Übungen für ungewöhnlichen Gleichmut in Bezug auf unsere Sicht

Der nächste Schritt ist die Entwicklung von „ungewöhnlichem Mahayana-Gleichmut“ (tib. thun-mong ma-yin-pa’i btang-snyom). Das ist die Art des Gleichmuts, die wir beim Gleichsetzen und Austauschen unserer Geisteshaltung uns selbst und anderen gegenüber entwickeln. Wenn wir hier über das Gleichsetzen unserer Geisteshaltung uns selbst und anderen gegenüber reden, scheint es in dieser Hinsicht zwei Aspekte zu geben. Der eine ist, wiederum eine ausgeglichene Geisteshaltung gegenüber allen anderen zu haben, doch hier ausdrücklich dann, wenn wir versuchen ihnen zu helfen. Der zweite Aspekt ist zu erkennen, dass wir und andere ebenbürtig sind. Hier geht es nur um die Betonung des einen oder anderen Aspektes. Mit diesem ersten Aspekt, dass alle ebenbürtig sind, wenn wir ihnen helfen – liegt die Betonung nicht wie beim bloßen Gleichmut darauf, störende Emotionen zu überwinden, sondern nicht manche zu bevorzugen, wenn wir versuchen ihnen zu nutzen, sondern aktiv allen zu helfen oder es zumindest zu versuchen. 

Dies wird in neun Punkte unterteilt. Sechs von ihnen haben mit der relativen Sichtweise zu tun und drei mit der tiefsten. Dies sechs der relativen Sichtweise werden in drei bezüglich unserer Sichtweise und drei bezüglich der Sichtweise anderer unterteilt. Was wir hier versuchen zu entwickeln, ist ein Gefühl dafür, dass es unangemessen ist, manche als uns nahestehend und andere als fremd zu sehen, wenn wir versuchen ihnen zu helfen. Es ist nicht angebracht, manchen entgegenzukommen und andere abzulehnen. 

Jeder ist gleichermaßen unsere Mutter gewesen, es ist nur eine Frage der Zeit, wann das war  

In Bezug auf unsere eigene Sicht denken wir zunächst über Folgendes nach: Wenn alle begrenzten Wesen in früheren Leben unsere Eltern und engsten Freunde gewesen sind, ist es nicht angebracht, manche als nahestehend und andere als fremd zu betrachten, denn es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie zum Beispiel tatsächlich unsere Mutter waren. Ob wir unsere Mutter nun seit 10 Minuten, 10 Jahren oder 10 Leben nicht mehr gesehen haben, bleibt sie dennoch unsere Mutter. Das ist die Überlegung, die wir hier anstellen. Für jedes Wesen gilt, dass es unsere Mutter ist, auch wenn wir sie vielleicht seit 10 Leben, 10.000 Leben oder nur seit 10 Minuten nicht mehr gesehen haben. Aus unserer Sicht ist es lediglich eine Sache der Zeit, wie lange wir sie nicht mehr gesehen haben, aber in diesem Sinne sind sie alle gleich. 

Wenn wir dies in der Meditation üben, könnten wir uns natürlich eine ganze Gruppe von Wesen vorstellen – nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Insekten usw., was viel schwieriger ist) – doch weil wir uns hier in einer Gruppe von Menschen befinden, können wir uns auch gegenseitig ansehen, ohne den anderen auf unhöfliche Weise anzustarren, und erkennen, dass jeder in diesem Raum zu einem gewissen Zeitpunkt unsere Mutter gewesen ist, es ist nur eine Frage der Zeit, wann. Natürlich können wir das auch in der Metro oder an einem anderen Ort tun, an dem es eine Gruppe von Menschen gibt, wie wenn wir in einem Geschäft an der Kasse warten. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten in unserem täglichen Leben, solche Arten der Meditation zu praktizieren.

Das ist übrigens, zusätzlich zum anfänglichen Schritt, ein weiterer Schritt, zu erkennen, dass jeder in einem früheren Leben schon einmal unsere Mutter gewesen ist. Der nächste Schritt besteht darin, dass es nur eine Frage ist, wann sie unsere Mutter gewesen sind, doch sie alle waren gleichermaßen schon einmal unsere Mutter. 

Denkt daran, dass der Geisteszustand, den wir hier versuchen zu entwickeln, wenn wir alle in Betracht ziehen, mit einem Gefühl dafür verbunden ist, niemanden als nahestehend oder fremd zu sehen. Um diesen Geisteszustand zu entwickeln, hilft uns die Begründung, dass alle unsere Mutter gewesen sind und es nur eine Frage der Zeit ist, wann das war. Für jene von uns, dessen Mütter bereits verstorben sind, ist es sogar noch bedeutsamer, wichtiger oder einfacher, sich darauf zu beziehen, denn wir fragen uns, wo unsere Mutter jetzt ist, die wir in diesem Leben hatten; es könnte jede Person sein, die in einem passenden Alter ist.

Lasst uns das für ein paar Minuten lang üben.

[Meditation] 

Wenn wir versuchen, alle anderen als unsere Mütter zu sehen, ist es dann einfacher, mit Frauen als mit Männern zu üben? Die Frage ist, wie wir damit umgehen, wie wir es einfacher machen. 

Nun, wenn wir Probleme damit haben, mit Männern zu üben, wie werden wir dann erst mit Mücken üben können? Wir sollten uns gedanklich auf anfangs- und endlose Geisteskontinua beziehen, die alle für jeden einzelnen individuell sind und dieses Geisteskontinuum wird aufgrund des Karma, das es angesammelt hat, mit der einen oder anderen Art der körperlichen Form wiedergeboren werden: manchmal als ein Mensch, manchmal als ein Tier oder Insekt, vielleicht in einer anderen nichtmenschlichen Form, männlich oder weiblich. Das trifft nicht nur für alle anderen sondern auch für uns selbst zu. Daher ist es unlogisch, die Person grundsätzlich, beständig und für immer nur in einer Lebensform oder einem Geschlecht zu sehen, welches aus eigener Kraft festgelegt wurde, unabhängig von dem Einfluss all des karmischen Verhaltens dieses Wesens. 

Wie ich bereits vorher schon erwähnt habe, benötigen wir, um frühere und zukünftige Leben zu verstehen und überzeugt davon zu sein, ein Verständnis der Leerheit – insbesondere oder spezifischer der Leerheit des Selbst und der Leerheit von Ursache und Wirkung. Haben wir Schwierigkeiten, Männer oder Mücken als Wesen zu sehen, die in einem früheren Leben unsere Mutter gewesen sind, gilt es mehr an der Leerheit und natürlich dem Verständnis der Leerheit zu arbeiten. Obwohl wir auch einer Dharma-light-Version folgen und alle Männer als Wesen sehen könnten, die unsere Väter gewesen sind oder, da es im Dharma-light nicht um frühere Leben geht, dass sie sich wie ein Vater um uns kümmern und gütig sein könnten, was würden wir dann aber mit unserem Freund, dem Moskito machen? In der Dharma-light-Version ist es nicht leicht, sich mit diesen anderen Lebensformen auseinanderzusetzen. Jeder Hund oder jede Katze könnte unser geliebtes Haustier sein, aber nicht viele von uns haben eine Mücke als Haustier, die wir jeden Tag mit unserem eigenen Blut füttern. Das ist eine interessante Vorstellung. 

Jeder hat uns gleichermaßen mehr geholfen als geschadet  

Der nächste Punkt, um hier diese Mahayana-Art des Gleichmuts zu entwickeln, besteht darin, dass wir folgenden Einwand haben könnten. Wir könnten sagen: „Gut, diese Wesen haben mir vielleicht geholfen, aber haben sie mir nicht auch geschadet? Mit dieser Überlegung können wir meinen: „Jeder hat mir geschadet und mich gehasst; daher ist es angebracht, alle als einen Feind zu sehen.“ Erheben wir diesen Einwand, müssen wir die nächste Überlegung anstellen, in der es darum geht, dass es natürlich stimmt: jeder muss uns irgendwann auch Schaden zugefügt haben, aber dennoch überwiegt die Hilfe, die sie uns zukommen lassen haben, bei weitem dem Schaden, den sie uns zugefügten. Denn wenn wir die Güte anderer betrachten – was eine spezielle Meditation ist, die wir üben und die sich darauf richtet, dass andere gütig uns gegenüber sind, auch wenn sie nicht unsere Mutter waren – sehen wir, dass so viele andere daran teilhaben, unser Leben zu ermöglichen, ob direkt oder indirekt: die Menschen, die unser Nahrung anbauen; die Menschen, die Straßen und das Transportsystem schaffen, um die Nahrung dorthin zu bringen, wo wir sie kaufen können; die Menschen, die sie verpacken und das Verpackungsmaterial herstellen; die ganze Ölindustrie, die den Transport ermöglicht; die Stahlindustrie, in der die Transporter gebaut werden. 

Eine Meditationsübung besteht darin, alles im Raum um uns herum zu betrachten oder alles, was wir während eines Tages nutzen, und uns darüber bewusst zu werden, wie viele Wesen damit beschäftigt sind, diese Dinge zu ermöglichen. Besonders heutzutage, im Zeitalter der Globalisierung, ist alles, was wir im Laufe eines Tages benutzen, von Menschen in der ganzen Welt hergestellt worden. Obgleich sie es vielleicht nicht bewusst getan haben, um uns persönlich zu nutzen, wie beispielsweise Arbeiter in einer Schuhfabrik in China, so hängt unser Leben und Überleben doch von ihrer Arbeit ab. Sie mögen es vielleicht nicht aus Güte heraus tun, aber dennoch ist es überaus gütig von ihnen, dass sie all diese Arbeit geleistet haben. Ziehen wir alle Wesen und alle Leben in Betracht, so überwiegt das Maß an Hilfe, dass sie uns direkt oder indirekt zukommen lassen haben, bei weitem dem Schaden, den sie uns zufügten. 

In der Meditation versuchen wir einfach darüber nachzudenken und es zu verinnerlichen. Wir könnten andere im Raum oder in der Metro mit diesem Verständnis betrachten, insbesondere mit der Geisteshaltung, dass es keinen Grund dafür gibt, manchen, die uns nahestehen, entgegenzukommen und nur ihnen zu helfen, während wir andere als Fremde sehen. Hier sind wir viel offener und helfen ganz aktiv allen, nicht nur bestimmten Leuten, die wir bevorzugen. Der Grund dafür ist die Überlegung, dass die Hilfe, die uns alle zukommen lassen haben, viel größer ist, als der Schaden. 

[Meditation] 

Es gibt auch eine Sache, die ich für wichtig halte und an die wir denken sollten, wenn wir bestimmte Meditationen ausführen, in denen wir andere aus bestimmten Blickwinkeln betrachten und verschiedene Aspekte durchgehen. So werden wir uns beispielsweise bewusst darüber, dass andere, zu denen wir uns hingezogen fühlen, irgendwann unsere Feinde waren und uns verletzt haben. In anderen Meditationen, in denen wir uns auf die gleichen Personen richten, erkennen wir dann, dass sie in früheren Leben unsere Mütter gewesen sind, und dann richten wir uns wiederum darauf aus, dass sie uns viel mehr geholfen als verletzt haben. Das könnte ziemlich verwirrend sein, wenn wir denken: „Wie soll ich denn diese Person nun sehen? Einmal wir gesagt, dass sie mich verletzt hat, und dann soll sie mir geholfen haben.“ 

Hier ist das Verständnis der Leerheit ausschlaggebend. Wir reden nicht nur über ein Aspekt der Person, der ihre feste und beständige Identität, unabhängig von allem anderen, ist. All diese verschiedenen Aspekte zu bestimmen – die alle gültig und korrekt sind – geschieht zu einem konkreten Zweck und sie werden in einem anderen Kontext hervorgehoben: der Kontext des Überwindens der Anhaftung oder der Kontext des Gleichsetzens unserer Geisteshaltung, wenn wir versuchen, allen zu helfen. Wir richten uns auf einen Aspekt oder einen anderen, der sich auf dessen Zweck bezieht, nämlich uns zu helfen, eine Art der störenden Emotion zu überwinden oder eine Art konstruktiven Geisteszustand gegenüber der Person zu erzeugen. Aus diesem Grund ist es ausgesprochen wichtig, ein wirklich breites Verständnis des Dharma zu haben. Daher wird stets gesagt, dass wir einen großen Schatz an Lehren benötigen – viele Lehren, die wir gehört und die wir dann kontempliert und verinnerlicht haben – damit wir in jeder Situation, die uns im Leben begegnet und bei jeder störenden Emotion oder problematischen Sache, die auftaucht, genau wissen, welches Gegenmittel anzuwenden ist. Und wir sind äußerst flexibel, das eine oder andere Gegenmittel anzuwenden, auch wenn wir damit die Person jedes Mal auf völlig andere Weise betrachten müssen.

Wir sind nicht starr und steif, sondern wirklich flexibel im Umgang mit Menschen, denn wir haben zahlreiche so genannte „geschickte Mittel“ (tib. thabs-mkhas), die wir nutzen können. Es ist gut, wenn wir für jede bestimmte störende Emotion mehrere Methoden haben, um mit ihr fertigzuwerden, denn in manchen Situationen mag eine Methode nicht so effektiv wie eine andere sein. Wir müssen immer einen alternativen Plan B und Plan C haben, nicht nur einen Plan A. Das ist ein Rat, den mir mein Lehrer Serkong Rinpoche in Bezug auf den Umgang mit allen Situationen im Leben gab. Wir sollten stets Alternativen haben, damit wir nicht ohne etwas dastehen und die Nerven verlieren, wenn der erste Plan nicht funktioniert. Wir sollten nicht nur einen Rettungsschirm im Flugzeug haben, sondern mehrere.

Was nutzt es, Schaden zu verursachen, wenn alle, auch wir, heute sterben könnten?  

Der dritte Punkt, der sich auf unsere eigene Sicht bezieht, und bei dem es darum geht, uns zu helfen, Mahayana-Gleichmut zu entwickeln – durch den wir uns nicht beim Helfen anderer manchen nah und anderen fremd fühlen – besteht darin, an den Tod zu denken. Der Tod wird mit Sicherheit kommen, wir werden ohne jeden Zweifel sterben, und der Zeitpunkt unseres Todes ist völlig ungewiss; wir wissen nie, wann es passieren wird. Wären wir beispielsweise ein Gefangener, der dazu verurteilt wäre, morgen oder in einer Stunde hingerichtet zu werden, welchen Sinn würde es dann machen, die letzten Augenblicke unseres Lebens damit zu verbringen, wütend zu sein und einen Plan zu machen, wie wir jemandem schaden könnten? Damit würden wir die letzten Momente völlig vergeuden. Vielmehr wäre es nützlicher, positive Gedanken gegenüber allen zu haben und dann mit einer positiven Geisteshaltung zu sterben. Dasselbe gilt für andere: sie könnten jeden Moment sterben und jeder ist in diesem Sinne gleich. Das Beispiel ist: Warum sollte man einen sterbenden Hund treten? Da liegt ein Hund im Sterben und welchen Sinn würde es machen, ihn zu treten? Wenn also alle jeden Augenblick sterben können, was ist dann der Sinn, sie zu treten oder zu versuchen, ihnen Schaden zuzufügen? Das trifft zu, ob dies nun unsere letzte Stunde in diesem Leben ist oder nicht. Vom Gesichtspunkt des Todes aus macht es auch keinen Sinn, manche als besonders nahestehend und andere als ziemlich fremd zu sehen. Hier liegt die Betonung darauf, jemandem fremd zu sein und ihm schaden zu wollen. 

In unserer buddhistischen Praxis gibt es viele Meditationen, die sich auf den Tod richten, und diese ist ein weiteres Beispiel dafür. Realistisch über den Tod nachzudenken, rückt alles in eine viel realistischere Perspektive, was das Wichtige im Leben betrifft. Hier würden wir unsere letzte Stunde nicht damit verbringen, zu denken: „Ich werde dieser Person helfen und jener schaden“ und dieses und jenes zu tun. Wir versuchen einfach, eine offene und warmherzige Einstellung gegenüber allen zu entwickeln und in diesem Geisteszustand zu sterben, in dem wir denken: „Möge ich in meinen zukünftigen Leben in der Lage sein, allen gleichermaßen zu helfen.“ Das ist viel nützlicher, als in unserem nächsten Leben nur dieser einen Person zu helfen und jener zu schaden, weil wir in diesem Leben nicht genug Zeit dafür hatten, sie zu verletzen und es somit im nächsten Leben tun werden. Das ist absurd. Lasst uns mit diesem Gedanken über den Tod arbeiten, dass wir jeden Moment sterben könnten und es keinen Sinn ergäbe, jemandem schaden und nur anderen helfen zu wollen, die wir bevorzugen, wenn dies unsere letzte Stunde wäre. Und welchen Sinn würde es machen, zu versuchen jemanden zu verletzen, der nur noch eine Stunde zu leben hätte? 

[Meditation]

Wenn ich denke, dass ich in einer Stunde sterben werde, ist es recht logisch und vernünftig, anderen nicht zu schaden. Wie gehen wir aber mit den Gedanken um, dass wir anderen dann auch nicht mehr helfen müssen? Man könnte denken, dass man anderen gar nicht helfen muss, weil man ja jeden Moment sterben kann und das könnte zu der Schlussfolgerung führen, anderen gar nicht helfen zu müssen. 

Nun, ich denke, dass wir hier einen anderen Punkt mit hineinbringen müssen: „Wie sollen unsere zukünftigen Leben aussehen?“ Wollen wir in der Lage sein, anderen in zukünftigen Leben zu helfen, was natürlich hier Teil unserer Bodhichitta-Motivation ist? Oder wollen wir anderen in zukünftigen Leben schaden, was womöglich auch bedeuten würde, selbst verletzt zu werden? Können wir in unseren letzten Augenblicken anderen nicht auf aktive Weise helfen, beten wir zumindest, anderen weiter helfen zu können. So lange wir leben, versuchen wir eine nützliche Gewohnheit zu schaffen, stets zu versuchen, anderen hilfreich zu sein. 

Ich habe während dieser Meditation auch auf ähnliche Weise darüber nachgedacht, wie wichtig es laut Shantideva ist, im Moment unseres Todes allein zu sein und keine Menschen um sich zu haben, die unseren inneren Frieden stören, indem sie große Anhaftung in uns hervorrufen und es uns schwermachen zu gehen oder uns durch ihr Weinen innerlich aufwühlen würden. Ich dachte auch an eine schizophrene Schülerin von mir, die eine enorme Störung war und die ich ganz gewiss nicht gern beim Sterben an meinem Bett haben würde, wenn sie sich völlig verrückt aufführt. Viel hilfreicher ist es natürlich, in einer friedlichen Atmosphäre zu sterben, in der wir für uns sind und nicht gestört werden, damit wir uns beim Sterben einfach ausschließlich auf positive Gedanken konzentrieren können. Auch wenn wir von diesen Leuten umgeben wären, die uns auf die eine oder andere Weise (Anziehung oder Ablehnung) stören würden, sollten wir versuchen uns zu sammeln und friedlich zu sterben, mit Gedanken darüber, wie wir anderen auch in zukünftigen Leben nützlich sein können. 

Sterben wir mit so einem positiven Geisteszustand, helfen wir damit indirekt auch anderen, indem wir ihnen ein Beispiel dafür sind, sich im Sterben nicht um das eigene, sondern um das Wohlergehen anderer zu kümmern. Damit denke ich an die Aussagen der Ärzte, die sich zum Beispiel um den 16. Karmapa in seinen letzten Tagen im Krankenhaus kümmerten, bevor er starb und auch an andere große Lamas. Ihre einzige Sorge bestand darin, wie es den Ärzten ging, wie sie mit der Situation fertigwurden, wie die Krankenschwestern damit umgingen und wie die Menschen um sie herum damit zurechtkamen. Es gab nicht einen Gedanken und keinen Hinweis auf Selbstmitleid, Angst oder Sorge um sich selbst. Einfach nur die Art und Weise wie wir sterben, kann für andere eine große Inspiration sein. Das ist eine wichtige Sache, die wir versuchen sollten, nicht nur wenn wir sterben, sondern auch, wenn wir zum Beispiel beim Zahnarzt sind oder eine medizinische Behandlung haben. Wir sollten uns vielleicht mehr um die Anspannung oder den emotionalen Zustand des Arztes sorgen, als um unsere eigenen Ängste. 

Wenn wir diese Schritte der Bodhichitta-Meditation durchgehen, wann sollten wir zur nächsten Stufe weitergehen? Sollten wir warten, bis wir ein Gefühl erreicht oder bis wir wirklich einen Geisteszustand entwickelt haben und dann zur nächsten Stufe gehen, oder sollten wir einfach von einer zur nächsten gehen, ohne auf eine Erfahrung zu warten?

Diese Frage zu beantworten, ist nicht gerade leicht. In der traditionellen Herangehensweise, wenn wir beispielsweise den Lam-rim (die aufeinanderfolgenden Stufen des Pfades) lernen, würden wir theoretisch nicht einmal wissen, was die nächsten Schritte sind. Ich hatte beispielsweise das große Glück, Lam-rim auf diese Weise studieren zu können, denn ich kam nach Indien und wurde von meinem Lehrer darin unterrichtet, bevor irgendwelche Übersetzungen des Lam-rim zur Verfügung standen, also bevor Gampopas Text übersetzt wurde, der wohl der erste im Englischen war. Obwohl ich ein wenig Lam-rim gelesen hatte, ein paar Sätze hier und dort in meinem Tibetisch-Unterricht bevor ich nach Indien ging, hatte ich keine Vorstellung vom Inhalt des Lam-rim. Ich musste mich mit jedem Punkt auseinandersetzen, ohne zu wissen, was als nächstes kam. Das war ausgesprochen nützlich, auch wenn mein Lehrer natürlich nicht wartete, bis ich eine gewisse Erkenntnis erlangt hatte, bevor er mir den nächsten Punkt in den Lehren gab. 

Normalerweise kennen wir den gesamten Rahmen der Lehre, damit wir uns über jeden Schritt auf dem Weg bewusst sind und ein gewisses Verständnis haben, wenn uns eine bestimmte Meditationspraxis gelehrt wird; wir sehen, wo sie hinführt und worauf sie aufbaut. Das ist Teil der allgemeinen Art und Weise, wie wir eine Lehre untersuchen. Mann nennt sie die Lehren der so genannten vier Axiome (tib. rigs-pa bzhi), oder vier Arten des Analysierens. Beim Ersten geht es darum, worauf diese Lehre aufbaut, worauf sie sich stützt und welche Stufen davor kommen. Das zweite Axiom handelt dann davon, wo sie hinführt und was sie bezweckt, während das dritte sich damit beschäftigt, ob sie einen logischen Sinn ergibt; das vierte stellt die Frage, ob sie ganz allgemein in die Natur der Dinge passt, in die Weise, wie die Dinge sind. Haben wir in diesem Sinne eine Vorstellung von allen Stufen, würden wir eine Meditation des Überblicks über den gesamten Ablauf haben, unseren Schwerpunkt jedoch auf die eine oder andere legen, während wir sie durchgehen. 

Das ist die gleiche Vorgehensweise, wie wir sie auch in der vorbereitenden Praxis nutzen. Führen wir zum Beispiel 100.000 Niederwerfungen, Zuflucht, Bodhichitta, Vajrasattva, Mandala und Guru-Yoga aus, würden wir jeden Tag ein wenig von jedem machen, damit wir eine Vorstellung vom gesamten Umfang der Praxis haben, uns aber zum großen Teil in unserer Sitzung auf eine dieser Übungen konzentrieren, bis wir 100.000 davon fertig haben und dann zur nächsten gehen. Wir sind uns stets über den gesamten Wirkungsbereich des „Ngöndro“ (sngon-’gro), der ganzen Gruppe der Vorbereitungen, bewusst. Die Vorgehensweise ist ähnlich [was die Schritte dieser Bodhichitta-Meditation betrifft].

Im Überblick haben hier diese drei Punkte in Bezug auf unsere eigene relative Sichtweise. Jeder war unsere Mutter oder äußerst gütig uns gegenüber, es ist nur eine Frage des Wann, und das Maß an Hilfe, das sie uns zukommen lassen haben, überwiegt bei weitem den Schaden, den sie uns zufügten. Und da wir und sie jeden Moment sterben könnten, macht es keinen Sinn, jemanden zu bevorzugen, zu verletzen oder sich zu distanzieren. Jede dieser Übungen sollten wir durchaus bis zu der Ebene praktizieren, auf der wir sie zumindest soweit verinnerlichen, dass wir uns an sie in verschiedenen Situationen erinnern können, in denen sie relevant wären, und sie vergegenwärtigen (tib. dran-pa), also aktiv im Gedächtnis behalten können. Beim Vergegenwärtigen geht es darum, sich an sie zu erinnern. Sie ist dieser „geistige Klebstoff“, mit dem wir daran festhalten. Das trifft besonders auf Situationen zu, in denen wir jemanden als fremd empfinden und das Gefühl haben, mit dieser Person nichts anfangen zu können, weil sie vielleicht aus einer völlig anderen Kultur stammt, einen ganz anderen Hintergrund oder ein anderes Alter hat, ein Säugling, ein Kind oder ein Greis ist. Es geht um dieses Gefühl, keinen Bezug zu der Person zu haben. 

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