Einleitung
Wir haben uns heute zu dieser Konferenz versammelt, um über den Beitrag der tibetischen Kultur zur globalen Verständigung zu sprechen. Die tibetische Kultur ist natürlich ein sehr umfassendes Thema mit vielen Facetten. Es umfasst die spirituellen Traditionen des Buddhismus und des Bön, Medizin, das Erstellen von Kalendern, Astrologie, Kunst, Architektur, Musik, Tanz, die tibetische Sprache und Literatur. Keine dieser Facetten entstand jedoch auf isolierte Weise. Jede entwickelte sich vielmehr im Dialog mit zahlreichen anderen Zivilisationen. Tibet war ein Knotenpunkt, in dem sich Ideen aus Zhang-Zhung, Indien, China, Griechenland, Persien, Khotan und den Gebieten der Turkvölker trafen. Die Tibeter haben keine dieser Traditionen blind übernommen – weder einzeln noch in Kombination miteinander. Sie setzten sich vielmehr mit allem ausländischen Material kritisch auseinander und entwickelten ihre eigenen, einzigartigen Systeme, indem sie die verschiedenen Vorstellungen verarbeiteten und mit ihren eigenen, einheimischen Gewohnheiten verbanden.
Die tibetische Kultur, die in Abhängigkeit von vielen anderen Zivilisationen entstand, blieb außerdem nicht statisch, isoliert von der Interaktion mit anderen in der Nähe lebenden Völkern. Vielmehr verbreiteten sich die tibetische Sprache und Kultur. Sie interagierten mit zahlreichen anderen Zivilisationen und trugen im Laufe der Jahre signifikant zur globalen Verständigung bei. Bevor wir dieses interkulturelle Phänomen in unserer gegenwärtigen Zeit untersuchen, wollen wir uns einen Überblick über seine Geschichte verschaffen.
Historischer Überblick
Im Laufe von Jahrhunderten verbreitete sich die tibetische Kultur entlang der Seidenstraße nach Norden in die Stadtstaaten des Tarim-Beckens und des Gansu-Korridors. Später gelangte sie in die Mongolei, nach Dzungarien in Ostturkestan, ins heutige östliche Kasachstan und nach Kirgisistan, ins nördliche China, in die Mandschurei und in die buryatischen und kalmükischen Regionen Russlands sowie nach Tuva. In südlicher Richtung verbreitete sie sich in alle Himalaya-Staaten und überdies vom heutigen Nordpakistan bis ins heutige nördliche Burma. Daher spielten die facettenreiche tibetische Kultur und Sprache in Zentralasien und der Himalaya-Region eine ähnlich vereinende Rolle wie die römische Kultur und das Latein im mittelalterlichen Europa.
Von der Mitte des 7. Jahrhunderts u.Z. bis zur Regierungszeit von König Langdarma in der Mitte des 9. Jahrhunderts zum Beispiel beherrschte das tibetische Reich in wechselndem Ausmaß die Stadtstaaten der Seidenstraße im Tarim-Becken und den Gansu-Korridor, die hieran anschließenden Grenzregionen Chinas und die Himalaya-Gebiete von Ladakh über Bhutan bis ins heutige Yünan und nach Nord-Burma. Obwohl dieses ausgedehnte Gebiet die Heimat zahlreicher verschiedener ethnischer Gruppen, Kulturen und Sprachen war und von Händlern durchquert wurde, die aus noch ferneren Ländern kamen, dienten die tibetische Sprache und Kultur als Medium, das internationale Verständigung ermöglichte.
Nach dem Auseinanderfallen des tibetischen Reiches infolge der Ermordung König Langdarmas, als verschiedene kleine Pufferstaaten entlang der Seidenstraße entstanden, spielten die Sprache und die buddhistische Kultur Tibets weiterhin mehrere Jahrhunderte lang eine vereinende Rolle in diesen Gebieten. Zum Beispiel wurde bis mindestens zu Anfang des 10. Jahrhunderts im Gansu-Korridor und an der Seidenstraße bis Khotan für kommerzielle und diplomatische Zwecke Tibetisch verwendet, da es die einzige gemeinsame Sprache der dort lebenden verschiedenen Völker war. Außerdem übersetzten Gelehrte in diesen Gebieten buddhistische Texte aus dem Tibetischen in verschiedene einheimische Sprachen, ab der Mitte des 10. Jahrhunderts insbesondere ins Uigurische und ab der Mitte des 11. Jahrhunderts ins Tangutische. Die Qocho-Uiguren lebten in Ostturkestan und die Tanguten im südlichen Gansu und im heutigen Ningxia, östlich von Amdo. Die Tanguten benutzten sogar die tibetische, auf einem Alphabet beruhende Schrift, um ihr eigenes extrem komplexes ideographisches Schreibsystem zu transkribieren und so denen, die Tangutisch sprachen, zu helfen, ihre eigene Sprache lesen zu lernen. Auch einige chinesisch-buddhistischen Texte wurden in tibetische Buchstaben transkribiert, damit sie leichter rezitiert werden konnten.
Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts begannen sich die tibetische Kultur und der Buddhismus in die mongolischen Regionen auszubreiten. In der Folgezeit wurden sie von den verschiedenen mongolischen Stämmen noch weiter verbreitet. Ab dem 16. Jahrhundert begannen beispielsweise die Dzungaren, ein Zweig der westlichen Mongolen, Klöster mit Zelten und später Steinklöster im östlichen Kasachstan und Kirgisistan zu gründen, die alle dem tibetischen Buddhismus folgten. Der kalmükische Zweig der westlichen Mongolen brachte die tibetische Kultur und den tibetischen Buddhismus in die Wolga-Region Russlands, als sie in der Mitte des 17. Jahrhunderts dorthin migrierten. Die zentralen Mongolen wiederum gaben ab Mitte des 18. Jahrhunderts ihr tibetisches Erbe an die buriatischen Mongolen in Südsibirien und einige Jahrzehnte später an das Turkvolk von Tuva weiter, das ebenfalls in Südsibirien liegt.
Schon im 14. Jahrhundert begannen Gelehrte mit der Übersetzung buddhistischer Texte aus dem Tibetischen ins Mongolische. Bis zum frühen 17. Jahrhundert hatten mongolische Gelehrte den gesamten Kangyur übersetzt und bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts den gesamten Tengyur. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde auch eine beträchtliche Anzahl buddhistischer Texte aus dem Tibetischen ins Oirat übersetzt, die klassische Sprache der westlichen Mongolen einschließlich der Dzungaren und der späteren Kalmüken. Trotz dieser kanonischen Übersetzungen ins Mongolische und ins Oirat schrieben zahlreiche mongolische Gelehrte ihre eigenen Texte und Kommentare weiterhin auf Tibetisch. In einer gewissen Periode wurden monastische Debatten auch auf Mongolisch veranstaltet, aber die Mongolen fanden bald, dass es praktischer war, sie weiterhin auf Tibetisch zu führen.
Ausgehend von Kublai Khan brachten die Mongolen in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Kultur und den Buddhismus Tibets nach Nordchina. Von dieser Zeit an und bis zum Sturz der mandschurischen Qing-Dynastie zu Anfang des 20. Jahrhunderts war die tibetische Form des Buddhismus die Religion am Hofe fast aller chinesischen Kaiser. Obwohl der mandschurische Kangyur eigentlich aus dem Chinesischen und nicht aus dem Tibetischen ins Mandschurische übersetzt worden war, verwendeten die Mandschus für ihren Kanon nicht nur den tibetischen Titel „Kangyur“, sondern auch den tibetischen Stil für das Format der Kolophone eines jeden Textes. Die mandschurischen Kaiser ließen in ihrer Sommerresidenz in Jehol, dem heutigen Chengde in der südlichen Mandschurei, sogar den Potala, Norbulingka, das Tashilhunpo-Kloster und den Haupttempel von Samye nachbauen. Sie versuchten damit, den Buddhismus und die Kultur Tibets als einende Kraft für die Tibeter, Mongolen, Mandschus und Han-Chinesen in ihrem Reich einzusetzen. Ferner druckten die Mandschus zahlreiche tibetisch-buddhistische Texte in mandschurischer Transkription, um sie leichter rezitieren zu können. Im späten 18. Jahrhundert erstellten sie ein Sanskrit-tibetisch-mandschurisch-mongolisch-chinesisches Wörterbuch buddhistischer Begriffe. Dies zeigt, dass mandschurische Buddhisten sich für ihre spirituelle Praxis zu einem erheblichen Teil auch auf tibetische Texte stützten.
Somit blieb Tibetisch die Sprache der Gelehrsamkeit und des Buddhismus in vielen Teilen des weiten Gebiets, in das sich die tibetische Kultur vor der Neuzeit verbreitet hatte. Dies war besonders in den verschiedenen Gebieten der Mongolei und des Himalaya der Fall. Kurz, diese Völker Zentralasiens und des Himalaya haben Tibet traditionell als spirituell und intellektuell führend angesehen. So dienten die tibetische Sprache und Kultur traditionell als Mittel dafür, in diesem weitläufigen Gebiet globale Verständigung zu verwirklichen.
Die neuzeitliche Ära: Allgemeine Entwicklungen
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich zahlreiche Aspekte der tibetischen Kultur noch weiter verbreitet, sodass wir heute, im 21. Jahrhundert, mit Sicherheit davon sprechen können, dass die tibetische Kultur wirklich eine globale Ausdehnung hat. Dies war eine beachtenswert schnelle Entwicklung, die zweifellos durch die Ankunft tibetischer Exilgemeinschaften in Indien und Tibet angespornt wurde. Zum Beispiel gab es, als ich 1967 begann, an der Harvard-Universität Tibetisch zu studieren, kaum Material zum tibetischen Buddhismus. Wir mussten uns hauptsächlich auf die Werke von Evans-Wentz, Alexandra David-Neel und Lama Govinda stützen. Das einzige verfügbare Buch zur tibetischen Grammatik war in der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem christlichen Missionar Jaeschke verfasst worden. Es analysierte die Sprache in den Begriffen der lateinischen Grammatik. Mein Lehrer, Professor Nagatomi, war Japaner und hatte keine Ahnung, wie man Tibetisch aussprach. Er lehrte uns in den Begriffen der japanischen Grammatik. Tibetische Studien wurden zu jener Zeit wie das Studium einer toten Zivilisation angegangen, ähnlich wie das alte Ägypten oder Mesopotamien - über die westliche Gelehrte Forschungen und Theorien anstellen, um zu mutmaßen, was ihre Lehren beinhaltet haben mögen.
Als ich 1969 im Rahmen des Fulbright-Programms zum ersten Mal nach Indien kam, musste ich die Tonstruktur der tibetischen Sprache selbst analysieren, um deren Aussprache zu lernen – wie ein linguistischer Anthropologe. Ich hatte keine Vorstellung von dem Ausmaß, geschweige denn den Inhalten des tibetischen Wissens- und Erfahrungsschatzes. Alles war unbekannt. Als ich mit Geshe Ngawang Dhargye die mündliche Tradition des Lam Rim, des Stufenweges zur Erleuchtung, Punkt für Punkt für meine Doktorarbeit durchging, wusste ich noch nicht einmal, welcher Punkt als nächstes folgen würde. Wenn ich Vorträgen und tantrischen Ermächtigungen von hohen tibetischen Lamas beiwohnte, gab es keine Übersetzung. Ich hatte fast keine Vorstellung von dem, was vorging. All das war ein großes Abenteuer und ein Aufbruch ins Unbekannte.
Heute, mehr als vierzig Jahre später, hat sich die Situation vollkommen verändert. Eine große Anzahl von Texten und mündlichen Lehren aus dem tibetischen Buddhismus, und, in geringerem Umfang, aus der Bön-Tradition, sind jetzt als Übersetzungen in mehreren westlichen und modernen asiatischen Sprachen verfügbar. Tibetische spirituelle Meister haben zahlreiche buddhistische und Bön-Zentren auf der ganzen Welt gegründet und eine ständig wachsende Anzahl von Schülern studiert und praktiziert dort. Obwohl es Übersetzungen gibt, rezitieren die Schüler in vielen dieser Zentren ihre Gebete und Praktiken auf Tibetisch, das sie in umgeschriebenen Versionen in der Lautschrift ihrer eigenen Sprache lesen. Wie vor der Neuzeit in Zentralasien und in den Himalaya-Regionen – und wie es vielerorts dort weiterhin der Fall ist – hilft dies, internationale Gemeinschaften von Praktizierenden des Buddhismus und des Bön zu bilden, die durch die Tatsache vereint werden, dass alle dieselben spirituellen Praktiken in derselben Sprache üben: auf Tibetisch.
Die Praktizierenden und Gelehrten, die ihre Studien weiter vertiefen wollen, haben mit Hilfe einer großen Bandbreite an Lehrbüchern und Audio-Material Tibetisch gelernt. Sobald sie die Sprache beherrschen, übersetzen viele von ihnen noch mehr Lehren aus dem Buddhismus und dem Bön in ihre eigene Sprache. Wie die verschiedenen mongolischen Gruppen, die Menschen aus Tuva oder die Himalaya-Völker studiert eine wachsende Anzahl von Menschen aus anderen Ländern der ganzen Welt in tibetischen Mönchs- und Nonnenklöstern die Lehren auf Tibetisch. Manche unternehmen dreijährige Meditations-Klausuren. Viele von ihnen sind selbst spirituelle Lehrer geworden und verbreiten die Lehren und die Kultur Tibets in noch weiteren Kreisen.
Auch andere Aspekte der tibetischen Kultur werden auf der ganzen Welt zunehmend bekannter. In früherer Zeit verbreiteten sich tibetische Medizin, Kunst, Klosterarchitektur, rituelle Musik, Tanz, Astrologie und das Erstellen von Kalendern in alle Gebiete, in die sich tibetischer Buddhismus und Bön ausgebreitet hatten. In einigen Fällen, wie in der Mongolei, in Buryatien und Tuva, entwickelten sich lokale Varianten davon. Das war zum Beispiel der Fall, wenn bestimmte medizinische Ingredienzen nicht verfügbar waren und man vor Ort einen Ersatz finden musste. In anderen Fällen bereicherten einheimische Ärzte die traditionelle tibetische Medizin mit ihrem eigenen traditionellen Wissen und Können, wie im Falle der mongolischen medizinischen Massage. Heute behandeln tibetische Ärzte in Indien und Nepal Patienten aus der ganzen Welt. Ebenso ergänzen manche von ihnen die traditionellen tibetischen Diagnosemethoden mit westlichen Geräten wie z.B. Blutdruckmessgeräten. Viele tibetische Ärzte, die in der Volksrepublik China ausgebildet wurden - genau wie mongolische und buryatische Ärzte, welche die tibetische Medizin ausüben – ergänzen ihre Behandlung mit traditionellen chinesischen Formen der Akupunktur, der Moxibustion und der Anwendung von Saugnäpfen. Tibetische Ärzte besuchen regelmäßig fremde Länder, und mehrere tibetische Kliniken wurden außerhalb von Tibet und dem indischen Subkontinent eröffnet. Ferner führen westliche Ärzte an Universitäten und Krankenhäusern Forschungen über die Effektivität verschiedener tibetischer Medikamente bei der Behandlung bestimmter Krankheiten durch.
Tibetische Kunst und Architektur sind heute ebenfalls auf der ganzen Welt wohlbekannt. Zahlreiche Museen besitzen Sammlungen von tibetischer Malerei und Skulpturen, und eine wachsende Anzahl ausländischer Dharma-Zentren und tibetischer Flüchtlings- und Immigranten-Gemeinschaften haben in ihrem jeweiligen Gebiet Tempel im tibetischen Stil gebaut. Tibetische Klöster in Indien haben Mönche ins Ausland entsendet, um dort Sandmandalas zu errichten, sowie Gruppen von Mönchen und Nonnen, um dort Konzerte mit Ritualmusik zu geben und traditionelle Tänze vorzuführen. Audio- und Video-Aufzeichnungen solcher Ereignisse sind leicht verfügbar. Tibetische Gruppen darstellender Künstler haben zahlreiche internationale Tourneen veranstaltet, und ein Netzwerk von Tibet-Häusern ist entstanden, das auf der ganzen Welt all die verschiedenen Aspekte der tibetischen Kultur bewahrt und fördert. Auf diese verschiedenen Weisen ist die tibetische Kultur heute auf einem Großteil der Erdkugel bekannt geworden.
Die tibetische Kultur bereichert die globale Gemeinschaft auch auf zahlreiche andere Arten. Um das Verständnis zu fördern und spirituelle Methoden auszutauschen, führen tibetische Meister Dialoge mit den leitenden spirituellen Persönlichkeiten der meisten Weltreligionen. Sie haben eine wichtige Rolle bei interreligiösen Andachten gespielt. Tibetische Meister haben auch ihren großen Schatz an Wissen und Erfahrung mit leitenden Wissenschaftlern, Psychologen und Vertretern aus Wirtschaft und Politik geteilt. Von besonderem Interesse ist dabei die Beziehung zwischen Bewusstseinszuständen, Meditation und Gesundheit sowie zwischen Ethik, Ökologie und nachhaltiger Entwicklung. Das prominenteste Beispiel einer solchen Teilnahme ist Seine Heiligkeit der Dalai Lama in seinen ständigen Bemühungen, menschliche Werte, säkulare Ethik und religiöse Harmonie zu fördern.
Die Bewahrung des mündlichen und schriftlichen Erbes Tibets in seinen traditionellen Formen
Ob die tibetische Kultur weitere Beiträge zur globalen Verständigung leisten kann, hängt von der Bewahrung ihrer verschiedenen Elemente in zweierlei Form ab. Die erste ist ihre Bewahrung in ihren traditionellen Formen, die zweite die Entwicklung einiger dieser Aspekte in ihrer Interaktion mit anderen Kulturen und ihre Anpassung daran. Letzteres mag Anklänge daran aufweisen, wie Tibet die buddhistische Kultur Indiens und Nepals bewahrte. Ich werde meine Bemerkungen hier auf Tibets mündliches und schriftliches Erbe beschränken.
Große Fortschritte wurden in der Bewahrung der tibetischen mündlichen und schriftlichen Tradition in ihrer ursprünglichen Sprache erzielt. Doch nur ein kleiner Teil des umfangreichen Schatzes von Wissen und Erfahrung der Tibeter ist bisher in moderne europäische und asiatische Sprachen übersetzt worden. Es ist wichtig, dass diese Arbeit vervollständigt und abgeschlossen wird. Das bisher übersetzte Material hat der Welt unschätzbare Einsichten in die Funktionsweisen des Geistes und des Universums verschafft. Dies wiederum hat Wissenschaftler dazu angeregt, Themen zu erforschen, die sie zuvor nie in Erwägung gezogen haben – etwa die Rolle des Mitgefühls, des Gewahrseins und der Konzentration bei der Verbesserung körperlicher und emotionaler Gesundheit. Die Möglichkeiten für weitere Beiträge zur Förderung des inneren Friedens und der sozialen Harmonie in den noch nicht übersetzten Anteilen sind enorm.
Trotz der Fortschritte in der verfügbaren Technologie wird die Vollendung dieser Aufgabe, realistisch gesehen, noch mehrere Jahrhunderte dauern. Deshalb muss das tibetische mündliche und schriftliche Erbe in seiner Originalsprache erhalten bleiben, damit zukünftige Generationen die Übersetzungsarbeit fertigstellen können. Auch wenn Teile dieses Erbes bereits in anderen Sprachen wiedergegeben wurden, können die Übersetzungen noch weiter überarbeitet und verfeinert werden. Ferner bietet Material in der Originalsprache einen fruchtbaren Boden für weiterführende Forschung.
Ein Großteil der buddhistischen Tradition, die auf Sanskrit niedergelegt war, ging während der Invasionen Indiens im 12. und 13. Jahrhundert verloren. Tibet konnte nur einen Teil dieses reichen Erbes bewahren. Im 20. Jahrhundert kam es zu vergleichbaren Verlusten in den tibetischen Traditionen aufgrund der kommunistischen Exzesse in der Sowjetunion, der Mongolei und der Volksrepublik China. Daher ist es unerlässlich, die verbleibenden Reste der tibetischen mündlichen und schriftlichen Tradition zu lokalisieren und zu bewahren – so schnell und so wirksam wie möglich, zum Nutzen und Gewinn für die heutige und die zukünftige Welt.
Es würde den Rahmen dieses Vortrages sprengen, alles aufzuzählen, was auf dem Gebiet der Bewahrung der tibetischen Traditionen geleistet wurde. Ich will daher nur einige der herausragenden Organisationen nennen, die sich dieser Arbeit widmen. Die Library of Tibetan Works & Archives leistete Pionierarbeit, was das Feld der mündlichen Tradition angeht; ihr Projekt mündlicher Geschichtsdokumentationen begann 1976. Es umfasst nicht nur Audio- und Video-Aufnahmen der Lehren der großen Meister und Darstellungen historischer Ereignisse aus erster Hand, sondern auch einzigartige Aufzeichnungen von Geschichten, Sprichwörtern und Darstellungen zahlreicher Aspekte des traditionellen tibetischen Lebens. Das Projekt hat auch viele dieser Interviews transkribiert: Bisher wurden dreiundzwanzig Bände veröffentlicht, von denen viele ins Englische übersetzt wurden.
Weitere Großprojekte für Aufnahmen mündlicher Unterweisungen der großen Lamas aller tibetischen Traditionen im Audio-, Video- und DVD-Format sind u.a. die Arbeiten der Orient Foundation und des Meridian Trust. Beide Organisationen arbeiten unter der Schirmherrschaft des Tibetischen Wissens-Konsortiums (Tibetan Knowledge Consortium). Zusätzlich gibt es die kürzlich gegründeten Hopkins Mulitmedia-Forschungsarchive Tibetischer Schätze (Tibetan Treasures Multimedia Research Archives). Ferner haben die meisten Dharma-Organisationen auf der ganzen Welt ausgedehnte Archive mit den Audio-, Video- und DVD-Aufnahmen der Vorlesungen, Seminare und Klausur-Unterweisungen und -dokumentationen ihrer jeweiligen Lamas, Geshes und Khenpos.
Mehrere Organisationen widmen sich der Bewahrung tibetischer Texte. Seit 1968 hat das Büro der United States Library of Congress in Neu-Delhi eine große Anzahl tibetischer Texte aller Traditionen gesammelt, auf Mikrofilme kopiert oder eingescannt und neu gedruckt. Im Rahmen ihres South Asia Cooperative Acquisitions Programs, gemeinhin als PL-480-Programm bekannt, wurden Kopien dieser Neudrucke an viele der großen Universitätsbibliotheken in den Vereinigten Staaten verteilt. Der frühere Direktor, Gene Smith, hat diese Arbeit mit dem Tibetan Buddhist Research Center weitergeführt. Das TBRC verfügt heute über die größte Sammlung eingescannter tibetischer Texte auf der Welt und stellt sie zur Verfügung, so dass sie auf dessen Website eingesehen oder heruntergeladen werden können.
Ab 1970 übertrug das Nepal-German Manuscript Preservation Project die gesamten Sanskrit und Tibetisch-Sammlungen der Nationalen Archive in Katmandu auf Mikrofilm und katalogisiert sie derzeit. Auf ähnliche Weise katalogisieren Mitgliedsorganisationen des Tibetan Knowledge Consortium die umfangreichen Sammlungen tibetischer Manuskripte in Bibliotheken in St. Petersburg, Ulan Bator und an anderen Orten. Das Tibetan Buddhist Canonical Collections Catalog Project stellt vergleichende Daten zu allen existierenden Versionen des Kangyur und des Tengyur zusammen. Ferner betreut das Internationale Dunhuang Project des Britischen Museums den Erhalt, die Konservierung, das Einscannen und das Katalogisieren der Texte und Gegenstände aus dem 8. bis 10. Jahrhundert, die in den Grotten von Dunhuang im nordwestlichen China gefunden wurden, und macht sie in digitalisierter Form zugänglich.
Um die Benutzung von Suchmaschinen für das Studium von Texten zu ermöglichen, hat das Asian Classics Input Project tibetische Texte in der Wylie-Transkription digitalisiert. Das Nitartha International Document Input Center unternimmt zur Zeit ein paralleles Projekt in tibetischer Schrift; es verwendet dafür die von ihm entwickelte digitale Schriftart Sambhota. Die Tibetan and Himalayan Library an der University of Virginia hat einen tibetischen Unicode-Standard entwickelt, um die Digitalisierung und Bearbeitungen sowie die Benutzung von Suchmaschinen weiter zu erleichtern.
Die Tibetan and Himalayan Library hat auch weitere Ressourcen produziert, welche die Erforschung dieser tibetischen Materialien erleichtern, einschließlich eines tibetischen Übersetzungstools, das online verwendbar ist. In Vorbereitung sind eine tibetische literarische Enzyklopädie, eine tibetische medizinische Enzyklopädie, ein tibetisches historisches Wörterbuch und ein Ortswörterbuch von Tibet und den Himalaya-Gebieten. Des Weiteren hat das Rangjung Yeshe Institute ein Dharma-Wörterbuch in einem Wikipedia-Format zur Online-Benutzung erstellt und die Rigpa Shedra stellt online eine Dharma-Enzyklopädie zur Verfügung: das Rigpa Shedra Wiki. Durch die kombinierten Bemühungen all dieser und zahlreicher anderer Organisationen und Projekte wird das mündliche und schriftliche Erbe Tibets in tibetischer Sprache bewahrt, sodass es als eine Grundlage zur Förderung globaler Verständigung dienen kann.
Die Bewahrung des tibetischen mündlichen und schriftlichen Erbes in Übersetzungen
Die Anzahl von Organisationen und Personen, die tibetische Texte und mündliche Belehrungen in moderne europäische und asiatische Sprachen übersetzen, ist viel zu groß um hier aufgezählt zu werden. Herausragend unter denjenigen, die Werke aus der Texttradition ins Englische übersetzen, sind die Library of Tibetan Works & Archives, die Padmakara Translation Group, das Nitartha Institute, das Rangjung Yeshe Institute, das Nalanda Translation Committee, die Dharmachakra Translation Group, das Marpa Institute for Translation und das Institute of Tibetan Classics.
Die verschiedenen buddhistischen und Bön-Organisationen tibetischer Lamas, Geshes und Khenpos haben die Vorträge ihrer Lehrer übersetzt und publiziert, sowohl in gedruckter Form als auch, in einigen Fällen, als Online-Versionen. Dasselbe gilt für Vorträge, die diese Lehrer auf Englisch oder in anderen europäischen Sprachen gehalten haben. Sie wurden oft von ihren westlichen Schülern herausgegeben. Fast zehntausend Titel wurden gedruckt. Mit einer solchen Fülle von Büchern über tibetischen Buddhismus und Bön wachsen das globale Bewusstsein und das Verständnis der tibetischen spirituellen Traditionen stetig an.
Eine beachtenswerte Entwicklung in der Bewahrung des übersetzten tibetischen mündlichen und schriftlichen Erbes ist seit kurzem festzustellen. Im September 2008 lud die Organisation Light of Berotsana zu einer Übersetzer-Konferenz nach Boulder in Colorado, USA, ein. Mehr als hundert erfahrene und neue Tibetisch-Übersetzer trafen sich, um darüber zu diskutieren, wie sie in einem Netzwerk zusammenarbeiten könnten, um die Verbreitung der Lehren der tibetischen Traditionen zu fördern. Für die Gemeinschaft der Übersetzer war es eine Gelegenheit, einander kennenzulernen und sich über die jeweiligen Projekte und Arbeiten zu informieren.
Auf dieses erste Treffen folgte im März 2009 die Übersetzerkonferenz der Khyentse-Stiftung mit dem Titel „Das Übersetzen der Worte Buddhas“, die im Deer Park Institute in Bir, Indien, veranstaltet wurde. Diesmal trafen sich fünfzig erfahrene Tibetisch-Übersetzer mit hohen Lamas der vier tibetisch-buddhistischen Traditionen und riefen The Buddhist Literary Heritage Project ins Leben, dessen Interims-Direktor Dzongsar Khyentse Rinpoche ist. Die Teilnehmer formulierten eine Vision für die nächsten hundert Jahre, nämlich „das buddhistische schriftliche Erbe zu übersetzen und universell verfügbar zu machen“. Der Ausdruck „universell verfügbar“ bedeutet, diese Texte in die wichtigsten modernen Sprachen Europas und Asiens zu übersetzen. Das Ziel der kommenden 25 Jahre ist, „den gesamten Kangyur und die damit verbundenen Bände des Tengyur sowie tibetische Kommentare zu übersetzen und verfügbar zu machen“. Das 5-Jahres-Ziel lautet, „repräsentative Auszüge aus dem Kangyur, dem Tengyur und den tibetischen Kommentaren zu übersetzen sowie die notwendigen Infrastrukturen und Ressourcen zur Verwirklichung der langfristigen Vision bereitzustellen“.
Auf die Konferenz folgte eine Audienz mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama. Seine Heiligkeit bot freundlich seine Unterstützung des Projekts an. Er erwähnte, dass viele Texte im Pali-Kanon und im chinesischen buddhistischen Kanon nicht auf Tibetisch verfügbar sind und umgekehrt. Er schlug vor, den gesamten Korpus dieses Materials nicht nur in moderne Sprachen, sondern auch ins Tibetische, Pali und Chinesische zu übersetzen, so dass die kanonischen Werke dieser Sprachen einander vervollständigen. Zahlreiche Völker im Himalaya sind Anhänger des tibetischen Buddhismus und sprechen tibetische Dialekte, fuhr der Dalai Lama fort, aber viele ihrer Mitglieder können das klassische Tibetisch der Texte nicht lesen. Es ist nicht möglich, die Texte in diese lokalen gesprochenen Sprachen zu übersetzen, da die buddhistischen Fachbegriffe auf Tibetisch seit vielen Jahrhunderten standardisiert sind. Wenn diese Materialien hingegen auf Englisch verfügbar wären, so wäre das eine große Hilfe, um den tibetischen Buddhismus unter diesen Völkern zu bewahren.
Kurz, wenn der vollständige Korpus der buddhistischen kanonischen Literatur in den wichtigsten Weltsprachen zugänglich ist, werden seine Hinzufügung zur Weltbank des Wissens und sein Beitrag zur globalen Verständigung gesichert sein.
Abschließende Bemerkungen
Wie wir gesehen haben, hat das mündliche und schriftliche Erbe Tibets historisch gesehen eine wichtige Rolle gespielt, um die globale Verständigung in ganz Zentralasien zu fördern. Heute befassen sich zahlreiche Menschen und Organisationen damit, dieses Erbe zu bewahren, und sie haben große Fortschritte erzielt. Bewahrung bedeutet allerdings nicht nur, dieses Erbe in seiner ursprünglichen Form verfügbar zu machen wie eine Museumsausstellung oder eine Büchersammlung, oder es einfach im Internet allgemein zugänglich zu machen. Die tibetischen Traditionen haben sich über Jahrhunderte hinweg weiterentwickelt. Dieser Entwicklungs- und Wachstumsprozess muss fortgesetzt werden. Das ist nicht nur von wesentlicher Bedeutung dafür, dass dieses reichhaltige Erbe als eine lebendige Tradition überlebt, sondern auch, damit es weiterhin dazu in der Lage ist, zu einer wirklich globalen Verständigung beizutragen.
Das tibetische Erbe hat viel zu bieten in einer Welt, die zunehmend durch Globalisierung und Informationsaustausch charakterisiert ist. Jede Kultur hat ihre einzigartigen, anthropologisch interessanten Merkmale, die die so genannte „biologische Vielfalt der Menschen“ dieses Planeten bereichern. Das tibetische Erbe geht jedoch erheblich darüber hinaus. Seine Traditionen des Buddhismus und des Bön vermitteln Einsichten und Methoden, welche den Wissensschatz der Welt bereichern. Durch zunehmende Interaktion mit dem Erbe anderer Zivilisationen stimulieren sie einen Wissenszuwachs in Bereichen, die Naturwissenschaft, Medizin und Psychologie umfassen. Unter der Leitung Seiner Heiligkeit des Dalai Lamas und durch seine Inspiration und ständigen Bemühungen hat das tibetische Erbe bereits bedeutende Beiträge zur globalen Verständigung geleistet. Durch all unsere gemeinsamen Anstrengungen können wir Aussichten auf weitere Beiträge zuversichtlich entgegensehen.