Heilige Kriege im Buddhismus und im Islam

Wenn die Menschen an das moslemische Konzept des Jihad oder Heiligen Krieges denken, assoziieren sie damit oft den negativen Beiklang eines selbstgerechten, rachsüchtigen Zerstörungsfeldzugs im Namen Gottes, um andere mit Gewalt zu bekehren. Sie mögen anerkennen, dass es im Christentum mit den Kreuzzügen ein Äquivalent gab, aber verbinden normalerweise keine ähnlichen Vorstellungen mit dem Buddhismus. Schließlich, sagen sie, ist der Buddhismus eine Religion des Friedens und kennt den Begriff Heiliger Krieg nicht. Eine sorgfältige Untersuchung der buddhistischen Texte, insbesondere der „Kalachakra-Tantra“ -Literatur, enthüllt jedoch sowohl äußere als auch innere Ebenen des Kampfes, die ohne weiteres „heilige Kriege“ genannt werden könnten. Eine unvoreingenommene Untersuchung des Islam zeigt das Gleiche. In beiden Religionen können Führer die äußeren Dimensionen eines „heiligen Krieges“ um politischer, ökonomischer oder persönlicher Vorteile willen ausnutzen, indem sie ihn benutzen, um ihre Truppen für den Kampf zu begeistern. Historische Beispiele den Islam betreffend sind wohlbekannt, aber man darf den Buddhismus nicht durch die rosarote Brille sehen und denken, dass er diesem Phänomen gegenüber immun sei. Trotzdem liegt in beiden Religionen die Hauptbetonung auf dem inneren spirituellen Kampf gegen die eigene Ignoranz und destruktiven Gewohnheiten.

Militärische Bilder im Buddhismus

Shakyamuni Buddha wurde in die indische Kriegerkaste hineingeboren und gebrauchte oft militärische Bilder, um die spirituelle Reise zu beschreiben. Er war der Siegreiche, der die dämonischen Kräfte (Sanskrit: mara) der Unwissenheit, der verdrehten Ansichten, der störenden Emotionen und des impulsiven karmischen Verhaltens besiegte. Der indische buddhistische Meister Shantideva (8. Jahrhundert) gebraucht in seinem Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“ wiederholt die Metapher des Krieges. Die wirklichen Feinde, die es zu besiegen gilt, sind die störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die verborgen im Geist liegen. Die Tibeter übersetzen den Sanskritterminus arhat (= befreites Wesen) mit Feindzerstörer, jemand, der die inneren Feinde zerstört hat. Aufgrund dieser Beispiele erscheint es so, als ob der Ruf nach einem „heiligen Krieg“ im Buddhismus ausschließlich eine innere spirituelle Angelegenheit ist. Das „Kalachakra-Tantra“ enthüllt jedoch eine zusätzliche äußere Dimension.

Die Legende von Shambhala

Der Überlieferung nach lehrte Buddha das „Kalachakra-Tantra“ in Andhra, Südindien, um 880 v. u. Z. dem König von Shambhala, Suchandra, und seinem Gefolge, die dort zu Besuch weilten. König Suchandra nahm die Belehrungen mit zurück in sein nördliches Land, wo sie seither gediehen. Shambhala ist ein menschliches Reich (kein buddhistisches Reines Land), in dem alle Umstände für die Kalachakra-Praxis förderlich sind. Obwohl es durch einen wirklichen Ort auf unserer Welt repräsentiert werden mag, erklärt Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama, dass Shambhala ausschließlich als rein geistiges Reich existiert. Obwohl die traditionelle Literatur die physische Reise dorthin beschreibt, ist der einzige Weg, es zu erreichen, eine intensive Kalachakra-Meditationspraxis.

Sieben Königsgenerationen nach Suchandra, im Jahre 176 v. u. Z., versammelte König Manjushri Yashas die religiösen Führer Shambhalas, insbesondere die brahmanischen Weisen, um ihnen Voraussagen und Warnungen zu geben. Achthundert Jahre in der Zukunft, nämlich im Jahre 624 u. Z., würde eine nicht-indische Religion in Mekka aufkommen. Aufgrund fehlender Einigkeit unter dem Volk der Brahmanen und aufgrund von Laschheit in der korrekten Befolgung der Vorschriften ihrer vedischen Schriften, würden viele diese Religion annehmen, sobald deren Führer eine Invasion androhen. Um dieser Gefahr vorzubeugen, vereinte Manjushri Yashas das Volk von Shambhala in einer einzigen „Vajra-Kaste“, indem er ihnen die Kalachakra-Ermächtigung übertrug. Durch diesen Akt wurde der König der Erste Kalki – der erste Halter der Kaste.

Die nicht-indischen Invasoren

Da der Islam im Jahr 622 n.Chr. entstand, zwei Jahre vor dem im Kalachakra vorhergesagten Datum, identifizieren die meisten Gelehrten die nicht-indische Religion mit diesem Glauben. Beschreibungen der Religion an anderen Stellen in den Kalachakratexten, wo z.B. die Rede ist von dem Schlachten von Vieh bei gleichzeitiger Rezitation des Namens ihres Gottes, von Beschneidung, verschleierten Frauen und fünfmaligem Gebet am Tag in Richtung ihres heiligen Landes, bestärkten ihre Schlussfolgerung.

Der Sanskritbegriff für nicht-indisch an dieser Stelle ist mleccha (tib. lalo), was soviel bedeutet wie jemand, der unverständlich in einer anderen Sprache als Sanskrit spricht. Hindus and Buddhisten gleichermaßen haben ihn auf alle Invasoren Nordindiens angewandt, beginnend mit den Mazedoniern und Griechen zur Zeit Alexanders des Großen. Er beinhaltet den abschätzigen Beiklang des Barbarischen und deutet die ethnozentrische Ignoranz gegenüber jeglicher Hochkultur an, die die Invasoren haben könnten.

Der Erste Kalki fährt in seiner Beschreibung der zukünftigen nicht-indischen Religion fort und führt aus, dass sie eine Linie von acht großen Lehrern haben: Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mani, Mohammed, und der Mahdi. Mohammed würde in Bagdad im Land von Mekka geboren werden. Bagdad wurde jedoch erst im Jahre 762 als Hauptstadt des arabischen Abbasidenkalifats (750 – 1258) gegründet; Mohammed wurde im Jahre 570 auf der arabischen Halbinsel geboren. Mani war ein Perser aus dem dritten Jahrhundert, der eine eklektische Religion, den Manichäismus, gründete, die wie die frühere Religion des Zoroastrismus den Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen betonte. Als Prophet wurde er nur von der häretischen manichäisch-islamischen Sekte akzeptiert, die unter einigen Beamten am frühen Abbasidenhof in Bagdad verbreitet war. Ihre Anhänger wurden von den Abbasidenkalifen streng verfolgt. Der Mahdi ist ein zukünftiger Herrscher (iman), der von Mohammed abstammt und die Gläubigen nach Jerusalem führen wird. Er wird koranisches Recht und Gesetz wiederherstellen und die Anhänger des Islam in einem einzigen politischen Staat vereinen, bevor die Apokalypse der Welt ein Ende setzt. Er ist das islamische Äquivalent eines Messias. Das Konzept des Mahdi trat erst in der frühen Abbasidenperiode hervor, mit drei Anwärtern auf den Titel: einem Kalifen, einem Rivalen in Mekka, und einem Märtyrer, in dessen Namen eine Rebellion gegen die Abbasiden geführt wurde. Das volle Konzept des Mahdi als eines Messias erschien jedoch nicht vor dem Ende des neunten Jahrhunderts.

Aus diesem Beweismaterial könnten wir den Schluss ziehen, dass Manjushri Yashas den Aufstieg des manichäischen Islam voraussagte. Alternativ könnten wir schließen, dass buddhistische Meister die Kalachakraliteratur zu einer Zeit schrieben, als ihre Informationen über den Islam vom Kontakt mit den frühen Abbasiden stammten. Solche Meister kämen höchstwahrscheinlich aus den großen buddhistischen Klöstern in der Region um Kabul in Afghanistan. Viele dieser Klöster folgen architektonischen Motiven, die denen im Kalachakra-Mandala ähneln. Sie hatten ebenfalls beträchtlichen Kontakt mit dem tantrischen Buddhismus in Kaschmir, der dort oft mit hinduistischem Tantra vermischt war. Außerdem hatte Kabul zu der Zeit auch eine beträchtliche Hindubevölkerung. Ungeachtet, welche dieser beiden Theorien, den Ursprung des „Kalachakra-Tantra“ betreffend, wir akzeptieren, müssen wir sicherlich die buddhistisch-moslemischen Beziehungen in Afghanistan während der frühen Abbasidenperiode in Betracht ziehen, um den Kontext der Aussagen des „Kalachakra-Tantra“ über Geschichte und heilige Kriege zu verstehen.

Die Prophezeiung eines apokalyptischen Krieges

Der Erste Kalki sagte voraus, dass die Nachfolger der nicht-indischen Religion eines Tages Indien beherrschen würden. Von seiner Hauptstadt Delhi aus werde ihr König Krinmati im Jahre 2424 u. Z. versuchen, Shambhala zu erobern. Die Kommentare deuten an, dass Krinmati als der Mahdi-Messias anerkannt werde. Der 25. Kalki, Raudrachakrin, werde dann in Indien einfallen und die Nicht-Inder in einem großen Krieg besiegen. Sein Sieg werde das Ende des Kaliyuga – „des Zeitalters der Streitigkeiten“ – markieren, in dem die Dharmapraxis degenerieren werde. Danach werde ein goldenes Zeitalter folgen, in dem die Lehren gedeihen würden, besonders die des Kalachakra.

Die Idee eines Krieges zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, der in einer apokalyptischen Schlacht endet, die von einem Messias angeführt wird, erschien zuerst im Zoroastrismus, der im 6. Jahrhundert v. u. Z. entstand, mehrere Jahrzehnte, bevor Buddha geboren wurde. Sie fand Eingang in den Judaismus, irgendwann zwischen dem 2. Jahrhundert v. u. Z. und dem 2. Jahrhundert n.Chr. In der Folge fand sie ihren Weg in das frühe Christentum, den Manichäismus und später in den Islam.

Eine Variation des apokalyptischen Themas erschien auch im Hinduismus, im „Vishnu Purana“, datiert ungefähr auf das vierte Jahrhundert v. u. Z. Es sagt voraus, dass am Ende des Kaliyuga, Vishnu in seiner letzten Inkarnation als Kalki erscheinen und eine Geburt in der Stadt Shambhala als Sohn des Brahmanen Vishnu Yashas annehmen werde. Er werde die Nicht-Inder jener Zeit besiegen, die einem Pfad der Zerstörung folgen, und er werde den Geist der Menschen wiedererwecken. Danach, in Übereinstimmung mit dem indischen Konzept der Zeitzyklen, werde ein goldenes Zeitalter folgen, nicht ein Jüngstes Gericht und das Ende der Welt wie in den nicht-indischen Versionen dieses Themas. Es ist schwer festzustellen, ob der Bericht des „Vishnu Purana“ aus fremden Einflüssen abgeleitet und der indischen Mentalität angepasst wurde, oder ob er unabhängig entstand.

In Übereinstimmung mit Buddhas geschickten Mitteln des Lehrens mit Hilfe von Begriffen und Konzepten, die seiner Zuhörerschaft vertraut sind, benutzt das „Kalachakra-Tantra“ ebenfalls die Namen und Bilder aus dem „Vishnu Purana“. Seine versammelte Zuhörerschaft bestand schließlich in erster Linie aus gebildeten Brahmanen. Zu den Namen gehören nicht nur Shambhala, Kalki, das Kaliyuga und eine Variante von Vishnu Yashas, Manjushri Yashas, sondern auch die gleiche Bezeichnung mleccha für die zerstörungswütigen Nicht-Inder. In der Kalachakra-Version hat der Krieg jedoch eine symbolische Bedeutung.

Die symbolische Bedeutung des Krieges

Im „Unbefleckten Licht“ erklärt der Zweite Kalki, Pundarika, dass der Kampf mit dem nicht-Indischen Volk aus Mekka kein tatsächlicher Krieg ist, da der wirkliche Kampf innerhalb des Körpers stattfindet. Im fünfzehnten Jahrhundert erläutert der Gelug-Kommentator Kedrubje, dass Manjushri Yashas Worte nicht zu einem wirklichen Feldzug aufrufen, um die Nachfolger der nicht-indischen Religion zu töten. Die Absicht des Ersten Kalki bei der Beschreibung der Kriegsdetails war es, eine Metapher zu finden für den inneren Kampf zwischen tiefem seligen Gewahrsein der Leerheit einerseits und Unwissenheit und destruktiven Verhaltensweisen andererseits.

Der Zweite Kalki erwähnt deutlich den versteckten Symbolismus. Raudrachakrin repräsentiert den „Geist-Vajra“, nämlich den subtilsten Geist des klaren Lichts. Shambhala steht für den Zustand tiefer Glückseligkeit, in dem der Vajra-Geist verweilt. Ein Kalki zu sein bedeutet, dass der Geist-Vajra den perfekten Zustand tiefen Gewahrseins erlangt hat, nämlich das gleichzeitige Auftreten von Leerheit und Glückseligkeit. Raudrachakrins zwei Generäle, Rudra and Hanuman, stehen für die zwei unterstützenden Arten tiefen Gewahrseins, das der Pratyekabuddhas und das der Shravakas. Die zwölf Hindugötter, die helfen, den Krieg zu gewinnen, repräsentieren das Aufhören der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens und der zwölf täglichen Wechsel des karmischen Atems. Die Glieder und die Wechsel beschreiben beide den Mechanismus, der Samsara aufrechterhält. Die vier Divisionen von Raudrachakrins Armee entsprechen den reinsten Stufen der vier unermesslichen Geisteshaltungen von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Die nicht-indischen Streitkräfte, die von Raudrachakrin und den Divisionen seiner Armee besiegt werden, entsprechen den Geisteszuständen der negativen karmischen Kräfte, die durch Hass, Bosheit, Missgunst und Voreingenommenheit unterstützt werden. Der Sieg über sie ist das Erlangen des Pfades zur Befreiung und zur Erleuchtung.

Die didaktische Methode des Buddhismus

Obwohl der Text ausdrücklich dementiert, dass zu einem wirklichen, heiligen Krieg aufgerufen wird, kann die Implikation an dieser Stelle, dass der Islam eine grausame Religion ist, charakterisiert durch Hass, Bosheit und destruktives Verhalten, leicht dafür gebraucht werden, die Behauptung zu unterstützen, dass der Buddhismus anti-islamisch sei. Obwohl einige Buddhisten in der Vergangenheit dieses Vorurteil gehabt haben mögen und einige heutige Buddhisten gleichermaßen eine solche sektiererische Ansicht hegen, kann man im Licht einer der didaktischen Methoden des Mahayana-Buddhismus auch zu einem anderen Schluss kommen.

Zum Beispiel präsentieren Mahayanatexte bestimmte Ansichten als charakteristisch für den Hinayana-Buddhismus, wie zum Beispiel: selbstsüchtig nur für die eigene Befreiung zu arbeiten, ohne Wertschätzung dafür, anderen zu helfen. Schließlich sei das erklärte Ziel des Hinayanas die Selbstbefreiung, nicht die Erleuchtung zum Wohle aller anderen Wesen. Obwohl solche Beschreibungen des Hinayanas zu Vorurteilen geführt haben, enthüllt ein vertieftes objektives Studium der Hinayana-Schulen, wie zum Beispiel des Theravada, eine herausragende Rolle der Meditation über Liebe und Mitgefühl. Man könnte daraus schließen, dass das Mahayana einfach der wirklichen Hinayanalehren unkundig war. Alternativ können wir erkennen, dass das Mahayana hier eine der Methoden buddhistischer Logik gebraucht, nämlich Standpunkte zu ihren absurden Schlussfolgerungen zu führen, um den Menschen zu helfen, extreme Ansichten zu vermeiden. Die Intention dieser Prasangika-Methode ist, Praktizerenden zu helfen, das Extrem der Selbstsucht zu vermeiden.

Dieselbe Analyse trifft auf die Darstellung der sechs Schulen der mittelalterlichen Hindu- und Jainphilosophien im Mahayana zu. Sie trifft auch auf die Art und Weise zu, wie jede der tibetisch-buddhistischen Traditionen die Ansichten der jeweils anderen und die der einheimischen Bön-Tradition präsentiert. Keine dieser Darstellungen gibt ein akkurates Bild. Jede übertreibt und verzerrt bestimmte Merkmale der anderen, um verschiedene Punkte zu veranschaulichen. Dasselbe trifft für die Behauptungen des Kalachakra über die Grausamkeit des Islam und seine potentielle Bedrohung zu. Buddhistische Lehrer mögen geltend machen, dass die Prasangikamethode, hier den Islam gebrauchend, um eine spirituelle Gefahr zu illustrieren, eine geschickte Methode ist. Man könnte aber genauso argumentieren, dass hier ein grobes Fehlen an diplomatischem Geschick vorliegt, besonders in modernen Zeiten.

Die Benutzung des Islam, um bedrohliche destruktive Kräfte darzustellen, wird jedoch verständlich, wenn man ihn im Kontext der frühen Abbasidenperiode in der Region um Kabul in Afghanistan betrachtet.

Buddhistisch-islamische Beziehungen während der Abbasidenperiode

Zu Beginn dieser Periode beherrschten die Abbasiden Baktriens (nördliches Afghanistan), wo sie den heimischen Buddhisten, Hindus und Zoroastriern erlaubten, ihre Religion zu behalten, wenn sie eine Kopfsteuer zahlten. Viele nahmen jedoch freiwillig den Islam an, besonders unter den Landbesitzern und den gebildeten oberen Schichten der Städter: Seine Hochkultur war zugänglicher als ihre eigene, und sie konnten es vermeiden, die drückende Steuer zu zahlen. Die Turk-Schahis, die mit den Tibetern verbündet waren, beherrschten Kabul, wo Buddhismus und Hinduismus florierten. Man kann sich leicht vorstellen, dass die buddhistischen Herrscher und geistigen Führer besorgt waren, dass ein ähnliches Phänomen, Bekehrung aus Bequemlichkeit, dort auftreten könnte.

Die Turk-Schahis beherrschten die Region bis 870. Nur zwischen 815 und 819 verloren sie vorübergehend die Kontrolle über das Gebiet. Während dieser vier Jahre besetzte der Abbasidenkalif al-Ma'mun Kabul, zwang den herrschenden Schah, den Islam anzunehmen und sandte eine goldene Buddhastatue aus dem dortigen Subaharkloster als Beute nach Mekka. Dadurch, dass er die Götterbilder zerschlug, wie es der Prophet Mohammed getan hatte, demonstrierte der Kalif seine Autorität, die gesamte islamische Welt zu beherrschen, nachdem er seinen Bruder in einem Bürgerkrieg niedergeworfen hatte. Weder zwang er alle Buddhisten Kabuls zu konvertieren, noch zerstörte er die Klöster. Nachdem sich die Abbasidenarmee zurückgezogen hatte, um Autonomiebewegungen in anderen Teilen des Reiches zu bekämpfen, erholten sich die buddhistischen Klöster schnell.

Die nächste Periode, in der die Region um Kabul unter islamische Herrschaft kam, war ebenfalls kurz, zwischen 870 und 879. Die Region wurde von den Saffariden-Herrschern eines autonomen Militärstaates erobert, die durch ihre Härte und die Zerstörung der lokalen Kulturen in Erinnerung blieben. Die Eroberer sandten viele buddhistische „Idole“ als Kriegstrophäen zurück an den Abbasidenkalifen. Als die Nachfolger der Turk-Schahis, die Hindu-Schahis, die Region zurückeroberten, erlangten der Buddhismus und die Klöster einmal mehr ihren früheren Glanz zurück.

Die turkstämmigen Ghaznawiden eroberten Kabul in den 980ern. Es war um diese Zeit, dass die Kalachakra-Lehren offen in Indien auftauchten. Sie wurden in Visionen an zwei indische Meister übermittelt, die versuchten, Shambhala zu erreichen. Obwohl die moslemischen Ghaznawiden den Buddhismus und Hinduismus in Kabul tolerierten, zerschlugen sie den islamischen Ismailitenstaat Multan im nördlichen Zentralpakistan im Jahre 1008. Die ismailitischen Fatimiden in Ägypten waren Rivalen der Ghaznawiden im Kampf um die Vorherrschaft über die gesamte moslemische Welt. Nach diesem Sieg stieß der Ghaznawidenherrscher Mahmud aus Ghazni, unzweifelhaft getrieben von der Gier nach mehr Land und Reichtum, weiter ostwärts vor bis nach Madhura südlich von Delhi. Er plünderte und zerstörte die wohlhabenden buddhistischen Klöster, die auf seinem Weg lagen. Als die ghaznawidischen Truppen jedoch von Delhi aus nordwärts zogen und versuchten in Kaschmir einzudringen, wurden sie im Jahre 1021 vom kaschmirischen König Samgrama Raja, einem Unterstützer von Buddhismus und Hinduismus, zurückgeschlagen. Dies war der erste Angriff einer moslemischen Armee auf Kaschmir. Das „Kalachakra-Tantra“ erreichte Tibet von Kaschmir aus im Jahre 1027, dem Jahr, das vom Ersten Kalki vorhergesagt worden war.

Übereinstimmungen zwischen den Vorhersagen und der Geschichte

Die historischen Vorhersagen des Ersten Kalki stimmen also klar mit den oben angegebenen Zeitangaben überein, aber sie verschmelzen die Ereignisse, um Lehraussagen zu erläutern. Die Bezugnahme in der Kalachakra-Literatur auf die nicht-indischen Invasoren als Turushka, was Turkvolk bedeutet, bezieht sich unzweifelhaft auf die turkstämmigen Ghaznawiden. Die Bezüge auf das Turkvolk sind jedoch höchstwahrscheinlich spätere Einschübe. Die Ghaznawiden waren erst das zweite Turkvolk, das den Islam angenommen hatte, und dies fand in den späten 970ern statt. Die westlichen Qarakhaniden von Kaschgar waren das erste, in den 930ern. Andererseits waren die Turk-Schahis, die das Gebiet um Kabul im späten 8. Jahrhundert regierten (die wahrscheinlichste Periode für die Beschreibung der nicht-indischen Religion im Kalachakra), ebenfalls ein Turkvolk. Die meisten ihrer Herrscher waren Buddhisten.

Wie der Sakya-Kommentator Butön (13. Jahrhundert) über die Darstellung der Geschichte im Kalachakra bemerkt, ist es „bedeutungslos, historische Ereignisse der Vergangenheit genau zu untersuchen.“ Trotzdem erklärt Kedrubje, dass der vorhergesagte Krieg zwischen Shambhala und den nicht-indischen Kräften keine bloße Metapher ohne Bezug auf eine zukünftige historische Realität ist. Wenn dies so wäre, würde dies laut Kedrubje bedeuten, dass wenn das „Kalachakra-Tantra“ innere Analogien für die Planeten und Konstellationen anwendet, der absurde Schluss folgen würde, dass die Himmelskörper nur als Metapher existierten und keinen Bezug zur äußeren Realität hätten.

Dennoch warnt Kedrubje auch davor, die zusätzlichen Kalachakra-Vorhersagen wörtlich zu nehmen, die besagen, dass die nicht-indische Religion sich irgendwann auf alle zwölf Kontinente ausbreiten werde und dass Raudrachakrins Lehren sie auch dort überwältigen würden. Die Vorhersage betrifft nicht das spezifische nicht-indische Volk, das weiter oben beschrieben wurde, oder dessen religiösen Ansichten oder Praktiken. Der Name mleccha bezieht sich hier einzig auf nicht-dharmische Kräfte und Ansichten, die den Lehren des Buddha widersprechen.

Folglich lautet die Vorhersage, dass destruktive Kräfte, die für die spirituelle Praxis schädlich sind – und nicht eine spezifische moslemische Armee – in der Zukunft angreifen werden, und dass ein äußerer „heiliger Krieg“ gegen sie nötig sein wird. Die implizite Botschaft ist, dass, wenn friedliche Methoden fehlschlagen und man gezwungen ist, einen heiligen Krieg zu führen, dieser Kampf immer auf den buddhistischen Prinzipien von Mitgefühl und tiefem Gewahrsein der Realität gründen muss. Dies trifft trotz der Tatsache zu, dass es in der Praxis extrem schwierig ist, dieser Richtlinie zu folgen, wenn man Soldaten ausbildet, die keine Bodhisattvas sind. Trotzdem, wenn der Krieg von den nicht-indischen Prinzipien von Hass, Bosheit, Missgunst und Voreingenommenheit getragen wird, werden zukünftige Generationen keinen Unterschied zwischen der Art und Weise ihrer Vorfahren und der der nicht-indischen Kräfte sehen. Folglich werden sie leicht die nicht-indischen Sitten annehmen.

Das islamische Konzept des Jihad

Ist einer der „barbarischen“ Gebräuche das islamische Konzept des Jihad? Wenn ja, gibt Kalachakra eine genaue Beschreibung des Jihad, oder gebraucht es die nicht-indische Invasion Shambhalas bloß, um ein Extrem aufzuzeigen, das es zu vermeiden gilt? Um interreligiöse Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig, diese Fragen zu untersuchen.

Das arabische Wort jihad bedeutet einen Kampf, in dessen Verlauf man Leiden und Schwierigkeiten erdulden muss, wie zum Beispiel Hunger und Durst während des Ramadan, des heiligen Fastenmonats. Solche, die sich auf diesen Kampf einlassen, sind mujahedin. Man fühlt sich hier an die buddhistischen Lehren über Geduld für Bodhisattvas erinnert, mit der die Schwierigkeiten auf dem Weg zur Erleuchtung zu ertragen sind.

Der sunnitische Teil des Islam beschreibt fünf Arten des Jihad. (1) Ein militärischer Jihad ist ein defensiver Feldzug gegen Aggressoren, die versuchen, dem Islam zu schaden. Es ist keine offensive Attacke um andere mit Gewalt zum Islam zu bekehren. (2) Ein Jihad mittels Ressourcen bedeutet das Geben finanzieller und materieller Unterstützung an Arme und Bedürftige. (3) Ein Jihad durch Arbeit bedeutet, sich selbst und seine Familie auf ehrliche Weise zu unterhalten. (4) Ein Jihad durch Studium bedeutet, Wissen zu erwerben. (5) Ein Jihad gegen sich selbst ist ein innerer Kampf um Wünsche und Gedanken zu überwinden, die den islamischen Lehren widersprechen. Der schiitische Teil des Islam betont den ersten Typ des Jihad, und stellt dabei einen Angriff auf einen islamischen Staat mit einem Angriff auf den islamischen Glauben gleich. Viele Schiiten akzeptieren auch den fünften Typ, den inneren spirituellen Jihad.

Ähnlichkeiten zwischen Buddhismus und Islam

Die Darstellung des mythischen Krieges um Shambhala im Kalachakra und die islamische Diskussion des Jihad zeigen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Sowohl buddhistische wie auch islamische heilige Kriege sind defensive Taktiken, um Angriffe von äußeren feindlichen Kräften zu stoppen, und niemals aggressive Feldzüge, um Konvertiten zu gewinnen. Beide haben innere spirituelle Bedeutungsebenen, auf denen der Kampf gegen negative Gedanken und destruktive Emotionen geführt wird. In beiden Fällen muss der Kampf auf Basis ethischer Prinzipien geführt werden, nicht auf der Basis von Vorurteil und Hass. Indem die Kalachakra-Literatur die nicht-indische Invasion von Shambhala ausschließlich negativ darstellt, missinterpretiert sie das Konzept des Jihad faktisch in Prasangika-Manier und überspitzt es in sein logisches Extrem, um eine Position aufzuzeigen, die es zu vermeiden gilt.

So wie viele Führer das Konzept des Jihad verzerrt und ausgenutzt haben, um Macht und Vorteile zu erlangen, erging es auch Shambhala und seiner Diskussion des Krieges gegen destruktive fremde Mächte. Der russisch-burjatische Mongole Agvan Dorjiev, der im späten 19. Jahrhundert Hilfstutor des 13. Dalai Lama war, proklamierte, dass Russland Shambhala sei und der Zar ein Kalki. Auf diese Weise versuchte er den 13. Dalai Lama davon zu überzeugen, sich im Kampf um die Vorherrschaft in Zentralasien gegen die britischen „mlecchas“ an die Seite von Russland zu stellen.

Traditionell haben die Mongolen sowohl König Suchandra von Shambhala als auch Dschingis Khan als Inkarnationen von Vajrapani identifiziert. Für Shambhala zu kämpfen würde dann also bedeuten, für den Ruhm Dschingis Khans und der Mongolei zu kämpfen. So inspirierte Sukhe Batur, der Anführer der mongolischen kommunistischen Revolution von 1921 gegen die extrem harte Herrschaft des von den Weißrussen und den Japanern unterstützten Baron von Ungern-Sternberg, seine Truppen mit der Kalachakradarstellung vom Krieg, der das Kaliyuga-Zeitalter beendet. Er versprach ihnen die Wiedergeburt als Krieger des Königs von Shambhala, obwohl es in der Kalachakraliteratur keine Basis für diese Behauptung gibt. Während der japanischen Besetzung der Innere Mongolei in den 1930ern versuchten die japanischen Oberherren wiederum, die Loyalität und militärische Unterstützung der Mongolen mit einer Propagandakampagne zu gewinnen, die Japan mit Shambhala gleichsetzte.

Schlussfolgerung

Kritiker des Buddhismus könnten sich auf den Missbrauch der äußeren Bedeutungsebene der spirituellen Schlacht im Kalachakra konzentrieren und die innere Bedeutungsebene beiseitelassen, Das wäre dem Buddhismus als Ganzem gegenüber unfair. Das Gleiche gilt auch für anti-moslemische Kritiker des Jihad. Der Rat in den buddhistischen Tantras, den spirituellen Lehrer betreffend, mag hier von Nutzen sein. Beinahe jeder spirituelle Lehrer besitzt eine Mischung von guten Qualitäten und Fehlern. Obwohl ein Schüler die negativen Qualitäten des Lehrers nicht verleugnen soll, bringt es nur Wut und Depressionen mit sich, auf ihnen herumzureiten. Wenn sich ein Schüler hingegen auf die positiven Qualitäten des Lehrers konzentriert, wird ihn dies inspirieren, dem spirituellen Pfad zu folgen.

Dasselbe kann man über den Buddhismus und die islamischen Lehren, heilige Kriege betreffend, sagen. Beide Religionen haben Erfahrungen mit dem Missbrauch ihrer Aufrufe zur äußeren Schlacht, wenn destruktive Kräfte die religiöse Praxis bedrohen. Ohne solchen Missbrauch zu leugnen oder darauf herumzureiten, kann man in beiden Glaubensrichtungen Inspiration daraus ziehen, wenn man sich darauf konzentriert, welche Vorteile es mit sich bringt, einen inneren heiligen Krieges zu führen.

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