Die Bedeutung des Dalai Lama in der heutigen Welt

Lassen Sie uns die Bedeutung des Dalai Lama in der heutigen Welt betrachten. Wenn man sagen kann, dass er eine wichtige Rolle spielt, so muss es eine sein, die für möglichst viele Menschen so bedeutsam und hilfreich wie möglich ist, und nicht nur relevant ist im Sinne von oberflächlicher Unterhaltung oder als Objekt der Neugier, weil er so etwas wie ein Superstar ist. Das ist es nicht, worum es beim Dalai Lama geht. Sein ganzer Lebenszweck besteht darin, anderen von Nutzen zu sein.

Im Dienste der anderen

Es gibt natürlich etliche Menschen auf der Welt, die von sich sagen, sie würden sich ganz dem Wohle anderer widmen, aber das Beeindruckende an Seiner Heiligkeit - so nennen wir ihn für gewöhnlich - ist, dass er absolut und unbedingt aufrichtig ist. Das ist etwas, was sich eindeutig vermittelt, wenn man in seiner Gegenwart ist, ihm zuhört und sich klarmacht, was er tatsächlich tut. Er sagt immer, dass er drei Hauptaufgaben hat, die er in seinem Leben voranbringen möchte. Die erste ist eine sehr klare Ethik, die zweite ist religiöse Harmonie und die dritte besteht darin, die Entwicklungen in Tibet und das Wohl des tibetischen Volkes im Auge zu behalten, denn das ist die Rolle, die ihm auferlegt wurde.

Ethik

Seine Heiligkeit spricht oft über Themen der säkularen Ethik und der religiösen Harmonie; der Grund dafür ist, dass die Welt Ethik überaus nötig hat. Es gibt so viel Korruption, so viel Unehrlichkeit und so viel Unstimmigkeit zwischen den Menschen, und das alles, weil es an Ethik mangelt.

Der Dalai Lama hat eine sehr umfassende, aufgeschlossene Einstellung und er denkt und redet stets im Hinblick darauf, was den über sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten von Nutzen sein kann. Zu dieser Weltbevölkerung gehören diejenigen, die Gläubige einer bestimmten Religion sind, sowie auch diejenigen, die keiner Glaubensrichtung angehören. Was vonnöten ist, ist eine Art ethisches System - eine ethische Grundlage -, die für alle akzeptabel ist. Das ist es, was Seine Heiligkeit mit dem Begriff „säkulare Ethik“ bezeichnet; es bedeutet nicht, dass es gegen irgendeine Religion oder ein System gerichtet ist, sondern dass darin alle Glaubenssysteme respektiert werden sowie auch die Anliegen derjenigen, die keinem Glaubenssystem folgen. Er gründet diese Ethik auf etwas, das er „grundlegende menschliche Werte“ nennt, und deswegen spricht er manchmal, statt sein Thema als sekundäre Ethik zu bezeichnen, davon, dass es an der Zeit sei, grundlegende menschliche Werte in den Vordergrund zu stellen, die auf biologischen Aspekten beruhen. Die Zuneigung und Fürsorge einer Mutter für ihr neugeborenes Kind ist etwas sehr Grundlegendes und Ursprüngliches, nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere: der Impuls der Fürsorge für andere Wesen. Wir können diesen Aspekt im Leben des Dalai Lama selbst beobachten, und das macht seine Botschaft so bewegend.

Seine Heiligkeit reist im Rahmen eines Zeitplans um die Welt, der einfach unglaublich ist, insbesondere, wenn man bedenkt, dass er jetzt, im Jahr 2013, 78 Jahre alt ist. Er macht ausgedehnte Weltreisen, oft mit nur einem Tag Aufenthalt an jedem Ort. Seine Zeitpläne sind äußerst rigide. Ich bin mit ihm als Kontaktperson und als Übersetzer usw. unterwegs gewesen, daher weiß ich, wie seine Tageseinteilung aussieht. Jeden Tag finden mehrere Vorträge statt, dann folgen Pressekonferenzen und individuelle, private Treffen. Ihm bleibt kaum Zeit, etwas zu essen. Er steht jeden Morgen um halb vier auf, ungeachtet der Zeitverschiebungen aufgrund unterschiedlicher Breitengrade, und widmet sich dann vier Stunden lang intensiver Meditation. Er ist energiegeladen, immer humorvoll und interessiert sich für jeden, dem er begegnet. Es ist wirklich erstaunlich, mit anzusehen und zu beobachten, wie er jedes Mal, ganz gleich, wem er begegnet, hocherfreut und beglückt ist, diesen Menschen zu treffen: noch ein weiteres menschliches Wesen, wie wunderbar!

Liebe

Im Buddhismus spricht man von herzerwärmender Liebe, die das Herz mit Wärme erfüllt, wenn man jemandem begegnet, weil man so beglückt ist, diese Person zutreffen, und einem ihr Wohl wirklich am Herzen liegt. Man kann das erkennen, wenn man sieht, wie der Dalai Lama mit jedem umgeht - sei es, wenn er durch eine Menge schreitet oder was auch immer -, in der Art, wie er Menschen ansieht und wie er jedem, den er sieht seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zukommen lässt. Es teilt sich ganz klar mit, dass er wahrhaft interessiert ist, wie es anderen geht, und dass ihm am Wohle aller gleichermaßen gelegen ist. Diese ganze Idee der Förderung menschlicher Werte, säkularer Ethik, ist also etwas, das er als von größtem Nutzen für alle erkannt hat. Er denkt keineswegs engstirnig „nur buddhistisch“. Ihm liegt sehr daran, wie man überall auf der Welt auf säkulärer Ebene in Schul- und Ausbildungssystemen eine Art Lehren einführen kann, durch die die Kinder lernen, von welch großem Nutzen es ist, ehrlich und freundlich zu sein, und die all die anderen grundlegenden menschlichen Werte vermittelt, die für die Welt so wichtig sind.

Religiöse Harmonie

Viele Schwierigkeiten auf der Welt entstehen durch Unstimmigkeiten zwischen religiösen Gruppen. Es herrscht Misstrauen, man fürchtet einander und all das führt zu Problemen. Seine Heiligkeit sagt: Was wir alle brauchen, um Eintracht unter den Religionen zu fördern, ist Bildung, und zwar nicht nur im Sinne einer säkularen Ethik, sondern indem wir mehr über einander lernen. Was wir eigentlich fürchten, ist das Unbekannte, und auf die unbekannten Gruppen und Religionen projizieren wir bestimmte Vorstellungen. Er sagt, dass in vielen der interreligiösen Dialoge, an denen er teilnimmt, die Menschen zusammenkommen und lächeln und nett zueinander sind, und dann finden ein paar Gebete oder eine stille Meditation statt. Das sei alles schön und gut, aber es kommt nicht viel dabei heraus. Bloß zu sagen: „Wir sprechen ja alle von derselben Angelegenheit, wir sind alle eins“ und immer auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen trägt nicht viel dazu bei, tatsächlich etwas über einander in Erfahrung zu bringen.

Im Juni dieses Jahres traf sich Seine Heiligkeit mit einigen Meistern der Sufi-Tradition, und er teilte ihnen mit, dass er etwas über die Unterschiede erfahren möchte, nicht nur über die Gemeinsamkeiten. Er sagte, wir sollten uns unserer Unterschiede nicht schämen, sondern dadurch auf eine Art und Weise lernen, die unseren Bemühungen förderlich ist, uns weiterzuentwickeln. Er erwähnte, dass alle Religionen das gleiche Ziel haben, nämlich ihren Anhängern zu einem glücklicheren Leben zu verhelfen. Doch um dieses Ziel zu erreichen, gebe es eine Menge verschiedener Methoden, und das sei auch notwendig, weil die Menschen so verschieden sind.

Er sagte: „Wir versuchen wohl alle, unsere Glaubensgenossen zur Entwicklung von Liebe, Mitgefühl usw. anzuhalten – welche Methoden wenden Sie dazu an? Welche Methoden wenden wir an? Das ist etwas, was wir voneinander lernen können - uns die Unterschiede anzuschauen und sie als Gelegenheiten wertzuschätzen, etwas Neues zu lernen. Es wäre gut, wenn Versammlungen wirklich aufrichtig Praktizierender jeder Religion stattfinden würden, wo man einander trifft und Erfahrungen austauscht, nicht für eine große öffentliche Zuhörerschaft, sondern im persönlichen Austausch, sodass wir uns wirklich auf der Grundlage ernsthafter Ausübung unserer jeweiligen Religion unterhalten können. Das wäre von großem Vorteil.“

Wissenschaft

Das vorherrschende Anliegen Seiner Heiligkeit ist, allen zu nutzen, unter Berücksichtigung seiner speziellen Verantwortung für das tibetische Volk und seiner Verantwortung für die tibetischen Traditionen des Buddhismus, aber das sind nicht seine einzigen Interessen. Seit frühester Jugend hat er ein starkes Interesse an Wissenschaft und Mechanik gezeigt und war immer fasziniert davon, wie Dinge funktionieren. Etwa seit 1980 veranstaltet er Treffen mit Wissenschaftlern und ist rege daran interessiert, von ihnen zu lernen.

Er sagt: Wenn Wissenschaftler etwas gültig beweisen, was im Widerspruch zu etwas steht, das man in den buddhistischen Lehren findet, z.B. die Beschreibung des Weltalls und wie es anfing usw., dann ist es völlig in Ordnung, etwaige veraltete Beschreibungen aus den buddhistischen Lehren zu streichen. Die Erkenntnisse der westlichen Wissenschaft, wie das Gehirn funktioniert, über die chemischen Prozesse dabei usw., seien eine wunderbare Ergänzung zum buddhistischen Verständnis geistiger Vorgänge.

Ebenso gibt es im Buddhismus eine Menge Kenntnisse, die man mit den Wissenschaftlern teilen könne. Sie stammten aus den Bereichen der buddhistischen Wissenschaft, des buddhistischen Wissensschatzes und der buddhistischen Philosophie. Der Buddhismus bietet zum Beispiel eine sehr detaillierte Kartografie von Emotionen - detaillierte Untersuchungen, wie die gesamte Welt der Emotionen funktioniert, wie man mit diesen Emotionen umgehen kann usw. Die buddhistischen Untersuchungen liefern dazu eine sehr wissenschaftlich strukturierte Übersicht. Diese kann auch für westliche Wissenschaftler von großem Nutzen sein. In den Klöstern hat Seine Heiligkeit das Studium der Wissenschaft eingeführt und es dem Lehrplan für Mönche und Nonnen hinzugefügt. Verschiedene wissenschaftliche Lehrbücher sind aus dem Englischen ins Tibetische übersetzt worden. Für einen leitenden Vertreter einer der größten Weltreligionen ist er in dieser Hinsicht enorm aufgeschlossen.

Kontaktaufnahme zu anderen Traditionen

Seine Heiligkeit möchte Kontakt aufnehmen zu der islamischen Welt, und deshalb hat er sehr dazu angeregt, mein Archiv buddhistischer Materialien und die allgemeine Botschaft grundlegender menschlicher Werte, Ethik usw. ins Arabische und andere wesentliche Sprachen islamischer Länder übersetzen zu lassen. Dies wurde inzwischen in die Wege geleitet und die Arbeit daran ist im Gange. In den letzten Jahren ist der Islam häufig verteufelt worden, und das ist eine sehr unglückliche Entwicklung. Es ist überaus wichtig, die Angehörigen des Islam nicht nur als Bedrohung zu betrachten und auszugrenzen, sondern in die Welt mit einzubeziehen. Es ist auch von Bedeutung, klare Beschreibungen buddhistischer Glaubensinhalte für sie zugänglich zu machen, nicht um sie zu bekehren oder so etwas, sondern einfach um grundlegende Informationen zur Verfügung zu stellen, und sie können dies ebenfalls tun. Auch in diesem Zusammenhang ist Bildung ein unerlässliches Mittel, um Verständnis und Freundschaft zu entwickeln

Innerhalb des Buddhismus selbst gibt es verschiedene Traditionen - die Mahayana-Tradition die in Tibet, China, Japan usw. praktiziert wird, und die Theravada-Traditionen, die in Südostasien überliefert sind. Was viele vielleicht erstaunlich finden: Beide wissen sehr wenig über einander. Der Dalai Lama hat eine amerikanische buddhistische Nonne beauftragt, einen detaillierten Vergleich auszuarbeiten, und finanzielle Unterstützung dafür veranlasst. Für jede buddhistische Praxis soll aufgeführt werden: Was ist die Mahayana-Version davon und wie sieht die Theravada-Version aus? Das Ergebnis dieser vergleichenden Studie wird in die Sprachen Südostasiens übersetzt werden, um diese wichtigen Erkenntnisse miteinander zu teilen.

Ordination von Frauen

In Tibet gibt es natürlich vollständig ordinierten Mönche; aber die Überlieferung der Ordination für Nonnen aus Indien über den Himalaja nach Tibet zu bringen, ist nicht gelungen. Das hatte verschiedene Gründe, insbesondere geographische: Es war in alten Zeiten einfach zu schwierig, eine ganze Gruppe indischer Nonnen zu Fuß nach Tibet zu entsenden [die für die Ordination von Frauen erforderlich gewesen wäre]. So wurde die Überlieferung unterbrochen, denn um sie nach Tibet weitergeben und dort fortsetzen zu können, wäre die Anwesenheit einer Gruppe von zehn vollständig ordinierten Nonnen notwendig gewesen.

Auch dafür hat der Dalai Lama Studien und Projekte in die Wege geleitet, um zu prüfen, welche Mittel und Wege es gäbe, diese Überlieferungslinie wiederherzustellen, so dass Frauen, die in der tibetischen Tradition vollständig ordinierte Nonnen werden möchten, die Möglichkeit dazu haben.

„Ich bin nur ein einfacher Mönch“

Eine der liebenswertesten Eigenschaften Seiner Heiligkeit ist, wie pragmatisch, uneitel und schlicht er ist; Überheblichkeit oder Dünkel sind ihm völlig fremd. Er sagt immer, er sei ein einfacher Mönch, eben ein menschliches Wesen wie alle anderen auch. Er betont: „wann immer ich jemandem begegne, betrachte ich ihn oder sie einfach als ein anderes menschliches Wesen. Wir kommunizieren von Mensch zu Mensch, nicht als Dalai Lama mit einer gewöhnlichen Person. Nicht als Tibeter mit einem Ausländer. Nicht diese sekundären Unterschiede sind von Belang, sondern vorrangig ist: Wir alle sind menschliche Wesen.“

Er will immer sofort jede Vorstellung zunichte machen, die andere vielleicht in Bezug darauf haben könnten, dass er eine Art Gott oder König wäre oder besondere Kräfte hätte. Wenn er vor riesige Zuhörermengen tritt, Zehntausende von Leuten, ist er völlig entspannt und fühlt sich ganz heimisch. Wenn es ihn juckt, kratzt er sich, wie jeder andere normale Mensch auch. Er ist keineswegs befangen und versucht niemandem etwas vorzumachen. Wenn er zu einem Treffen mit dem Präsidenten eines Landes unterwegs ist und gerade Gummisandalen anhat, dann hat er eben Gummisandalen an. Er hat nicht den Wunsch, irgendjemanden zu beeindrucken und unternimmt nicht den geringsten Versuch dazu.

Es ist wirklich beachtlich, wie humorvoll er Dinge sagen kann, die man jemand anderem leicht übelnehmen könnte. Einmal hielt er einen Vortrag und der Sessel, auf dem er saß, war ein höchst unbequemer Lehnstuhl. Am Ende sagte er dem Organisationkomitee und den Zuhörern, das alles wunderbar organisiert gewesen sei, nur möge man ihm das nächste Mal doch bitte einen besseren Stuhl geben, weil dieser wirklich äußerst unbequem sei. Er sagte das auf so lockere, liebevolle Art, dass niemand sich auf den Fuß getreten fühlte, sondern alle lachen mussten. Genauso kann er auch mit Menschen schimpfen.

Ein Besuch bei Vaclav Havel

Ich begleitete Seine Heiligkeit, als er bei Vaclav Havel, dem ersten Präsidenten der tschechischen Republik – als es die Tschechoslowakei noch gab -, eingeladen war. Der erste, den Vaclav Havel eingeladen hatte, war der Rockstar Frank Zappa, und der zweite war der Dalai Lama. Havel wollte, dass er ihn und das Kabinett lehrte, wie man meditiert; er sagte: „Wir haben keine Erfahrung, wir haben keine Ahnung, wie man eine Regierung führt. Wir stehen alle mächtig unter Druck und können kaum noch schlafen. Können Sie uns bitte lehren, wie man zur Ruhe kommt? Sonst werden wir es nie schaffen, die Regierung eines neuen Landes in die Hand zu nehmen.“

Vaclav Havel war sehr bodenständig und praktisch orientiert, und er lud Seine Heiligkeit und all die Minister ein, zum Sommerpalast zu fahren, einem großen Schloss außerhalb von Prag. Er war selbst noch nie dort gewesen; es war ein riesiges Gebäude und alle verliefen sich in den zahlreichen Fluren. Beiläufig bemerkte er ganz ungezwungen gegenüber dem Dalai Lama: „Dies war das Bordell für komunistischen Führungspersönlichkeiten.“ Das ist nicht so ganz die übliche Art, mit dem Dalai Lama zu reden, aber Havel war da ganz rustikal. Dann nahmen alle, einschließlich des Dalai Lamas, auf dem Fußboden eines der großen Räume Platz. Havel und seine Minister trugen Trainingsanzüge, und der Dalai Lama brachte ihnen grundlegende Atemübungen und Meditationen zur Förderung ausgewogener Energien und innerer Ruhe bei.

Normalerweise isst seine Heiligkeit abends nichts, weil das zu den Mönchsgelübden gehört und er diese recht strikt einhält. Aber er ist flexibel, und Präsident Havel hatte im Schloss ein Abendessen vorbereitet. Die Gespräche wurden auf Englisch geführt, und bemerkenswert war, wie der Dalai Lama mit Havel schimpfte, weil dieser Kettenraucher war. Er rauchte eine nach der anderen, während seine Heiligkeit direkt neben ihm saß. Das ist eigentlich etwas, das als völlig unmöglich gilt. Obwohl es sich um den Präsidenten eines Landes handelte, fand Seine Heiligkeit überhaupt nichts dabei, ihn zu schelten: „Sie rauchen zu viel. Das schadet ihrer Gesundheit und wird ihnen Krebs einbringen; also das müssen Sie wirklich lassen!“ Im Grunde war das sehr freundlich von Seiner Heiligkeit. Havel erkrankte später tatsächlich an Lungenkrebs. Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie das Hauptinteresse Seiner Heiligkeit immer dem gilt, was anderen von Nutzen ist, und nicht dem, was sie von ihm denken.

Intelligenz und Erinnerungsvermögen

Seine Heiligkeit ist auf jeden Fall der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er hat ein absolut fotografisches Gedächtnis. Wenn er Unterweisungen gibt, beherrscht er unter allen Anwesenden jeglicher Traditionen die größte Spannweite buddhistischer Lehren. Er kann aus allen Schriften frei zitieren. Tibeter lernen im Laufe ihrer Ausbildung die wichtigsten Studientexte auswendig, etwa 1000 Seiten, aber das Ausmaß an zusätzlicher Kommentarliteratur, die der Dalai Lama auswendig kennt, ist einfach unglaublich. Wenn er lehrt, zieht er einen kleinen Abschnitt aus einem bestimmt Text dazu heran, dann einen aus einem anderen; so etwas hinzubekommen, ist sehr schwer,. Sein Gedächtnis funktioniert auf diese Weise, und das zeugt von großer Intelligenz: imstande zu sein, vieles miteinander zu verbinden, zu sehen, wie alles zusammenpasst und die gemeinsamen Muster zu erkennen. Wie haben Menschen wie Einstein die Gleichung e=mc² herausgefunden? So etwas kommt dadurch zustande, dass man alles Mögliche miteinander in Verbindung bringt und die übergreifende Struktur erkennt. Seine Heiligkeit ist in der Lage, das mit seinem umfassenden Wissen des tibetischen Schriftwerkes zu leisten.

Sein fotografisches Gedächtnis bezieht sich nicht nur auf Texte sondern auch auf Menschen, wie sich viele Male direkt vor meinen Augen gezeigt hat. Ich war dabei, als ein sehr alter Mönch aus Tibet zu Besuch nach Dharamsala kommen konnte, und als Seine Heiligkeit ihn sah, rief er aus: Oh - ich erinnere mich an dich. Vor 30 Jahren haben wir auf dem Weg nach Indien an deinem Kloster angehalten und dort fand eine Art Zeremonie statt. Du hast einen Teller mit Gaben emporgehalten und ich weiß noch, dass er sehr schwer war und es wirklich anstrengend für dich war, ihn während der ganzen Zeremonie hochzuhalten. Weißt du noch?“ Das war wirklich erstaunlich. Mein wichtigster Lehrer, Serkong Rinpoche, war einer der hauptsächlichen Lehrer Seiner Heiligkeit, und er erzählte, dass man ihn als Kind niemals etwas mehr als einmal lehren musste – er verstand es stets auf der Stelle und behielt es auch.

Fähigkeiten

Der Dalai Lama ist eine der herausragendsten Persönlichkeiten unserer Zeit – worin besteht seine Bedeutung? Es ist Folgendes: Schaut her, was man als menschliches Wesen schaffen kann. Natürlich sagt er, dass er eine Menge harter Anstrengungen unternommen hat, um in seiner Entwicklung Fortschritte zu machen, aber es ist etwas, was wir alle auch können. Sehen Sie sich an, wie er mit Problemen umgeht. Stellen Sie sich vor, Sie würden von mehr als einer Milliarde Menschen als schlimmster Volksfeind angesehen. Seine Heiligkeit lacht einfach darüber, weil er weiß, dass das nicht der Wahrheit entspricht und er keine Hörner auf dem Kopf hat. Aber wie würden Sie sich fühlen, wenn sie als Teufel in Mönchsroben bezeichnet würden?

Er ist niemals deprimiert. Er hat gesagt, dass er das noch nie erlebt hat und es ihm ziemlich schwerfällt, zu verstehen, wie sich das anfühlt. Ich weiß noch, wie er eingestand, dass er noch nie davon gehört oder eine Vorstellung davon gehabt habe, dass Menschen ein geringes Selbstwertgefühl haben oder gar sich selbst hassen. Darauf war er noch nie gestoßen und er kannte diese Erfahrung nicht.

Er bewahrt sich seine optimistische Einstellung, aber gleichzeitig stellt er sich der Realität der jeweiligen Situation. Über die gegenwärtige Situation sagt er: „Die Probleme auf der Welt sind von Menschen geschaffen, und sie können von Menschen beseitigt werden.“ Er versucht, zu ihrer Beseitigung beizutragen, indem er grundlegende menschliche Werte fördert, dafür eintritt, Ethik in den Schulunterricht einzuführen, und religiöse Eintracht unter den verschiedenen Kulturen und Religionen herbeizuführen. Während er völlig bescheiden bleibt und ganz und gar pragmatisch eingestellt ist, ist er dennoch aktiv für das Wohl der gesamten Welt tätig. Das macht ihn so sympathisch. Bedenken Sie zudem noch seinen Humor und seine unglaubliche Energie – es ist kaum zu fassen.

Seine Sekretäre und Berater raten ihm dauernd, dass er sich ausruhen muss und nicht so viel reisen soll. Wenn er auf Reisen ist, ist jede Minute am Tag ununterbrochen mit Treffen ausgefüllt, und oft sitzt er täglich im Flugzeug. Aber er antwortet ihnen immer: „Nein. Solange ich die Kraft habe, dies zu tun, werde ich weiter so auf Reisen gehen, weil es für andere von Nutzen ist.“

Seine Bedeutung ist, dass er uns Hoffnung macht. Er ist völlig aufrichtig und unternimmt enorme Anstrengungen. Wenn er von der Weiterentwicklung der Menschheit spricht, redet er von Dingen, die realistisch und erreichbar sind: von Bildung, gegenseitigem Verständnis und Ethik. Das sind keine Wundermittel; es handelt sich um etwas, was man tatsächlich schaffen kann. Wenn er dem Land oder gar der Stadt, in der wir leben, einen Besuch abstattet, ist das eine wunderbare Gelegenheit, Seine Heiligkeit den Dalai Lama persönlich zu erleben.

Video: Geshe Lhakdor — „Welche Bedeutung hat Seine Heiligkeit der Dalai Lama“ 
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Fragen und Antworten

Wie schafft es Seine Heiligkeit, all seine spirituellen Verpflichtungen mit praktischen Angelegenheiten, z.B. der Organisation der Flüchtlingsgemeinden, in Einklang zu bringen?

Er beschäftigt sich nicht nur mit zahlreichen Studien und ausführlicher Meditationspraxis, sondern war auch Oberhaupt der Zentralverwaltung aller tibetischen Exilgemeinden. Mutig und umsichtig hat er, mit großem Weitblick, diese Position aufgegeben und die Stellung eines demokratisch gewählten Oberhauptes, genannt Silkyong, eingerichtet. Aber zuvor war er viele Jahre lang für alles verantwortlich und organisierte und leitete alle Bemühungen, die Niederlassung der Flüchtlinge zu bewerkstelligen, im Exil zahlreiche Institutionen wiederherzustellen usw. Seine hauptsächliche Strategie bestand darin, realistisch zu sein, aber nicht zu denken: „Das ist einfach viel zu viel, das schaffe ich nicht, das ist unmöglich“, sondern auf sehr strukturierte Weise vorzugehen. Mit seiner erstaunlichen Intelligenz und seinem außerordentlichen Gedächtnis war er imstande, all die verschiedenen Projekte, die ihm unterstanden, im Blick zu behalten. Er wusste aber auch, wo und wie man etwas delegieren konnte, und tat einfach, was erforderlich war; das ist für ihn keine große Sache.

Ich sage oft halb im Scherz, dass das Kalachakra-System sehr hilfreich ist, um sich darin zu üben, eine enorme Menge unterschiedlicher Dinge zu tun. Im Kalachakra-Mandala visualisiert man 722 verschiedenen Gestalten, und der Dalai Lama ist vielleicht einer der wenigen Menschen, die das können. Indem man mit Hilfe dieses Übungssystems eine überaus vielfältige Vorstellung von sich selbst entwickelt, kann man vielleicht, wenn eine neue Aufgabe auftaucht oder ein neues Problem auftritt, zu der Einstellung gelangen: „Nun, das ist eben noch eine weitere Einzelheit.“ Man fürchtet sich nicht davor, und man macht auch keine allzu große Sache daraus.

Das Leben ist vielfältig, und das Leben mancher Menschen ist vielfältiger als das von anderen. Aber warum sollte man es, statt Angst davor zu haben, nicht einfach willkommen heißen? Je mehr, desto besser! Wie meine Website, die in 21 Sprachen funktioniert – kein Problem, wir kriegen das hin. Und wir können noch mehr hinzufügen – warum auch nicht? Das ist nur ein kleines Unterfangen, verglichen mit dem, was der Dalai Lama zu bewältigen hat. Aber es zeigt die Möglichkeiten auf. Kein Beklagen, kein „Ach ich Armer“. Wie meine Mutter immer sagte: „Geradewegs den Berg rauf und wieder runter.“ Einfach anfangen!

Können Sie erklären, warum der Dalai Lama „Seine Heiligkeit“ genannt wird, obwohl er selbst betont, dass er ein einfaches menschliches Wesen ist?

Nun, der Dalai Lama nennt sich nicht selbst „Seine Heiligkeit“. Ich weiß nicht, wann man damit angefangen hat, vielleicht wurde es aus einer Art christlichem Titel übernommen und hat sich dann eingebürgert. Es ist ein Ausdruck von Respekt, ähnlich wie „Eure Hoheit“ für einen König. Im Tibetischen gibt es viele Ehrentitel, die als Anrede für spirituelle Lehrer verwendet werden, und es gibt spezielle Ausdrücke, die nur für den Dalai Lama verwendet werden, aber eigentlich keinen, der sich direkt als „Seine Heiligkeit“ übersetzen ließe. Es ist einfach ein Sprachgebrauch geworden, den sich die Menschen angewöhnt haben, und er kann sie nicht davon abhalten, ihn so zu nennen. Aber auf jeden Fall will er ganz bestimmt nicht, dass man ihn wie eine Art Gott verehrt.

Da Sie ja Tibetisch sprechen, könnten Sie vielleicht etwas vorschlagen, das auf Englisch angemessener wäre?

Der Titel, der am häufigsten für ihn verwendet wird, lautet „Kündün“ – das heißt soviel wie „höchste Präsenz“. Das ist schwer in andere Sprachen übersetzbar; es bedeutet, dass er sich inkarniert und die guten Eigenschaften höchst entwickelter Wesen verkörpert. Man befindet sich in Gegenwart von jemandem, der sehr weit entwickelt ist und höchste Erkenntnisse verwirklicht. Ich habe tatsächlich versucht, diesen Begriff einzuführen, aber niemand war daran interessiert, ihn zu übernehmen.

Zusammenfassung

Einige sehen ihn als ihr spirituelles Oberhaupt an, andere betrachten ihn als eine Art Superstar. Es gibt sogar solche, die ihn für einen „Wolf im Schafspelz“ halten. Realität ist, dass der Dalai Lama unermüdlich zum Wohle anderer und für den Weltfrieden tätig ist, indem er sich für sekulare Ethik und religiöse Eintracht einsetzt. Als Verkörperung von Liebe, Mitgefühl und Weisheit wirkt er als Inspiration für uns und zeigt, was uns Menschen möglich ist.

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