Entwicklungen im Zentralasien des 12. Jahrhunderts

Die Errichtung des Jurchen-Reiches

Die Jurchen waren ein tungusisches Manchu-Volk, dessen Heimat in der nördlichen Mandschurei und der angrenzenden Region des südöstlichen Sibirien jenseits der Amur lag. Sie waren Waldbewohner, die von den Kitan aufgrund ihrer Künste bei der rituellen Jagd (für das Militär) angeworben wurden. Der buddhistische Einfluss erreichte sie sowohl vom Hof der Nördlichen Song als auch von Koryo-Korea (918 – 1392). Im Jahr 1019 erbaten sie vom Kaiser der Nördlichen Song eine Kopie des frisch gedruckten buddhistischen Kanons und im Jahr 1105 führten han-chinesische Mönche buddhistische Zeremonien am Hof der Jurchen durch. Die wesentliche Bezugsquelle für buddhistische Lehren waren die Kitan.

Im Jahr 1115 riefen die Jurchen ihre Jin-Dynastie (Chin) (1115 – 1234) aus, und fuhren damit fort, ihre Besitzungen zu einem Reich auszudehnen. Nachdem sie die Kitan im Jahr 1125 geschlagen hatten, eroberten sie den Rest des nördlichen Han-China im darauffolgenden Jahr. Die Hauptstadt der Han-Chinesen wurde nach Süden verlegt womit die Dynastie der Nördlichen Song beendet wurde und die Dynastie der Südlichen Song (1126 – 1279) begann. Die Jurchen regierten über die Mandschurei, das südöstliche Sibirien, das nördliche und zentrale Han-China und die Innere Mongolei. Die Tanguten lebten im Nordwesten während die Mongolei selbst in viele kleine Stammesgebiete zerbrach.

Karte 29: Höhepunkt der Reiche der Qaraqitan und Jurchen in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts
Karte 29: Höhepunkt der Reiche der Qaraqitan und Jurchen in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts

Die spezielle Ausprägung des Buddhismus der Kitan setzte sich in den Regionen der Inneren Mongolei, die von den Jurchen übernommen wurde, weiter fort. Während der späten Jahre der Jin, nahmen die Buddhismus-Ausprägungen der Han-Chinesen vermehrt überhand. Diese Aufeinanderfolge lief parallel zur Entwicklung der geschriebenen Sprache der Jurchen. Zuerst adaptierten und modifizierten die Jurchen die Schriftzeichen der Kitan, aber in späteren Zeiten verwendeten sie auch eine Mischung aus Kitan-Schriftzeichen und han-chinesischen Zeichen.

Die frühen Jurchen-Herrscher förderten eifrig den Buddhismus. In ihrer Hauptstadt Beijing, wie auch überall in ihrem Herrschaftsbereich, errichteten sie zahlreiche Tempel. Mitte des zwölften Jahrhunderts gab es mehr als dreißigtausend Mönche im Jin-Reich mit einem Mönchen, die höhere Positionen innehatten als die Hofbeamte. Der Jurchen-Hof ersetzte den Hof der Nördlichen Song als wesentliche Bezugsquelle, von dem die Tanguten erbaten, ihnen weitere han-chinesische buddhistische Texte zu schicken.

Die politische und religiöse Situation in den tibetischen Regionen

Nach einem kurzen Bürgerkrieg in Tsongka an der Wende zum zwölften Jahrhundert, nahm die Beziehung der Tsongka zum Nördlichen Song-China, ihrem früheren Handelspartner, einen bitteren Ton an. Die Streitkräfte der Nördlichen Song sahen in der ungeklärten Lage einen Vorteil, den sie nutzten um anzugreifen. Ab 1102 eroberten und verloren sie Tsongka einige Male. Dies veranlasste die Tsongka und die Tanguten, die früher miteinander verfeindet waren, nicht nur dazu Frieden zu schließen, sondern auch im Jahr 1104 eine militärische Allianz gegen das Nördliche Song-China zu schließen. Der Krieg setzte sich fort bis die Jurchen die Nördlichen Song im Jahr 1126 schlugen. Die Streitkräfte der Han-Chinesen zogen sich völlig aus Tsongka zurück. Tsongka wurde wieder einmal unabhängig bis es im Jahr 1182 von den Jurchen erobert wurde. Die Tanguten verbanden sich mit den Jurchen und kämpften weiter gegen die Südlichen Song, die nun den Tanguten, Jurchen und den Nachfolgern der Kitan, den Qaraqitanern, jährliche Tributzahlungen leisteten.

Inzwischen verlagerte sich zum Ende des elften Jahrhunderts der Fokus der buddhistischen Aktivitäten in andere tibetische Kulturgebiete, als die Linie der Ngari-Könige zu einem Ende kam, von West- nach Zentraltibet. Während der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts wurde Ngari von einer Linie eines nicht-tibetischen Stammes, den Khasa, regiert, die dem Buddhismus in geringerem Ausmaß folgten. In der Mitte des Jahrhunderts verlor der König der Khasa, Nagadeva, die Herrschaft über das Gebiet, und eroberte das westliche Nepal um seine Herrschaft in dieser Region wiederum zu errichten. Danach zerfiel Westtibet in verschiedene Königreiche, in denen die Wiederbelebung und Förderung des Buddhismus weiter fortgesetzt wurde, jedoch in einem geringeren Ausmaß als in den früheren Jahrhunderten.

Zentraltibet war zu dieser Zeit ebenfalls in viele kleine unabhängige Gebiete aufgeteilt. Sie zentrierten sich häufig um die neuen buddhistischen Klöster, von denen die meisten wie Festungen errichtet waren. Eine einheitliche Regierung konnte in dem Gebiet erst 1247 geschaffen werden, als Zentraltibet unter mongolischer Oberhoheit neugestaltet wurde. Trotz eines Umfelds, in dem es politische Uneinigkeit gab, erreichte der Buddhismus dennoch während des zwölften Jahrhunderts neue Höhen. Die Tibeter setzten nicht nur ihre Übersetzungsarbeit weiter fort, insbesondere an Texten aus dem Sanskrit, sondern begannen auch damit, ein umfassendes Werk erläuternder Literatur zu verfassen. Jedes der Klöster entwickelte seine eigenen Besonderheiten und unterscheidenden Merkmale.

Der Einfluss der tibetischen Kultur auf die Tanguten nimmt zu

Weil die Tanguten ihren Allianzpartner von den Nördlichen Song zu den Tsongka wechselten, verlagerte sich auch das einwirkende Land, das den Buddhismus der Tanguten im zwölften Jahrhundert wesentlich beeinflusste, von Han-China nach Tibet. Die Tanguten übersetzten zunehmend mehr Texte aus der tibetischen Sprache und begannen ihre eigene buddhistische Literatur zu verfassen, wobei sie sich stark an den tibetischen Kommentaren orientierten. Viele tangutische Mönche reisten nach Zentraltibet, um dort zu studieren. Einer dieser Mönche, Minyag Gomring (Mi-nyag sGom-rings) wurde der Schüler von Pagmo-drupa (Phag-mo gru-pa, 1110 – 1170), auf den viele der Kagyü-Sekten zurückzuführen sind. Im Jahr 1157 gründeten tangutische Mönche das Kloster, das später als Zentrum der Drigung-Kagyü-(`Bri-gung bKa`-brgyud)-Tradition, Drigung-til (`Bri-gung mthil), bekannt wurde.

Ein anderer Tangute, der Meisterübersetzer Tsami Lotsawa (rTsa-mi Lo-tsa-ba) ging auch in der Mitte des zwölften Jahrhunderts nach Nordindien, wurde dort der Abt des Klosters in Vajrasana (Bodh Gaya), und brachte von Kaschmir eine der Linien des „Kalachakra-Tantra“ zurück. Lehrer aus Kaschmir und Tibet wurden wiederum zurück in das Reich der Tanguten eingeladen, wo sie dann königliche Tutoren wurden. Der gegenseitige Austausch wuchs zunehmend.

Trotz der unaufhörlichen militärischen Kämpfe mit dem Nördlichen Song-China nahmen die Tanguten auch bestimmte Merkmale der han-chinesischen Gesellschaft an, zum Beispiel im Jahr 1146 ein konfuzianisches Erziehungssystem um Beamte zu trainieren. Trotz der Anstrengungen der Tanguten ihre kulturelle Integrität zu erhalten, geschah dieser Prozess der wachsenden Verschmelzung mit dem Chinesischen durch den Einfluss der Mutter des Königs Renxiao (Jen-hsiao) (reg. 1139 – 1193), die eine ethnische Han-Chinesin war.

Schließlich wurden die Tanguten zu einem der höchst entwickelten Völker von Zentralasien. Im Jahr 1170 erließ König Renxiao zum Beispiel ein umfassendes Gesetzbuch, das sowohl zivile als auch religiöse Gebiete umfasste. Es teilte tangutisch-buddhistische Klöster in ethnische Abteilungen auf, je nach dem Heimatland der Mönche – so gab es Abteilungen für Tanguten, Tibeter, Han-Chinesen oder für gemischte Tanguten-Han-Chinesen. Es werden dabei keine Mönche der Uiguren oder Gelben Yuguren erwähnt, vielleicht auch aufgrund der Unterwerfung der Kocho unter die Qaraqitaner im Jahr 1124. Von allen Mönchen, ungeachtet ihres Ursprungs, wurde gefordert, die tangutische, tibetische, han-chinesische und sanskritische Sprache und Literatur zu lernen. Um einen klösterlichen Verwaltungsposten erhalten zu können, mussten sie eine Prüfung bestehen, bei der sie insbesondere ihre Meisterschaft über verschiedene buddhistische Texte in ihrer tibetischen Übersetzung unter Beweis stellen mussten. Das entsprach der Vorgehensweise in Bezug auf das Zivilgesetz, das die Tanguten von den Han-Chinesen übernommen hatten. Auch in Bezug auf das Zivilgesetz wurde von den Kandidaten für bürokratische Positionen innerhalb der Regierung gefordert, strenge Prüfungen über die konfuzianischen Klassiker zu bestehen.

Die Übernahme der Kocho-Uiguren und Karachaniden durch die Qaraqitaner

Im Jahr 1124 verlor der Herrscher der Kitan, Yelu Dashi, die Kontrolle über die Mongolei, da die Jurchen von Süden angriffen, und floh mit seinen Truppen zur Sommerhauptstadt der Kocho-Uiguren in Beshbaliq. Er wurde von den traditionellen, friedvollen, untertänigen Vasallen der Kitan gut aufgenommen und bewirtet. Angesichts der Bestrebungen des Yelu Dashi, ein neues Territorium für sich anzubahnen, ergaben sich die Uiguren freiwillig der Herrschaft des mächtigen Flüchtlings der Kitan. Er ließ die Dynastie der Qaraqitaner beziehungsweise die Dynastie der Westlichen Liao (1124 – 1203) ausrufen und eignete sich Dzungarien an. Möglicherweise ergaben sich die Kocho-Uiguren so bereitwillig, weil sie sich vor der neuen Allianz der Jurchen und Tanguten fürchteten, die sie von ihrem Osten aus bedrohten und daher den Schutz der Kitan wie in der Vergangenheit suchten.

Im Jahr 1137 besiegte Yelu Dashi die Karachaniden und gliederte ihre Ländereien in Kashgar, Khotan, Fergana und in Teile des nördlichen Westturkistan in sein Reich ein. Im Jahr 1141 schlug er die Seldschuken in Samarkand und erweiterte sein Territorium bis Sogdien, Baktrien und Khwarazm. Der Staat der Seldschuken bröckelte durch eine interne Revolte, worauf der Iran in verschiedene kleine Staaten zerfiel, wobei es eine Abfolge vieler Dynastien von kurzer Dauer gab, bis der Iran dann schließlich 1220 von den Mongolen erobert wurde. Das wichtigste Bollwerk, das den Seldschuken verblieb, war Anatolien.

Yelu Dashi folgte dem traditionellen religiösem Mix der Kitan, dass heißt einer Mischung aus Buddhismus, Taoismus, Tengrismus und Schamanismus. Yelu Dashi war außerordentlich tolerant und beschützte alle Religionen in seinem Gebiet, den Islam eingeschlossen. Das Nestorianer-Christentum blühte mit den Metropoliten in Samarkand und Kashgar auf, was darauf hinweist, dass die verschiedenen Religionen in Zentralasien unter der Herrschaft von Yelu Dashi grundsätzlich in Harmonie miteinander lebten.

Die Verbreitung des Islam unter den zentralasiatischen Türken durch Sufi Meister

Die Sufi-Bewegung des Islam, die die persönliche Erfahrung der göttlichen Realität betont, entstand während der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts durch die Lehren von Abu`l Qasim al-Junayd (gest. 910) im Irak und Abu Yazid Tayfür al-Bistami (gest. 874) in Khorasan im nordöstlichen Iran. Wandernde Meister begannen diese Lehren seit dem elften Jahrhundert in ganz Zentralasien in der Herrschaftszeit der Karachaniden, Ghaznawiden und Seldschuken zu verbreiten. Ihre Sufi-Techniken befriedigten ein spirituelles Bedürfnis, das durch die Unterdrückung der Schiiten und ismailitischen Sekten, insbesondere nach der Eroberung von Bagdad durch die Seldschuken im Jahr 1055, entstanden war.

Die Schlüsselfigur, die den Sufismus zu den türkischen Nomadenstämmen brachte, war Ahmad ibn Ibrahim ibn Ali al-Yasavi (gest. 1166). Die Popularität des Yasaviyya-Ordens, der auf ihn zurückzuführen ist, lässt sich dadurch erklären, dass er traditionelle türkisch-kulturelle Aspekte und insbesondere auch schamanistische Elemente in den Islam eingliederte. Er trug türkische Kleidung, gestattete den religiösen Gebrauch von Sprache außerhalb des Gebetskontextes, verwendete Vieh-Opfer für gewisse Rituale, und erlaubte Frauen an Sitzungen teilzunehmen, damit auch sie spirituelle Ekstase erlangen konnten. Die Sufis hatten den Brauch, spirituelle Gästehäuser (khanaqah) zu errichten, in deren Zentrum ein religiöse Meister lebte, und die für alle Reisende offen waren. Diese Gasthäuser waren nicht nur für individuelle spirituell Suchende gedacht, die von einem Gasthaus zum anderen wanderten, sondern auch dafür, dass eine ganzen Gemeinschaft eines solchen Hauses inklusive des Meisters sich für viele Monate wandernd auf eine spirituelle Reise begab. Dieser Brauch fand bei der türkisch-nomadischen Tradition großen Anklang.

Durch solche Mittel errang der Islam eine stetig wachsende Popularität beim türkischen Volk. Das schnelle Wachstum des Islam geschah daher damals in Zentralasien nicht mittels Bekehrung durch das Schwert, sondern durch die geschickte Anpassung der Religion an die türkische Kultur durch einige große Meister. Diese Ausbreitung des Islam ereignete sich nicht auf Kosten des Buddhismus und rief keine feindselige buddhistische Reaktion hervor. Tatsächlich ereignete sich die Ausbreitung des Islam vor allem unter buddhistischer Herrschaft, nämlich unter der Herrschaft der Qaraqitan, und wurde auch von den Qaraqitan unterstützt.

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