Notwendigkeit der Ebenen von Lehrern auf dem Sutra-Pfad

In seinem Text „Der kostbare Schmuck der Befreiung“ zitiert Gampopa drei Analogien aus den Sutras, um die Notwendigkeit eines spirituellen Mentors herauszustellen. So wie ein Reisender in einem unbekannten Land einen Navigator braucht, bei gefährlichen Reisen einen schützenden Begleiter, und einen Ruderer, um einen mächtigen Strom zu überqueren, so braucht der spirituell Suchende auf dem Pfad zur Erleuchtung einen Mentor. Als Navigator gibt der Mentor korrekte Anweisungen, damit sein Schüler den Weg findet. Als Begleiter steht der Mentor seinem Schüler während der gesamten Reise zur Seite, damit er nicht in die Irre geht. Und als Ruderer versorgt der Mentor den Schüler schließlich mit der Energie, die er benötigt, um sein Ziel zu erreichen. Obwohl wir uns hier ausdrücklich mit dem Aufbau einer Beziehung zu einem Mahayana-Meister, insbesondere zu einem tantrischen Meister als Wurzelguru befassen, können die drei Analogien uns doch helfen, zu verstehen, dass alle Stufen von spirituellen Lehrern notwendig sind. Dieses Verständnis ist ganz besonders wichtig für die modernen Suchenden mit ihrer „do-it-yourself“ Mentalität.

Warum wir einen Buddhismus-Professor brauchen

Wenn man durch fremde Länder reist, kann die Unkenntnis örtlicher Gegebenheiten und Bräuche eine bestimmte Arte des Reisens unvorteilhaft machen. Reisehandbücher können hier hilfreich sein. Wesentlich hilfreicher sind aber die Einheimischen der Region. Mit ihrer lebenslangen Erfahrung können sie Irrtümer des Reisenden verhindern oder korrigieren. Auf dem buddhistischen Pfad verhält es sich ähnlich: Leicht kann der Reisende sich im unbekannten Territorium der traditionellen spirituellen Disziplinen Asiens verirren. Dann braucht er einen erfahrenen Buddhismus-Professor, der die unreifen Denkweisen des Suchenden aus der Erfahrung lebenslangen Studiums erkennen kann. Als Navigatoren und Begleiter halten diese Lehrer die Schüler während ihres Studiums auf dem Weg, indem sie korrigierend eingreifen, wann immer zum Beispiel die Schüler unlogisch denken, oder die spezifischen Annahmen ihrer eigenen Kultur für universelle Wahrheiten halten.

Sowohl Bücher als auch Vorlesungen können entweder trocken oder aber interessant sein. Da jedoch die lebendige Energie eines Menschen die statische Energie einer bedruckten Papierseite bei weitem übertrifft, kann die Leidenschaft eines Professors, die dieser für ein bestimmtes Fach hegt, viel eher dazu in der Lage sein, das Interesse der Studenten für ihre Studien zu entfachen. Und wenn unser Fortschritt im Buddhismus an Schwungkraft gewinnen soll, brauchen wir ebenfalls anfängliche Energiestöße. Aus diesem Grund müssen wir uns auf enthusiastische, lebendige Professoren stützen, die uns – wie Ruderer – Energie für unsere spirituelle Reise geben.

Warum wir einen Dharma-Ausbilder brauchen

Wenn spirituell Suchende versuchen, die Dharma-Methoden auf sich selbst anzuwenden, ohne ihren Fortschritt an lebendigen Vorbildern messen zu können, verfallen sie leicht der Selbsttäuschung und gehen in die Irre. Mit verdrehten Fantasien über die Dharma-Praxis und ihre Ergebnisse, können sie höchste bizarre Vorstellungen entwickeln. Neben dem Studium mit einem Buddhismus-Professor müssen wir uns also auch noch auf einen Dharma-Ausbilder stützen, um die verdrehten Fantasien aufzulösen und unsere spirituelle Praxis in der Realität zu verwurzeln.

Außerdem brauchen wir zur Arbeit an uns selbst das Vertrauen, dass Veränderung möglich ist. Wenn Dharma-Ausbilder ihre eigenen Erfahrungen aus der persönlichen Anwendung der Dharma-Methoden mit uns teilen, und wir die heilsamen Erfolge dieser Praxis mit eigenen Augen sehen können, gewinnen wir Vertrauen und Inspiration. Aus diesem Grunde brauchen wir Dharma-Ausbilder, die uns auf dem Pfad in Bewegung halten.

Warum wir einen Meditations- oder Ritualtrainer brauchen

Der Versuch, Meditation oder Rituale aus Handbüchern oder von Menschen zu erlernen, denen es an Erfahrung fehlt, führt beinahe zwangsläufig ins Desaster. Selbst wenn wir lediglich Gymnastik-Übungen lernen wollen, brauchen wir bereits erfahrene Trainer, die uns die richtigen Übungen zeigen können. Und sie müssen auch weiterhin regelmäßig mit uns arbeiten, um unsere Fehler zu korrigieren und unsere Leistung zu verbessern. Gleichermaßen brauchen wir systematische „Trainingssitzungen“ mit Meditations- oder Ritualtrainern, um die Trägheit zu überwinden, die uns hindert, auf uns selbst gestellt zu üben oder eine Übung vollständig durchzuführen.

Warum wir einen spirituellen Mentor brauchen

Gampopa erklärte, dass der wesentliche Grund dafür, warum es für den Schüler notwendig ist, eine Beziehung zu einem spirituellen Mentor aufzubauen, darin besteht, dass der Suchende seine Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins (Ansammlungen von Verdienst und Weisheit) erweitert und stärkt. Das Erweitern und Stärken dieser Netzwerke führt dazu, dass der Schüler in diesem Leben mehr emotionales Wohlbefinden erlebt und in zukünftigen Leben günstigere Wiedergeburten erleben wird, bis es ihm irgendwann gelingt, die Hindernisse für Befreiung und Erleuchtung ganz und gar zu beseitigen. Die Befreiung von den sich ständig wiederholenden Problemen unkontrollierbarer Wiedergeburten tritt dann ein, wenn der Übende die störenden Emotionen und Geisteshaltungen (Skt. klesha, befleckte Emotionen) ganz und gar überwunden hat – besonders jegliche Naivität in Bezug auf die Wirklichkeit. Die Erleuchtung kommt schließlich dadurch zustande, dass zusätzlich alle unbewussten Projektionen unmöglicher Fantasien beseitigt werden.

Wollen wir emotionales Wohlergehen in diesem Leben, günstige Wiedergeburten in zukünftigen Leben, und schließlich die Befreiung und Erleuchtung erlangen, muss eine radikale Verwandlung unserer gesamten Persönlichkeit und der Art und Weise, wie wir die Welt sehen, stattfinden. Die für eine solche Optimierung notwendigen Einsichten und Erkenntnisse kommen nicht leicht zustande. Wir müssen uns, sowohl intellektuell als auch emotional für neue Denkansätze, Handlungsweisen und Kommunikationsmöglichkeiten öffnen. Wir brauchen auch eine ganze Menge Inspiration und Unterstützung, um den Mut zur eigenen Veränderung aufbringen zu können. Für die tiefstmögliche Inspiration, so sagt der Nyingma-Meister Longchenpa in seinem Text: „Ein Schatzhaus kostbarer richtungweisender Anleitungen“, braucht man auf jeden Fall eine angemessene Beziehung zu einem spirituellen Mentor. Lassen Sie uns untersuchen, ob Longchenpas Aussage rein kulturspezifisch zu verstehen ist, oder ob sie auch für die skeptischen Suchenden der heutigen Zeit relevant sein könnte.

Als spirituell Suchende des Westens lesen viele von uns Dharmabücher. Wir besuchen Kurse in buddhistischen Zentren und beteiligen uns an geleiteten Gruppenmeditationen. Diese Aktivitäten öffnen unseren Geist und inspirieren uns vielleicht sogar. Doch Selbstentwicklung ist immer schwierig und langsam. Deshalb finden die meisten von uns, dass wir keine deutlichen Fortschritte machen. Das liegt daran, dass diese Aktivitäten uns nur bis zu einem gewissen Grad öffnen und inspirieren können. Wir entwickeln zwar möglicherweise ein intellektuelles Verständnis und eine vorläufige Anerkennung des Prinzips der Wiedergeburt; vielleicht entwickeln wir eine spirituelle Orientierung der sicheren Ausrichtung im Leben und Bodhichitta; vielleicht wissen wir auch, was wir üben müssen und was wir vermeiden müssen, um unsere spirituellen Ziele zu erreichen – aber es braucht noch mehr. Wir brauchen etwas, das unsere Herzen in einer positiven Weise berührt und uns so den Mut und die Kraft verleiht, unsere begrenzten Sichtweisen und negativen Gewohnheiten abzulegen.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die westlichen spirituell Suchenden der heutigen Zeit in Nichts von den traditionell-asiatischen Suchenden. Aus diesem Grund müssen wir auch heutzutage inspirierende Beziehungen zu spirituellen Mentoren aufbauen. Allerdings müssen wir auch besonnen und verantwortlich vorgehen, um qualifizierte Mentoren zu finden, die unseren Bedürfnissen entsprechen und um sicherzustellen, dass die Beziehungen, die wir zu diesen Mentoren aufbauen, gesund sind.

Auf welche Weise kann die Inspiration durch einen Mentor uns auf unserem spirituellen Pfad helfen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir verstehen, was im Buddhismus mit Inspiration gemeint ist. Der Sanskritbegriff für Inspiration, adhishtana, häufig mit Segen übersetzt, bedeutet ein Erhobenwerden. Das tibetische Äquivalent, chinlab (tib. byin-rlabs), enthält die Metapher von Wellen, die Herrlichkeit und Pracht mit sich bringen. Der Begriff beinhaltet auch, dass dieses Erhobenwerden zu emotionalem Wohlbefinden, zu günstigen Wiedergeburten und zu den großartigen Zuständen von Befreiung und Erleuchtung führt.

Nach dem Wörterbuch „Großes Sanskrit-Tibetisch etymologisches Wörterbuch“, erhebt eine Quelle der Inspiration die Menschen durch ihre Wahrheit, ihre Gelassenheit, ihre Weisheit und die positiven Dinge, die diese Quelle der Inspiration mit sich bringt. Deshalb brauchen wir, mehr noch als die Dharma-Ausbilder, wirkliche spirituelle Mentoren, um Inspiration im vollständigen Sinn des Wortes erfahren zu können. Vollkommen qualifizierte Mentoren inspirieren ihre Schüler durch die Authentizität ihrer Verwirklichungen, ihre Gelassenheit, durch ihre beruhigende Wirkung, ihre Weisheit und durch die positiven Qualitäten, an denen wir uns erfreuen; sie inspirieren uns auch durch die wunderbaren Gelegenheiten, die sie uns eröffnen. Inspiration im spirituellen Sinn hat also nichts damit zu tun, ganz aufgeregt zu sein und völlig aus dem Häuschen zu geraten, oder durch den Ruhm, die Macht, den Reichtum oder den Sexappeal eines Menschen zum Handeln bewegt zu werden.

In seinem Text: „Stufenweise Visualisationen als Antrieb für Überzeugung und Wertschätzung für einen Guru“, gibt der Drugpa-Kagyü-Meister Pema Karpo ein deutliches Beispiel für die inspirierende Wirkung eines spirituellen Mentors. Wenn störende Emotionen und Gedanken unseren Geist aufwühlen, visualisieren wir einfach unseren Mentor in unserem Herzen, wie er uns warmherzig anlächelt. Sofort entspannen wir uns, unser Geist kommt zur Ruhe, und wir können vielleicht sogar selbst anfangen zu lächeln.

Unter der Anleitung eines spirituellen Mentors, mit dem wir eine tiefe Beziehung aufgebaut haben, zu studieren und zu meditieren, hat eine fühlbar stärkere Wirkung, als würden wir dies allein machen, oder wenn wir bei einem Lehrer studieren und meditieren würden, für den wir nur wenig oder gar nichts empfinden. Die Inspiration, die wir empfinden, macht die Praxis wirkungsvoller. Sie aktiviert unser Potenzial und stimuliert unser tiefes Gewahrsein, so dass wir allmählich an Einsicht und Verwirklichung gewinnen. Schrittweise verschwinden unsere mentalen und emotionalen Blockaden, und wir werden frei von unseren Problemen und unserem Unvermögen, anderen zu helfen. Aus diesem Grund beinhalten alle Ritualpraktiken des Guru-Yoga aller tibetischen Traditionen die Bitte an den visualisierten Mentor, uns zu inspirieren, damit wir jeden Schritt auf dem Pfad zur Erleuchtung verwirklichen. Die Ritualpraktiken beinhalten auch, dass wir uns bildlich vorstellen, wie die erbetene Inspiration in gegenständlicher Form als strahlendes Licht in unser Herz einfließt.

Ein entsprechender Erleuchtungsprozess findet allerdings nur im Falle einer gesunden Beziehung zwischen emotional reifen Schülern und angemessen qualifizierten Mentoren statt. In einer ausbeuterischen Beziehung, in der naive Schüler sich in einer Abhängigkeit von Demagogen oder Scharlatanen befinden, ist ein Erleuchtungsprozess schlicht unmöglich. Der Mechanismus für seinen Erfolg steht und fällt mit der Frage des Vertrauens. Korrekt qualifizierte Mentoren sind frei von emotionalen Problemen, nur mit dem Wohle der anderen befasst und darüber hinaus auch noch vollauf befähigt, Schüler richtig anzuleiten. Aus diesem Grund entwickeln wir allmählich Vertrauen zu solchen Menschen. Unser Vertrauen basiert darauf, dass wir nach und nach eine Langzeitbeziehung zu ihnen aufgebaut haben, was uns völlig von ihrer Integrität überzeugt hat.

Im Prozess der Vertrauensbildung zu unseren Mentoren entwickeln wir auch das Vertrauen in uns selbst, dass wir die Verbindung mit unseren Mentoren auch von unserer Seite her verbessern können. Die aus dieser Einsicht gewonnene Sicherheit erlaubt es uns, für ihren positiven Einfluss empfänglich zu werden und uns für Veränderungen zu öffnen. Die Schutzrad-Praxis der ladrub-Tradition (tib. bla-sgrubs; Skt. guru-sadhana; Verwirklichung durch den Guru) der Drugpa-Kagyüs illustriert diesen Punkt ganz klar. Vor der Meditation über Leerheit und der tantrischen Transformation ihres Selbstbildes, stellen sich die Praktizierenden vor, dass ihr tantrischer Meister in der Form von Avalokiteshvara, der Verkörperung des Mitgefühls, strahlend lächelnd vor ihnen sitzt. Die Sicherheit dieser warmen und vertrauensvollen Beziehung zum Mentor liefert den geschützten emotionalen Raum, in dem man damit beginnen kann, seine neurotischen, zwanghaften Gewohnheitsmuster abzuwerfen.

Es besteht deshalb die grundlegende Notwendigkeit zu einem spirituellen Mentor eine Beziehung aufzubauen, weil er unser Herz direkt berührt, und wir so die nötige erhebende Energie gewinnen, um unsere spirituellen Ziele erreichen zu können. Indem sie unser Herz während der gesamten spirituellen Reise in die richtige Richtung lenken, handeln die spirituellen Mentoren gemäß der am Anfang des Kapitels erwähnten Ruderer, Navigatoren und Begleiter.

Warum es notwendig ist, die Quellen der Inspiration miteinander zu kombinieren

Das Erzeugen und Aufrechterhalten einer positiven Motivation für die Arbeit an uns selbst, erfordert – wie die Arbeit selbst auch – Mut, Engagement und enorme Energie. Wenn wir uns unsere früheren Bemühungen um unsere persönliche Weiterentwicklung ins Gedächtnis rufen, so deprimiert uns dieser Gedanke eher, als dass es uns zum Handeln motivieren würde. Wenn wir jedoch an andere denken, die Befreiung und Erleuchtung bereits erlangt haben oder die auf dem Weg dorthin weit fortgeschritten sind, und wenn wir uns die Verwirklichungen vorstellen, die jeder von ihnen erlangt hat, sind wir vielleicht inspiriert. Mit anderen Worten, indem wir unserem Leben durch die Drei Juwelen – den Buddhas, dem Sangha und dem Dharma – eine sichere Ausrichtung geben, gewinnen wir Inspiration. Ihre Inspiration stärkt unsere Motivation und bewegt uns dazu, an uns selbst zu arbeiten.

Wenn aber unsere Gedanken in Bezug auf unsere persönliche Weiterentwicklung sich nur darum drehen, wie wir uns selbst nützen können, wird es uns, obwohl wir uns durch die Drei Juwelen inspiriert fühlen, wohl immer noch an ausreichender Energie für die Arbeit an uns selbst fehlen. Wenn wir jedoch an andere zu denken beginnen, besonders an diejenigen, die leiden, können wir weitere Inspiration erfahren. Vereint mit der Inspiration durch die Drei Juwelen, stärkt dieser zusätzliche Schub unsere Motivation weiter, und wir können sogar die radikalsten Veränderungen in uns selbst vollziehen, um hilfreich für andere zu sein. Aus diesem Grund erklärte Shantideva, dass das positive Potenzial zum Erlangen der Buddhaqualitäten gleichermaßen von der Konzentration auf die Buddhas und auf die leidenden Wesen beflügelt wird.

Die Inspiration von den Drei Juwelen und die durch die leidenden Wesen inspirierte aufrichtige Motivation versetzen uns aber immer noch nicht in die Lage, unsere neurotischen Gewohnheitsmuster überwinden zu können. Wir müssen die beiden Quellen der Inspiration mit einer zusätzlichen, noch machtvolleren Quelle der Inspiration verbinden. Praktische Erfahrung hat gezeigt, dass die kraftvollste Quelle der Inspiration eine starke und gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor ist. Die daraus gewonnene Inspiration hat besondere Kraft, weil sie der Dynamik einer lebendigen Beziehung zweier Menschen entspringt, von denen einer beispielhafte Qualitäten besitzt.

Unsere tägliche Erfahrung bekräftigt diese Punkte. Wenn wir die Fotos oder sogar Videos von Helden oder den anonymen Opfern einer Katastrophe sehen, sind wir nie so bewegt wie wenn wir den Menschen wirklich begegnen. Und diesen Menschen einfach nur zu begegnen bewegt uns weniger, als wenn wir eine persönliche Beziehung zu ihnen aufbauen. Da die Buddhas und die Meister der Überlieferungslinie körperlich nicht mehr präsent sind, können sie uns nicht so tief bewegen wie noch lebende voll qualifizierte Mentoren. Und da qualifizierte Mentoren auch frei von irrationalem Verhalten und launischen Schwankungen sind, lassen sich gesunde Beziehungen zu ihnen leichter aufrechterhalten, als zu den meisten Menschen, denen wir so gerne helfen möchten. Folglich ist die Inspiration durch einen Mentor gewöhnlich ausgeglichener und dauerhafter.

Kurz, um eine starke Motivation für die Arbeit an uns selbst zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, benötigen wir Inspiration von den Drei Juwelen, Inspiration durch die Lebewesen, die Hilfe brauchen und Inspiration von unserem spirituellen Mentor. So wie eine Legierung aus verschiedenen Metallen stärker ist, als jedes der einzelnen Metalle für sich allein genommen, so verleiht uns auch eine Legierung der unterschiedlichen Quellen der Inspiration die stärkste Motivation und die größte Kraft. Jedes Element in der Mischung verstärkt die übrigen, so dass am Ende die Energie des Ganzen größer ist als die der Summe seiner Teile.

Wie Quellen der Inspiration zusammenwirken

Gampopa und später Sakya Pandita, der vierte der fünf Gründer der Sakya-Schule, verwendeten das Gleichnis von der Sonne, einem Vergrößerungsglas und Reisig, um zu erklären, wie die unterschiedlichen Quellen der Inspiration zusammenwirken, um einem Schüler spirituelle Stärke zu verleihen. Sie erklärten, dass ohne ein Vergrößerungsglas, um die Strahlen der Sonne zu fokussieren, die Hitze der Sonne nicht ausreicht, um Reisig zu entzünden. Gleichermaßen braucht der Schüler eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor, um die Wellen der erleuchtenden Einflüsse der Buddhas (tib. tinley, ’phrin-las) zu bündeln, denn die Wellen allein können den Schüler nicht zur Erleuchtung entflammen. Wirkungen entstehen in Abhängigkeit von einer Kombination aus Ursachen und Bedingungen.

Allein für sich sind die Drei Juwelen vielleicht zu entfernt und unpersönlich, um die Schüler zum Handeln zu bewegen. Tatsächlich finden es die meisten Praktizierenden am Anfang ihres Weges beinahe unmöglich, die Qualitäten der Drei Juwelen auch nur wahrzunehmen, geschweige denn, sie in Bezug zu sich selbst zu setzen. Daher brauchen wir etwas, das uns den Zugang zu ihrem erleuchtenden Einfluss erleichtert. Qualifizierte Mentoren vermitteln uns diesen Zugang, indem sie uns durch Unterweisungen und durch die Art wie sie sind, die Ziele näher bringen, die wir zu erreichen wünschen. Ferner weisen sie dadurch auch auf die Menschen hin, die diese Ziele bereits erreicht haben, wie auch auf die Menschen, die noch nach diesen Zielen streben. Da die hieraus entstehende Inspiration durch das Vorbild lebendiger Menschen zustande kommt, mit denen wir persönliche Beziehungen aufbauen können, verhält sich die Inspiration wie ein Vergrößerungsglas, das die erleuchtenden Einflüsse der Drei Juwelen in uns bündelt.

Die Tantras erklären, dass dieser erleuchtende Einfluss hauptsächlich auf vier Arten wirksam wird: Er beruhigt Störungen, stimuliert Wachstum, verleiht einem Kontrolle in Bezug auf schwierige Angelegenheiten und beendet auf kraftvolle Art gefährliche Situationen. Aufgrund unseres Vertrauens wirkt das Zusammensein mit unseren Mentoren beruhigend auf uns. Aufgrund unserer Offenheit, regt der erleuchtende Einfluss unsere guten Qualitäten dazu an, Blüten hervorzubringen. Aufgrund unseres Respekts gewinnen wir in ihrer Gegenwart Kontrolle über uns selbst. Aufgrund unserer Ehrfurcht widerstehen wir in ihrer Gegenwart kraftvoll allen zerstörerischen Impulsen, gleichgültig wie überwältigend diese Impulse auch sein mögen. Auf diese Weise ermöglicht die positive emotionale Dynamik einer gesunden Beziehung dem erleuchtenden Einfluss der Drei Juwelen, auf uns zu wirken.

Eine gesunde Beziehung zu einem Mentor hilft uns auch, dass wir leichter Zugang zu der Inspiration bekommen, die wir durch die uns nahestehenden Menschen erfahren, die der Hilfe bedürfen. Weil vollständig qualifizierte Mentoren emotional stabile, weise und wohlmeinende Menschen sind, wirkt eine gesunde Beziehung zu ihnen sehr erhebend auf uns. Die Sicherheit und Stärke, die wir so entwickeln, befähigt uns, unser Herz auch für emotional herausfordernde Menschen leichter öffnen zu können. Ohne die Inspiration, die wir durch unseren Mentor erfahren, regen uns sogar uns nahestehende Menschen so sehr auf, dass wir nicht motiviert sind, ihnen zu helfen. Daher empfiehlt der Sakya-Meister Gorampa in seinen „Vortrags-Notizen zum ,Abschied von den vier Stufen der Anhaftung’“ den Guru-Yoga als eine Vorbereitung für die Bodhichitta-Meditation.

Der Bezug zwischen einem spirituellen Mentor und der Buddha-Natur

Gampopa zeigte den Mechanismus auf, wie spirituelle Mentoren – gleich Ruderern – die Schüler auf dem spirituellen Pfad voranbringen. Er erklärte, dass Buddha-Natur die Ursache, und eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor die Bedingung sind, um Erleuchtung zu erlangen. Buddha-Natur bezieht sich auf das jedem Individuum innewohnende Netzwerk von Qualitäten und Aspekten, die es ihm oder ihr erlauben Buddhaschaft zu erlangen. Inspiration durch einen spirituellen Mentor ist die Bedingung, die dieses Netzwerk aktiviert.

Nach Maitreyas Text: „Weitest gehendes immer währendes Kontinuum“, ist die Buddha-Natur ein Netzwerk aus drei Arten von Faktoren. Andauernde Faktoren, wie etwa die Natur des Geistes, bilden die erste Art. Sie ändern sich niemals. Die zweite Art von Faktoren, die sich entwickelnden Faktoren, wachsen – so wie Samen – wenn die richtigen Bedingungen gegeben sind. Sie beinhalten die dem Geist innewohnenden Systeme guter Qualitäten, positiven Potenzials und tiefen Gewahrseins. Der im Herz und Geist eines jeden Individuums vorhandene Aspekt, der es zulässt, sich inspirieren zu lassen, bildet die dritte Art von Faktor. Die Inspiration fördert die Verwirklichung der andauernden Faktoren und sie regt auch die Aktivierung der sich entwickelnden Faktoren an.

In dem Gleichnis von dem Vergrößerungsglas bezieht sich die Buddha-Natur auf das Reisig und die Tatsache, dass es Feuer fangen kann. Die Inspiration durch einen Mentor ist dann die Bedingung, die das Reisig in Flammen aufgehen lässt. Das Ergebnis ist allerdings nicht das Verbrennen des Schülers, sondern seine Transformation in fortgeschrittenere Stadien. Ein passenderes Beispiel wäre vielleicht der Vorgang, in dem Ton zu kostbarem Porzellan gebrannt wird.

Zahlreiche Dinge, wie beispielsweise die Natur, die Musik oder der Patriotismus können unseren Geist erheben. Allerdings besitzt keines dieser Dinge die Fähigkeit, uns dahingehend zu inspirieren, dass wir die Erleuchtung erlangen wollen. Der Neunte Karmapa, eine bedeutende Koryphäe der Karma-Kagyü-Tradition, verdeutlichte diesen Punkt in seinem Werk „Die Beseitigung der Dunkelheit der Unwissenheit durch Mahamudra“. Er erklärte, dass die gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor die dominierende Bedingung (tib. dagkyen, bdag-rkyen) zum Erlangen der Buddhaschaft sei, so wie die Sinneszellen der Augen die dominierende Bedingung für visuelle Wahrnehmung seien. Mit anderen Worten: Die visuelle Wahrnehmung entsteht nicht nur durch das Medium und die Kraft der Retinazellen, sondern ebenso tritt die Wahrnehmung, eben wegen dieser Zellen, als ein Moment des Sehens auf und nicht als ein Moment des Hörens. Das aus den Stäbchen- und Zapfenzellen der Retina bestehende Medium bedingt, dass die durch sie herbeigeführte Wahrnehmung das Sehen ist. Gleichermaßen entsteht Erleuchtung nicht nur durch das Medium und die Kraft einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Mentor, sondern sie dient auch als ein Beispiel dafür, wie jemand zu einem idealen Mentor wird. Die Buddhaschaft bringt nicht mit sich, dass ein Mensch zu einem vollkommenen Sonnenuntergang oder zu einem musikalischen Meisterwerk wird, sondern zu einer Quelle der Inspiration auf dem Pfad zur Erleuchtung.

Wie die Inspiration die Buddha-Natur aktiviert

In seinem Text „Eine kostbarere Girlande für die vier Themen“ benutzt Longchenpa die vier Themen Gampopas, um darzulegen, wie die Inspiration durch einen spirituellen Mentor dabei hilft, Erleuchtung herbeizuführen. Gemeinsam mit einer sicheren Ausrichtung und dem Bodhichitta, bewegt diese Inspiration den Schüler dazu, den Dharma als Pfad zu wählen – das ist das zweite Thema der vier Themen von Gampopa. Mit anderen Worten: Das Zusammenwirken der drei Kräfte bewegt den Schüler dazu, die buddhistischen Methoden als Weg zur Erleuchtung zu praktizieren. Den Dharma als Pfad anzunehmen, beschreibt – im Rahmen unserer Analogie – den Prozess, durch den der Ton mittels des Brennvorgangs in Porzellan verwandelt wird.

Terdag Lingpa, Nyingma-Lehrer und Schüler des Fünften Dalai Lama, verdeutlichte diesen Prozess. In dem Text „Eine kostbare Leiter“, erklärt er die Buddha-Natur als die Ursache zur Erzeugung wahrer geistiger Pfade, und die Inspiration durch einen Mentor als die Bedingung zur Erzeugung wahrer geistiger Pfade – d.h. zur Erzeugung der Vierten Edlen Wahrheit. Wahre geistige Pfade sind aktivierte, sich in der Entwicklung befindliche Faktoren der Buddha-Natur, etwa Mitgefühl oder tiefes Gewahrsein. Durch Inspiration und weitere unterstützende Umstände, erreichen diese Faktoren volle Reife und gipfeln schließlich in der vollkommenen Transformation der Erleuchtung.

Inspiration durch mündliche Übertragung

Wie bereits gesagt, wirken spirituelle Mentoren als Navigatoren, Begleiter und Ruderer, um die Schüler auf den geistigen Pfaden zur Erleuchtung voranzubringen, die die Schüler in sich selbst erzeugen. Sie tun dies sowohl auf offensichtliche als auch auf sehr subtile Arten und Weisen. Eine der eher subtilen Methoden ist die mündliche Übertragung von Schriften des Buddha. Die Übertragung findet dadurch statt, dass der Mentor den aufmerksam lauschenden Schülern die Texte laut vorliest oder sie aus dem Gedächtnis rezitiert, was gewöhnlicherweise in Höchstgeschwindigkeit geschieht. Da der Bedarf für eine derartige Übertragung für Menschen in westlichen Ländern anfangs schwer zu verstehen sein mag, wollen wir diese Facette der Schüler-Lehrer-Beziehung im Folgenden etwas eingehender betrachten. Um ihre Bedeutung nachvollziehen zu können, müssen wir einige der Hauptmerkmale des buddhistischen Ansatzes spiritueller Erziehung herausarbeiten.

In seinem Werk: „Kurze Hinweise zum Stufenweg zur Erleuchtung“, erklärt Tsongkhapa, dass die Sutras aus sich selbst heraus schwer zu verstehen sind. Sie enthalten absichtlich viele Wiederholungen, stellen ihre Themen nicht in logischer Abfolge dar und scheinen sich auch noch zu widersprechen. Der Grund dafür ist, dass der Buddha die Sutras für Schüler mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen gelehrt hat. Viele Menschen lernen Inhalte leichter anhand von abstrakten Gemälden, bei denen die Thematik durch Kleckse und kleine Teilstücke dargestellt wird, als anhand von linearen Erläuterungen. Außerdem wurden die Sutras erst viele Jahrhunderte nachdem der Buddha sie mündlich gelehrt hat aufgeschrieben. Die vielen Wiederholungen stellten sicher, dass wichtige Punkte nicht verloren gehen würden, solange die Bewahrung der Worte ausschließlich vom Gedächtnis abhing.

Die „Wurzeltexte“ späterer indischer und tibetischer Meister sind ebenfalls in einem vagen Stil verfasst worden, mit vielen Dieses und Jenes, die keinen eindeutigen Bezug haben. Sie sind absichtlich so geschrieben worden, damit die Texte als Grundlage (Wurzeln) für unterschiedliche Interpretationen, gemäß unterschiedlicher Theorien dienen konnten. Wenn Schüler diese Texte aus dem Gedächtnis rezitieren, müssen sie die unterschiedlichen Bedeutungsebenen selbst einfügen und dabei die verschiedenen Ebenen gleichzeitig im Sinn behalten.

Um nun die Bedeutung der Sutras und der späteren Texte zu klären, verfassten indische und tibetische Meister Kommentare, Unterkommentare und Abhandlungen. Die Tibeter verfassten Inhaltsübersichten, erstellten logisch geordnete Handbücher und fertigten systematische vergleichende Darstellungen der indischen philosophischen Lehrsysteme an. Obwohl diese Materialien das Studium vereinfachen, sind sie doch nicht mehr als reine Lehrmittel. Um diese Werkzeuge richtig für das Erlangen von Verwirklichung anzuwenden, braucht der Schüler die Unterweisungen eines spirituellen Mentors. Nicht alles kann man aus Büchern lernen.

Beim Studium der Mathematik können die Studierenden nichts lernen, wenn der Professor alle mathematischen Probleme für sie löst. Der Lehrer kann die Prinzipien erklären und mit ein paar Beispielen ihre richtige Anwendung verdeutlichen, aber die Studenten begreifen erst dadurch etwas, dass sie lernen, die mathematischen Aufgaben selbstständig lösen. Das gleiche gilt auch, wenn es darum geht, die Inhalte buddhistischer Studienunterlagen zu begreifen. Wie mein eigener Wurzelguru, Tsenshap Serkong Rinpoche, erklärte: „Wenn der Buddha oder die alten Meister Themen eindeutiger hätten darstellen wollen, dann hätten sie es sicherlich getan. Sie waren weder dumm noch inkompetent. Sie haben die Texte mit voller Absicht so verfasst, um uns zum Denken zu bewegen. Ihre Ausdrucksweise zwingt uns dazu, die wahre Bedeutung einer Aussage mit Hilfe der richtungsweisenden Anleitung eines Mentors selbst zusammenzufügen.“

Selbst in ihren richtungsweisenden Anleitungen enthüllen die spirituellen Mentoren nicht alles auf einmal. Stattdessen geben sie lediglich Hinweise oder immer nur ein kleines Bruchstück auf einmal preis. Diese Lehrmethode stellt sicher, dass der Schüler die Stückchen des Puzzles selbst zusammensetzt, was auch der Entwicklung von Ausdauer und Geduld zugute kommt. Das wiederum hilft dem Schüler, seine Motivation zu stärken. Dieses Vorgehen filtert diejenigen heraus, die es nicht ernst meinen und nicht bereit sind, die für die Überwindung ihrer störenden Emotionen und Geisteshaltungen nötige Mühe aufzubringen.

Der Begriff richtungsweisende Anleitung und sein ehrerbietiges Äquivalent persönliche Anleitung (tib. zhel-lung, zhal-lung) werden oft auch als „mündliche Unterweisung“ übersetzt. Diese Übersetzung könnte verwirrend sein. Obwohl die richtungsweisende Anleitung aus der persönlichen Erfahrung spiritueller Mentoren kommt und meistens in der Form von mündlichen Gesprächen stattfindet, werden einige Anleitungen doch zuerst in schriftlicher Form vermittelt. Darüber hinaus sind die meisten der zuerst nur mündlich übertragenen Anweisungen schließlich auch niedergeschrieben worden. Noch lebende Mentoren können ihre eigenen persönlichen richtungsweisenden Anleitungen entweder in mündlicher oder in schriftlicher Form geben; die meisten Mentoren stützen sich jedoch hauptsächlich auf die Anweisungen früherer Meister ihrer Überlieferungslinie.

Wenn spirituelle Mentoren ihre eigenen richtungsweisenden Anleitungen in eigener Person geben, finden die Schüler sie äußerst inspirierend. Schüler mögen bis zu einem gewissen Grad auch vom Lesen eines Kommentars oder aufgezeichneter Unterweisungen anderer Mentoren der Überlieferungslinie inspiriert werden. Aber diese bloß zu lesen ist nicht genug, um ein tiefes Verständnis ihrer Bedeutung zu gewinnen und sie auch ins Leben zu integrieren. Ein Schüler braucht die stärkere Inspiration, die von einem lebendigen Mentor ausgeht, um seine eigene Buddha-Natur zu aktivieren und den Dharma für sich selbst zu einem wahren Pfadgeist zu machen, der ihn zur Befreiung und zur Erleuchtung hinführt. Die formale Einrichtung, durch die man die Inspiration erhält, um damit die Bedeutung der Texte und der traditionellen richtungsweisenden Anleitungen verstehen und integrieren zu können, ist das Erhalten einer mündlichen Übertragung, oder anders ausgedrückt, die energetische Aufladung der Texte durch einen spirituellen Mentor.

Der Brauch mündlicher Übertragung entstand in alten Zeiten, bevor die Menschen die geschriebene Sprache mit spirituellen Themen verbunden hatten. Periodische Gruppenrezitationen der Worte Buddhas aus dem Gedächtnis stellten sicher, dass sie nicht durch Zusätze, Auslassungen und Fehler korrumpiert werden konnten. Das Hören der in vollkommenem Gleichklang rezitierten Worte gab den Schülern das Vertrauen, dass die auf den Buddha folgenden Generationen sie korrekt überliefert hatten. Dieses Vertrauen wiederum ließ die Schüler daran glauben, dass das Studium dieser Worte sie auf den authentischen buddhistischen Pfad führen würde. Später dehnten die Lehrer den Brauch der mündlichen Überlieferung auch auf die Kommentare und richtungsweisenden Anleitungen der großen indischen und tibetischen Meister aus. Obwohl es Texte in geschriebener Form gab, waren Ausfertigungen davon äußerst selten.

Die Überlieferungslinien der mündlichen Übertragung der meisten Lehrreden des Buddha, ihrer Kommentierungen und persönliche richtungsweisende Anleitungen zu den Lehrreden, haben sich ohne Unterbrechung bis zum heutigen Tag fortgesetzt. Sie spielen im tibetischen Buddhismus eine zentrale Rolle. Tatsächlich definieren sich die vier tibetischen Traditionen und ihre Untergruppen durch die spezifischen Übertragungslinien, die sie überliefern. Trotzdem schließen sich diese Linien nicht gegenseitig aus. Viele Schulen haben bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte einige Überlieferungslinien gemeinsam.

Die Gruppenrezitationen der Worte des Buddha werden auch heute noch in den Mönchs- und Nonnenklöstern weitergeführt. Heutzutage geben spirituelle Mentoren die mündliche Übertragung jedoch vor allem im Rahmen großer Versammlungen oder an einzelne Individuen weiter. Ihr Sinn und Zweck liegt darin, die Schüler nicht nur dadurch zu inspirieren, dass sie Vertrauen in die Richtigkeit der Worte fassen, sondern auch dadurch, dass sie Vertrauen darin entwickeln, dass ihr Mentor die Bedeutung dieser Worte auf authentische Weise verwirklicht hat. Wenn zum Beispiel Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama einen Text überträgt, indem er ihn in Höchstgeschwindigkeit herunterliest und nur hier und da kurz innehält, um die um ihn versammelten Meister nach Einzelheiten der Interpretation von besonders schwierigen Textstellen zu befragen, inspiriert er alle Anwesenden. Da er keinerlei Verstellung kennt, gibt uns sein gelegentliches Innehalten die Gewissheit, dass ihm alle übrigen Passagen im Text völlig klar sind. Das kann uns dahingehend inspirieren, dass wir den Text für vollkommen verständlich halten. Das hinterlässt einen tiefen Eindruck in uns, der die Potenziale unserer Buddha-Natur stärkt, so dass wir – mit genügend Studium und Mühe – eine ähnliche Verwirklichung erlangen können.

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