In einem seiner vorangehenden Leben war Tsongkhapa (tib. rJe Tsong-kha-pa Blo-bzang grags-pa) (1357-1419) ein kleiner Junge, dem der Buddha eine Muschelschale gab. Er schenkte ihm außerdem eine Maske des Dharmabeschützers Chögyal (tib. Chos-rgyal) und einen schädelgekrönten Knüppel. Buddhas Schüler Maudgalyayana vergrub all diese Dinge für eine zukünftige Zeiten in Tibet. Viele Jahrhunderte später wurden sie alle von Tsongkhapa auf einem Hügel hinter dem Kloster Ganden aus der Erde geborgen.
Während des Sera Chöding-Retreats (tib. Se-ra Chos-sdings) von 1414 gab Tsongkhapa seine Belehrung „Vier Kombinierte Kommentare zum Guhyasamaja-Tantra“ (tib. gSang-‘dus ‘brel-ba bzhi-sbrags). Nach Abschluss des Retreats fragte er, welcher seiner Schüler sich um die Pflege seiner tantrischen Lehren kümmern würde. Als sich Gyü Sherab-Sengge (tib. rGyud Shes-rab seng-ge) (1383-1445) hierzu bereit erklärte, übergab ihm Tsongkhapa eine Kopie des Textes, den er gerade gelehrt hatte, die von ihm ausgegrabene Maske von Chögyal und den Schädelknüppel. Ferner vertraute er ihm seine Schädelschale für innere Opfergaben, eine Statue Guhyasamajas (tib. gSang-ba ‘dus-pa) und sieben besondere Tangka-Rollbilder (tib. thang-ka) an.
Sherab-Sengge folgte Tsongkhapas Wunsch, dass er die Tantra-Lehren verbreiten sollte und begab sich im Jahr 1426 in die zentraltibetische Provinz Tsang (tib. gTsang). Im dortigen Yagshilung (tib. g.Yag-shi lung) vermittelte er seine Lehren dem Dulnagpa Palden-Zangpo (tib. ‘Dul-nag-pa dPal-ldan bzang-po). Nach volkstümlicher Überlieferung gründete Dulnagpa hier im Jahre 1432 das Kloster Segyü (tib. Srad-rgyud Grva-tshang), das Tantra-College des Say-Distrikts. Dieses Kloster ist auch als Tsang Togyü (tib. gTsang sTod-rgyud) bekannt, was „das Tantra-College von Tsang im Obereren (Zentraltibet)“ bedeutet. Nach Auskunft der Forschung dagegen wurde Segyü von Gyü Sherab-Sengge persönlich gegründet und dann dem Dulngapa Palden-Zangpo anvertraut.
1433 kehrte Gyü Sherab-Sengge zurück ins Untere Zentraltibet (U, tib. dBus), wo er im südlichen Teil Lhasas in Nordzin-Gyaltsen (tib. Nor-‘dzin rgyal-mtshan) das Kloster Gyüme (tib. rGyud-smad Grva-tshang) oder Megyü (tib. sMad-rgyud Grva-tshang) gründete – das Tantra-College des Unteren Zentraltibets. Zur Zeit von Kelsang-Gyatso, dem Siebten Dalai Lama (tib. rGyal-ba bdun-pa sKal-bzang rgya-mtsho, rGyal-dbang sKal-bzang) (1708-1757) zog Gyüme nach Changlochen (tib. lCang-lo-can) in den nördlichen Teil von Lhasa um. Im siebten Jahrhundert hatte König Songtsen-Gampo (tib. Srong-btsan sgam-po) prophezeit, dass sich an diesem Ort zukünftig ein großes tantrisches Kloster erheben würde.
Im Jahr 1474 verließ ein Schüler des Gyü Sherab-Sengge, Gyüchen Kunga-Dondrub (tib. rGyud-chen Kun-dga’ don-grub) (1419-1486) das Gyüme-Kloster, als er nicht als Nachfolger des Abtes gewählt wurde. Darauf gründete er das Kloster Ütö Jampel-Ling (Jampel-Ling Kloster des Oberen Ü, tib. dBus-stod ‘Jam-dpal gling Grva-tshang), das besser bekannt ist als Gyütö (tib. rGyud-stod Grva-tshang), das Tantra-College des Oberen (Ü). Wenn man vom „ Oberen Tantra-College“ spricht, ist normalerweise dieses Kloster gemeint, und nicht Segyü. Einige Jahre nach seiner Gründung zog Gyütö in den Ramoche-Tempel (Ra-mo-che) in Lhasa um, wo die Buddha-Statue steht, die durch die nepalesische Königin von König Songtsen Gampo nach Tibet gebracht wurde.
Die Mönche von Gyüme und Segyü trafen sich jedes Jahr in Yangpachen (tib. Yangs-pa-can), drei Tagesmärsche nördlich von Lhasa, um dort ins Sommer-Retreat zu gehen. Im Unterschied zu anderen Gelug-Klöstern machen die Tantra-Colleges das spätere Sommer-Retreat (tib. dbyar-gnas phyi-ma), das vom 16. Tag des siebten tibetischen Monats bis zum 30. Tag des achten Monats geht. Eines Jahres hinderte der Zivilkrieg zwischen Tsang und U, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wütete, die Mönche von Gyüme und Segyü daran, sich in Yangpachen zu treffen. Von diesem Zeitpunkt an machten die beiden tantrischen Klöster ihre Sommer-Retreats separat: Gyüme in Chumiglung (tib. Chu-mig lung) und Segyü an verschiedenen Orten in Tsang. Gyütö machte sein Sommer-Retreat in Dragyerpa (tib. Brag-g.yer-pa).
Das wichtigste Studienthema in Gyüme und Gyütö sind die tantrischen Systeme der Akshobhya-Form von Guhyasamaja (tib. gSang-‘dus Mi-skyod-pa), die Luipa-Tradition von Chakrasamvara (tib. bDe-mchog Lu’i-pa) und der Dreizehn-Paare-Vajrabhairava in (tib. ‘Jigs-byed lha-bcu-gsum). Tsongkhapa lehrte besondere Methoden, um die Praxis dieser drei Systeme zu kombinieren. Die Lehrbücher, die man in Gyüme und Segyü benutzt, wurden von Gyü Sherab-Sengge verfasst, während man sich in Gyütö an die Lehrbücher von Gyüchen Kunga-Dondrub hält. Die Mönche studieren auch tantrische Rituale, Kunst und Musik und machen intensive Meditations-Retreats. Die Hauptbeschützerin von Gyüme war ursprünglich Palden Lhamo (tib. dPal-ldan Lha-mo), doch als Gyüme nicht dazu in der Lage war, die Praxis ihrer Rituale aufrechtzuerhalten, übernahm das Kloster Ganden Jangtse (tib. dGa’-ldan Byang rtse Grva-tshang) diese Verantwortung. Ab dann wurde Dorje Legpa (Dorleg) (tib. rDo-rje legs-pa) der Hauptbeschützer von Gyüme. Der Hauptbeschützer von Gyütö ist der Sechsarmige Mahakala (tib. dGon-po Phyag-drug).
In verschiedenen Abschnitten seines Lebens hatte Tsongkhapa zwei verschiedene Singstile, die auf Visionen basierten, in denen Beschützer sich so singend an in gewandt hatten. Die zwei Stile werden als „Stimme, die wie die Berge kracht“ (tib. ri-bo ral-ba’i skad) und als „Stimme, die wie ein Ozean rollt“ (tib. chu-gter 'khrog-pa’i skad) bezeichnet. In beiden Stilen wird die Stimme auf einem extrem niedrigen Grundton gehalten. Im ersten Stil bleibt sie dann gleichmäßig und monoton, während sie im zweiten auf und ab geht und Obertöne produziert. Die drei wichtisten Gelug-Klöster (tib. gdan-sa gsum) um Lhasa – Sera (tib. Se-ra dGon-pa), Drepung (tib. ‘Bras-spung dGon-pa) und Ganden (tib. dGa’-ldan dGon-pa) – benutzen alle die „Stimme, die wie ein Ozean rollt“. Gyüme und Gyütö benutzten beide bis zur Zeit von Panchen Sonam-Dragpa (tib. Pan-chen bSod-nams grags-pa) (1478-1554), dem fünfzehnten Ganden Tripa (tib. dGa’-ldan Khri-pa, Thronhalter von Ganden), die „Stimme, die wie die Berge kracht“. Gyüme pflegt weiterhin diesen Stil, während Gyütö durch den Einfluss von Panchen Sonam-Dragpa die „Stimme, die wie ein Ozean rollt“ eingeführt hat.
Es gibt verschiedene Wege, auf denen man in die Tantra-Colleges von Gyüme und Gyütö eintreten kann. Mönche, die in Ganden, Drepung oder in Sera einen der beiden höheren Geshe-Abschlüsse gemacht haben – d.h. den Lharampa (tib. dGe-bshes Lha-ram-pa) oder den Tsogrampa (tib. dGe-bshes Tshogs-ram-pa) – können dann als Geshe Karampa (tib. dGe-bshes bKa’-ram-pa) entweder in Gyüme oder Gyütö eintreten. Die Geburtsstätte des Mönches, nicht sein Ursprungskloster, gibt den Ausschlag, ob er nach Gyüme oder Gyütö geht. Mongolen und Ladakhis beispielsweise gehen nach Gyüme.
Die Geshe Karampas studieren mit den Mitteln der Logik und der Debatte intensiv die Tantra-Kommentare. Nachdem sie die förmliche Tantra-Debatte (tib. sngags dam-bca’) über die Kommentare gemacht haben, erhalten sie den Titel Geshe Ngagrampa (tib. dGe-bshes sNgags-ram-pa). Danach können sie entweder im Tantra-College bleiben oder in ihr Heimatkloster zurückkehren. Wenn sie zum Beispiel nach Ganden zurückgehen, dann müssen sie ihre Kenntnisse in einer weiteren förmlichen Tantra-Debatte unter Beweis stellen. Eine der Reformen des dreizehnten Dalai Lamas, Tubten-Gyatso (tib. rGyal-ba Thub-bstan rgya-mtsho) (1876-1933), war es, das Studium an einem der beiden Tantra-Colleges für alle zur Pflicht zu machen, die einen der beiden höheren Sutra-Geshe Titel erhalten haben.
Ein Mönch kann auch nach Gyüme oder Gyütö gehen, ohne ein Sutra-Geshe zu sein, aber dann übt er keine Tantra-Debatte. Solche Mönche können entweder ab dem Alter von siebzehn Jahren direkt in die Tantra-Colleges eintreten, oder sie kommen von einem der anderen großen Gelug-Klöster. Die Prüfungen, die sie durchlaufen, beziehen sich auf das Auswendiglernen der Texte der Tantra-Rituale. Sie erhalten den Kyerimpa-Abschluss (tib. bsKyed-rim-pa). Nachdem sie diesen Abschluss gemacht haben können sie, wenn sie wollen, in eines der großen Klöster gehen und dort studieren, um einen Sutra-Geshe Titel zu erlangen. Im Tantra-College von Segyü gibt es nur die Ausbildung zum Kyerimpa-Abschluss. Es gibt dort keine Geshe Karampas und keine Tantra-Debatte.
Nur Geshe Ngagrampas können zu Gekos (tib. dGe-skos, Aufseher der Disziplin) der Tantra-Colleges werden. In Gyüme gibt es hiervon jährlich drei. Der Lama Umdze (tib. Bla-ma dbu-mdzad, Vize-Abt) wird aus der Gruppe der vormaligen Gekos gewählt. Er hat eine Amtszeit von drei Jahren und wird dann für weitere drei Jahre zum Kenpo (tib. mKhan-po, Abt). Der dienstälteste Abt im Ruhestand (tib. mKhan-zur) von Gyüme wird zum Jangtse Chöje (tib. Byang-rtse Chos-rje, Dharma-Meister von Jangtse), während sein Gegenüber von Gyütö zum Sharpa Chöje (tib. Shar-pa Chos-rje, Dharma-Meister von Shartse) wird. Der Jangtse Chöje und der Sharpa Chöje werden abwechselnd zum Ganden Tripa (tib. dGa’-ldan Khri-pa, Thronhalter von Ganden), dem Haupt der Gelug-Tradition. Eine weitere Reform des dreizehnten Dalai Lamas ist, dass ein Mönch nur dann zum Abt eines der drei großen Gelug-Klöster, zum Abt eines der Colleges in diesen Klöstern, oder zum Tsenshap (tib. mTshan-zhabs, Tsenshap) – d.h. Meisterdebattierpartner eines Dalai Lamas – werden kann, wenn er einen Geshe Ngagrampa-Abschluss hat.
Die Mönche von Gyüme und Gyütö machen eine jährliche Tournee von Dharma-Vorlesungen (tib. chos-thog) in verschiedene andere Klöster. Der Abt muss jedes Jahr seiner Amtszeit daran teilnehmen um Vorlesungen zu halten, während der Lama Umdze dies nur im ersten Jahr seiner Amtszeit tut. Die Mönche, die den Kyerimpa-Abschluss anstreben, müssen sechs Jahre lang auf Dharma-Tournee gehen, während von den Geshe Karampas nur verlangt wird, dass sie in einem Jahr daran teilnehmen.
Das Kloster Namgyal (Namgyel) (tib. rNam-rgyal Grva-tshang) der Dalai Lamas folgt der Linie und dem Stil von Gyüme. Die Tantra-Colleges in den Klöstern von Sera und Drepung – d.h. Sera Ngagpa (tib. Se-ra sNgags-pa Grva-tshang) und Drepung Ngagpa (tib. ‘Bras-spungs sNgags-pa Grva-tshang) – haben ebenfalls eine enge historische Beziehung zu Gyüme. Gegenwärtig ist das Untere Tantra-Kloster von Gyüme in Hunsur, im indischen Staat Karnataka, wiedererrichtet worden; das Obere Tantra-Kloster von Gyütö befindet sich in Bumdilla, im Staat Arunachal Pradesh; das Tantra-Kloster von Segyü liegt im westbengalischen Darjeeling. In letzter Zeit hat Gyütö Tantric Kloster nach Sidhbari, in der Nähe von Dharamsala, Himachal Pradesh, sich verlagert.