Einführung
Ebenso wie im Falle der Bodhisattvagelübde gibt es auch im Tantra Wurzel- und Nebengelübde, welche wir versprechen, bis zum Erlangen der Erleuchtung zu halten und welche sich ebenfalls in unserem Bewusstseinsstrom in zukünftige Leben fortsetzen. Die Gelug-, Kagyü- und Sakya-Tradition übertragen diese Gelübde bei jeder Ermächtigung (tib. dbang, Initiation), anschließenden Erlaubnis (tib. rjes-snang, Erlaubnis), oder Mantrasammlung (tib. sngags-btus) für jede Praxis in einer der beiden höheren Tantraklassen – Yoga oder Anuttarayoga – entsprechend ihrem vierfachen Klassifikationsschema. Dagegen überträgt die Nyingma-Tradition sie bei jedem der drei oben genannten Rituale von einer der vier höheren Tantraklassen – Yoga, Anuttarayoga, Anuyoga und Atiyoga (Dzogchen) – entsprechend ihres sechsfachen Schemas. Die meisten Einzelheiten unserer Besprechung der Bodhisattvagelübde betreffen auch die tantrischen Gelübde.
Die tantrischen Wurzelgelübde bestehen darin, sich von vierzehn Handlungen zurückzuhalten, die, wenn sie in Anwesenheit der vier bindenden Faktoren begangen (tib. kun-dkris bzhi) werden, eine Übertretung der Wurzelgelübde (tib. sngags-kyi rtsa-ltung) darstellen und den Verlust der tantrischen Gelübde verursachen. Wenn unser Leben nicht von diesen tantrischen Gelübden gestaltet wird, dann können wir keinerlei Erlangungen oder Verwirklichungen aus der tantrischen Praxis gewinnen. Das liegt daran, dass unserer Praxis dann der notwendige unterstützende Rahmen fehlt. Bei den tantrischen Wurzelgelübden führt, mit Ausnahme einer einzigen Übertretungshandlung, nämlich dem Aufgeben des Bodhichitta (wie bei den Wurzelgelübden des Bodhisattvas), jede Übertretung der restlichen dreizehn lediglich zu einer Schwächung der tantrischen Gelübde, solange die vier bindenden Faktoren nicht alle vollständig vorhanden sind. Die Übertretung beseitigt die Gelübde nicht von unserem geistigen Kontinuum.
Es gibt zwei Variationen der tantrischen Hauptgelübde, eine die sich speziell auf das „ Kalachakra-Tantra“ bezieht, und eine Variation, die allen Systemen des Yoga- und Anuttarayoga-Tantra gemein ist, einschließlich des Kalachakra-Systems.
Hier werden wir der Erklärung der allgemeinen tantrischen Hauptgelübde folgen, wie sie der im frühen fünfzehnten Jahrhundert lebende Gründer der Gelug-Tradition Tsongkhapa (tib. Tsong-kha-pa Blo-bzang grags-pa) in dem Werk „Erklärung des geheimen Mantras ethischer Disziplin: Eine Traube von Früchten verwirklichter Errungenschaften“ (tib. „gSang-sngags-kyi tshul-khrims-kyi rnam-bshad dngos-grub-kyi snye-ma“) gegeben hat. Wir werden diesen Text ergänzen durch „Eine Lampe zum erhellen der Praktiken der engen Bindung“ (tib. „Dam-tshig gsal-ba’i sgron-me“) des im fünfzehnten Jahrhundert lebenden Gelug-Meisters Kedrub Norzang-Gyatso (tib. mKhas-grub Nor-bzang rgya-mtsho).
Die allgemeinen tantrischen Wurzelgelübde
(1) Unseren Vajrameister verachten oder verspotten
Das Objekt ist jeder Lehrer, von dem wir entweder Ermächtigung, anschließende Erlaubnis, oder Mantrasammlung in eine der Tantraklassen erhalten haben, eine volle oder teilweise Erklärung eines ihrer Texte oder mündliche Anweisungen für eine ihrer Praktiken. Verachten und Verhöhnen solcher Meister bedeutet, ihnen Verachtung zu zeigen, ihnen Fehler nachzusagen oder sie lächerlich zu machen, sich respektlos oder unhöflich ihnen gegenüber zu verhalten oder zu denken oder zu sagen, dass ihre Belehrung oder ihr Rat nutzlos waren. Nachdem wir sie zuvor mit Hochachtung, Verehrung und Respekt angesehen haben, ist diese Übertretung der Wurzelgelübde vollständig, wenn wir diese Einstellung aufgeben, sie als unsere Lehrer zurückweisen und sie mit überheblicher Verachtung behandeln. Derartige verächtliche Handlungen unterscheiden sich ziemlich vom Befolgen des Ratschlags im „Kalachakra-Tantra“, demzufolge wir einen respektvollen Abstand halten sollten und nicht länger bei einem tantrischen Lehrer studieren oder mit ihm zusammen sein sollten, wenn wir zu dem Schluss gekommen sind, dass er für uns nicht geeignet oder nicht ausreichend qualifiziert ist, bzw. der sich in unangebrachter Weise verhält. Einen Lehrer zu verachten oder herabzusetzen, der uns ausschließlich Dinge gelehrt hat, die nicht nur im Tantra vorkommen, wie zum Beispiel Mitgefühl oder Leerheit, oder der uns lediglich die sichere Ausrichtung (Zuflucht) übertragen hat oder die Pratimoksha- oder Bodhisattva-Gelübde, erzeugt, technisch gesprochen, nicht diese erste Übertretung. Eine derartige Handlung behindert dennoch ernsthaft unseren spirituellen Fortschritt.
(2) Die Worte eines Erleuchteten übertreten
Die Objekte dieser Handlung sind genauer die Inhalte einer Belehrung eines erleuchteten Wesens, welche die Pratimoksha-, Bodhisattva- oder tantrischen Gelübde betreffen, unabhängig davon, ob diese Person der Buddha selbst ist oder ein späterer großer Meister. Diese Übertretung zu begehen bedeutet nicht einfach nur, ein bestimmtes Gelübde aus einer dieser Gruppen, nachdem wir es abgelegt haben zu übertreten, sondern dies unter Anwesenheit zweier zusätzlicher Faktoren zu tun: Diese sind, voll anzuerkennen, dass das Gelübde von jemandem herstammt, der alle geistigen Hindernisse beseitigt hat, und die Sache herunterzuspielen, indem man denkt oder sagt, dass das Gelübde zu verletzen keine negativen Konsequenzen hat. Wenn wir andere Anordnungen herunterspielen und übertreten, von denen wir wissen, dass sie von einem Erleuchteten übermittelt wurden, die aber in keiner der drei Gruppen der von uns abgelegten Gelübde enthalten sind, oder wenn wir Ratschläge, von denen wir nicht erkannt haben, dass sie von einem Erleuchteten stammen, herunterspielen oder übertreten, führt das nicht zu einer Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde. Dennoch erzeugt es Hindernisse auf unserem spirituellen Pfad.
(3) Aus Ärger heraus an unseren Vajrabrüdern und Vajraschwestern Fehler suchen
Unter Vajrabrüdern und -schwestern versteht man diejenigen, die tantrische Gelübde halten und vom selben tantrischen Meister eine Ermächtigung in das System einer Buddha-Form irgendeiner der Tantraklassen erhalten haben. Die Ermächtigungen müssen nicht zum selben Zeitpunkt erhalten worden sein und müssen auch nicht das gleiche System oder die gleiche Klasse des Tantra betreffen. Diese Übertretung tritt auf, wenn wir im vollen Bewusstsein, dass eine bestimmte Person unser Vajrabruder oder unsere Vajraschwester ist, diese wegen Fehlern, Mängeln, Fehlgriffen oder Übertretungen verspotten oder verbal beleidigen und sie verstehen, was wir sagen. Dabei ist es unerheblich, ob sie diese besitzen bzw. begangen haben oder nicht. Die Motivation muss entweder in Feindseligkeit, Ärger oder Hass bestehen. Einer Person mit dem Wunsch, ihr zu helfen, ihre Schwächen in freundlicher Weise zu zeigen, ist kein Fehler.
(4) Die Liebe für die fühlenden Wesen aufgeben
Liebe ist der Wunsch, dass andere glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen mögen. Die Übertretung ist, irgendeinem Wesen, sei es auch der schlimmste Serienmörder, das Gegenteil zu wünschen – also jemandem zu wünschen, dass er des Glücks und seiner Ursachen beraubt sein möge. Die Ursachen des Glücks sind ein volles Verständnis der Realität und des karmischen Gesetzes von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung. Wir würden einem Mörder wenigstens wünschen, eine ausreichende Erkenntnis dieser Punkte zu erlangen, sodass er seine Gräueltaten in zukünftigen Leben nie mehr wiederholen und so schließlich Glück erleben möge. Obwohl es keine Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde darstellt, jemanden zu ignorieren, dem zu helfen in unserer Macht steht, ist es eine Übertretung, zu denken, wie wundervoll es doch wäre, wenn ein bestimmtes Wesen nie glücklich werden würde.
(5) Bodhichitta aufgeben
Dies ist das gleiche wie die achtzehnte Übertretung der Bodhisattva-Wurzelgelübde und kommt dem Aufgeben der anstrebenden Stufe des Bodhichitta gleich, wobei man denkt, dass man unfähig sei, die Buddhaschaft zum Wohle aller Wesen zu erlangen. Auch ohne die Anwesenheit der vier bindenden Faktoren nimmt uns ein solcher Gedanke sowohl die Bodhisattva- als auch die tantrischen Gelübde.
(6) Unsere eigenen Lehren oder die Lehren anderer verspotten
Dies ist das Gleiche wie die sechste Übertretung der Wurzelgelübde des Bodhisattvas, das Aufgeben des heiligen Dharma, und bezieht sich darauf, dass wir behaupten, dass eine der schriftlichen buddhistischen Lehren nicht Worte des Buddha sind. „Lehren anderer“ bezieht sich auf die Sutras des Shravaka-, Pratyekabuddha- oder Bodhisattva- (Mahayana-)Fahrzeugs, während „unsere eigenen“ die Tantras sind, die auch in die Mahayanagruppe gehören.
(7) Unreifen (Menschen) vertrauliche Lehren enthüllen
Vertrauliche (geheime) Lehren betreffen die eigentlichen, spezifischen Praktiken der Erzeugungsstufe (tib. bskyed-rim) und Vollständigkeitsstufe (tib. rdzogs-rim) für die Verwirklichung der Leerheit, die nicht mit weniger fortgeschrittenen Praxisebenen geteilt werden. Sie beinhalten Details bestimmter Sadhanas und von Techniken zur Realisierung eines äußerst glückseligen tiefen Gewahrseins der Leerheit mittels des Geistes des klaren Lichts. Diejenigen, die dafür unreif sind, sind Menschen, welche die angemessene Ermächtigungsstufe bislang nicht erhalten haben. Dabei ist es unerheblich, ob sie zu diesen Praktiken Vertrauen hätten, wenn sie sie kennen würden. Diese Übertretung des Wurzelgelübdes entsteht, wenn wir eine dieser vertraulichen Prozeduren, die nicht mit anderen geteilt werden sollen, jemandem, von dem wir ganz genau wissen, dass er oder sie noch nicht reif ist, ausreichend detailliert erklären, sodass er oder sie genug Informationen besitzt, um die Praxis auszuprobieren, und diese Person die Anweisungen verstanden hat. Die einzige Ausnahme besteht dann, wenn eine ausgesprochene Notwendigkeit für eindeutige Erklärungen besteht, zum Beispiel wenn dies hilft, Fehlinformationen und verzerrte, antagonistische Ansichten über Tantra zu beseitigen. Auch wenn allgemeine tantrische Theorie wissenschaftlich, aber unzureichend für Praxis, erklärt wird, ist dies keine Übertretung der Wurzelgelübde. Dennoch schwächt dies die Effektivität unserer tantrischen Praxis. Es liegt allerdings kein Fehler darin, vertrauliche Lehren interessierten Beobachtern während einer tantrischen Ermächtigung zu enthüllen.
(8) Unsere Aggregate verschmähen oder verachten
Jeder Moment unserer Erfahrung ist aus fünf Aggregaten (Skt. skandha) oder Aggregatfaktoren aufgebaut und zwar: a) Formen physischer Phänomene wie Sichtbares oder Klänge, b) Empfindungen von Glück und Leid, c) Unterscheidung einer Sache von einer anderen, d) weitere Geistesfaktoren wie Liebe oder Hass und e) Bewusstseinsarten wie ein visuelles oder ein geistiges Bewusstsein. Kurz, unsere Aggregate umfassen unseren Körper, unseren Geist und unsere Emotionen.
Normalerweise sind diese Aggregatsfaktoren mit Verwirrung (tib. zag-bcas) verbunden, was gewöhnlich übersetzt wird, indem man sie als „verunreinigt“ bezeichnet. Durch die Praxis des Anuttarayoga-Tantra beseitigen wir diese Verwirrung bezüglich der Realität und transformieren so vollständig unsere Aggregate. Anstatt dass jeder Erfahrungsmoment aus fünf mit Verwirrung verbundene Faktoren besteht, wird jeder Moment schließlich zu einem Gebilde aus fünf Arten tiefen Gewahrseins, die von der Verwirrung abgetrennt sind (tib. zag-med ye-shes) und die die zugrunde liegende Natur der fünf Aggregate darstellen. Diese sind: Das spiegelgleiche tiefe Gewahrsein, das gleichsetzende Gewahrsein, das individualisierende tiefe Gewahrsein, das vollbringende tiefe Gewahrsein, und das tiefe Gewahrsein der Realitätssphäre (Skt. dharmadhatu, Sphäre der Wirklichkeit). Jedes der fünf wird durch eine Buddha-Form (tib. yi-dam) repräsentiert, wie zum Beispiel Vairochana usw., die im Westen als die „fünf Dhyani-Buddhas“ bezeichnet werden.
Eine Anuttarayoga-Tantra-Ermächtigung pflanzt Samen, damit diese Transformation stattfinden kann. Während der Praxis der Erzeugungsstufe kultivieren wir diese Samen, indem wir uns unsere Aggregate bereits in ihrer gereinigten Form vorstellen (durch ihre Visualisation als die entsprechenden Buddha-Formen). Während der Praxis der Vollständigkeitsstufe bringen wir diese Samen zur Reife, indem wir mit unseren Aggregaten bestimmte yogische Techniken anwenden, um den Geist des klaren Lichts zu manifestieren, mit dem wir dann die fünf Arten tiefen Gewahrseins verwirklichen.
Die achte Übertretung besteht entweder darin, unsere Aggregate zu verachten, indem wir denken, dass sie ungeeignet sind, in dieser Weise transformiert zu werden, oder darin, sie vorsätzlich aus Abscheu oder Verachtung heraus zu schädigen. Tantra zu praktizieren erfordert nicht, dass wir die Sichtweise der Sutras verneinen oder zurückweisen müssen, nach der es einen fehlerhaften Gedanken (tib. tshul-min yid-byed; fehlerhafte Erwägung) darstellt, den Körper als rein und von seiner Natur her als Glück zu betrachten. Es ist ziemlich offensichtlich, dass unser Körper natürlicherweise dreckig wird und uns Leiden bringt, zum Beispiel Krankheit und körperlichen Schmerz. Dennoch erkennen wir im Tantra, dass der menschliche Körper auch noch eine tiefere Natur besitzt, die ihn befähigt, auf vielen verschiedenen Ebenen auf dem spirituellen Pfad genutzt werden zu können, um anderen umfassender zu helfen. Wenn wir uns dieser tieferen Ebene nicht bewusst sind oder nicht zugeben, dass es sie gibt, dann hassen wir unseren Körper, denken, dass unser Geist nichts wert ist und halten unsere Gefühle für etwas Böses. Wenn wir eine derartige Geisteshaltung niedrigen Selbstwertgefühls haben oder zusätzlich unseren Körper oder Geist durch masochistisches Verhalten, einen unnötig gefährlichen oder bestrafenden Lebensstil missbrauchen oder indem wir sie mit Drogen vergiften, die körperlich oder psychisch abhängig machen, dann haben wir diese Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde begangen.
(9) Die Leerheit ablehnen
Leerheit bezieht sich hier entweder auf die allgemeine Lehre wie sie in den „Sutras des weitreichenden unterscheidenden Gewahrseins“ (Skt. „Prajnaparamita Sutras“) beschrieben sind, dass alle Phänomene und nicht etwa nur Personen leer davon sind, in unmöglicher Weise zu existieren. Oder Leerheit bezieht sich auf die speziellen Mahayana-Lehren der Chittamatra- oder einer der Madhyamaka-Schulen bezüglich dessen, dass Phänomene leer von einer bestimmten unmöglichen Existenzart sind. Solche Lehren abzulehnen bedeutet, sie zu bezweifeln, ihnen nicht zu glauben und sie zu verschmähen. Ganz egal auf welches Mahayana-Lehrsystem wir uns während unserer tantrischen Praxis stützen, müssen wir doch auf jeden Fall volles Vertrauen in die Leerheitslehren besitzen. Wenn wir die Leerheit im Verlauf unserer Praxis ablehnen oder versuchen, eine dieser Praktiken außerhalb dieses Kontextes durchführen, könnten wir ansonsten zum Beispiel glauben, dass unsere Visualisationen eine feste Realität sind. Derartige Fehlvorstellungen führen lediglich die Leiden Samsaras fort und können sogar zu geistiger Unausgeglichenheit führen. Es mag entlang des Weges nötig sein, unser Lehrsystem von Chittamatra zu Madhyamaka zu steigern oder innerhalb der Madhyamaka-Schule von Svatantrika zu Prasangika und in diesem Verlauf die Leerheitslehren unseres alten Lehrsystems zu widerlegen. Darlegungen zu verwerfen, die weniger ausgefeilt sind, bedeutet allerdings nicht, dass wir dann ohne eine korrekte Sichtweise der Leerheit aller Phänomene dastehen, die für unsere Verständnisebene angebracht ist.
(10) Sich gegenüber übelwollenden Menschen liebevoll verhalten
Übelwollende Menschen verachten entweder unseren persönlichen Lehrer, spirituelle Meister im Allgemeinen oder die Buddhas, den Dharma oder den Sangha oder sie schaden oder verletzten zusätzlich einen der oben Genannten. Obwohl es unangemessen ist, den Wunsch aufzugeben, dass eine derartige Person glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen möge, ist es eine Übertretung der Wurzelgelübde, wenn wir uns ihnen gegenüber liebevoll verhalten oder liebevoll mit ihnen sprechen. Derartige Handlungen umfassen freundlich zu ihnen zu sein, sie zu unterstützen, indem wir Waren kaufen, die sie herstellen, Bücher, die sie schreiben, usw. Wenn wir rein von Liebe und Mitgefühl motiviert sind und die Mittel besitzen, ihr destruktives Verhalten zu beenden und sie in einen positiveren Zustand zu führen, würden wir das natürlich tun, auch wenn dies bedeuten mag, dass wir zu extrem kraftvollen Methoden greifen müssen. Wenn uns diese Eigenschaften allerdings fehlen, begehen wir keine Verfehlung, wenn wir solche Personen einfach boykottieren.
(11) Nicht kontinuierlich über Leerheit meditieren
Wie schon bei der neunten Übertretung der Wurzelgelübde erläutert, kann Leerheit entweder entsprechend dem Chittamatra- oder dem Madhyamaka-System aufgefasst werden. Sobald wir einmal ein Verständnis einer solchen Sichtweise erlangt haben, ist es eine Übertretung der Wurzelgelübde, wenn wir mehr als einen Tag und eine Nacht verstreichen lassen, ohne über Leerheit zu meditieren. Es ist der übliche Brauch, mindestens dreimal im Verlauf des Tages und dreimal während der Nacht über Leerheit zu meditieren. Mit derartiger Praxis müssen wir fortfahren, bis wir uns von allen Hindernissen befreit haben, welche die Allwissenheit (tib. shes-sgrib) verhindern – ein Punkt, von dem an wir immer die Leerheit direkt vergegenwärtigt halten werden. Wenn wir eine Grenze aufstellen und denken, dass wir schon genug über Leerheit meditiert haben, bevor wir das Ziel erreicht haben, werden wir es niemals erlangen.
(12) Die, die Vertrauen haben, abschrecken
Dies bezieht sich darauf, absichtlich andere Leute von einer bestimmten tantrischen Praxis abzubringen, zu welcher sie Vertrauen haben und für die sie ein geeignetes Gefäß, mit korrekter Ermächtigung usw., darstellen. Wenn wir verursachen, dass ihr Wunsch, sich auf diese Praxis einzulassen, aufhört, dann ist diese Übertretung vollständig. Wenn sie aber jetzt für eine derartige Praxis noch nicht bereit sind, dann besteht kein Fehler darin, in realistischer Weise zu skizzieren, was sie zuvor noch meistern müssen, auch wenn das entmutigend erscheinen mag. Andere in dieser Weise heranzuführen, sie und ihr Interesse ernst zu nehmen, anstatt sie als unfähig herabzusetzen, lässt ihr Selbstbewusstsein wachsen, sodass sie Fortschritte machen.
(13) Sich nicht korrekt auf die Substanzen stützen, die uns stark mit der tantrischen Praxis (dam-rdzas) verbinden
Die Praxis des Anuttarayoga-Tantras beinhaltet, an regelmäßigen Darbringungszeremonien teilzunehmen, sogenannten Tsog-Pujas. Innerhalb dieser Zeremonien kostet man Alkohol und Fleisch, die auf bestimmte Weise gesegnet wurden. Diese Substanzen symbolisieren die Aggregate, die Elemente des Körpers und im Kalachakra auch die Energiewinde – Faktoren also, die normalerweise verstörend sind, die aber ihrer Natur nach fähig sind, tiefes Gewahrsein zu verleihen, wenn sie von Verwirrung getrennt sind und auf dem Pfad genutzt werden. Die Übertretung besteht darin, diese Substanzen als widerlich anzusehen, sie aus dem Grund abzulehnen, dass man ein Abstinenzler oder ein Vegetarier ist, oder aber im Gegenteil sie in großen Mengen mit Begeisterung und Anhaftung zu sich zu nehmen.
Wenn wir trockene Alkoholiker sind und die Gefahr besteht, dass sogar das Kosten eines Tropfen Alkohol zu einem Rückfall in den Alkoholismus führen könnte, dann stellen wir uns, wenn wir Tsog mit anderen praktizieren, nur vor, dass wir den Alkohol kosten würden. Während wir das tun, vollführen wir nur die Gesten des Alkoholkostens, aber ohne ihn tatsächlich zu kosten. Wenn wir Tsog zu Hause darbringen, können wir Alkohol durch Tee oder Fruchtsaft ersetzen.
(14) Frauen verspotten
Das Ziel des Anuttarayoga-Tantra besteht darin, Zugang zum klaren Licht zu finden und es für das Erkennen der Leerheit nutzbar zu machen, um so schnell wie möglich die Verwirrung und daraus entstandene Instinkte und damit die Hauptfaktoren zu beseitigen, die uns von der Befreiung und der vollen Fähigkeit, anderen zu nutzen, abhalten. Ein glückseliger Gewahrseinszustand ist für das Erreichen des Geistes des klaren Lichts äußerst förderlich, da er uns in immer tiefere, intensivere und verfeinertere Ebenen des Bewusstseins und der Energie hineinzieht. Darüber hinaus wird ein glückseliges Gewahrsein, wenn es die Ebene des klaren Lichts erreicht und sich mit vollem Verstehen auf die Leerheit ausrichtet, zum machtvollsten Werkzeug um die Instinkte der Verwirrung zu bereinigen.
Während des Prozesses zur Erlangung der vertieften Konzentration erfahren wir zunehmend glückseliges Gewahrsein als Ergebnis davon, dass wir unseren Geist von Dumpfheit und Erregtheit befreit haben. Das gleiche passiert, während wir ein immer tieferes Verstehen und Erkennen der Leerheit erlangen, und dies ist ein Ergebnis davon, dass wir unseren Geist von verstörenden Emotionen und Einstellungen gereinigt haben. Indem wir diese beiden kombinieren erleben wir immer intensivere und verfeinertere Ebenen der Glückseligkeit im Zusammenhang damit, dass wir immer stärkere Konzentration auf immer tiefere Verständnisse der Leerheit erlangen.
Im Anuttarayoga-Tantra steigern Männer ihre Glückseligkeit des konzentrierten Gewahrseins der Leerheit sogar noch darüber hinaus, indem sie sich auf Frauen stützen. Diese Praxis beinhaltet, sich entweder auf eine tatsächliche Frau als ein Siegel des Verhaltens (tib. las-kyi phyag-rgya, Skt. karmamudra) zu stützen, die zur Vermeidung von Verwirrung als weibliche Buddha-Form visualisiert wird, oder, im Falle von verfeinerteren Fähigkeiten, allein auf lediglich visualisierte weibliche Buddha-Formen als ein Siegel des tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes phyag-rgya, Skt. jnanamudra). Frauen steigern ihre Glückseligkeit aufgrund von Männern auf ähnliche Weise, indem sie sich auf die Tatsache ihres Frauseins stützen. Daher ist es eine Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde, eine bestimmte Frau, Frauen ganz allgemein oder eine weibliche Buddha-Form herabzusetzen, sich über sie lustig oder sie lächerlich zu machen oder sie als minderwertig zu betrachten. Wenn wir unsere niedrige Meinung oder Verachtung mit der Absicht, alles Weibliche lächerlich zu machen, direkt gegenüber einer Frau äußern und sie versteht, was wir gesagt haben, dann ist diese Übertretung vollständig. Obwohl es unangemessen ist, sich über Männer lustig zu machen, stellt dies keine Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde dar.