Einleitung
Die vier edlen Wahrheiten
Buddha lebte vor etwa zweieinhalbtausend Jahren in Indien, und er lehrte überaus viele verschiedene Dinge, weil er viele verschiedene Schüler hatte und stets auf die Art und Weise lehrte, die am besten für deren jeweiliges Verständnis geeignet war. Doch in seiner ersten Lehre ging es um die grundlegende Einsicht, die dazu führte, dass er die Erleuchtung erlangte. Das heißt, er lehrte das, was „die vier edlen Wahrheiten“ genannt wird. Dabei handelt es sich um wahre Tatsachen hinsichtlich des Lebens, die gewöhnliche Menschen nicht als Tatsachen erkennen; doch weit fortgeschrittene Wesen (Skt. aryas), die die Wirklichkeit erkannt haben, würden sehen, dass sie wahr sind. Wir werden morgen noch genauer darüber sprechen, aber zunächst möchte ich aufzählen, was diese vier Wahrheiten sind:
- Was sind die tatsächlichen Arten von Leiden, die jeder im Leben erfährt?
- Was sind die Ursachen dafür?
- Ist es möglich diese Probleme tatsächlich zu beseitigen, ihre Beendigung zu erreichen, sodass sie nie wieder auftreten?
- Was ist das Verständnis, durch das diese Beendigung herbeigeführt wird, da es die Ursachen des Leidens beseitigen würde?
Die Antworten auf diese Fragen bilden die grundlegende Struktur dessen, was der Buddha für den Rest seines Lebens lehrte. Deswegen legte er sie als erstes dar.
Wenn wir diese vier edlen Wahrheiten betrachten, muss zunächst festgestellt werden, dass sie nicht isoliert für sich allein bestehen. Es gibt eine Grundlage dafür, und wenn wir diese vier Wahrheiten wirklich verstehen, dann folgt daraus etwas. Ganz einfach ausgedrückt: Die Grundlage für diese vier Wahrheiten, diese vier Tatsachen über das Leben, die der Buddha erkannte, ist die Realität.
Wenn wir den Buddhismus mit einem Wort zusammenfassen wollen, dann wäre dieses eine Wort, wie einer meiner Freunde (der auch buddhistischer Lehrer ist) immer sagt, das Wort „Realismus.“
Genauer gesagt: Wenn wir die Realität sehen könnten, wenn wir sie verstehen und akzeptieren könnten, ohne darauf etwas Unmögliches zu projizieren, das gar nicht real ist, dann wären wir imstande, mit unseren Problemen fertigzuwerden; wir wären fähig, mit den Situationen im Leben realistisch umzugehen.
Die Lehren über die Realität sind die Grundlage dieser vier Wahrheiten, und die Realität beinhaltet verschiedene Ebenen, wie die Dinge tatsächlich existieren, wie sie funktionieren, wie sie im Leben wirken. Darum geht es in den Lehren des Buddha.
Die drei kostbaren Juwelen
Was aus diesen vier edlen Wahrheiten folgt und sehr klar wird, ist, welche Richtung wir unserem Leben geben wollen, um Leid und Probleme zu überwinden. Dies wird zusammengefasst in dem, was in der buddhistischen Terminologie „die drei kostbaren Juwelen“ genannt wird. Meistens werden sie mit den dafür gebräuchlichen Sanskrit-Namen genannt: Buddha, Dharma und Sangha. Um es einfach auszudrücken:
- Der Dharma bezieht sich auf das Ziel, das wir anstreben, nämlich das Ziel, unsere Probleme loszuwerden.
- Die Buddhas sind diejenigen, die das erreicht haben, und die lehren, wie wir das selbst auch erreichen können.
- Und der Sangha, das sind diejenigen, die diesen Lehren folgen und damit erfolgreich eine bestimmte Ebene erreicht haben, aber das letztliche Ziel noch nicht erreicht haben.
Ein Gebet an die 17 Meister von Nalanda
Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat einen sehr schönen Text geschrieben, der eine Bitte um Inspiration von 17 großen buddhistischen Meistern beinhaltet, welche im größten buddhistischen Kloster Indiens lebten. Dieses Kloster war einer Universität vergleichbar und hieß Nalanda. Es war die berühmteste Universität jener Zeit. Geführt wurde sie wie ein Kloster; sie bestand etwa 1000 Jahre lang – ich weiß die genaue Anzahl der Jahre nicht, aber es waren etwa 1000 Jahre -, und aus ihm gingen die größten Meister der buddhistischen Tradition hervor. Der Dalai Lama schrieb (wie eine Art Gebet) etwa Folgendes: „Lasst mir die Inspiration zukommen, in eure Fußstapfen zu treten“ – so etwas in der Art. Am Ende dieser Verse, von denen jeder an einen dieser großen Meister gerichtet ist, fügte der Dalai Lama noch ein paar weitere Verse hinzu.
Was ich an diesem Wochenende darstellen möchte, ist im Grunde eine Erklärung eines dieser Verse. Der Vers fasst im Wesentlichen zusammen, was ich gerade hinsichtlich der Realität, der vier edlen Wahrheiten und jener drei Juwelen, der Richtung, in die wir gehen wollen, gesagt habe. Diese drei Juwelen werden manchmal auch die drei Zufluchten genannt. Zuflucht bedeutet einfach, dass dies die Richtung ist, die wir einschlagen wollen – es bedeutet, dass wir, wenn wir in diese Richtung gehen, uns selbst von Leiden und Problemen befreien können.
Der Vers lautet:
Indem wir die Bedeutung der zwei Wahrheiten kennen, nämlich die Basis, die Art und Weise, wie alles verweilt,
„Verweilen“ bedeutet hier: wie die Dinge existieren, wie sie funktionieren. Also mit anderen Worten: Wenn wir die Realität kennen, …
dann, so heißt es in der zweiten Zeile:
gewinnen wir, mittels der vier Wahrheiten, Gewissheit darüber, wie wir immer wieder in zwanghaft auftretende Wiedergeburten eintreten, aber diesen Vorgang auch umkehren können.
Mit anderen Worten: Wenn wir die Realität verstehen, werden wir mittels dieser vier Wahrheiten verstehen, wie wir unsere Probleme immer weiter fortsetzen, aber auch, wie wir sie beseitigen können.
Die dritte Zeile:
Hervorgebracht durch gültige Wahrnehmung, wird dann unsere Überzeugung, dass die drei Zufluchten eine Tatsache sind, gefestigt.
Denken Sie daran, dass es bei den drei Zufluchten um das eigentliche Ziel geht, das wir erreichen können – mit anderen Worten, um die vollständige Beendigung all unserer Probleme, sodass sie nie wieder auftreten – und um das Verständnis, das dazu führen wird.
Wenn man den buddhistischen Weg einschlagen möchte, hat man dabei natürlich ein Ziel vor Augen. Wie weiß man nun, dass es möglich ist, dieses Ziel zu erreichen? Ist es nur eine Fiktion? Handelt es sich um eine nette Geschichte oder um eine wirkliche Tatsache? Viele Menschen streben nach dem Ziel, indem sie sich einfach auf den Glauben verlassen: „Mein Lehrer hat das gesagt. Und naja, ich möchte das glauben, also glaube ich es.“
Und für viele Menschen funktioniert das, aber es ist nicht immer die solideste Art, zu praktizieren. Was oft passiert, ist, dass man dann nach einer ganzen Weile der Übung anfängt, sich zu fragen, was man denn da eigentlich macht. Denn es ist wirklich sehr schwierig, Ärger, Selbstsucht, Anhaftung und dergleichen – die eigentlichen Unruhestifter – loszuwerden, und man kommt nur sehr langsam voran. Der Fortschritt geht nie geradlinig vonstatten. Es geht immer auf und ab. An manchen Tagen geht es besser als an anderen. Wenn man nurauf dem Glauben beruhend praktiziert, kann man daher leicht entmutigt werden, weil es nicht so aussieht, als käme man überhaupt voran. Dann fragt man sich: „Ist es denn wirklich möglich, das Ziel zu erreichen?“
Aus diesem Grund heißt es in dem Vers: „Hervorgebracht durch gültige Wahrnehmung“. Mit anderen Worten: Man hat wirklich, beruhend auf Logik und Vernunft, verstanden, dass das Ziel existiert, und dass es tatsächlich möglich ist, es zu erreichen. Dann ist die Überzeugung im Hinblick auf das Ziel und darauf, dass es erreichbar ist und Menschen gibt, die es erreicht haben, sehr fest; man hat Gewissheit, dass das wahr ist, dass es sich um eine Tatsache handelt. Man vertraut nicht nur darauf, dass es wahr ist, weil es in irgendeinem Buch geschrieben steht, dass es sich so zugetragen hat, sondern man ist überzeugt davon, beruhend auf der Tatsache, dass es aus der Realität gefolgert wird – aus den zwei Wahrheiten, dann aus den vier Wahrheiten, und daraus folgt dann das Ziel, die drei Zufluchten.
Die vierte Zeile lautet:
Inspiriert mich, diese Wurzel des Pfadgeistes, der zur Befreiung führt, fest zu verankern.
Man pflanzt Samen, aber hier ist die Rede von der Wurzel, nicht von Samen. Das heißt, dass mit dieser Struktur – zwei Wahrheiten, vier Wahrheiten, drei Zufluchten – nun die Wurzel für den spirituellen Pfad und für alles, was daraus folgt, gelegt wird. Denn dadurch basiert die gesamte Praxis auf Überzeugung. Man weiß, was man tut, man versteht, dass es möglich ist, das Ziel zu erreichen, und man versteht, was dieses Ziel ist.
So lautet also der Vers, den ich erläutern möchte. Mein Vorschlag ist, in den drei Sitzungen, die wir haben, eine Zeile in der ersten, eine Zeile in der zweiten, und die letzten beiden Zeilen in der dritten Sitzung zu erklären. Das ist die Struktur, der ich folgen möchte. Ich denke, wie gesagt, dass dies ein sehr wichtiges Thema ist und eine wichtige Art, an den Buddhismus heranzugehen. Denn wenn wir einem spirituellen Pfad folgen wollen, ist es meines Erachtens überaus wichtig, die Überzeugung zu gewinnen, dass er realistisch ist, dass es sich nicht um irgendeine idealistische Fantasievorstellung handelt, zu der wir uns gefühlsmäßig hingezogen fühlen, deren Verwirklichung aber ganz unmöglich ist. Wenn wir überzeugt sind, dass das, was wir in spiritueller Hinsicht tun, realistisch ist, können wir mit gesunden Gefühlen handeln. Wir müssen beides im Gleichgewicht halten: das Verständnis und die heilsamen Emotionen (Mitgefühl, Enthusiasmus, Geduld usw.).
Die zwei Wahrheiten
Die relative und konventionelle Wahrheit
Indem wir die Bedeutung der zwei Wahrheiten kennen, nämlich die Basis, die Art und Weise, wie alles verweilt,
In der ersten Zeile ist von den zwei Wahrheiten die Rede. Das bezieht sich zum einen auf das, was relative oder auch konventionelle Wahrheit genannt wird – das ist die eine Ebene; und darüber hinaus gibt es noch die tiefste Wahrheit. Es gibt viele Darstellungen davon, und ich werde derjenigen folgen, die der Dalai Lama verwendet, um dies zu erklären. Wenn von den zwei Wahrheiten die Rede ist, geht es um zwei wahre Tatsachen, die für alle Phänomene gelten. Die eine bezieht sich eher auf die oberflächliche Ebene, die andere auf die tiefste Ebene.
Ursache und Wirkung
Was ist nun die oberflächliche Ebene? Sie beinhaltet, dass alles relativ ist. Hier geht es um Ursache und Wirkung. Das wird natürlich auch in der Physik dargestellt, und ich nehme an, dass die meisten Menschen die Physik akzeptieren. Da spricht man von physischen Objekten. Ihr kennt das ja, man stößt eine Kugel an und sie setzt sich in Bewegung. Das ist einfache Physik, Ursache und Wirkung. Natürlich kann die Beschreibung, wie physische Vorgänge ablaufen, sehr komplex werden.
Wenn man ökonomische Probleme betrachtet, bezieht man die globale Klimaerwärmung mit ein, man bezieht Kriege mit ein – wenn man solche Probleme betrachtet, ist es offensichtlich, dass sie nicht nur aus einer Ursache hervorgehen, dass sie auch nicht ohne Ursache entstehen, und dass sie nicht aus Ursachen entstehen, die damit nichts zu tun haben. All diese Situationen entstehen vielmehr in Abhängigkeit von einer enormen Anzahl unterschiedlicher Faktoren. Das gilt nicht nur für das, was gegenwärtig passiert, sondern auch für das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Richtig? In diesem Land zum Beispiel, in der Ukraine, kann man die gegenwärtige Situation nicht von der sowjetischen Vergangenheit trennen. Und man kann das, was geschieht, nicht von den Weltkriegen und all den Zusammenhängen trennen. Die gesamte wirtschaftliche Situation der Welt und alles, was sich entwickelt hat, ist von den Ereignissen beeinflusst, die sich im Laufe der Geschichte abgespielt haben. Man kann also nicht sagen, dass das, was geschieht, nur auf den Fehler einer bestimmten Person oder auf ein einzelnes Ereignis zurückzuführen ist. Die Dinge entstehen in Abhängigkeit von einem riesigen Netzwerk von Ursachen und Bedingungen. Das ist also die Realität, nicht wahr?
Wir können das auch im Zusammenhang mit psychologischen Faktoren beobachten: Wenn es in der Familie ein Problem gibt, kann man ebenfalls nicht behaupten, dass es nur aus einer Ursache herrührt, oder dass es gar keine Ursache dafür gibt, denn jeder in der Familie hat auf kausale Weise zu dem familiären Problem beigetragen. Und keines der Familienmitglieder existiert ganz für sich alleine, abgetrennt von seiner Arbeit und all den anderen Menschen, die es beeinflussen. Die Situation der Familie wiederum ist nicht isoliert von der Gesellschaft, den ökonomischen Problemen und dem politischen System des Landes zu sehen. Auch das beeinflusst das Problem.
Wenn man anfängt, über die Realität von etwas nachzudenken, sieht man also, dass alles Mögliche miteinander in Verbindung steht, alles von allen möglichen Faktoren beeinflusst wird, so dass alles, was geschieht, als Resultat eines riesigen, komplexen Netzwerkes von Ursachen und Wirkungen geschieht. Das ist die Realität.
Wenn dies auf physikalische Objekte, und, sagen wir, ökonomische Probleme, weltweite Probleme und Familienprobleme zutrifft, wie sieht es denn dann auf der individuellen Ebene mit jedem von uns selbst aus? Wie ist es mit Glück und Unglück? Hat das eine Ursache? Entsteht es ohne Ursache (manchmal bin ich eben glücklich und manchmal nicht, und man kann nie wissen, wie ich mich im nächsten Moment fühlen werde)? Kommt es also ohne Ursache zustande? Oder kommt es nur durch das zustande, was ich tue, sodass ich aufgrund dessen mal glücklich und mal unglücklich bin? Das stimmt offensichtlich nicht, oder? Ich kann an zwei verschiedenen Tagen das Gleiche essen, und an einem Tag esse ich es gerne, am anderen nicht. Ich kann mit dem Menschen zusammen sein, den ich am meisten liebe, und trotzdem manchmal glücklich und manchmal unglücklich sein. Es kann sein, dass ich reich bin und alles gut für mich läuft und dass ich trotzdem nicht glücklich bin.
Worauf ist es also zurückzuführen, dass ich glücklich oder unglücklich bin? Wird es mir von irgendeinem höheren Wesen zugeteilt, das einen Knopf drückt – manchmal wirst du unglücklich sein, manchmal wirst du glücklich sein – und einfach so an den Knöpfen herumspielt? Bitte entschuldigt mich, ich meine das nicht beleidigend, ich treibe das nur in ein etwas albernes Extrem.
Aber wenn offenbar alles, was wir erfahren – ob wir nun physikalische Objekte in Bewegung setzen oder unsere Hand ins Feuer halten, uns verbrennen und Schmerz erfahren -, den Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt, müssten dann nicht auch Glück und Unglück verständlichen Gesetzen von Ursache und Wirkung folgen? Das ist die Frage. Und das ist tatsächlich der wesentliche Punkt im Hinblick auf die Realität, wenn von der relativen Wahrheit die Rede ist. Es geht um Ursache und Wirkung im Zusammenhang mit unserem Verhalten, im Zusammenhang mit Glück, Unglück usw. (Ich spreche hier im Kontext dieser speziellen Lehre. Auf diesen Zusammenhängen liegt das Schwergewicht, wenn von der ersten der zwei Wahrheiten die Rede ist. In anderen Kontexten würde man andere Dinge betonen.)
Karma
Das bringt nun die grundlegenden buddhistischen Lehren über Karma ins Spiel. Worum geht es bei Karma? Es handelt sich um etwas, das nicht ganz leicht zu verstehen ist. Es gibt verschiedene Erklärungen davon und eine Menge Missverständnisse darüber. Um es ganz einfach auszudrücken:
Karma bezieht sich auf die Zwanghaftigkeit, welche unsere Handlungen, Rede und Gedanken antreibt und charakterisiert.
Unser Verhalten, egal ob es deskrutiv, konstruktiv, oder sogar neutral ist, ist zwanghaft.
- Ich bin genervt und will schreien, also schreie ich unwillkürlich.
- Ich bin überfürsorglich und will nachschauen, ob es dem Baby gut geht und dann schaue ich plötzlich öfter nach, als es nötig wäre oder gesund ist.
- Ich bin hungrig und habe den Impuls zum Kühlschrank zu gehen, um mir einen Snack zu holen, und gehe zwanghaft dorthin.
Woher rührt diese Zwanghaftigkeit? Und wohin führt sie? Das sind die Fragen, welche die Lehre des Karmas stellt. Die buddhistische Antwort ist, dass wenn man zwanghaft handelt, spricht, oder denkt, dann führt dies zu Potentialen und Neigungen innerhalb des geistigen Kontinuums. Diese Gewohnheiten sind in jedem Moment der Wahrnehmung vorhanden. Durch ein bestimmtes Gefühl ausgelöst kommt es zum Zwang, welcher zur Wiederholung einer Handlung führt. Bei diesem Zwang handelt sich um das tatsächliche Karma.
Natürlich können wir das auf physischer Ebene erklären, indem wir sagen, dass neurale Bahnen aufgebaut werden und auf diese Weise ein Verhaltensmuster entsteht, eine Gewohnheit. Im Buddhismus wird das keineswegs abgestritten, aber der Buddhismus befasst sich mehr mit der erfahrungsbezogenen Seite dieser Vorgänge. Gleichzeitig wird dieser Vorgang als ein weiteres Beispiel von Ursache und Wirkung analysiert.
Aber wie sieht es mit Glück und Unglück aus? Auch das wird im Zusammenhang mit Karma erklärt: Wenn wir in Verbindung mit verstörenden Emotionen zwanghaft handeln und dies destruktive Verhaltensweisen nach sich zieht, dann führt das schließlich zur Erfahrung von Unglück. Wohingegen wir, wenn wir konstruktiv handeln, d.h. nicht unter dem Einfluss verstörender Emotionen, z.B. mit Geduld und Güte statt aus Ärger destruktiv zu handeln, schließlich Glück erfahren. Eigentlich wird der Zusammenhang in umgekehrter Reihenfolge erklärt: Wenn man Unglück erfährt, so ist das auf destruktives Verhalten zurückzuführen; wenn man Glück erfährt, so geht das auf konstruktives Verhalten zurück. Das ist die Art und Weise, wie es korrekt erklärt wird. Wie ist das nun zu verstehen?
Ich habe das zwar schon ganz kurz erwähnt, aber zunächst einmal müssen wir den Unterschied zwischen konstruktiven und destruktiven Verhalten verstehen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden wird nicht so sehr anhand der Wirkung getroffen, die die Handlung auf jemand anderen hat. Ein Mörder, der sehr wütend auf jemanden ist, fügt ihm vielleicht mit einem Messer Schnittwunden zu. Das ist destruktiv. Ein Chirurg z.B. schneidet den Körper auf, um eine Operation durchzuführen, die jemandem das Leben rettet. Die bloße Handlung, jemandem mit einem Messer Schnitte zuzufügen, ist also offensichtlich nicht der bestimmende Faktor dafür, ob sie konstruktiv oder destruktiv ist. Alles hängt von der Motivation ab, von dem geistigen Zustand, in dem die Handlung ausgeführt wird. Wenn die Handlung aus gemischten Motiven durchgeführt wird oder von etwas motiviert ist, das „störende Emotionen“ genannt wird – die hauptsächlichen darunter sind Ärger, Anhaftung und Gier, Naivität, Eifersucht, Arroganz, Selbstsucht und dergleichen -, dann ist die Handlung destruktiv, selbst wenn die Handlung an sich nett ist. Wenn man jemandem eine angenehme Massage gibt, weil man ihn oder sie sexuell verführen will, weil man voller Begierde ist, so ist das destruktiv. Wenn man jemandem eine Massage gibt, um ihrer oder seiner Gesundheit etwas Gutes zu tun, so ist das konstruktiv. Und eine konstruktive Handlung ist eine, die relativ frei von störenden Emotionen ist.
Wie ist nun die Beziehung zwischen Unglück und einem destruktiven Verhalten, das auf störenden Emotionen beruht, und die Beziehung zwischen Glück und einem Verhalten, das relativ frei von solchen Emotionen ist, zu verstehen? Das ist nicht nur eine sehr interessante Frage, sondernist auch von wesentlicher Bedeutung, weil der Buddha Karma, störende Emotionen und Verwirrung über unsere Existenz als die Ursachen für wie wir uns fühlen identifizierte. Diese sind die Ursachen für Unglücklichsein und von unbefriedigendem gewöhnlichen Glück. Wir müssen beide überwinden um frei vom Leiden beider Gefühle zu sein.
Lasst uns darüber nachdenken. Wenn du zum Beispiel Ärger erlebst, fühlst du dich dann wohl? Ist deine Energie entspannt? Sie ist nicht entspannt, oder? Die Energie ist unruhig. Bist du glücklich, während du ärgerlich bist? Ich nehme an, niemand würde sagen, er wäre glücklich, während er Ärger oder eine der anderen störenden Emotionen erlebt. Wenn du genau hinsiehst und deine Energie beobachtest, während du Gier empfindest, stellest du fest, dass du dabei nicht ruhig bist, du nicht entspannt. Wenn du sehr an jemandem hängest und ihn/sie schrecklich vermisst, fühlst du dich nicht wohl dabei. Die Energie ist sehr verstört. Wenn unser Geist hingegen relativ ruhig ist, weder von Ärger noch von Gier oder Selbstsucht und dergleichen erfüllt ist und wir einfach versuchen, freundlich zu sein, ist die Energie sehr viel ausgeglichener, nicht wahr? Man fühlt sich eigentlich besser, auch wenn dies eine subtile Ebene des Glücklichseins ist. Es ist nichts Dramatisches. Selbst wenn man ein zwanghafter „Weltverbesserer“ ist und alles perfekt machen will, ist man Energie entspannter und glücklicher, wenn man etwas Heilsames tut, statt aus Wut heraus zu handeln. Natürlich kann es sein, dass du besorgt bist, Fehler zu machen oder nicht gut genug zu sein, während du etwas Positives tust, aber dann fühlst du dich sicherlich nicht ungezwungen mit solchen Gedanken und Sorgen.
Bemerkenswert ist hier, dass dieses Gefühl des Unglücklichseins oder des relativen Glücklichseins nur kurz anhält, nachdem die Handlung vollendet ist. Das heißt also, dass das, was man fühlt, während man bereits etwas anderes macht, vom Vorherigen beeinflusst sein kann. Als der Buddha über das Verhältnis von Karma und dem Ausmaß an Freude und Unglückseligkeit sprach, verwies er nicht auf das, was wir unmittelbar nach einer Handlung fühlen. Er thematisierte die Langzeiteffekte. Wie dem auch sein, diesen Punkt können wir verstehen, wenn wir über das Verhältnis zwischen unserem zwanghaften emotionalen Verhalten und der in unserem Körper fließenden Energie nachdenken.
Das ist also die relative Wahrheit, nämlich dass im Grunde alles in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entsteht, einschließlich unseres allgemeinen geistigen Zustands (nicht nur, was wir zu tun geneigt sind, sondern auch, ob wir glücklich oder unglücklich sind). Ist das soweit verständlich? Das ist also ein Aspekt der Realität – die Verszeile nennt ihn die Grundlage – die Art, wie alles existiert, funktioniert und wirkt.
Die tiefste Wahrheit
Die zweite Wahrheit liegt auf einer tieferen Ebene. Sie besagt, dass die Dinge zwar aufgrund unserer Projektionen so erscheinen mögen, als würden sie auf unmögliche Arten existieren und funktionieren, dass aber diese unmöglichen Arten in ihrer Erscheinungsweise nicht der Realität entsprechen.
Die radikale Abwesenheit von etwas Auffindbarem, was unseren Projektionen entspricht, nennt man „Nichtigkeit“ oder auch oft „Leerheit.“
Damit wird im Grunde nichts anderes ausgesagt, als dass die Dinge nicht auf unmögliche Arten existieren. Wie könnten sie auch? Eine Realität, die etwas Unmöglichem entspricht, das wir darauf projizieren, ist also nicht vorhanden. So etwas gibt es nicht.
Ein einfaches, klassisches Beispiel dafür ist Folgendes: Ein Kind denkt, unter dem Bett säße ein Monster. In Wirklichkeit befindet sich eine Katze unter dem Bett, aber das Kind projiziert darauf die Vorstellung, dass da ein Monster wäre. Und weil das Kind glaubt, dass wirklich ein Monster unter dem Bett sitzt, ist es sehr verängstigt; es gibt also eine Wirkung. Aber was es sich vorstellt, ist unmöglich. Es gibt keine Monster. Die Leerheit ist also eine Abwesenheit. Sie bedeutet, dass kein wirkliches Monster vorhanden ist, das der Vorstellung des Kindes entspricht. Wir entfernen die Projektion, und da ist eine Katze unter dem Bett; es ist nicht so, dass gar nichts vorhanden wäre.
Wir haben gewohnheitsmäßig die Vorstellung, dass die Dinge so existieren, wie sie uns erscheinen. Wir sind uns nur dessen gewahr, was sich direkt vor unseren Augen abspielt oder was wir im Moment gerade empfinden. Ich fühle mich gerade unglücklich, und es scheint, als ob das ganz von selbst auftritt – einfach so, ohne Grund, ohne dass es mit etwas in Verbindung stünde. Ich bin eben unglücklich, ich weiß nicht warum. Ein fades Gefühl, irgendwie überdrüssig. Unglücklich. Es scheint nicht damit in Verbindung zu stehen, was ich tue, oder mit den Leuten, mit denen ich zusammen bin. Ganz plötzlich fühle ich mich ungut, unglücklich (es muss nichts Dramatisches sein, es kann auch nur in geringem Ausmaß sein). Wie erscheint es mir? Es erscheint so, als geschähe es ohne Ursache. Aber das ist unmöglich. Das entspricht nicht der Realität. Genau das ist die tiefste Wahrheit. Verständlich?
Die konventionelle Wahrheit ist, dass alles, einschließlich meines Glücks oder Unglücks, aus Ursachen und Wirkung entsteht. Das ist die Realität, aber so erscheint sie mir nicht. Und die tiefste Wahrheit ist, dass die Art und Weise, wie mir etwas erscheint, nicht der Realität entspricht; es ist eine Projektion von etwas Unmöglichem. Wenn wir darüber nachdenken, merken wir, dass das wirklich sehr tiefgründig ist.
Lasst mich noch ein anderes Beispiel geben: Nehmen wir an, ich habe einen guten Freund, der mich manchmal anschreit. Wir haben eine wunderbare Beziehung zueinander, aber ganz plötzlich schreit er mich an, er ist wütend auf mich. Und wie erscheint mir das? „Ach du Schreck, du bist böse auf mich! Du magst mich nicht mehr“, und ich bin total aufgebracht. Weil mir einzig und allein dies erscheint: diese Person, die mich anschreit. Aber die Realität ist: Dieses Anschreien ist nicht von selbst entstanden, ohne mit allen möglichen anderen Dingen in Verbindung zu stehen. Was passiert, ist, dass ich die Gesamtheit der Beziehung, die ich zu diesem Menschen habe, aus dem Blickfeld verliere – all die anderen Zeiten, die wir miteinander verbracht haben, die ganze übrige Interaktion. Das Einzige, was vor mir auftaucht und zu existieren scheint, ist, dass er mich anschreit. Aber das ist nicht alles – man vergisst den Gesamtkontext, das Bild des großen Ganzen. Auch bin ich nicht der oder die Einzige im Leben dieser Person. Die Person, die mich angeschrien hat, hat außer mir auch noch ihr eigenes Leben, und vielleicht ist ihr bei der Arbeit irgendetwas Schreckliches passiert, oder es ist etwas mit seinen Eltern, was meinem Freund schlechte Laune macht. Deshalb hat schrie er mich an. Die tiefste Wahrheit – Leerheit – ist, dass das, was wir projizieren, unmöglich ist: Es stimmt einfach nicht, dass die Handlungen meines Freundes aus sich selbst existieren, unabhängig vom Kontext der Freundschaft und seinem sonstigen Leben. Eine tatsächliche Realität kann überhaupt nicht existieren. Es gibt so etwas nicht. Diese vollkommene Abwesenheit einer solchen Existenzweise nennt man in Sanskrit „Leerheit“ (shunyata). Dieses Wort ist etymologisch mit dem Wort für „Null“ verwandt.
In dem Vers heißt es, dass diese zwei Wahrheiten sich gegenseitig unterstützen, nämlich die relative Wahrheit, dass alles durch Ursache und Wirkung funktioniert, und die tiefste Wahrheit, dass die Dinge nicht auf unmögliche Art existieren, indem sie voneinander isoliert wären. Und es wird gesagt, dass dies die Basis ist. Das ist die Art und Weise, in der alles verweilt. „Verweilen“ ist ein Wort, das sich darauf bezieht, in welcher Situation sich die Dinge befinden, wie sie sich aufrechterhalten, wie sie funktionieren, wie sie wirken. All diese Konnotationen sind darin enthalten. Und Basis bedeutet, dass dies die Grundlage für das ist, was als nächstes kommt. Auf der Basis der zwei Wahrheiten, indem er die Realität sah, verstand Buddha dann die vier Wahrheiten.
Fragen und Antworten
Wahre Realität erfahren
Ist es möglich, diese wahre Natur der Realität, diese wahre Realität, zu erfahren, in der wir keinerlei falsche Konzeptionen haben? Kann man sie direkt wahrzunehmen, oder ist das unmöglich?
Nein, nein, es ist möglich – das kommt als nächstes in dieser Darstellung -, denn weil es die Realität gibt, und obwohl die Dinge nicht so erscheinen, wie sie wirklich existieren, ist es möglich, das, was die Verzerrung verursacht, zu beseitigen. Das ist die grundlegende Frage: Ist die geistige Aktivität, mit der wir Dinge wahrnehmen und erkennen, aufgrund ihrer eigenen Natur etwas, das die Realität verzerrt? Oder ist es möglich, dass diese Aktivität ohne Verzerrung, ohne Projektionen funktioniert?
Aus diesem Grund wird die Realität als Grundlage, als Basis genommen. Darauf beruhend verstehen wir – darum wird es morgen gehen -, dass, wenn die geistige Aktivität verzerrt ist, Probleme, Leiden und Unglück verursacht werden, und dass es möglich ist, alle Verzerrungen zu beseitigen, und dadurch dann die Probleme zum Aufhören zu bringen. Sobald man das verstanden hat, versteht man, dass das Ziel erreichbar ist, dass der Geist dazu imstande ist. Dann hat man diese Richtung, diese Zuflucht, und nun kann man dies anstreben, indem man überzeugt ist, dass es tatsächlich möglich ist, es zu erreichen. Alles beruht auf der Tatsache, dass es die Realität gibt, und dass es möglich ist, sie wahrzunehmen.
Aber es erfordert sehr, sehr lange Übung, sich mit der Realität vertraut zu machen und die geistigen Blockaden zu durchbrechen. Dafür gibt es die Meditation. Meditation bedeutet, uns damit vertraut zu machen, mehr förderliche Gewohnheiten zu entwickeln, sodass man sich daran gewöhnt, jemanden, wenn man ihn trifft, nicht nur so zu sehen, wie er gerade vor unseren Augen erscheint, sondern sich dessen vollauf bewusst zu sein, dass er ein Kleinkind war, eine Kindheit hatte, all den Einflüssen ausgesetzt war, und dass er wahrscheinlich älter werden wird – den gesamten großen Zusammenhang zu sehen und zu erkennen, dass das alles miteinander in Verbindung steht. Aber man muss sich darin üben, das so zu sehen. Nicht unbedingt so, dass man es mit den Augen sieht, aber indem man es versteht; man versteht alles über diese Person – ihre ganze Vergangenheit, was ihre Potenziale sind – denn das alles hängt zusammen. Am Anfang kennt man natürlich die Einzelheiten nicht, aber das macht nichts. Sich einfach dessen gewahr zu sein, dass da die ganze Vergangenheit und all die Einflüsse sind, die sich auf diese Person ausgewirkt haben, und dass es eine Zukunft gibt – allein das öffnet einen sehr weit für die Realität. Wenn du dann ein Baby siehst, siehst du es nicht nur als ein Baby; du siehst: Hier ist ein potenzieller Erwachsener, und alles, was ich jetzt tue, wird beeinflussen, wie dieses Baby sich zum Erwachsenen entwickelt. Du siehst das Gesamtbild. Die Wirklichkeit.