Überblick über die Übungen zum Entwickeln von Bodhichitta durch das Gleichsetzen und Austauschen unserer Geisteshaltungen uns selbst und anderen gegenüber
Das Gleichsetzen und Austauschen unserer Geisteshaltungen uns selbst und anderen gegenüber ist eine von zwei Methoden, um auf einen tatsächlichen Bodhichitta-Geisteszustand und Bodhichitta-Herz hinzuarbeiten. Bodhichitta selbst ist nicht nur ein äußerst umfangreicher Geisteszustand, auch die Übungen, die dorthin führen, sind überaus weitreichend.
Bodhichitta selbst baut auf einige konstruktive Geisteszustände oder Geistesfaktoren auf und wird von ihnen begleitet. Wir arbeiten daher darauf hin, uns auf Bodhichitta ausrichten zu können – uns also auf unsere individuelle Erleuchtung zu richten, die noch nicht stattgefunden hat, aber auf der Basis unserer Buddha-Natur stattfinden kann, was sich auf die verschiedenen Faktoren unseres Geisteskontinuums bezieht, die uns befähigen, die verschiedenen Körper eines Buddhas zu erlangen. Während wir uns auf diese noch nicht stattgefundene Erleuchtung richten, haben wir die Absicht, sie beruhend auf unserem Verständnis und unser Überzeugung zu erlangen, dass sie möglich ist, sowie allen anderen gleichermaßen auf der Basis dieser Erleuchtung zu nutzen.
Um diese Absicht haben zu können, allen anderen gleichermaßen von Nutzen zu sein, ist es notwendig, zunächst einen allgemeinen Zustand des Gleichmuts zu haben. Dabei handelt es sich um den Geisteszustand, mit dem wir weder Anziehung, Abneigung noch Gleichgültigkeit gegenüber irgendjemanden haben, denn nicht nur das Ziel von Bodhichitta (mit anderen Worten: die Erleuchtung) ist ausgesprochen weitreichend, sondern auch der Wirkungsbereich (allen begrenzten Wesen zu nutzen). Das Ziel ist weitreichend und auch der Wirkungsbereich, wie vielen anderen wir damit von Nutzen sein werden, ist weitreichend. Anders ausgedrückt: der erleuchtete Zustand ist äußerst weitreichend und die Anzahl der Wesen, denen wir helfen werden, ist überaus weitreichend.
Die Art des Glücklichseins, das wir anderen bringen wollen, und das Maß an Leiden, das wir für sie entfernen wollen, ist ebenso weitreichend; es ist das höchst mögliche Maß. Daher bezeichnen wir diesen ganzen Geisteszustand, der mit dem Prozess des Erlangens der Erleuchtung verbunden ist, „Mahayana“. „Maha“ bedeutet weitreichend, also weitreichend im Sinne der eben erwähnten drei Weisen. „Yana“ ist ein Fahrzeug des Geistes; mit anderen Worten: ein Geisteszustand, der als ein Fahrzeug dient, uns an ein Ziel zu bringen. Dann haben wir natürlich die Übungen und Texte, die den Vorgang beschreiben und die mit dem Prozess verbunden sind, dieses Ziel zu erreichen.
Wir müssen diesen Zustand des grundlegenden Gleichmuts als Basis für Bodhichitta haben und hierbei handelt es sich um einen Zustand des Gleichmuts, wie er auch in den Praktiken des Hinayana entwickelt wird. „Hinayana“ bedeutet ein bescheideneres Fahrzeug des Geistes, das ein bescheideneres Ziel, lediglich unsere eigene Befreiung, anstrebt. Denn dies ist ein Gleichmut, der, wie gesagt, frei von Anziehung, Abneigung und Gleichgültigkeit oder den drei Giften, den so genannten giftigen Geisteszuständen, ist. Anhaftung ist ein sehnsüchtiges Verlangen und eine Anhaftung an andere; Abneigung ist eine Ablehnung, die ein Aspekt der Wut gegenüber anderen ist; und Gleichgültigkeit (das Ignorieren anderer) ist ein Aspekt der Naivität; wir erkennen nicht, dass es Wesen sind, die leiden und, genau wie wir, glücklich und nicht unglücklich sein wollen.
Dann benötigen wir eine weitere Form des Gleichmuts, die ein noch stärkerer Zustand des Gleichmuts ist, den wir besonders in den Mahayana-Übungen entwickeln, wenn wir tatsächlich damit beschäftigt sind, anderen zu helfen, nämlich niemanden zu bevorzugen. Außerdem benötigen wir eine Geisteshaltung, mit der wir nicht nur die Ebenbürtigkeit von allen anderen, sondern auch von uns und anderen sehen, damit wir daran arbeiten können, das Unglücklichsein aller zu beseitigen. Um diese Geisteshaltung zu bekräftigen und eine Basis für die weiteren konstruktiven Geisteszustände anzulegen, die wir benötigen, entwickeln wir die so genannte Entsagung (tib. nges-’byung), also die Entschlossenheit, frei von unseren eigenen Leiden zu sein, womit alle drei Arten von Leiden gemeint sind – Leiden des Schmerzes und Unglücklichseins; Leiden der Veränderung (was sich auf unsere gewöhnliche Art des Glücklichseins bezieht, das nie andauert und nie zufriedenstellend ist); und die unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt, welche die Grundlage für die ersten zwei Arten des Leidens ist und die durch unser mangelndes Gewahrsein (tib. ma-rig-pa), störende Emotionen (tib. nyon-mongs) und Karma (las) hervorgebracht wird.
Wenn wir diese Geisteshaltung haben, mit der wir uns und andere in der gleichen Situation sehen, ist es notwendig, die Nachteile zu erkennen, nur für das eigene Wohlergehen tätig zu sein. Es ist die so genannte selbstbezogene Geisteshaltung (tib. rang bces-par ’dzin-pa) mit der wir uns nur um uns selbst sorgen und die Sorge um andere ignorieren. Wir sehen die Vorteile, uns um das Wohl der anderen zu kümmern und den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit darauf auszurichten, ihnen zu helfen und unsere eigenen selbstischen Wünsche und Bedürfnisse zu ignorieren. Sind wir für das Wohl aller tätig, gehören wir natürlich auch dazu und daher ist es wichtig, dieses Wertschätzen anderer und Ignorieren unserer eigenen egoistischen Bedürfnisse richtig zu verstehen.
Auf der Basis all dieser positiven Geisteszustände, die wir gerade durchgegangen sind, entwickeln wir Liebe (den Wunsch, alle mögen gleichermaßen glücklich sein) und Mitgefühl (den Wunsch, alle mögen frei von ihrem Leiden und den Ursachen des Leidens sein), was diese Entsagung oder Entschlossenheit, frei zu sein, auf andere ausweitet. Daraufhin entwickeln wir dann den so genannten außergewöhnlichen Entschluss. Diese Praxis der Liebe und des Mitgefühl – sich zu wünschen, andere mögen frei von ihrem Leiden und den Ursachen des Leidens sein und Glück und die Ursachen des Glücks besitzen – kann übrigens in Form der „Tonglen“-Praxis (Geben und Nehmen) geübt und verstärkt werden. Als nächstes gilt es den so genannten außergewöhnlichen Entschluss (tib. lhag-bsam) zu entwickeln, mit dem wir die Verantwortung dafür übernehmen, zu helfen, alle zur Erleuchtung – dem höchsten Ziel – zu führen und wir entschließen uns, es selbst zu tun, auch wenn wir es ganz allein tun müssen. Damit ist natürlich nicht die arrogante Einstellung gemeint, mit der wir denken, wir wären die Einzigen, die dazu in der Lage sind und würden in diesem Prozess keine Hilfe anderer benötigen. Vielmehr bezieht es sich darauf, wie außergewöhnlich dieser Entschluss oder Wunsch ist, es zu tun, auch wenn wir es ganz allein tun müssen.
Beruhend darauf haben wir dann das Entwickeln von Bodhichitta, denn wir erkennen, dass wir nur dann vollständig in der Lage sein werden, allen zu helfen erleuchtet zu werden, wenn wir selbst Erleuchtung erlangen. Auf dieser Grundlage, auf der wir diesen Zustand erzeugen, indem wir uns mit Bodhichitta auf unsere eigene Erleuchtung ausrichten, die noch nicht stattgefunden hat, mit der Absicht, sie zu erlangen und allen so gut wir können zu nutzen, sollten wir uns durch all diese Schritte hindurcharbeiten, um die vollständige Geisteshaltung des Bodhichitta in seiner gesamten Kraft und mit großer Ernsthaftigkeit zu erzeugen. Haben wir uns völlig damit vertraut gemacht, indem wir all diese Stufen des Erzeugens von Bodhichitta immer wieder wiederholen, werden wir in der Lage sein, diese Geisteshaltung des Bodhichitta mit all ihren vollständigen Eigenschaften unmittelbar hervorzubringen.
Müssen wir uns durch all diese Stufen hindurcharbeiten, um Bodhichitta zu entwickeln, nennt man es mühevolles (tib. rtsol-bcas) Bodhichitta. Mit anderen Worten müssen wir uns bemühen, um es zu erlangen; wir müssen es konstruieren, als würden wir etwas bauen, was die Bedeutung des tibetischen Wortes hier ist. Sind wir jedoch in der Lage, es ganz automatisch vollständig hervorzubringen, nennt man es müheloses (tib. rtsol-med) Bodhichitta und an dem Punkt werden wir genau genommen das, was man einen Bodhisattva nennt.
Durch diese allgemeine Einführung können wir sehen, dass es im Zusammenhang mit unserer Bodhichitta-Praxis viele Schritte gibt. Auch sollten wir uns darüber bewusst sein, dass es eine zweite Methode, eine zweite Abfolge, zum Entwickeln von Bodhichitta gibt, sowie eine Methode, die diese zwei miteinander verbindet. Weil unsere Zeit jedoch begrenzt ist, wird es schwierig sein, jeden Schritt durchzugehen und auch noch Zeit zum Üben zu finden. Um Vertrautheit mit allen Schritten zu erlangen, würden wir sehr viel Zeit brauchen. Ich würde jedoch zumindest gern all die Schritte dieser spezifischen Methode vorstellen und eine eingehende Darstellung geben, wie ich sie von meinem Lehrer Serkong Rinpoche gelernt habe, eine ausführlichere Darstellung einiger der damit verbundenen Schritte, als wir sie anderswo finden würden. Wir werden auch nur Zeit haben, einige der Meditationen für manche Teile, nicht für alle Teile, zu machen. Andernfalls würden wir es nie schaffen, sie alle durchzunehmen. Wir werden vielleicht eine ausführlichere Praxis auf den ersten Stufen haben und danach nur einen allgemeinen Überblick darüber geben, was dann als nächstes kommt.
Zum Abschluss würde ich gern etwas näher darauf eingehen, wie wir uns tatsächlich auf unsere Erleuchtung richten, die noch nicht stattgefunden hat. Mit anderen Worten: Was passiert eigentlich in unserem Geist, wenn wir tatsächlich zu dem Punkt kommen, an dem wir mit Bodhichitta meditieren? Es gibt viele Menschen, die dies nicht wirklich verstehen. Und wenn sie meinen, sie würden über Bodhichitta meditieren, meditieren sie im Grunde über Liebe und Mitgefühl, was zwar äußerst nützlich, aber keine Bodhichitta-Meditation ist, sondern das, was vor der Bodhichitta-Meditation kommt und praktisch dessen Grundlage ist.