Die fünf Eigenschaften der Buddha-Familien

Was die sich entwickelnden Faktoren der Buddha-Natur betrifft, so werden sie für gewöhnlich als die zwei Ansammlungen präsentiert, die ich gern als die „zwei Netzwerke“ bezeichne, das Netzwerk positiver Kraft (Ansammlung von Verdienst) und das Netzwerk tiefen Gewahrseins (Ansammlung von Weisheit). 

Ein anderes Schema bezieht sich auf die fünf Aspekte:

  1. Körper 
  2. Rede 
  3. Geist 
  4. Qualitäten
  5. Aktivitäten 

Wir alle haben einen Körper, wir alle haben die Fähigkeit zu kommunizieren und wir alle haben einen Geist. In manchen Wiedergeburtszuständen mag der Körper subtiler sein, aber dennoch haben wir einen. Wir alle haben bestimmte Qualitäten und verfügen alle über eine Art der Aktivität, etwas, das wir tun können.

Hören wir den Begriff „Buddha-Familien“, so ist das Wort tatsächlich eines der Sanskrit-Wörter für Kaste (kula, tib. rigs), und bezieht sich auf eine Familieneigenschaft, eine Charakteristik, einen Faktor der Buddha-Natur, der uns befähigt, ein Buddha zu werden. Die ganze Diskussion dieser Buddha-Familien hat im Grunde mit der Buddha-Natur zu tun. Denkt nicht, es gehe dabei um etwas völlig anderes. Es geht um die gleichen Themen, über die wir gesprochen haben, die Faktoren, die uns befähigen werden, Buddhaschaft zu erlangen, nur aus der Sicht einer anderen Darstellung.

Obgleich wir Körper, Rede, Geist, Qualitäten und Aktivitäten als diese fünf Eigenschaften der Buddha-Familien betrachten könnten, ist es üblicher, jede von ihnen in die fünf Eigenschaften der Buddha-Familien zu unterteilen, als fünf Unterteilungen des Körpers, fünf Unterteilungen der Rede, des Geistes und so weiter.

Die Fünf Arten tiefen Gewahrseins  

Im Sutra liegt der Schwerpunkt auf diesen fünf Unterteilungen des Geistes. Das ist das System der fünf Arten des tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes lnga), was oft einfach als die fünf Arten der Buddha-Weisheit bezeichnet wird, was jedoch etwas irreführend ist, da es sich dabei um Faktoren der Buddha-Natur handelt, die jeder hat.

  1. Wir haben spiegelgleiches tiefes Gewahrsein (tib. me-long lta-bu’i ye-shes), das darin besteht, Informationen aufzunehmen. 
  2. Gleichzeitiges tiefes Gewahrsein (tib. mnyam-nyid ye-shes) bezieht sich darauf, verschiedene Teile der Information gemeinsam zu betrachten, Muster zu erkennen und verschiedene Individuen beispielsweise den Frauen zuzuordnen. Mit dieser Art des Gewahrseins ordnen wir sie einfach einander zu. 
  3. Individualisierendes tiefes Gewahrsein (tib. sor-rtog ye-shes) bedeutet, die Individualität von etwas zu kennen. 
  4. Mit dem vollbringenden tiefen Gewahrsein (tib. bya-grub ye-shes) tun wir etwas damit, wie die Nahrung zu essen. 
  5. Das tiefe Gewahrsein der Realitätssphäre (tib. chos-dbyings ye-shes) besteht im Wesentlichen darin zu wissen, was etwas ist, wie es existiert und dessen konventionelle und tiefste Wahrheit zu kennen. 

Sie wirken zusammen. 

  1. Wir nehmen die Information auf – die visuelle Form einer Frucht; 
  2. wir ordnen Dinge bezüglich gemeinsamer Merkmale einander zu – diese visuelle Form passt zur visuellen Form anderer Früchte, die wir gesehen haben; 
  3. wir wissen, was es ist – ein Apfel; 
  4. wir legen dieses bestimmte Objekt fest – diesen bestimmten Apfel; 
  5. wir wissen, was wir damit tun können – wir essen ihn. 

So funktioniert der Geist aller, auch jener der Kakerlake. Sie mag die Worte nicht kennen, um zu wissen, was etwas ist, doch sie weiß, wie man Nahrung zu sich nimmt. Sie kann ein Stück Nahrung identifizieren, sie kann erkennen, dass bestimmte Dinge Nahrung sind, und das heißt, dass wir selbst, unser Geist in einer Wiedergeburt als Kakerlake, nach wie vor mit diesen fünf Aspekten funktioniert. Sie sind Aspekte der Buddha-Natur.

Fünf Arten des tiefen Gewahrseins eines Buddhas  

Auf einer samsarischen Ebene sind sie in ihrem Wirkungsbereich ziemlich begrenzt. Können wir als ein Buddha all die Beschränkungen, all die Schleier, loswerden, funktionieren sie als das tiefe Gewahrsein eines Buddhas. Sprechen wir vom Dharmakaya des tiefen Gewahrseins, bezieht sich tiefes Gewahrsein nicht nur auf das tiefe Gewahrsein der zwei Wahrheiten, sondern auch auf diese fünf Arten des tiefen Gewahrseins:

  1. Als ein Buddha nehmen wir mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein die Informationen von allem korrekt auf (wir sind also allwissend). 
  2. Gleichsetzendes tiefes Gewahrsein: Das Mitgefühl und die Liebe eines Buddhas geht gleichermaßen zu absolut allen und das Verständnis der Leerheit eines Buddhas, die Leerheit von allem, ist gleich. 
  3. Individualisierendes tiefes Gewahrsein: Ein Buddha ist sich eines jenden fühlenden Wesens als Individuum persönlich gewahr. 
  4. Vollbringendes tiefes Gewahrsein: Ein Buddha weiß, wie er mit allen umgehen muss, also wie er ihnen helfen kann, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. 
  5. Tiefes Gewahrsein der Realitätssphäre: Ein Buddha weiß, was zu tun ist und kennt natürlich die zwei Wahrheiten. 

Fünf störende Emotionen  

Sind diese fünf Arten des tiefen Gewahrseins mit Verwirrung, dem Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz, Unwissenheit etc. vermischt, haben wir auf einer samsarischen Ebene die fünf störenden Emotionen:

  1. Anstatt Informationen aufzunehmen, sind wir gewissermaßen bedeckt, haben einfach kein Wissen und sind mit Naivität (tib. gti-mug, Skt. moha) konfrontiert. 
  2. Ist das gleichsetzende tiefe Gewahrsein bedeckt, sehen wir nicht die Ebenbürtigkeit von uns und anderen und sind stolz (tib. nga-rgyal, Skt. mana): „Ich bin viel besser.“ Wir erkennen nicht, dass wir und alle ebenbürtig sind. 
  3. Legen wir uns mit dem individualisierenden tiefen Gewahrsein auf eine bestimmte Person oder Sache fest und sind mit dieser Verwirrung bedeckt, empfinden wir starkes sehnsüchtiges Verlangen (tib. ’dod-chags, Skt. raga) – „ich muss es haben“ – oder Anhaftung, wenn wir es bereits haben. 
  4. Ist das vollbringende tiefe Gewahrsein bedeckt und mit Verwirrung vermischt und sehen wir, wie ein anderer tatsächlich etwas tut, sind wir eifersüchtig (tib. phrag-dog, Skt. irshya) darauf, anstatt uns zu freuen. 
  5. Mit dem tiefen Gewahrsein der Realitätssphäre unterscheiden wir zwischen dem was etwas ist und dem, was es nicht ist. Wir wissen, was es ist: es ist dies und nicht das. Ist es vermischt mit Verwirrung, wird dieser Aspekt, was etwas nicht ist, zu einer starken Ablehnung der Sache (tib. khong-khro, Skt. krodha), Wut, Abneigung. 

In der Sutra-Praxis würden wir versuchen, die Verwirrung von diesen störenden Emotionen zu lösen, um das tiefe Gewahrsein darunter zugänglich zu machen. Genau genommen ist das die Mahamudra-Methode. Sowohl im Gelug als auch im Kagyü wird sie entweder auf einer Sutra- oder auf einer Tantra-Ebene ausgeführt, je nachdem welche Ebene des Geistes wir nutzen. Nur in der Sakya-Tradition wird die Mahamudra-Methode ausschließlich auf einer Tantra-Ebene unterrichtet. Im Gelug und Kagyü wird sie auf beiden Ebenen unterrichtet.

Die fünf Aggregate  

Wir können sie auch im Zusammenhang mit den Aggregaten betrachten:

  1. Spiegelgleiches tiefes Gewahrsein und Naivität sind verbunden mit dem Aggregat der Form (tib. gzugs-kyi phung-po, Skt. rupa-skandha). Bei der Information geht es um Formen physischer Phänomene – Form, Farbe, Klang etc. – das Aggregat der Formen. 
  2. Gleichsetzendes tiefes Gewahrsein, welches sich bedecken und zu Stolz werden kann, ist mit dem Aggregat der Empfindungen (tib. tshor-ba’i phung-po, Skt. vedana-skandha) – dem Gefühl des Glücklichseins und des Unglücklichseins – verbunden. Warum dieser Zusammenhang hergestellt wird, weiß ich nicht genau, aber ich denke, dass es mit der Tatsache zu tun hat, dass wir auf einer Buddha-Ebene ebenbürtige Liebe, ebenbürtiges Mitgefühl, Glücklichsein und so weiter gegenüber allen haben können. 
  3. Individualisierendes tiefes Gewahrsein: Wir legen etwas fest, was sich zu einem Begehren entwickeln kann, mit dem wir das Gefühl haben, es sei etwas Besonderes. Das ist mit dem Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins (tib. ’du-shes-kyi phung-po, Skt. samjna-skandha) verbunden, mit dem wir etwas von dem Hintergrund und von anderen Dingen unterscheiden. 
  4. Vollbringendes tiefes Gewahrsein, dessen verzerrte Form die Eifersucht annimmt, ist mit dem Aggregat der andern beeinflussenden Variablen (tib. ’du-byed-kyi phung-po, Skt. samskara-skandha) verbunden. Der markanteste ist der Geistesfaktor eines Dranges, der ein karmischer Impuls ist, welcher den Geist antreibt, etwas mit Körper oder Rede zu tun.  
  5. Das tiefe Gewahrsein der Realitätssphäre, dessen verzerrte Form zu Wut werden kann – wie gesagt, hat es damit zu tun, was etwas ist und was nicht – ist mit dem Bewusstseinsaggregat (tib. rnam-shes-kyi phung-po, Skt. vijnana-skandha) verbunden. Das Primärbewusstsein ist sich der essentiellen Natur von etwas gewahr – Ist es ein Anblick? Ist es ein Geräusch? Ist es ein Geruch? Ist es ein Geschmack? – also damit, was es ist, was die allgemeine essentielle Natur von etwas ist. Das ist es, was wir uns mit dem Primärbewusstsein gewahr sind. 

Die fünf Aggregate für einen Buddha  

Auf einer samsarischen Ebene haben wir unsere fünf befleckten Aggregate und im gleichen Schema der fünf Buddha-Familien haben wir auf einer Buddha-Ebene – wenn wir sie reinigen und frei von all der Verwirrung werden – die fünf unbefleckten Aggregate. Ein Buddha verfügt auch über ein System der fünf Aggregate:

  1. all die Formen, in denen ein Buddha erscheinen kann; 
  2. das Empfinden unbefleckter Glückseligkeit; 
  3. das Auseinanderhalten und Erkennen von absolut allem mit Allwissenheit; 
  4. andere beeinflussende Faktoren – grenzenloses Mitgefühl; grenzenlose Liebe; grenzenlose Aktivitäten zum Wohle aller; 
  5. und das allwissende Gewahrsein eines Buddhas. 

Das gilt gleichermaßen sowohl auf einer Sutra- als auch auf einer Tantra-Ebene.

Buddha-Familien im Tantra  

Im Tantra gibt es ebenfalls in kleinerem oder größerem Ausmaß diese fünf Buddha-Familien, je nachdem um welche Tantra-Klasse es sich handelt. Im Grunde geht man in den verschiedenen Tantra-Klassen von einer unterschiedlichen Anzahl von Buddha-Familien aus. Im Kriya– und Charya-Tantra gibt es drei Buddha-Familien, im Yoga-Tantra vier und im Anuttarayoga für gewöhnlich fünf, obgleich es in manchen Systemen, wie dem Kalachakra, sechs gibt.

Lasst uns hier das Schema der fünf so genannten Buddha-Familien, diese fünf Eigenschaften der Buddha-Familien, nutzen, wie wir sie im Anuttarayoga-Tantra haben. Wie gesagt, könnte man Körper, Rede, Geist, Aktivität und Qualitäten in jede dieser fünf Eigenschaften aufteilen. Nun, bis jetzt haben wir nur davon gesprochen, den Geist oder ein allgemeines Schema der Aggregate in diese fünf zu unterteilen. Wir können auch eine Unterteilung des Körpers in diese fünf vornehmen, die dann die Form der fünf so genanntenn „Dhyani-Buddhas“ annimmt. „Dhyani Buddhas“ ist ein Begriff, der vor etwa 100 Jahren von einem Westler erfunden wurde; es handelt sich dabei nicht um einen tibetischen oder Sanskrit-Begriff. Jeder der fünf Dhyani-Buddhas ist der Kopf einer Buddha-Familie, also dessen Hauptfigur, wobei jede Familie auch eine weibliche Figur, also einen männlichen und einen weiblichen Bodhisattva, hat. Diese Kaste oder Familie besteht dann aus diesen verschiedenen Mitgliedern. 

Außerdem umfasst jede dieser fünf Buddha-Familien viele verschiedene Aspekte oder Dimensionen – eine Dimension des Körpers, eine Dimension der Rede, eine Dimension der Aggregate und so weiter – und jede kann eine samsarische Ebene und eine Ebene der Erleuchtung sowie jede dieser verschiedenen Dimensionen hervorbringen. Natürlich sind alle mit Elementen, Sinnen und dergleichen verbunden; es gibt also ausgesprochen viele Zusammenhänge, die hergestellt werden können.

In vielen der Anuttarayoga-Tantra-Praktiken stellen wir uns innerhalb unseres Körpers viele verschiedene Gottheiten vor, wie im Guhyasamaja-System. Es gibt auch verschiedene Figuren außerhalb des Körpers im Mandala-Palast, was sich nicht nur auf Guhyasamaja, sondern auch auf viele andere Tantra-Systeme bezieht. 

Im Guhyasamaja wird gesagt, dass jede Figur im Körper-Mandala und im äußeren Mandala die gereinigte Form des einen oder anderen Aggregates ist: 

  1. das Aggregat der Formen erscheint in der Form von Vairochana; 
  2. das Aggregat der Empfindungen in der Form von Ratnasambhava; 
  3. das Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins als Amitabha; 
  4. das Aggregat der anderen beeinflussenden Variablen als Amoghasiddhi; und 
  5. das Bewusstseinsaggregat als Akshobhya. 

Das ist das Guhyasamaja-System. Natürlich werden in anderen Tantra-Systemen andere Buddhas mit den verschiedenen Aggregaten assoziiert. Das System ist nicht immer genau dasselbe. Wir alle wissen, dass es innerhalb des Buddhismus zahlreiche Varianten gibt. Das ist nur ein Beispiel. Wir sollten diese Arten der Lehren verstehen und sie in diesem Rahmen der Buddha-Familien und der Buddha-Natur praktizieren.

Zusammenfassung  

Zusammenfassend kann man sagen, dass wir unsere Faktoren der Buddha-Natur durch Sutra oder Tantra entwickeln können, um Erleuchtung zu erlangen, und wir haben gesehen, dass diese Faktoren der Buddha-Natur auch mit unserer Erfahrung von Samsara zu tun haben. Alle Voraussetzungen sind in jedem von uns vorhanden. Es ist nur eine Frage, was wir abhängig von der Absicht, der Motivation und dem Widmen damit tun.

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