die sich während der vierundzwanzig-jährigen Belagerung und der nachfolgenden Niederschlagung der Rebellion der Überlebenden dieser Belagerung ereignete, und weniger durch eine gewaltsame Bekehrung der Buddhisten zum Islam. Die Karachaniden waren vordringlich mit der Bekehrung der Türken beschäftigt – und nicht mit der Bekehrung anderen Völker, die unter ihrer Herrschaft standen. Die Bekehrung der Türken war dabei ein Bestandteil der Bemühung der Karachaniden, alle türkischen Stämme unter ihrer Herrschaft, als Schützer des heiligen Berges Balasaghun, zu einen. Im Jahr 1043 zum Beispiel hielten sie eine Massenbekehrung von zehntausend Türken zum Islam ab. Die Massenbekehrung ging einher mit der Opferung von zwanzigtausend Rinderschädeln, was auf eine traditionelle schamanistische Färbung hinweist und daher auf eine ethnische Bedeutung des Ereignisses.
Die Karachaniden folgten Beispielen der Umayyaden, Abbasiden und Samaniden und boten Nicht-Türken, die anderen Religionen folgten, den beschützten Untertanenstatus an. Der Fall mit dem Nestorianer-Christentum ist gut dokumentiert. Samarkand hatte in der Herrschaftszeit der Karachaniden weiterhin einen nestorianischen Metropoliten. Ferner bekam auch Kashgar nach dem Sturz des Reiches der Karachaniden im Jahr 1137 einen Metropoliten, was darauf hinweist, dass das Nestorianer-Christentum präsent war und während ihrer Herrschaft toleriert wurde. Man kann daraus schließen, dass dasselbe auch für den Buddhismus dort galt, insbesondere weil die nachfolgenden Herrscher von Kashgar dem Buddhismus den Vorzug gaben und Kashgar während ihrer Herrschaftszeit mehrere buddhistische Staatmänner bereitstellte.
Die Tatsache, dass es vor der Belagerung in Khotan eine kleine nestorianische Gemeinschaft mit zwei Kirchen gab, und dass diese nestorianische Gemeinschaft nach der Belagerung nicht mehr erwähnt werden – und dies trotz der Toleranz, die die Karachaniden gegenüber dem Christentum übten – gibt der Schlussfolgerung weiteres Gewicht, dass der Großteil der einheimischen Bevölkerung von Khotan, Christen wie auch Buddhisten, während der militärischen Besetzung ums Leben kamen. Denn sonst hätten die Nestorianer aus Khotan sicherlich später wieder in historischen Berichten Erwähnung gefunden, so wie das bei ihren Glaubensbrüdern in Kashgar der Fall gewesen ist.