Von Entsagung zu Mitgefühl

Bei Entsagung und Mitgefühl handelt es sich um dieselben Geisteshaltungen, nämlich die Entschlossenheit, frei von Leiden und deren Ursachen zu sein. Während erstere lediglich auf uns selbst gerichtet ist, richtet sie sich im letzteren Fall auf andere aus. Wenn wir alle Einzelheiten für das Hervorbringen von Entsagung kennen - deren Ursachen, die begleitenden Geistesfaktoren, die Arten von Verständnis und dergleichen - werden wir imstande sein, Mitgefühl auf vollkommene Weise zu entwickeln.

Entsagung und Mitgefühl sind zwei wichtige Geisteszustände, die als Teil unserer Motivation zu kultivieren sind, während wir auf dem spirituellen Pfad des Buddhismus voranschreiten. Ich möchte hier auf einige der Fragestellungen näher eingehen, die speziell mit diesen beiden Geisteszuständen befasst sind, und dies vor allem, da beide sehr eng miteinander verknüpft sind. In der Tat sind sich diese Geisteszustände sehr ähnlich, nur in ihrer Zielrichtung weichen sie voneinander ab.

Alle buddhistischen Lehren zielen darauf ab, uns bei der Beseitigung von Leiden und von Problemen zu helfen. Die Methode dies zu bewerkstelligen besteht darin, deren wahre Ursachen in uns selbst aufzuspüren und eben diese Ursachen zu beseitigen, damit sie nicht zu weiteren Leiden führen. Diese Methode fußt in der Überzeugung, dass es möglich ist, diese Ursachen in einer Weise zu beseitigen, so dass sie niemals wieder auftreten. Zu diesem Zweck ist es notwendig, einen Geisteszustand zu entwickeln, der ein Pfad ist. Es ist ein Pfad des Verstehens, der der Wurzelursache für unsere Probleme, im Wesentlichen unserem mangelnden Verständnis und unserem Nicht-Gewahrsein, vollständig entgegenwirkt und sie beseitigen wird.

Dies folgt der Struktur der Vier Edlen Wahrheiten, der ersten und grundlegendsten Unterweisung, die Buddha gegeben hat. Wenn wir Entsagung und Mitgefühl betrachten, sehen wir, dass sich beide auf das Leiden ausrichten. Wir wünschen, dass dieses Leiden ein Ende haben möge. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass der Geist, der mit Entsagung einhergeht, auf unser eigenes Leiden ausgerichtet ist und der mit Mitgefühl verbundene Geist sich auf die Leiden anderer ausrichtet. Beide Geisteszustände sind also sehr ähnlich, nicht wahr? Dann erhebt sich jedoch die Frage, ob nun auch die Emotionen tatsächlich gleich sind und wie wir den Übergang von einem zum anderen Geisteszustand gestalten.

Die Bedeutung von Entsagung und Mitgefühl

Der Begriff "Entsagung" findet nicht nur im Englischen Anwendung, sondern auch so ziemlich in allen anderen Sprachen, in denen der Buddhismus im Westen präsentiert wird. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob es sich dabei um eine korrekte Übersetzung des ursprünglichen Begriffs aus dem Sanskrit oder Tibetischen handelt. Man mag sich fragen, ob der Begriff möglicherweise von den Missionaren geprägt worden sein könnte, die ja zu den ersten Übersetzern des Buddhismus im Westen gehörten und die die buddhistischen Lehren in einem anderen als dem ursprünglichen begrifflichen Rahmen verstanden. Im eigentlichen Sinne trägt das Wort "Entsagung" diesen Beigeschmack von alles aufgeben und sich in eine Höhle oder ein Kloster zurückziehen, denn schließlich sei es doch verwerflich, sich mit weltlichen Angelegenheiten abzugeben. Doch das ist keineswegs die tatsächliche Bedeutung dieses Begriffes, weder im Sanskrit (nihsarana) noch im Tibetischen (nges-'byung). Wenn wir insbesondere einen Blick auf das Tibetische werfen, so erschließt sich uns dieser Begriff als Entschlossenheit, wobei es darum geht, Gewissheit zu erlangen. Ganz konkret bezieht er sich auf die Entschlossenheit, frei von dem Leiden zu sein, auf das er ausgerichtet ist.

Die Entschlossenheit zu entwickeln frei von Leiden zu sein setzt die Bereitwilligkeit voraus, Leiden samt dessen Ursachen hinter sich zu lassen. Daher bringt man diese auch mit etwas aufgeben oder sich von etwas abwenden in Verbindung. Dieses "Etwas" steht für das Leiden und dessen Ursachen, auf die wir uns ausrichten, nachdem wir sie im Vorfeld identifiziert haben. Erst nachdem ich erkannt habe, „Dies ist das Leiden, dem ich ausgesetzt bin, und dies sind seine Ursachen; ich will dies nicht länger ertragen müssen, ich will mich davon frei machen“, erst dann können wir die Bereitschaft entwickeln, sie aufzugeben. Ganz pragmatisch würde man das wohl mit, "Ich möchte, dass es aufhört“ umschreiben. Dies trifft in gleichem Maße auf den Geisteszustand zu, der auf unser eigenes Leiden ausgerichtet ist wie auch im Falle von Mitgefühl auf die Leiden anderer. Obwohl es also einen Unterschied in der Person gibt, die dieses Leiden erfährt - uns selbst oder andere - der Wunsch ist derselbe. Wir wollen, dass es aufhört.

Die beteiligten Faktoren, Entsagung und Mitgefühl hervorzubringen

Es reicht nicht aus lediglich zu erkennen, worauf unser Augenmerk zu legen ist - nämlich ein von uns oder anderen erfahrenes ganz konkretes Leiden und dessen tatsächliche Ursache. Gleichermaßen bedeutsam ist es, auch die verschiedenen anderen daran beteiligten Faktoren klar zu sehen. In seinem Brief mit praktischen Ratschlägen zu Sutra und Tantra zeigt Tsongkhapa sehr deutlich auf, welcher allgemeingültigen Faktoren es bedarf, um effektiv meditieren zu können. Als erstes geht es darum zu verstehen, was Meditation eigentlich ist. Meditation ist eine Methode, bei der wir unseren Geist mit einem bestimmten Geisteszustand oder Objekt vertraut machen und ihn daran gewöhnen, indem wir diesen Zustand wiederholt erzeugen oder unsere Aufmerksamkeit auf dieses Objekt lenken.

Um zu wissen, wie wir uns mit diesem Geisteszustand vertraut machen können, kommt es darauf an, alle seine Besonderheiten zu kennen. Wir müssen wissen:

  • Worauf dieser Geisteszustand ausgerichtet ist – in unserem Fall auf das Leiden und seine Ursachen;
  • In welcher Beziehung dieser Geist zum Objekt steht. Der Fachausdruck dafür ist: "wie er das Objekt erfasst." Unser Geist erfasst dieses Objekt hier mit dem Wunsch, dass es nicht mehr da ist. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Leiden und dessen Ursachen und achtet darauf, aber nicht nur das. Die Art und Weise, in der sich unser Geist darauf bezieht ist, "Möge es verschwunden sein!“

Jeder Geisteszustand ist aus vielen verschiedenen geistigen Faktoren zusammengesetzt, wie Konzentration, Absicht und so weiter. All diese Faktoren zu kennen hilft uns, den gewünschten Geisteszustand hervorzubringen. In diesem Zusammenhang ging Tsongkhapa noch auf zahlreiche andere Punkte näher ein, von denen wir ebenfalls Kenntnis haben sollten. Diese beinhalten:

  • Worauf gründet sich dieser Geisteszustand? Anders gesagt, welche Geisteszustände müssen wir bereits im Vorfeld entwickelt haben, damit wir diesen Geisteszustand entstehen lassen und aufrechterhalten können, beispielsweise Leiden zu identifizieren und es in uns und bei anderen zu erkennen?
  • Welche geistigen Faktoren fördern den Geisteszustand, den wir hervorbringen wollen, und welche schaden eher? Liebe, zum Beispiel, ist dabei förderlich, sei es nun Liebe für uns selbst oder für andere; während Hass, sei es Selbsthass oder Hass auf andere, sich nachteilig darauf auswirken wird.
  • Welches sind die Vorteile oder der Nutzen bzw. die Funktion dieses Geisteszustandes, wenn wir ihn einmal hervorgebracht haben? Entsagung, beispielsweise, ist hilfreich, uns selbst von unserem Leiden zu befreien, und Mitgefühl hilft uns, andere in die Lage zu versetzen, sich von ihrem Leiden zu befreien.  

Das mag sich nun nach einer Unmenge technischer Details anhören, doch in der Praxis erleichtern gerade diese erheblich das Annähern an die buddhistische Schulung oder an jegliche Form spiritueller Schulung, um beispielsweise Liebe oder Mitgefühl zu entwickeln. Wie geht man da vor? Es kommt häufig vor, dass wir gar nicht genau wissen, was mit Liebe oder Mitgefühl gemeint ist, und so sitzen wir einfach mit leerem Geist da und wissen nicht, was wir tun sollen. Vielleicht haben wir unsere eigenen Vorstellungen davon, was Liebe oder Mitgefühl sein könnten, doch unsere eigenen Vorstellungen sind für gewöhnlich etwas verschwommen. Versuchen wir etwas Verschwommenes hervorzubringen, können wir bestenfalls darauf hoffen, nicht mehr als ein vages Gefühl davon zu bekommen, und vermutlich wird es ein vages Gefühl von etwas sein, das nichts mit dem zu tun hat, was der Buddhismus uns anweist zu entwickeln.

Obwohl wir uns in der buddhistischen Schulung mit etwas beschäftigen, was man als "spirituelle Werte", Geisteszustände, und dergleichen bezeichnen könnte, so ist die Herangehensweise doch wissenschaftlich und präzise. Sie ist präzise, weil wir genau wissen, was wir mit unserem Geist vorhaben und wie wir dies bewerkstelligen. Lassen wir Präzision walten, wir mit Genauigkeit daran, wie wir mit unserem Geist, unserem Herz und unseren Emotionen arbeiten, können wir diese tatsächlich in positiver Weise entwickeln. Andernfalls bleibt alles sehr vage.

Einige von uns mögen vordergründig nicht wissenschaftlich oder rational orientiert sein. Manch einer ist vielleicht eher intuitiv veranlagt und arbeitet mehr mit Emotionen. Aber schauen wir uns Intuition genauer an, werden wir feststellen, dass die beste Art von Intuition diejenige ist, die präzise ist. Eine Intuition, die vage ist, wird uns nicht sehr weit bringen. Ganz gleich, welchem Persönlichkeitstyp wir zuzuordnen sind - Präzision ist äußerst hilfreich.

Geistige Faktoren, die Entsagung und Mitgefühl begleiten: Ein entschiedenes Gefühl von "es reicht"

Welche geistigen Faktoren begleiten Entsagung und Mitgefühl? Ich möchte gern ein möglichst genaues Bild davon vermitteln, worum es bei diesen Geisteszuständen geht, die in den buddhistischen Lehren erörtert werden. Doch selbst wenn wir diese Geisteszustände und Emotionen genauestens beschreiben können, stellt sich ganz natürlich die Frage: Wie können wir sie tatsächlich empfinden? Und: Wie können wir wissen, dass das, was wir empfinden, echt ist?

Wenn wir nun eine konkrete Vorstellung davon haben, was in den Geisteszuständen enthalten sein sollte, damit sie dem angestrebten Zustand entsprechen, dann können wir unsere jetzige Erfahrung nehmen und sie mit dem Zustand vergleichen, wie er tatsächlich aussehen soll. Untersuchen wir, was wir gerade fühlen, können wir versuchen, ihn zu zerlegen, all die dazugehörigen Einzelteile zu betrachten und herauszufinden, welche seiner Teile schwach oder unzulänglich sind. Auf diese Weise werden wir erkennen, woran wir arbeiten müssen, um zu einem präziseren Geisteszustand zu gelangen. Im Zuge des Analysierens und Verstehens unserer Gefühle werden diese nicht zerstört. Es handelt sich um ein Vorgehen, das auch in der Psychotherapie Anwendung findet, um uns heilen zu helfen und um für andere wie auch für uns selbst von größerem Nutzen zu sein.

Welches vorherrschende Gefühl ist mit Entsagung und Mitgefühl verbunden? Es ist "yid-'byung". Dies ist ein tibetisches Wort, das nicht so leicht zu übersetzen ist. Doch kann man sagen, dass es einen Zustand von Überdruss beschreibt: "Ich habe genug von etwas." Manchmal wird es noch nachdrücklicher als "Abscheu" übersetzt, wie ich es in der Vergangenheit bereits selbst getan habe. Wir verabscheuen unser Leid und verabscheuen das Leid der anderen. Doch wenn ich es mir recht überlege, ist das Wort zu drastisch, denn Abscheu kann leicht in die störende Emotion von Ablehnung abgleiten. Ich denke, bei dieser Emotion geht es in eine etwas neutralere Richtung. "Genug von diesem Leiden, es muss aufhören", ob nun das eigene Leiden oder das anderer. Demnach trägt es eine gewisse Komponente von Entschiedenheit in sich: "Jetzt reicht’s. Es ist genug!"

Ich denke, wir können das gut von unserem alltäglichen Erleben her nachvollziehen. Vielleicht leiden wir und wollen aus diesem Leiden herauskommen. Doch unternehmen wir im Grunde rein gar nichts, um es zu überwinden, und das solange, bis wir den Punkt erreichen, an dem wir entschlossen sagen: "Jetzt reicht’s. Genug damit!" Das Gefühl von „es reicht" ist einer der Bestandteile von Entsagung und ist der tragende emotionale Grundtenor.

Glauben, dass eine Tatsache wahr ist

Ein anderer geistiger Faktor, der mit Entsagung und Mitgefühl einhergeht, ist der Glaube, dass eine Tatsache wahr ist. Manchmal wird er als "Vertrauen" übersetzt, aber ich denke, dass diese Übersetzung unzutreffend ist. Sie ist unzutreffend, weil man auch Vertrauen in etwas Falsches oder Ungewisses haben kann, wie das Vertrauen an das stetige Wachstum einer Wirtschaft. Der Glaube an eine Tatsache zielt auf etwas ab, das wahr ist, und schenkt dem auch glauben, dass es wahr ist. Es geht also nicht darum, dass wir an den Osterhasen oder dergleichen glauben.

Aus Gründen der Vernunft an eine Tatsache glauben

Es gibt drei Arten von Glauben an eine Tatsache. Die erste besteht darin, eine Tatsache aus Gründen der Vernunft zu glauben. Hierbei richten wir uns auf das Leiden aus. Wir glauben fest an die Tatsache, dass dies wirklich Leiden ist und dass es wirklich von dieser Ursache herrührt. Hinzu kommt unser überzeugter Glauben, dass dieses Leiden beseitigt werden kann, und zwar für immer.

Dieser letzte Punkt beleuchtet einen äußerst wichtigen Bestandteil. Gäbe es nicht den überzeugten Glauben, dass das Leiden beseitigt werden und eine gezielte Gegenkraft es für immer aus der Welt schaffen kann, wäre der gesamte emotionale Grundtenor ein anderer. Um ein Beispiel anzuführen: Wir können erkennen, dass wir uns im Leben mit einem bestimmten Problem herumschlagen und vielleicht verstehen wir sogar zumindest ansatzweise dessen Ursache. Wir würden dem Problem wirklich gern entrinnen, und womöglich haben wir sogar den Punkt erreicht, an dem wir uns zutiefst bewusst sind, dass es jetzt reicht. Wir wollen wirklich etwas dagegen unternehmen. Aber angenommen, wir gehen davon aus, dass es hoffnungslos ist, dass kein Weg aus unserem Problem herausführt und wir einfach lernen müssen, den Mund zu halten und damit zu leben. Oder wir fühlen uns dazu verdammt, dieses Problem für immer mit uns herumzutragen. Hier haben wir es doch mit einem ganz anderen Geisteszustand zu tun als dem Glauben an Tatsachen, wie er im Buddhismus beschrieben wird, nicht wahr? In einer geistigen Verfassung, die von Hoffnungslosigkeit geprägt ist, können wir angesichts der ganzen Situation ganz schnell in tiefe Depressionen stürzen. Wir sind völlig frustriert, denn - obwohl wir unserem Problem gern entrinnen würden - stellt sich dies für uns im Grunde lediglich als Wunschdenken dar und man kaum etwas tun kann.

Genau deshalb muss unsere Überzeugung, unser Problem für immer loswerden zu können, hier auf Vernunft gegründet sein. Wir verstehen, wie wir uns von dem Problem loslösen können und sind überzeugt, dass es gelingen wird. Das gibt uns Hoffnung; Hoffnung gibt uns Kraft; und Kraft brauchen wir, um uns tatsächlich aufzuraffen und das Problem zu lösen. Das ist der Glaube an eine Tatsache, der auf Vernunft beruht.

Mit klarem Verstand eine Tatsache glauben

Die zweite Art zu glauben, dass eine Tatsache wahr ist, nennt man "eine Tatsache über etwas mit klarem Verstand glauben". Diese macht den Kopf in der Hinsicht frei, dass sie unseren Geist von störenden Emotionen befreit, ohne dass das Objekt davon betroffen ist. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass diese überzeugte Art des Glaubens, dass wir unser Leiden für immer beseitigen können, unseren Geist von Depressionen befreit. Sie befreit ihn von Zweifeln bezüglich der Situation; sie befreit ihn von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Wenn uns viele Probleme und Schwierigkeiten plagen, dann leben wir in großer Angst. Wir gehen davon aus, "Es wird für immer so sein" oder "Ich habe Angst, irgendetwas zu unternehmen, weil ich es damit vielleicht nur noch schlimmer mache."

Ich bin sicher, dass jeder hier derartige Beispiele anführen kann, die entweder uns selbst oder andere betreffen. Vielleicht stecken wir in einer furchtbaren Beziehung, einer sehr zerstörerischen, missbräuchlichen Beziehung, aber wir wagen es nicht, aus dieser Beziehung auszubrechen und uns davon zu lösen, weil das Leben ohne diese Person ja noch schlimmer sein könnte. Doch mit dem überzeugten Glauben, dass wir das Problem beseitigen können, indem wir einen Schlussstrich ziehen, und es durch das Beenden dieser Beziehung in unserem Leben bergauf gehen wird, befreien wir unseren Geist von Angst und Unentschlossenheit.

Bei dieser zweiten Art von überzeugtem Glauben gehen wir zudem davon ab, die Negativität des Leidens zu übertreiben. Mag sein, wir schlagen uns tatsächlich mit einem Problem herum, aber wenn wir die negative Seite dieses Problems übertreiben, verwandeln wir es in unseren Köpfen in ein schreckliches Monster. Wir können das Problem auch nach außen projizieren und es sogar als Werk des Teufels betrachten, was uns in noch größere Angstzustände versetzt. Beruht unsere Entsagung hingegen auf Glauben mit einem klaren Verstand, sind wir furchtlos. Wir laufen nicht vor unseren Problemen davon, indem wir aus Furcht das Weite suchen, vielmehr stellen wir uns unseren Problemen und gehen sie im überzeugten Glauben an, dass wir es packen werden.

Wir müssen behutsam vorgehen, wenn wir an die Beurteilung eines emotionalen Zustandes herangehen, der von Ausdrücken wie "Flucht aus dem Gefängnis von Samsara", begleitet wird. Aus Furcht vor unserer samsarischen Situation unkontrollierbar wiederkehrenden Leidens reagiert unser Geist ja nicht verärgert oder verwirrt. Glauben wir mit klarem Verstand, dass es eine Tatsache ist, dass wir uns von all diesen Leiden befreien können, befindet sich auch unser Geist in einem ruhigen und klar ausgerichteten Zustand.

Glauben an eine Tatsache mit diesbezüglichem Bestreben

Die dritte Art von Glauben ist Glauben an eine Tatsache mit diesbezüglichem Bestreben. Das Bestreben besteht darin, "Ich werde hier herauskommen, und ich werde etwas unternehmen, um da herauszukommen." Ein typisches Beispiel für diesen Geisteszustand wäre jemand, der in Armut aufgewachsen und entschlossen ist, von seinen Beschränkungen frei zu sein und sein Leben erfolgreicher zu gestalten. Solche Menschen reagieren ja nicht mit Hass auf die Situation, in der sie stecken. Sie sind sehr klar, ruhig und wissen genau, was zu tun ist, um sich aus ihrer Armut zu lösen und sie zu überwinden. Und sie werden es tun, denn sie sind dieser Situation leid. Sie wissen, was sie unternehmen müssen, und sie tun es einfach, ohne Umschweife.

Ich denke da z.B. an einen Freund von mir, der in einer sehr armen Familie und in einem ziemlich rauen Umfeld aufgewachsen ist. In der Schule, die er besuchte, gehörten die meisten seiner Klassenkameraden Banden an, die sich gegenseitig bekämpften. Er war entschlossen, sich nicht darauf einzulassen. Er wusste, was zu tun war. Er arbeitete sehr hart, um Geld zu verdienen und die Chance zu erhalten, an die Universität zu gehen. Dort studierte er Medizin und ist jetzt ein sehr erfolgreicher Hirnchirurg.

Mitgefühl hat die gleichen Komponenten wie Entsagung

Das ist Entsagung, wenn sie auf das eigene Leiden ausgerichtet ist. Gleiches gilt, wenn sie auf das Leiden anderer abzielt. Wir richten unsere Aufmerksamkeit in der Weise auf das Leiden, dass unser Geist sich darauf mit dem Vorsatz bezieht: "Das muss aufhören". Dasselbe Gefühl von „Es ist genug“ herrscht beim Geisteszustand und den Emotionen vor, die sie begleiten. Uns ist bewusst, dass all die Probleme, die wir selbst im Leben erfahren, auch jeder andere hat. Doch führt dies nicht dazu, dass wir diesen mit Abscheu begegnen oder uns hoffnungslos fühlen. Dies sind wiederum störende Arten von Emotionen. Unser Verständnis und unser Glauben sind von der Überzeugung geprägt, dass dies die Ursache ihrer Probleme ist und dass es auch ihnen gelingen wird, sich davon zu lösen. Es ist nicht so, dass wir ihnen einfach nur das Beste wünschen, aber tief im Innern wissen, dass es hoffnungslos ist. Unser Glaube ist ein Glaube mit klarem Verstand, und mit diesem Mitgefühl ist unser Geist von störenden Emotionen befreit. Das ist äußerst wichtig.

Vielleicht fallen mir ein paar Beispiele ein. Ich erinnere mich, dass meine Mutter sich im amerikanischen Fernsehen stets die lokalen Nachrichten ansah und von all den Morden, Raubüberfällen oder Vergewaltigungen hörte, die sich Tag für Tag ereigneten, und sie wurde extrem wütend und empörte sich: "Das ist derart grausam! So etwas dürfte nicht geschehen!“ Das sieht wie Mitgefühl aus, ist in Wirklichkeit aber ein ziemlich gestörter Geisteszustand. Dies ist kein "echtes" Mitgefühl. Im vorliegenden Fall haben wir es mit einer Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis zu tun, aber auch aus Wut und Empörung.

Mitgefühl - das "echte" Mitgefühl - ist kein Zustand, in dem der Geist aufgebracht ist; es ist ein sehr klarer Geisteszustand. Begleitet wird er vom Glauben mit dem Bestreben: "Ich werde mich bemühen dazu beizutragen, dass dieses Leiden ein Ende findet." Es beschränkt sich also nicht auf den Wunsch, dass „sie“ doch etwas dagegen tun mögen, vielmehr werde ich versuchen zu helfen. Dieses Bestreben und diese Absicht müssen jedoch auf einem realistischen Verständnis dessen basieren, was wir denn tun können. Es hat nichts mit derart Vorstellungen zu tun, "Ich bin Gott, der Allmächtige und ich werde hinausgehen und die Welt retten." und "Wenn meine Hilfe für diese Person zum Erfolg führt, bin ich doch wunderbar; und wenn ich versage, bin ich schuldig." Deshalb brauchen wir ein ausgeprägtes Verständnis von dem Prozess, durch den Leiden beseitigt werden kann, und zugleich Vertrauen darin. Dieser Prozess entsteht in Abhängigkeit von zahlreichen verschiedenen Ursachen und Faktoren, nicht nur von meiner Willenskraft und meinem Wunsch, das Leiden möge aufhören.

Entsagung und Mitgefühl, die auf das Leiden von Schmerz und Unglücklichsein ausgerichtet sind

Wie bereits erklärt, ist die erste Komponente, die für die Entwicklung von Entsagung oder Mitgefühl erforderlich ist, die Aufmerksamkeit entweder auf das eigene Leiden oder das Leiden der anderen zu richten. Dabei stellt sich als Erstes die Frage, auf welche Art von Leiden sie ausgerichtet ist? Buddha beschrieb drei Arten des wahren Leidens. Die erste der drei Arten, auf die wir uns ausrichten können ist - ohne hier zu sehr in Einzelheiten zu gehen - die von Schmerz und Unglücklichsein.

Es ist nicht sonderlich schwer, das Ende von Schmerz und Unglücklichsein herbeizusehnen. Ich bin sicher, dass jeder von uns das schon im Zahnarztstuhl erlebt hat. Aber genau hier kommen wir zu einer wirklich interessanten Frage, die untersucht werden sollte. Wenn wir auf dem Zahnarztstuhl sitzen und Schmerz verspüren, da der Zahnarzt ohne Novocain verabreicht zu haben einen Zahn bohrt, haben wir demgegenüber Entsagung? Ist das unser Geisteszustand? Wie ist unser Geisteszustand wirklich? Was empfinden wir auf diesem Stuhl? Ich nehme an, für die meisten von uns ist es Angst und Panik. Wie schon bei Entsagung lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf den gefühlten Schmerz, doch anders als bei Entsagung dramatisieren wir ihn für gewöhnlich und machen aus ihm ein Monster. Gewiss sind wir alles andere als ruhig.

Doch nehmen wir einmal an, wir begegneten dieser Situation mit Entsagung. Wir wären mit unserer Aufmerksamkeit immer noch beim Schmerz der Bohrung. Wir möchten nicht weiter unter diesem Schmerz leiden müssen. Wir haben genug davon und sind überzeugt, dass wir ihn überwinden können. Doch hier kommen wir zu einer interessanten Problematik. Wir begreifen, dass wir den Schmerz loswerden können, indem wir geduldig sind und abwarten, bis er vorbei ist. Schließlich werden wir nicht den Rest unseres Lebens – der Zahnarzt unseren Zahn bohrend - im Zahnarztstuhl verbringen. Es gibt ja die Vergänglichkeit und so wird auch das Bohren aufhören; wir müssen es einfach ertragen. Mit diesem Gedanken können wir gelassen bleiben und sicher sein, dass, wenn wir ruhig bleiben und auf dem Stuhl nicht überreizt und verkrampft reagieren, das schmerzvolle Leiden des Bohrens bald aufhören und beendet sein wird.

Eine andere Möglichkeit ist, dass wir sicher sein können, dass wir das Leiden dieser Schmerzen loswerden, indem wir diesem mit einer anderen Einstellung begegnen. Dies bezieht sich auf die Methoden der Geistesschulung oder der Geisteshaltung, um widrige Umstände in positive umzuwandeln. Halten wir uns beispielsweise nur das Leiden all der Menschen vor Augen, die in Tibet und anderen Teilen der Welt gequält oder gefoltert werden und vergleichen dies mit unserer Erfahrung auf dem Zahnarztstuhl, so erkennen wir, dass unser Schmerz nichts dagegen ist. Die Verhältnismäßigkeit des Leidens zu verstehen hilft uns, angesichts unseres doch relativ geringen Schmerzes ruhig zu bleiben und nicht so sehr darunter zu leiden. Zwar wird der Schmerz immer noch da sein, aber es ist keine große Sache mehr.

In beiden Beispielen geht es um Entsagung. Was ist es, dem wir entsagen? Oberflächlich betrachtet entsagen wir dem Schmerz. Aber trotz unserer Geisteshaltung können wir den Schmerz nicht sofort loswerden; wir haben schmerzhafte körperliche Empfindungen, bis das Bohren aufhört. Ganz gleich ob wir dem entsagen oder nicht, der Schmerz setzt sich in der Tat solange fort, bis der Zahnarzt fertig ist. Wenn wir jedoch von der Unbeständigkeit dieses Bohrschmerzes überzeugt sind und dass wir ihn eben wegen seiner Unbeständigkeit schon bald überwunden haben werden, hilft uns dies, den Schmerz zu tolerieren. Nach genauerer Betrachtung entsagen wir demnach tatsächlich dem Unglücklichsein, das wir erfahren würden, während wir dem physischen Schmerz ausgesetzt sind. Mit einer veränderten Haltung können wir dieses Unglücklichsein umgehend aus der Welt schaffen.

Wenn unsere Erfahrung auf dem Zahnarztstuhl von Angst und Furcht begleitet ist, verstärken diese Geisteszustände unser Unglücklichsein und machen die Situation sogar noch schlimmer. Doch wenn wir dem Schmerz mit einer anderen geistigen Haltung begegnen, zum Beispiel durch Verstehen seiner Unbeständigkeit oder dessen Verhältnismäßigkeit, können wir überzeugt sein, dass wir wegen des Bohrens weder geistig noch emotional leiden werden.

Dies ist nun die Praxis der Entsagung, beruhend auf unserem Wissen, wem wir hier entsagen. Dieses bezieht sich darauf, was wir durch eine Änderung der Geisteshaltung tatsächlich beseitigen können. Wir entsagen:

  • der Erfahrung von Unglücklichsein in Bezug auf eine schmerzhafte körperliche Empfindung,
  • schmerzhaften geistigen und emotionalen Zuständen,
  • dem Unglücklichsein in Bezug auf diese schmerzhaften geistigen und emotionalen Zustände.

Eine veränderte Geisteshaltung bewirkt, dass die gesamte Situation des Schmerzempfindens umgewandelt wird. Wir haben das an Beispielen großer spiritueller Meister gesehen, die hier bei uns in westlichen Krankenhäusern an Krebs oder einer anderen oft tödlichen Krankheit verstorben sind. Ganz gewiss hatten auch sie körperliche Schmerzen, doch gewiss ist auch, dass sie dem Unglücklichsein und der Angst vor den Schmerzen entsagt haben. Vielmehr kehren sie die ganze Situation um, indem sie an das Leiden und die Trauer der anderen denken, insbesondere an den Arzt, dem wegen seiner Hilflosigkeit nicht wohl in seiner Haut ist. Diese spirituellen Meister sind äußerst fürsorglich, wenn es darum geht, wie das Befinden des Arztes ist oder auch all der Menschen, die zu Besuch kommen und ihren Respekt bekunden.

Was liegt ihrer Art des Umgangs mit der Krankheit zugrunde? Es sind Entsagung und Mitgefühl. Sie haben der Verkrampftheit und dem geistigen Schmerz der Gesamtsituation entsagt, sowohl auf sich selbst bezogen wie auch auf alle daran Beteiligten. Und sie geben nicht nur vor, Entsagung zu besitzen. Diese spirituellen Meister tun nicht nach außen hin kund: "Es ist schon in Ordnung; ich bin okay, mach dir keine Sorgen", während sie innerlich fühlen, dass es ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wäre das der Fall, dann würde es ihnen am Glauben mit klarem Verstand fehlen: diese Art von überzeugtem Glauben, der Angst und Unbehagen beseitigt, weil sie wissen, dass sich durch die Anwendung dieser oder jener geistigen Gegenkraft die ganze Spannungslage auflösen wird. Je vertrauter wir natürlich mit diesen Praktiken der Entsagung und des Mitgefühls sind, wie es diese Lamas sind, wird Entsagung mit all ihren begleitenden Faktoren automatisch entstehen. Es wird nichts Künstliches sein, das wir hervorbringen müssen.

Ein weiteres Beispiel für eine schwierige Situation wäre, unsere Arbeit oder unsere Ersparnisse zu verlieren. Obwohl uns das schrecklich belasten würde, so würde es doch auch allen anderen furchtbar zusetzen, wenn sie ihre Arbeit oder Ersparnisse verlieren würden. Wir wollen, dass dieses Unglücklichsein und diese Verzweiflung in uns und in anderen aufhört. Von Entsagung zu Mitgefühl überzugehen hat nichts damit zu tun, dass wir aufhören, unserem eigenen Leiden zu entsagen. Vielmehr weiten wir unseren Geisteszustand auf andere aus, so dass er sowohl uns als auch alle anderen umfasst.

Entsagung und Mitgefühl, die auf das Leiden in Bezug auf gewöhnliches Glück ausgerichtet sind

Hier haben wir nun Entsagung und Mitgefühl behandelt, die auf jenes Leiden abzielen, das von Schmerz und Unglücklichsein herrührt. Problematisch verhält es sich jedoch auch mit unserem gewöhnlichen Glück. In gewissem Sinne ist auch das eine Form von Leid. Dieses Leiden bezieht sich auf die Tatsache, dass unser gewöhnliches Glück niemals anhält; es stellt uns nie wirklich zufrieden; und wir haben nie genug. Zudem verwandelt es sich schnell in Unbehagen. Deshalb wird es das "Leiden der Veränderung" genannt. Wäre zum Beispiel Eis essen eine wahre Ursache für Glück, müssten wir umso glücklicher werden, je mehr wir essen. Aber wir kommen dabei unweigerlich an einen bestimmten Punkt, an dem es umso schlechter geht, je mehr wir davon essen. Unsere gewöhnliche Freude am Eis schlägt um und wir sind unzufrieden.

Kurz gesagt, gewöhnliches Glück ist frustrierend. Wie sehr wir uns auch wünschen, unser Glücksgefühl möge andauern, wir können nie sicher sein, wann sich unsere Stimmung wandelt. Nicht nur das, wir geben uns nie mit dem Glück zufrieden, das wir gerade haben oder das wir in der Vergangenheit besaßen. Wir wollen immer mehr. Auch diesem Leiden der Veränderung können wir mit der Entschlossenheit frei zu sein entsagen. 

Doch was bedeutet, auf gewöhnliches Glücklichsein zu verzichten? Bedeutet es, dass wir niemals je wieder glücklich sein wollen? Wollen wir unser Glücklichsein aufgeben, weil es unbefriedigend ist? So zu denken wäre ein fataler Trugschluss darüber, wie sich der Buddhismus positioniert. Gewöhnliches Glücklichsein ist unbeständig und wird unweigerlich enden, so wie es bei Schmerz und Unglücklichsein der Fall war. Aber mit Entsagung akzeptieren wir diese Tatsache und übertreiben nicht die guten Qualitäten gewöhnlicher Arten von Glücksgefühl, während diese andauern. 

Auf diese Weise überwinden wir das Leiden, das mit unserem gewöhnlichen Glücklichsein verbunden ist. Wir genießen es als das, was es ist, nämlich ein vorübergehendes gutes Gefühl, von dem wir nur zu gut wissen, dass es nicht andauern wird. Gerade weil wir wissen, dass es zu Ende geht, sind wir nicht frustriert. Wir erwarten nicht, dass es ewig andauert. Aber wir genießen es, solange es währt. Es ist nicht so, dass wir es erfahren, wissend, dass es enden wird, aber voller Furcht und Bange dem Augenblick entgegensehen, an dem es vorbei sein wird. Erinnern wir uns: Mit auf klarem Verstand begründeten Glauben an die Tatsache, dass es enden wird, machen wir unseren Geist von jeglichem Unbehagen an diesen Gedanken frei.

Nehmen wir als Beispiel, wenn wir mit einem Freund zusammen sind, den wir nicht ständig sehen. Nach einem kurzen Besuch verlässt uns der Freund wieder und wir bleiben unzufrieden zurück. Wir hätten uns gewünscht, dass die Person länger geblieben wäre. Doch was haben wir von dem Besuch erwartet, dass wir jetzt diese Unzufriedenheit verspüren, weil eben das nicht erfüllt wurde? Haben wir wirklich erwartet, dass uns das Zusammensein mit dieser Person letztlich glücklich machen würde und uns für immer von unserer Einsamkeit und Unsicherheit befreien würde? Wären wir dann zufrieden, wenn er oder sie fünf Minuten länger bleiben würde?

Wir sind unzufrieden, weil unsere Erwartung nicht erfüllt wurde, doch war es eine völlig unrealistische Erwartung. Was wir erwartet haben, ist unmöglich. Wenn wir andererseits nicht erwarten, dass irgendwelche Wunder geschehen, dann sind wir mit dem zufrieden, was auch immer geschieht. Auf diese Weise akzeptieren wir die Realität. Wir genießen den Besuch, die Mahlzeit, die Vertrautheit oder was auch immer wir gerade mit der Person haben. Wir wissen, dass es unser Unglücklichsein, unsere Einsamkeit oder unseren Hunger nicht für immer beseitigen wird; doch erwarten wir das auch nicht. Wir überbewerten den Besuch unseres Freundes nicht; wir sind klaren Verstandes und reagieren weder verärgert noch enttäuscht, wenn er oder sie geht. Wir genießen es als das, was es ist und wenn es vorbei ist, ist es vorbei.

Wenn wir so weit sind, dass wir den Problemen entsagt haben, auf die wir mit unserem gewöhnlichen Glücklichsein stoßen, wie können wir das auf das gewöhnliche Glück anderer ausweiten? Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Probleme richten, die andere mit gewöhnlichem Glück haben, ist es wiederum äußerst wichtig, klaren Verstand walten zu lassen. Wir sind gewiss nicht neidisch, dass die andere Person glücklich ist und wir sind nicht, besonders wenn wir erkennen, dass ihr Glück ihr keine Zufriedenheit bringen wird. Wir erkennen vielmehr, dass diese Person zum Beispiel zu große Erwartungen in die Beziehung mit ihrem Freund hineinlegt, oder dass sie immer frustriert und unzufrieden sein wird, egal, was mit ihr geschieht. Wir erkennen, dass genau hierin das Problem liegt. Es ist ja keineswegs so, dass wir ihnen kein Glück wünschen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das Unglücklichsein oder das Problem, das dadurch entsteht, wie sie gewöhnliches Glück erfahren.

Wenn wir hier nun eine Unterscheidung zwischen Glücklichsein und den Problemen mit dem Glücklichsein treffen, versetzt uns das in die Lage, uns an dem Glücksgefühl der anderen Person zu erfreuen. Glück wird in den buddhistischen Lehren sehr stark betont. Wir freuen uns über ihr Glück, doch erkennen wir ganz realistisch die Unzulänglichkeiten des gewöhnlichen Glücks und bringen ihnen wegen der Probleme, die sie mit diesem Glück haben könnten, Mitgefühl entgegen. Ungeachtet dessen, dass es sich um gewöhnliches, weltliches Glück handelt, können wir uns daran erfreuen.

Entsagung und Mitgefühl, die auf alles umfassendes Leiden ausgerichtet sind

Die tiefgreifendste Form des Leidens, die vom Buddha aufgezeigt wurde, ist "alles umfassendes Leiden". Es bezieht sich auf die sich unkontrollierbar wiederholende Wiedergeburt, das sogenannte "Samsara", welches die Grundlage für das Erfahren der ersten beiden Arten von Problemen bildet. Es ist jene Form des Leidens, das Buddha einzigartig in seiner Darstellung der vier edlen Wahrheiten als wahres Leiden bezeichnet hat. Wir werden weiterhin einen sogenannten "befleckten" Körper haben, der in der einen oder anderen Form den gesamten Prozess durchlaufen muss, dass er geboren wird, von Grund auf wieder lernt zu gehen und alle möglichen Dinge zu tun, der leicht verletzt und unweigerlich krank wird, altert, der seine Fähigkeiten verliert und stirbt. Und wir werden weiterhin einen "befleckten" Geist haben, der auf die eine oder andere Weise verwirrt sein wird, der viele Dinge projizieren, allerlei seltsame Gedanken haben und mit wechselnden Stimmungen ein ständiges Auf und Ab durchlaufen wird.

Wir werden immer komplizierte Beziehungen haben, die niemals zufriedenstellend sein werden. Uns werden Dinge widerfahren, von denen wir nicht wollen, dass sie geschehen. Wir werden nicht immer das bekommen, was wir begehren; und in der Tat werden wir häufig von dem getrennt, was wir mögen und auf das treffen, was wir nicht mögen. Wenn andere sich in dieser oder jenen Weise verhalten, die nicht nach unserem Kopf geht, mögen wir es nicht. Wir werden frustriert; wir bekommen nicht, was wir uns wünschen, so sehr wir uns auch bemühen, es zu bekommen, wie einen guten Job, einen tollen Partner oder was auch immer es sein mag. Es gibt keine Gewissheit, und das nicht nur in Bezug auf unser zukünftiges Leben, es gibt nicht einmal Gewissheit darüber, wie wir uns im nächsten Moment fühlen werden.

Wir werden immer wieder diese Art von Körper und das Leben, das wir momentan führen, aufgeben müssen und uns in eine neue Wiedergeburt einfügen müssen. Wir werden alles wieder erlernen und uns wieder neue Freunde suchen und all das. Und natürlich gibt es kaum eine Garantie, dass wir im nächsten Leben als Mensch wiedergeboren werden; es ist wahrscheinlich, dass wir kein menschliches Wesen sein werden. Wir könnten als Kakerlake oder schlimmeres wiedergeboren werden. Mit Entsagung reicht uns das jetzt. 

Interessant ist, hier diesen Geisteszustand zu untersuchen, der mit dieser Stufe von Entsagung verbunden ist. Ich denke, dass da auch ein gewisser Überdruss mit der unkontrolliert wiederkehrenden samsarischen Wiedergeburt enthalten ist. Weil wir nicht überbewerten, wie das samsarische Leben sich so abspielt, sind wir auf eine Art auch nicht berauscht davon. Es interessiert uns einfach nicht: Es ist immer und immer wieder das Gleiche.

Wenn die immer wiederkehrenden Probleme, denen wir uns im Leben stellen müssen, keine Begeisterung in uns auslösen und wir ihrer in Wahrheit überdrüssig sind, bedeutet dies in der Folge nicht, dass wir den Geschehnissen gleichgültig gegenüberstehen. Wir nehmen nicht diese desinteressierte Haltung von "egal" an. Vielmehr verstehen wir, dass die Ursache für dieses alles umfassende Problem der unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt unsere störenden Emotionen, unsere störenden Haltungen und unsere von diesen angetriebenen zwanghaften Verhaltensweisen sind. Damit nicht genug; uns ist klar, dass die wahre Ursache dieses Leidens in Unwissenheit und Verwirrung zu suchen sind, die hinter unseren gestörten Geisteszuständen und unserem zwanghaften Verhalten stecken. Wir sind entschlossen, frei davon zu sein.

Diese Entschlossenheit, von Samsara frei zu sein, ist die "echte", die tiefste Ebene der Entsagung. Wir sind zudem zuversichtlich, dass wir dieses schreckliche Syndrom der samsarischen Wiedergeburt beenden können. Dass wir uns in diesem Zustand befinden hat nicht zur Folge, dass unser Geist gestört ist; unser Geist ist klar. Wir sind entschlossen, etwas zu unternehmen, um uns selbst zu befreien. Auch wissen wir, was es bedarf, um dem ein Ende zu setzen, und wir sind zuversichtlich, dass es uns gelingt. Wenn wir bei dieser Entschlossenheit, frei von Samsara zu sein, unsere Ausrichtung dahingehend ändern, dass wir sie nicht mehr auf uns selbst, sondern gleichermaßen auf alle anderen ausrichten, dann haben wir "großes Mitgefühl".

Gefahren, die bei der Entwicklung von Entsagung zu vermeiden sind

Entsagung und Mitgefühl werden im Rahmen der drei Ebenen der Motivation des Lam-rim, der aufeinanderfolgenden Stufen zur Erleuchtung, dargestellt. Betrachten wir beide in diesem Zusammenhang, ermöglicht uns dies, die Gefahren zu analysieren, die bei deren Entwicklung auftreten könnten. Die anfängliche Ebene der Motivation besteht darin, darauf hinzuwirken künftige Leben so zu verbessern, damit wir weiterhin eine kostbare menschliche Wiedergeburt mit all den Möglichkeiten haben, um dem spirituellen Pfad zur Erleuchtung weiter verfolgen zu können. Die Gefahr, die besteht, wenn wir diese anfängliche Ebene der Motivation vervollkommnen, ist, dass wir leicht Anhaftung an die kostbare menschliche Wiedergeburt entwickeln können. Wir haben das Gefühl: "Ich möchte wiedergeboren werden und weiterhin mit meinen Freunden und geliebten Menschen zusammen sein und über Wohlstand und Annehmlichkeiten verfügen" und ähnliches. So kann unser Streben nach besseren Wiedergeburten von starker Anhaftung durchsetzt sein. Das tritt ein, wenn wir die guten Eigenschaften eines kostbaren menschlichen Lebens überbewerten. Begierde und Anhaftung beruhen schließlich darauf, die guten Eigenschaften einer Sache zu übertreiben. Bei Verlangen denken wir, wenn wir etwas nicht besitzen, "Ich muss das haben", und bei Anhaftung, wenn wir etwas bereits besitzen, ist der Gedanke, "Ich möchte mich davon nicht trennen“.

Eine ähnliche Gefahr wie bei dieser Anhaftung besteht auch bei Entsagung, nur dass es hier um den Komplex der Ablehnung geht. Anders als bei Anziehung, die vom Überbewerten der positiven Seiten einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt herrührt, besteht bei Entsagung die Gefahr, das Negative der samsarischen Existenz zu übertreiben. Wegen dieser Übertreibung lehnen wir sie ab und das führt uns in das Areal der Abscheu (was uns in das Terrain), das wir zuvor bereits besprochen hatten. Abscheu und Ablehnung liegen eng beieinander. 

Wenn wir uns der Entwicklung von Entsagung hingeben, tun wir das im Rahmen unseres Strebens, jemand zu werden, der sich auf der mittleren Ebene der Motivation befindet, und zwar jemand, der nach Befreiung von Samsara, dieser unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt, strebt. Das ist nicht ganz einfach. Wir richten nunmehr unsere Aufmerksamkeit auf die Nachteile und Unzulänglichkeiten von Samsara, was einer der sogenannten "Vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden" ist. Wir versuchen unablässig über die Nachteile von Samsara nachzudenken.

Wenn wir uns dem völlig hingeben, dann erblicken wir die Nachteile von Samsara bei allem, was uns im Leben widerfährt. Das kann unsere Emotionen und Lebenserfahrung sehr stark prägen. In jeder Situation, in der wir uns befinden, wäre Leiden der erste Gedanke, der uns in den Sinn kommt. Wir sehen zum Beispiel jemanden, und wir fühlen durchaus eine gewisse Anziehung, doch dann denken wir: "Leiden". Wir bekommen eine neue Arbeitsstelle und denken: "Leiden. Das wird furchtbar werden.“ Ganz gleich, was passiert: Leiden. Das Telefon klingelt und wir sagen uns: "Leiden.“ Und so ist es mit allem. Wir gehen unter die Dusche, und der Gedanke ist: "Leiden. Ich bin gerade fertig, doch schon bald werde ich wieder eine brauchen. Ermüdend!" Das kann sehr leicht dazu führen eine extrem negative Einstellung gegenüber dem Leben im Allgemeinen, gegenüber allem, was wir erleben, und insbesondere den Menschen gegenüber, entwickeln. Wir erwerben einen neuen Computer und denken: "Leiden. Er wird defekt werden oder ein Virus wird sich einnisten." Wir treffen einen Freund und unser erster Gedanke ist, wie unerfüllt unsere Zeit sein wird. Nichts werden wir mehr genießen können. Solch eine negative Einstellung, dass alles furchtbar und schwachsinnig ist, kann depressiv machen.

Freude mit Entsagung und Mitgefühl verbinden

Wie gehen wir mit dieser Gefahr, negativ oder depressiv zu werden, um? Liegt die Lösung darin einfach zu sagen: "Genieße das Schöne am Leben!" Wir sollten hier doch sehr vorsichtig sein. Ist es naiv, angesichts der leidhaften Natur des Lebens Freude daran zu haben? Steht das im Widerspruch zur Entsagung? Übertragen wir das auf Mitgefühl, dann ist der Gedanke: "Wie traurig; alle leiden. Das ist so furchtbar!" Bringen wir die Gefühle zusammen - diese Traurigkeit und unsere Freude, jemandem zu begegnen -bedeutet dies: "Ich bin glücklich über dein Leiden?" Nein, das heißt es ganz sicher nicht. Wie verbinden wir also Gefühle der Freude und des Glücklichseins mit Entsagung oder Mitgefühl?

Im Versuch, in unserem Leben Freude zu finden und zugleich Freude daran haben, anderen zu begegnen und uns an deren Leben zu erfreuen, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge als wenn wir Entsagung und Mitgefühl erfahren. Mit Freude lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf die Potenziale der Buddha-Natur in uns selbst, der anderen und auf all die wundervollen Gelegenheiten, die unser Leben für spirituellen Fortschritt bietet. Wir alle besitzen Potenziale, die es uns ermöglichen, Buddhaschaft zu erlangen, und das ist etwas, an dem wir uns erfreuen können. Das ist die Quelle der Freude. Wir richten uns nicht mit Freude auf die leidhafte Natur unseres eigenen Lebens oder das der anderen.

Betrachten wir uns und unser Leben beispielsweise mit Entsagung, dann erkennen und anerkennen wir, dass Leiden existiert. Das ist traurig, doch werden wir deshalb nicht depressiv. Wir nehmen auch nicht eine Haltung von "egal" ein, was ja ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ist. Mit Entsagung sind wir vielmehr überzeugt, dass wir uns von unserem Leiden befreien können. Wir sind entschieden und entschlossen, dass wir etwas gegen diese unerträgliche Situation unternehmen wollen. Wir wissen, was wir zu tun haben, und sind zuversichtlich, dass wir es schaffen können frei zu werden. So zu denken würde uns doch glücklich machen, nicht wahr?

Dennoch ist es eine recht heikle Angelegenheit, diese beiden Geisteszustände kombinieren zu wollen, also Freude und entweder Entsagung oder Mitgefühl. Existieren sie gleichzeitig? Liegt einer dem anderen zugrunde? Wechseln sie sich gegenseitig ab wie bei der Praxis von Tonglen, dass man Leiden auf sich nimmt und Glück gibt? Wie bringen wir diese im Alltag praktisch zusammen: aufrichtige Entsagung, doch ohne den negativen Geisteszustand, dass alles schwachsinnig und nutzlos ist und ohne depressiv zu sein? Mir kommt es so vor, als ob wir mit Entsagung oder mit Mitgefühl und Freude das eigene Leben und das Leben anderer lediglich aus der Perspektive zweier unterschiedlicher Aspekte betrachten. Aber ich denke, jeder von uns muss das für sich analysieren.

Video: Geshe Tashi Tsering — „Mitgefühl entwickeln ohne Anhaftung
Um die Untertitel einzublenden, klicken Sie auf das Untertitel-Symbol unten rechts im Video-Bild. Die Sprache der Untertitel kann unter „Einstellungen“ geändert werden.

Entsagung bedeutet nicht, uns nicht mit anderen abzugeben

Angenommen, es gelingt uns tatsächlich, Entsagung zu entwickeln, so dass wir uns nicht mehr zu Dingen in unserer gewöhnlichen weltlichen Existenz hingezogen fühlen. Angenommen, wir schließen nun daraus, dass jede Art weltlicher Beziehung, in die wir eintreten, nur Leiden bringen wird, und so entschließen wir uns, Mönch oder Nonne zu werden und in einem Kloster zu leben. Selbst wenn wir uns derart entscheiden sollten, müssen wir sehr darauf bedacht sein, uns nicht schlechthin von Menschen abgestoßen fühlen, denn das wäre ein gravierendes Hemmnis, Mitgefühl für sie zu entwickeln. Am Ende könnten wir gar denken: "Du bist nur ein Ärgernis!" Das würde zur Gewohnheit führen, uns auf niemandem einlassen zu wollen. Wenn wir darangehen, eine mitfühlende Person zu werden, bedarf es unseres Engagements für andere und dass wir versuchen ihnen in Notlagen zu helfen.

Damit gehören Abneigung und Gleichgültigkeit gegenüber anderen zu den größten Problemen bei der Entwicklung von Entsagung. Begegnen wir jemandem, mag das Gefühl aufkommen: "Diese Person wird nur Schwierigkeiten bereiten. Sich mit ihr abzugeben bringt nichts als Kümmernis und Strapazen. Sie wird meinen Rat nicht befolgen; sie wird mir das Leben schwer machen." und dergleichen. Das zu vermeiden ist etwas, woran wir arbeiten müssen.

Wenn wir Entsagung entwickeln, müssen wir unser eigenes Leiden unter zwei Gesichtspunkten betrachten. Der erste ist, dass wir unser Leiden als unerträglich begreifen und wir uns entschließen, frei davon zu sein. Wir erkennen zudem, dass wir die Buddha-Natur besitzen, jene grundlegenden Potenziale, die uns zugleich befähigen, sowohl von jeglichem Leid frei zu sein als auch Befreiung oder sogar Buddhaschaft zu erlangen. Zu erkennen, dass wir das Potenzial besitzen, frei von jeglichem Leiden zu sein, negiert nicht, Freude am Leben zu verspüren, vielmehr erfüllt es uns mit Freude. Diese Freude steht demnach nicht im Widerspruch zu unserer Entsagung, der Entschlossenheit, frei zu sein. Tatsächlich verstärkt diese Freude unsere Entsagung noch. Also anstatt uns selbst zu vernachlässigen und mit dieser gleichgültigen Haltung des „Egal, wie auch immer“ zu versäumen auf unsere eigene Befreiung hinzuwirken, gehen wir fürsorglich mit uns selbst um und bringen in gewisser Weise auch Mitgefühl für uns selbst auf.

Die gleiche Analyse lässt sich auf die Entwicklung von Mitgefühl für alle anderen anwenden. Wir hegen den Wunsch, dass sie von ihren Leiden frei sein mögen und erfreuen uns daran, dass auch sie sich aufgrund ihrer Buddha-Natur befreien können. Sodann unternehmen wir realistische Schritte, um ihnen zu helfen. Anders ausgedrückt wollen wir, dass ihre Leiden verschwinden, doch wir sorgen uns um die Menschen, denen das Leid widerfährt, und so möchten wir nicht etwa, dass sie verschwinden.

Diesen Ansatz wenden wir zunächst bei uns selbst an. "Ich möchte, dass mein Leiden ein Ende hat, aber ich will mich nicht selbst zerstören. Meine negative Einstellung der Ablehnung konzentriert sich auf das Leiden, nicht auf mich als Person." Es kann ganz leicht passieren, dass man dies verwechselt und erwägt: "Ich werde mich umbringen, um mein Leiden loszuwerden." Wenn uns diese Differenzierung in Bezug auf uns selbst klar ist, können wir in ähnlicher Weise herangehen, wenn wir Mitgefühl für andere haben: "Ich wünsche mir, dass dein Leiden aufhört, doch möchte ich nicht, dass du gehst."

Das ist nicht so leicht zu differenzieren. Gleichwohl ist es nicht gerade einfach davon abzugehen, diese gestörte Entsagung zu entwickeln, durch die wir uns von den Menschen abgestoßen fühlen oder vermeiden, uns überhaupt auf irgendjemand einzulassen und denken: "Lass mich bloß in Ruhe. Ich möchte mich einfach in meine Höhle oder mein Kloster zurückziehen und meditieren." Auch wenn unsere störenden Emotionen derart stark ausgeprägt sind, dass sie ernsthaft unsere Fähigkeit behindern, anderen zu helfen und wir uns gar in die Abgeschiedenheit zurückziehen müssen, um in der Meditation an diesen Emotionen zu arbeiten, dürfen wir es nicht dazu kommen lassen, anderen oder uns selbst gegenüber negativ eingestellt zu sein oder es an Mitgefühl fehlen zu lassen.

Die Verbindung zwischen Personen und dem Leid, das sie erfahren

Wie vermeiden wir dieses Problem, eine negative Einstellung zu entwickeln? Dafür müssen wir über den Bereich dessen hinausgehen, was ich "Dharma light" nenne und in puncto "echtem" Dharma analysieren. „Dharma light“ zeigt Methoden auf, die sich völlig auf den Belangen für dieses Leben gründen; wohingegen der „echte“ Dharma auf der Akzeptanz vergangener und zukünftiger Leben beruht.

Unser ganzes Leben wird dem Kontinuum sämtlicher Momente in unserem Leben zugeschrieben. Dabei ist unsere Lebenszeit weder mit irgendeinem dieser Momente identisch, noch tritt sie unabhängig von einem dieser Momente auf. Man kann nicht einmal davon sprechen, dass unsere Lebenszeit mit der Summe aller ihrer Momente identisch ist, weil all diese Momente unseres Lebens nicht zur selben Zeit geschehen. Als Erwachsene durchlaufen wir nicht länger unsere Kindheit. Unser gesamtes Leben ist lediglich dem Kontinuum zugeschrieben.

Im Einklang mit dem „echten“ Dharma werden Personen in ganz ähnlicher Weise den individuellen geistigen Kontinua zugeschrieben. Aber die geistigen Kontinua, denen sie zugeschrieben werden, sind nicht auf dieses Leben begrenzt. Sie setzen sich für ewige Zeiten fort, ohne Anfang und ohne Ende. Ebenso wenig sind Personen mit irgendeinem der Momente des geistigen Kontinuums, dem sie zugeschrieben werden, identisch; sie existieren weder unabhängig vom Kontinuum noch sind sie mit dem gesamten Kontinuum identisch, so als würde das gesamte Kontinuum in einem einzigen Moment ablaufen.

Eine vergleichbare Analyse ist auf jedes Merkmal des geistigen Kontinuums anwendbar, dem eine Person zugeschrieben wird. Das Merkmal des geistigen Kontinuums im Falle von Entsagung und Mitgefühl ist alles umfassendes Leiden. Menschen existieren und sie erfahren Leiden, doch niemand ist mit einer konkreten Leidenslage identisch, die mit dem jeweiligen geistigen Kontinuum einhergeht, dem sie zugeschrieben werden. Sie sind auch nicht mit dem alles umfassenden Leiden identisch, das in ihren geistigen Kontinua, die keinen Anfang besitzen, auftritt. Wenn wir diese Tatsachen erkennen, identifizieren wir weder "mich" noch irgendjemand anderen mit dem Leiden, das erfahren wird. Wir verwechseln "ich" oder "ihr" nicht mit Leiden und gehen ebenso wenig von einer Identität beider aus. Wenn wir schließlich ein Ende dieses Leidens herbeiwünschen, ist es nicht unser Anliegen, dass auch das "Ich" oder "Ihr" verschwinden.

Auf diese Weise bekommen wir eine viel klarere Sicht auf das eigene "Ich" und das der anderen. Leiden und deren Ursachen können aus unseren geistigen Kontinua entfernt werden, so dass sie niemals wieder auftreten, aber die Personen, die diese Leiden erfahren, können niemals entfernt werden. In der Weise, in der geistige Kontinua kein Ende haben, haben auch ihnen zugeschriebene Personen, von denen jede für sich genommen ein "Ich" ist, kein Ende. 

Wenn wir die innewohnende Reinheit des geistigen Kontinuums verstehen und auch, dass das Leiden zusammen mit seinen Ursachen für immer beseitigt werden kann, müssen wir gleichwohl Acht geben, dass wir das "Ich" nicht mit dem reinen geistigen Kontinuum gleichsetzen. Andernfalls können wir mit Blick auf das Leiden blauäugig werden und nicht ernsthaft dessen Beseitigung betreiben, weil wir glauben, dass Leiden in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Der Übergang vom Annehmen des Leidens zum Geben von Glück in der Tonglen Praxis

Wenn wir an das Leiden anderer oder an unser eigenes Leiden denken, dann stimmt uns das traurig. Gewiss erfüllt es uns nicht mit Freude, wenn wir selbst oder jemand anderes leidet. Wir bedauern, dass derartiges geschieht. Gemäß den Lehren des Tonglen, des Gebens und Nehmens, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Leiden anderer oder eben auch auf unser eigenes Leiden und so ist es ganz natürlich, dass wir uns traurig fühlen. Es ist ja nicht, dass wir nichts empfinden, so, als ob das Leiden gar nicht real wäre und nicht weh tun würde. Wir gehen nun daran uns vorzustellen, dass wir das Leiden annehmen; wir akzeptieren bereitwillig, es selbst zu erfahren. Dann geben wir Liebe, was der Wunsch ist glücklich zu sein, an andere und ebenso an uns selbst. Wir bewegen uns also von der Traurigkeit des Leidens, das wir akzeptieren, hin zum Glück, das wir aussenden.

Dieser Übergang vom Gefühl der Traurigkeit zu einem Gefühl von Glücklichsein ist für viele Menschen in ihrer Tonglen-Praxis ein Stolperstein. Wie können wir urplötzlich vom Gefühl der Traurigkeit zum Gefühl von Glück hinüberwechseln? Immerhin handelt es sich dabei um gegensätzliche Gefühle. Ein ähnliches Problem zeigte sich schon bei unserer Diskussion, wie man eine Balance schaffen kann, wenn wir uns einerseits mit Entsagung auf Leiden ausrichten, und zugleich, ohne dabei depressiv zu werden, die Lebensfreude wahren und all deren Möglichkeiten für Befreiung ausschöpfen. Hier geht es um die gleiche Art von Fragestellung.   

Wie wichtig es ist, dass es uns gelingt, einen Ausgleich zwischen Traurigkeit und Glücklichsein zu schaffen wird uns sofort klar, wenn wir uns beispielsweise vor Augen halten, dass wir einen kranken Verwandten oder Freund besuchen. Es bekümmert uns, dass er krank ist und leidet. Bleiben wir während unseres Besuchs bei diesem geliebten Menschen aber immer noch traurig und unglücklich, hilft das der Person ganz und gar nicht. Angebracht wäre, unseren kranken Verwandten oder Freund aufzumuntern. Doch wie entfachen wir in einer derartigen Situation ein glückliches Gefühl? Ist es lediglich aufgesetzt? Zaubern wir einfach ein breites Lächeln auf unser Gesicht, während wir uns im Innern schrecklich fühlen? 

Um den Übergang von Traurigkeit zum Glücklichsein wahrhaftig zu vollziehen, können wir die recht fortgeschrittenen Lehren von Mahamudra, der "großen versiegelnden Natur des Geistes“, zur Anwendung bringen. Wenn wir zunächst das Leiden anderer bzw. unser eigenes auf uns nehmen, akzeptieren wir damit freiwillig Leiden. Tun wir dies aufrichtig, vermittelt uns das ein Gefühl von Selbstvertrauen und Stärke. Wir verfallen nicht in die sogenannte "Opfermentalität" des ach so armen Ich, das leidet. 

Mit der Mahamudra-Methode betrachten wir die mit diesem Leiden einhergehende Traurigkeit wie eine Welle auf dem Ozean des Geistes. Indem wir freiwillig Leid annehmen, erwächst uns eine innere Kraft, mit der wir von dieser Welle emotional nicht hin- und hergeworfen werden. Gelassen erlauben wir der Welle der Traurigkeit, die wir erfahren, zur Ruhe kommen. Sobald sie sich auf natürliche Weise gelegt hat, können wir auf die innewohnende, stille Freude des Geistes zugreifen. Diese strahlt ganz natürlich von unseren Herzen aus. Das ist es, was wir beim Tonglen den anderen geben und was wir selbst erfahren.

Diese natürliche Freude des Geistes hat nichts an sich, was gestört ist oder störend wirkt. Wir gehen mit unserem Glück nicht hausieren und machen auch keine Show daraus in der Art wie, „Was für ein Pech für dich, dass du krank bist. Ich bedaure dich zwar, aber ich bin glücklich mit meinem Leben. Bei mir läuft alles bestens." Es ist unsere gelöste, innewohnende Freude, die andere und uns selbst tröstet und beruhigt.

Die Grundlagen, auf denen Entsagung und Mitgefühl aufbauen

Zu Beginn des Vortrages verwies ich auf die Erklärung Tsongkhapas, dass wir beim Erzeugen eines Geisteszustandes, wie beispielsweise von Mitgefühl, zuerst wissen müssen, worauf sich dieser gründet. Mitgefühl basiert auf der Grundlage, dass zuerst eine korrekte Entsagung entwickelt wurde. Mit Entsagung haben wir diese Entschlossenheit, von diesen störenden Emotionen frei zu sein, die unsere unkontrollierbar wiederkehrende Wiedergeburt antreiben, und wir werden auch aktiv, um uns ihrer zu entledigen.

Wenn wir die Grundlage für Mitgefühl schaffen geht es im nächsten Schritt darum, Gleichmut auf der Basis unserer Entsagung zu entwickeln; oder anders ausgedrückt, auf der Basis, dass wir auf die Beseitigung unserer störenden Emotionen hinwirken. Mit Gleichmut richten wir unsere Aufmerksamkeit offenherzig auf alle Wesen aus, ohne die störenden Emotionen von Anziehung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit gegenüber irgendeinem von ihnen. Wir sind allen gegenüber gleichermaßen offen, denn jedes Wesen ist sich darin gleich, dass es lediglich einem anfangslosen und endlosen geistigen Kontinuum zugeschrieben ist. Seit anfangsloser Zeit sind wir mit allen Wesen alle Arten von Beziehung eingegangen. Daher identifizieren wir niemanden mit der Art von Beziehung, die wir gerade zu irgendeinem Zeitpunkt mit einem von ihnen gehabt haben könnten: Freund, Feind oder Fremder. Folglich gibt es keine Basis für Anziehung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit.

Es bringt keinen Nutzen, Zeiten in unseren Fokus zu rücken, in denen jedes der Wesen irgendwann unser Feind oder sogar Mörder war. Wesentlich zweckdienlicher ist es, unser Augenmerk auf jene Zeiten zu lenken, in denen ein jeder unsere Mutter war, und dann zu bedenken, mit wieviel Güte er uns als unsere Mutter beschenkt hat oder vielleicht auch als jemand anderes, der uns hauptsächlich umsorgt hat. Selbst wenn unsere Mutter in diesem Leben grausam war und uns misshandelt hat, so gewährte sie uns doch ein Mindestmaß an Güte, indem sie uns nicht einfach abtrieb. Sowohl sie oder - was heutzutage ebenfalls möglich ist - unsere Leihmutter, waren uns gegenüber außergewöhnlich gütig, weil sie uns in ihrem Mutterleib ausgetragen haben.

Der nächste Schritt wird gewöhnlich mit "diese Güte erwidern“ übersetzt. Ich würde aber meinen, dass der Begriff "erwidern" [engl. „repay“, zurückzahlen] eher ein fälschliches Bild entstehen lässt. Das kommt daher, dass "zurückzahlen" sich anhört, als ginge es um Schulden bei einer geschäftlichen Vereinbarung, und wenn wir unsere Schulden nicht begleichen, machen wir uns schuldig. Doch hier geht es nicht um Pflichtgefühle oder Schuld. Der hier bei diesem Schritt angedachte emotionale Grundtenor, hat vielmehr mit einem Gefühl von Wertschätzung und Dankbarkeit für die Güte zu tun, die wir empfangen durften. Nehmen wir diese Emotion als Grundlage und stellen uns dann unsere Mütter vor, wie sie blind, verwirrt und unzurechnungsfähig jeden Moment Gefahr laufen, von einer Klippe in den Abgrund verhängnisvollen Verhaltens zu stürzen, wir daneben stehen und genau wissen, wie wir helfen können, werden wir selbstverständlich keine Verantwortung scheuen und alles Mögliche tun, um ihren Niedergang zu verhindern. Wenn ihr eigener Sohn oder Tochter ihr nicht helfen, wer dann?

Auf der Grundlage, dass wir tiefe Dankbarkeit für die Güte empfinden, die uns ein jeder schon einmal erwiesen hat, sind wir gern bereit uns erkenntlich zu erweisen, indem wir den anderen helfen. In uns entsteht wie selbstverständlich etwas, das man als "herzerwärmende Liebe" bezeichnen kann. Wir fühlen eine derartig warmherzige Verbindung, dass - wann immer wir jemandem begegnen - sofort diese Nähe da ist, wie bei einer Mutter für ihr so geschätztes einziges Kind. Wir sind aufrichtig um ihr Wohlergehen besorgt und wären betrübt, wenn ihnen etwas Schlimmes passieren würde.

Auf der Basis dieser herzerwärmenden Liebe empfinden wir genau die Art von Liebe, wie sie im Buddhismus kultiviert wird: den Wunsch, alle Wesen mögen gleichermaßen glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen. Basierend auf dieser alle Wesen umfassenden Liebe entwickeln wir Mitgefühl: den Wunsch, sie mögen frei von Leid und den Ursachen des Leidens sein. Hieran wird deutlich, dass das zugrundeliegende und tragende Mitgefühl ein komplexes Gebilde aus vielen positiven Emotionen ist, als da wären, jedem gegenüber Gefühle von Offenheit und Nähe zu haben, Dankbarkeit für ihre Güte, herzerwärmende Liebe, Zuneigung und vieles mehr. All diese sind in Mitgefühl eingeschlossen.  

Wenn Mitgefühl im weiteren Sinne nun ein Geisteszustand von Entsagung ist, der sich auf das Leiden anderer ausrichtet, dann sollte die Grundlage des Mitgefühls in irgendeiner Form doch auch bei Entsagung zu finden sein. Das heißt, wir müssen zuallererst Gleichmut uns selbst gegenüber aufbringen - ohne Anziehung, ohne Ablehnung, ohne Gleichgültigkeit. Dann gilt es zu erkennen, dass es nicht hilfreich ist, sich auf die negativen Dinge zu konzentrieren, die wir in diesem Leben wie auch in früheren Leben getan haben. Parallel zur Sichtweise, dass andere unsere Mütter waren, die uns ihre Güte erwiesen haben, müssen wir jenen positiven, gutherzigen Dingen Beachtung schenken, die wir für uns selber taten. Die Tatsache, dass wir gegenwärtig alle förderlichen Umstände eines kostbaren menschlichen Lebens genießen können, ist das karmische Resultat unserer konstruktiven Handlungen in der Vergangenheit. Wir schätzen die Güte, die wir uns selbst entgegengebracht haben und sind dankbar dafür. Dies führt zu herzerwärmender Liebe für uns selbst, nicht zu Selbsthass. Wir bemühen uns aufrichtig um unser Wohlergehen und würden uns schrecklich fühlen, wenn uns etwas Schlimmes widerfahren würde.

Video: Tsenshap Serkong Rinpoche II — „Wie man Mitgefühl entwickelt“
Um die Untertitel einzublenden, klicken Sie auf das Untertitel-Symbol unten rechts im Video-Bild. Die Sprache der Untertitel kann unter „Einstellungen“ geändert werden.

Eines der Grundprinzipien der Gleichheit bei der Entwicklung von Mitgefühl besteht darin, dass jeder glücklich und niemand unglücklich sein will und jeder gleichermaßen das Recht hat glücklich und nicht unglücklich zu sein. "Jeder", in diesem Zusammenhang, schließt uns selbst ein. Folglich haben auch wir das Recht, glücklich zu sein; und auch wir haben das Recht, nicht unglücklich zu sein. Daher ist das Entwickeln von Entsagung - diese Entschlossenheit, frei zu sein - im Grunde das Entwickeln von Mitgefühl uns selbst gegenüber.

Bitte verstehen Sie das nicht falsch. Ich ermutige keineswegs zu einer dualistischen Haltung in Bezug auf uns selbst, etwa im Sinne von, dass das "Ich", das mir selbst gegenüber mitfühlend ist, sich von dem "Ich" unterscheidet, mit dem ich Mitgefühl empfinde. "Gut zu uns selbst sein" ist nur eine Redewendung. Doch wollen wir gut zu uns selbst sein und uns von Leid und Unglück befreien, müssen wir eine Haltung entwickeln, wie beispielsweise: "Ich möchte keine ungesunde Beziehung mit dieser Person; ich will nicht wütend werden; ich will mich nicht aufregen; ich möchte keine Anhaftung entwickeln." Auf diese Weise arbeiten wir mit dieser Entschlossenheit, frei von unseren Problemen zu sein, die uns auch einen noch weiteren Blickwinkel in Bezug darauf eröffnet, wie wir das Gefühl "alles ist Leiden "mit einem grundlegenden Gefühl von warmherziger Freude und Gelassenheit in Einklang bringen.

Zusammenfassung

Wir sind viel Stoff durchgegangen, doch war es mir ein Anliegen, ein vollständigeres Bild dieser wichtigen Thematik im Buddhismus zu vermitteln. Es ist kein Thema, dass man einfach nur studiert. Es hat vielmehr eine tragende Bedeutung für unsere eigene, ganz persönliche Entwicklung, da es aufzeigt, wie wir Entsagung und Mitgefühl entwickeln. Wir haben untersucht, wie der Übergang von Entsagung zu Mitgefühl auf eine gesunde, stabile Art vollzogen wird und wie sich die Beziehung der beiden Geisteszustände gestaltet.

Top