Eine Gesunde Geisteshaltung gegenüber dem Spirituellen Lehrer

Wie vertrauen wir uns eigentlich einem spirituellen Lehrer an? Welche Beziehung haben wir zu ihm? Darüber werden wir hinsichtlich unserer Geisteshaltungen und auch unseres Verhalten gegenüber dem Lehrer sprechen. Wir können beginnen, ein Verständnis davon zu bekommen, indem wir die volle Bedeutung aus zwei tibetischen Wörtern ziehen, die benutzt werden, um die richtige Geisteshaltung zu beschreiben.

Feste Überzeugung in die guten Eigenschaften unseres Lehrers

Bei dem ersten handelt es sich um das tibetische Wort: „mopa“ (mos-pa), einer unserer Geistesfaktoren. Definitionen der Geistesfaktoren finden sich in den Abhidharma-Texten und es gibt zwei Versionen, an die sich die Tibeter halten: eine von Vasubandhu und eine andere von Asanga. Es ist wichtig, sich immer die Definitionen anzuschauen und sich nicht einfach nur darauf zu verlassen, was einem vom Übersetzer oder dem Wörterbuch als Bedeutung eines Wortes angeboten wird.

Das Wort „mopa“ wird von Vasubandhu als „das Begreifen der guten Eigenschaften eines Objektes der Ausrichtung“ definiert. Was bedeutet das Wort „begreifen“, auf Tibetisch tog-pa (rtogs-pa)? Es ist schwer zu übersetzen und die meisten Menschen wissen nicht einmal genau, was es auf Deutsch bedeutet. Etwas zu „begreifen“ heißt, etwas präzise und maßgeblich wahrzunehmen. In diesem Falle geht es um die guten Eigenschaften des Lehrers. „Präzise“ bedeutet, tatsächlich die guten Eigenschaften des Lehrers wahrzunehmen und nicht jene, die wir projizieren oder uns einbilden. Mit „maßgeblich“ meinen wir, dass wir uns vollkommen sicher darüber sind. Wir sind uns nicht unsicher und denken: „Vielleicht hat der Lehrer diese Eigenschaften, vielleicht aber auch nicht.“ Auf der Grundlage von Erfahrung, Prüfung usw. sind wir völlig überzeugt.

Asanga definiert „mopa“ als „feste Überzeugung“. Er betont den Aspekt der Überzeugung und nicht unbedingt den Aspekt der guten Eigenschaften. Aber laut Vasubandhu geht es um die feste Überzeugung in Bezug auf die guten Eigenschaften des Lehrers. 

Was sind diese guten Eigenschaften? Es gibt eine Liste von Qualifikationen für spirituelle Lehrer. Sind es ethische Menschen? Haben sie ihre störenden Emotionen zumindest weitgehend verringert? Geht es ihnen wirklich um das Wohlergehen der Schüler? Sind sie wahrhaft gütig und mitfühlend? Die Liste ist lang. Es ist wichtig zu überprüfen, ob sie diese Eigenschaften besitzen oder nicht.

Gültige Wahrnehmung

Wie können wir uns sicher sein, dass sie diese guten Eigenschaften haben? Hierfür wenden wir uns an Chandrakirti, der drei Kriterien beschreibt, um die Gültigkeit des geistigen Bezeichnens zu bestimmen. Wenn wir den Dharma studieren, müssen wir immer verschiedene Puzzlestücke zusammensetzen.

(1) Zuerst prüfen wir, ob es eine Konvention für diese gute Eigenschaft gibt. Wird sie normalerweise als gute Eigenschaft akzeptiert?  Ja, das wird sie. In den Standardtexten wird traditionell anerkannt, dass es zu den Qualifikationen eines spirituellen Lehrers gehört, ethische Werte zu haben, ehrlich zu sein usw. Es wird auch konventionell anerkannt, dass wir einer ethischen, aufrichtigen Person vertrauen können und kein Vertrauen gegenüber einem unehrlichen Menschen haben sollten. Das sind ganz einfach übliche Konventionen, die von den meisten Menschen für gültig erklärt werden.  

Berühmt zu sein oder einen großen Namen zu haben, wird konventionell nicht als Qualifikation akzeptiert, ein spiritueller Lehrer zu sein, dem wir unsere spirituelle Entwicklung anvertrauen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama betont immer, dass sich beispielsweise die Tulkus, die reinkarnierten Lamas, nicht nur auf ihren großen Namen stützen sollten, den sie von ihren Vorgängern erhalten haben; vielmehr ist es notwendig, dass sie ihre Qualifikationen in diesem Leben beweisen. Es ist keine richtige Konvention ein großer Lehrer zu sein, einfach nur weil man den Titel Rinpoche trägt. Auf der Tulku-Konferenz 1988 sagte Seine Heiligkeit sogar: ginge es nach Ihm, würde Er dieses ganze Tulku-System abschaffen, da viel zu viel Missbrauch damit betrieben wird. Er schimpfte über all die jungen Tulkus, zu faul zu sein.

Das ist das erste Kriterium, nach der wir unsere feste Überzeugung prüfen sollten, dass unser spiritueller Lehrer bestimmte gute Eigenschaften hat. Die Eigenschaften müssen mit der allgemein akzeptierten Konvention in Bezug auf die Qualifikationen eines vertrauenswürdigen spirituellen Lehrers übereinstimmen.

(2) Das zweite Kriterium ist: Unseren Lehrer als jemanden zu sehen, der diese gute Eigenschaft hat, sollte nicht im Widerspruch zu einem Geist stehen, der konventionelle Wahrheit als gültig wahrnimmt. Sehen wir uns die Fachbegriffe „gültige Wahrnehmung“ und „konventionelle Wahrheit“ einmal genauer an. „Gültige Wahrnehmung“ bedeutet nicht-betrügerische Wahrnehmung, entweder durch einfache Wahrnehmung, also persönliche Erfahrung, oder schlussfolgernde Wahrnehmung. „Konventionelle Wahrheit“ ist das, was man mit einem unerleuchteten Geist findet, wenn man die oberflächliche Erscheinung von Objekten mit gültiger Wahrnehmung genauestens untersucht. 

Wir können beobachten, wie sich der Lehrer verhält und wir können andere Leute über ihre persönliche Erfahrung mit diesem Lehrer befragen, um zu bestärken, was wir selbst persönlich beobachtet haben. Was wir beobachten und was andere über ihn sagen, darf nicht im Widerspruch dazu stehen, dass der Lehrer diese gute Eigenschaft hat. Auch darf diese Schlussfolgerung nicht dem widersprechen, was wir aus unwiderlegbaren Beweisen folgern. Wenn der Lehrer beispielsweise die gute Eigenschaft hat, ein ethischer Mensch zu sein, würde jeder, der das Verhalten dieses Lehrers genauestens und objektiv untersucht, sehen, das es ethisch ist. Niemand könnte widersprüchliche Beweise finden. Nehmen wir aber einmal an, wir sehen, dass diese Person auf völlig unethische Weise handelt und wenn andere das Verhalten dieses Lehrers beobachten, berichten sie auch, dass er oder sie sich furchtbar aufführt. Wenn wir sehen, dass sich der Lehrer völlig unmöglich benimmt, steht das im Widerspruch zu der Tatsache des Vorhandenseins bestimmter guter Eigenschaften. Es sollte keine Widersprüche geben.

(3) Das dritte Kriterium ist: Unseren Lehrer als jemanden zu sehen, der diese gute Eigenschaft hat, sollte nicht im Widerspruch zu einem Geist stehen, der die tiefste Wahrheit, Leerheit (Leere), als gültig wahrnimmt. Solch ein Geist, der ein Verständnis von Leerheit hat, weiß, dass die guten Eigenschaften eines Lehrers nicht selbst festgelegt oder von Natur aus auffindbar sind. Sie sind abhängig von vielen Ursachen, Bedingungen und anderen Faktoren in Erscheinung getreten. Wenn wir denken, der Lehrer wäre eine Art Gott, ein transzendentales Wesen auf einem Thron, und seine guten Eigenschaften wären solide festgelegt, von Natur aus innewohnend und wir hätten keine Chance auch so zu werden, dann ist diese Sichtweise ganz offensichtlich falsch. Sie steht im Widerspruch zu einem Geist, der Leerheit und bedingtes Entstehen gültig versteht. Wir alle haben die Fähigkeit, unsere guten Eigenschaften zunehmen zu lassen; wir können sie durch viel harte Arbeit entwickeln und stärken. Auf diese Weise hat der Lehrer es geschafft und so ist auch Buddha ein Buddha geworden. Es ist sehr wichtig, nicht zu denken, dass es unmöglich für uns wäre, diese guten Eigenschaften zu entwickeln. Wir sollten eine realistische Einstellung dazu haben, wie man gute Eigenschaften entwickelt. 

Zuerst einmal ist es notwendig, gegenüber qualifizierten Lehrern die Einstellung zu haben, fest davon überzeugt zu sein, dass sie die erforderlichen guten Eigenschaften haben. Und weil wir diese Überzeugung haben, vertrauen wir ihnen. Das ist ein sehr wichtiger Teil. Wir stützen uns auf das, was sie sagen. Wir vertrauen darauf, dass sie uns nicht enttäuschen werden. 

Hier wird es recht heikel, nicht wahr? Viele dieser Lehrer haben keine Zeit für uns; sie sind sehr beschäftigt und reisen um die ganze Welt. Sie haben tausende sogenannter Schüler oder Anhänger. Ob das wirklich Schüler sind, ist eine andere Sache. Trotzdem vertrauen wir darauf, dass sie gute Eigenschaften haben und wir durch sie inspiriert werden können. Vielleicht brauchen wir für unsere alltäglichen Anweisungen einen weniger qualifizierten Lehrer. Das ist dann eine andere Ebene von Lehrer.

Den Lehrer als einen Buddha sehen

Auseinanderhaltendes Gewahrsein

Das führt zu dem sehr heiklen Thema, den Lehrer als einen Buddha zu betrachten. „Auseinanderhaltendes Gewahrsein“ (‘du-shes) ist ein Geistesfaktor, der oft als „Erkennen“ übersetzt wird, jedoch nicht so ganz die Bedeutung des Begriffs widerspiegelt. Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff? Die formelle Definition ist: „der immer arbeitende geistige Faktor, der ein ungewöhnliches charakteristisches Merkmal des erscheinenden Objektes einer nicht-konzeptuellen Wahrnehmung, oder ein zusammengesetztes Merkmal des erscheinenden Objektes einer konzeptuellen Wahrnehmung nimmt und ihm eine konventionelle Bedeutung zuschreibt“. Das heißt, innerhalb dessen, was in unserem Bereich des Sehens, Hörens usw. und in unserer geistigen Welt erscheint, erkennen wir mit dem Geistesfaktor des auseinanderhaltenden Gewahrseins, eigene definierende Eigenschaften von Pixelgruppen, farbigen Formen, Klängen usw. als konstituierende, individuelle, konventionelle Objekte. Durch diesen sehr grundlegenden Geistesfaktor können wir Objekte identifizieren und ihnen Namen zuschreiben. Dieser Geistesfaktor ist immer aktiv, denn sonst könnten wir nicht verstehen, was wir wahrnehmen oder denken. Er ist einer der fünf Aggregate.

Hierzu ein einfaches Beispiel: In unserem Blickfeld können wir das ungewöhnliche bestimmende Charakteristikum, welches gemeinsam mit den Pixeln und farbigen Flächen eines konventionellen Objektes genutzt wird, von dem ungewöhnlichen bestimmenden Charakteristikum eines anderen konventionellen Objektes, welches sich im Hintergrund befindet, unterscheiden – wie beispielsweise das definierende Merkmal des Kopfes einer Person und der Wand hinter ihr. Wenn wir nicht dazu in der Lage wären, Objekte von anderen, die sich um sie herum befinden, zu unterscheiden, könnten wir in unserem Leben nicht funktionieren. Wir können jemandes Kopf von der Wand dahinter unterscheiden, weil es bestimmte charakteristische Merkmale dieser Ansammlung von Pixeln und Farbflächen gibt, die konventionell als Merkmal eines Kopfes und nicht das einer Wand anerkannt werden. 

Im Buddhismus gibt es ein Beispiel, indem es darum geht, dass Geister etwas als Eiter betrachten, was Menschen jedoch als Wasser und Götter als Nektar ansehen. Es ist nicht so, dass es eine wahrhaft existierende Flüssigkeit gibt, die von Geistern nur durch geistiges Zuschreiben als Eiter, von Menschen als Wasser und von Göttern als Nektar bezeichnet wird und diese Flüssigkeit dann für sie so, aufgrund ihres Karmas, funktioniert. So ist das nicht. Ansonsten könnten wir alles darauf projizieren. Wie kann man das erklären?

Ungewöhnliche definierende Charakteristika

Tsongkhapa, oder vielleicht war es sein Schüler Kedrub Je ­– ich erinnere mich nicht mehr, um wessen Kommentar es sich handelt – beschreibt, dass Objekte von Natur aus definierende Charakteristika haben, die jedoch beim Analysieren nicht innerhalb des Objektes gefunden werden können. Was bedeutet das? 

Konventionell werden alle gültig erkennbaren Phänomene als „Dharmas“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang wird ein „Dharma“ als Träger der definierenden Charakteristika festgelegt. Es gibt also definierende Charakteristika von Dingen, aber die definierenden Charakteristika haben nicht selbst, oder im Zusammenhang mit dem Benennen, die Macht, etwas zu dem zu machen, was es ist. Das ist natürlich äußerst schwierig zu verstehen. Was um alles in der Welt bedeutet das?

Um es in Bezug auf die definierenden Charakteristika in dem Beispiel mit dem Eiter, Wasser und Nektar zu verdeutlichen, schauen wir uns das Beispiel mit den zwölf Eiern an. Zwölf Eier kann man in vier Gruppen von jeweils drei Eiern, in drei Gruppen von jeweils vier, in zwei Gruppen von jeweils sechs und in sechs Gruppen von jeweils zwei Eiern unterteilen. Gibt es irgendetwas hinsichtlich der zwölf Eier, was ihnen erlaubt, sie so zu unterteilen? Wenn ja, wo? Sie können jedoch auf all diese verschiedene Weise unterteilt werden, abhängig von dem gedanklichen Bezugssystem der Person, die ein Omlet mit zwei Eiern, eins mit drei Eiern, oder was auch immer, zubereiten möchte. 

Wir müssten sagen, dass die zwölf Eier die Charakteristika besitzen, auf all diese verschiedenen Arten unterteilt zu werden. Aber die Existenz dieser verschiedenen Charakteristika kann nur in Abhängigkeit der zusammengesetzten Merkmale der Konzepte „teilbar durch drei", „teilbar durch vier“ usw. entstehen, mit denen sie im Geiste bezeichnet werden können. Ein „zusammengesetztes Merkmal“ (bkra) ist das definierende Merkmal einer Kategorie, das aus einem Zusammenschmelzen der definierenden Charakteristika aller Teile entsteht, die in diese Kategorie passen -- beispielsweise alle Dinge, die man durch drei oder vier teilen kann. 

Von Natur aus haben die zwölf Eier all diese definierenden Charakteristika, jedoch kann keine dieser Charakteristika seitens der Eier gefunden werden. Sie haben weder selbst, noch in Verbindung mit dem geistigen Bezeichnen, die Macht, auf diese unterschiedliche Weise aufgeteilt zu werden. Denken Sie einmal darüber nach. Das ist sehr tiefgreifend. Wo befindet sich, innerhalb dieser zwölf Eier oder zwischen ihnen, das charakteristische Merkmal, durch drei oder vier aufgeteilt werden zu können. Jede dieser Möglichkeiten, die zwölf Eier zu bezeichnen, ist jedoch gültig. Jede würde Chandrakirtis drei Kriterien der Gültigkeit erfüllen. In ähnlicher Weise ist es auch gültig, wenn etwas von Geistern, Menschen oder Göttern, mit unterschiedlichen Arten des Geistes, als Eiter, Wasser oder Nektar bezeichnet wird.

Diese Analyse können wir nutzen, wenn wir unseren Lehrer als einen Buddha betrachten. Was ist ein Buddha? Ein Buddha ist jemand, der alle guten Eigenschaften besitzt. Unser Lehrer hat auch verschiedene gute Eigenschaften. Davon sind wir überzeugt. Es stimmt. Unser Lehrer mag auch negative Eigenschaften oder Fehler haben, denn es ist schwierig, einen Lehrer zu finden, der nur gute Eigenschaften besitzt. Wir können jedoch die definierende Charakteristika keiner der beiden Arten von Qualitäten auf der Seite des Lehrers finden. Beruhend auf dem Verhalten der Person können wir jedoch mit Sicherheit sagen, dass der Lehrer sowohl gute Eigenschaften, als auch Fehler hat. 

Nun stellt sich die Frage, welchem der definierenden Merkmale wir Beachtung schenken werden? Werden wir, wie mit dem geistigen Rahmen eines Geistes, nur die definierenden Charakteristika der negativen Eigenschaften sehen und benennen? Wenn wir es tun, werden wir den Lehrer als furchtbaren Menschen sehen, der keine Zeit für uns hat und so in einen sehr negativen Geisteszustand fallen. Oder werden wir, mit dem geistigen Rahmen von jemandem, der einen Buddha sieht, nur die definierende Charakteristika der guten Eigenschaften erkennen und benennen.

Der Fünfte Dalai Lama sagt es ganz deutlich in seinem Lam-rim-Text und auch Tsongkhapa weist darauf hin: Wir sollten nicht naiv sein und die Fehler unseres Lehrers leugnen. Aber es ist wichtig zu erkennen, dass es nichts bringt, sich einzig und allein auf die Fehler zu konzentrieren, denn dann werden wir nur lamentieren. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit aber auf die guten Eigenschaften richten, können wir große Inspiration bekommen.

Tendenzen

In einer der Darstellungen der Buddhanatur, bilden gute Eigenschaften, zusammen mit Körper, Rede, Geist und Aktivitäten, die Eigenschaften der fünf Buddhafamilien. Wir alle haben diese fünf Eigenschaften auf einer gewöhnlichen, grundlegenden Ebene. Das bedeutet, wir alle haben gute Eigenschaften, sowie auch die Tendenzen (wörtlich: die „Samen") dafür in unseren geistigen Kontinua. Diese Tendenzen führen in Abständen zum Auftreten dieser guten Eigenschaften. Bevor wir Erleuchtung erlangen, werden sie nicht ständig und unaufhörlich hervorgerufen. 

Was die Tendenzen angeht, so können wir einige ihrer Merkmale aus der Darlegung des Karma extrapolieren. Eine der Facetten einer Tendenz ist die Fähigkeit, ein Ergebnis hervorzubringen, wenn die Umstände dafür gegeben sind. Durch diese Facette ist unserem geistigen Kontinuum, die noch-nicht-stattfindende Wirkung dieser Tendenzen zugeschrieben. Wir sollten jedoch nicht denken, dass die noch-nicht-stattfindende Wirkung schon entschieden und festgelegt ist, irgendwo in unserem geistigen Kontinuum sitzt und nur darauf wartet, herauszukommen, wenn die Umstände es erlauben. Sie können nicht durch genaue Prüfung gefunden werden; dennoch haben die noch-nicht-stattfindenden Wirkungen, konventionelle, definierende Charakteristika, die unterschieden werden können.   

Sehen wir uns das in Bezug auf unseren spirituellen Lehrer an. Wir sind fest von den guten Eigenschaften überzeugt, die er oder sie hat. Diese guten Eigenschaften zeigen sich in unserem Lehrer nur manchmal und das bedeutet, dass sie, wenn sie sich manifestieren, aus den Tendenzen dieser Eigenschaften entstehen, die dem geistigen Kontinuum zugeschrieben sind. Die Tendenzen für diese guten Eigenschaften haben auch die Facette, diese Eigenschaften in ihrem vollen Umfang ständig erscheinen zu lassen, wenn die Umstände für unseren Lehrer gegeben sind, Erleuchtung zu manifestieren. Das heißt, dass es noch-nicht-stattfindende Buddha-Qualitäten und einen noch-nicht-stattfindenden Buddha gibt, der dem geistigen Kontinuum unseres Lehrers zugeschrieben werden kann, und sie haben definierende Charakteristika, die wir unterscheiden können.  

Wir sind jedoch nicht naiv, wie ich manchmal scherzhaft sage, und halten unseren Lehrer für ein allwissendes Wesen, der die Telefonnummern aller Menschen auf dieser Erde kennt, durch Wände gehen kann, sich in unzählige Formen vervielfältigen, jede Sprache sprechen kann usw. Wir sind gewiss nicht so naiv zu glauben, der Lehrer würde all diese Qualitäten in ihrer Vollkommenheit besitzen und in diesem Moment manifestieren. Dem geistigen Kontinuum ist zugeschrieben, ein Buddha zu sein, der sich noch nicht manifestiert, und nicht ein Buddha, der sich schon manifestiert hat. Wir können uns dieses Buddha, der sich noch nicht manifestiert hat, gewahr sein, weil wir feste Überzeugung in die Voraussetzung, nämlich die guten Eigenschaften des Lehrers, haben.  

Wenn meine Analyse richtig ist, wird dadurch erklärt, wie wir unseren Lehrer auf eine gültige Weise als einen Buddha sehen können. Wir tun dies, indem wir uns auf seine guten Eigenschaften und dessen Tendenzen als eines der Merkmale der Buddhanatur konzentrieren. Wir erkennen, dass die Facette dieser Tendenzen die erleuchtenden, guten Eigenschaften eines Buddhas hervorbringen kann, wenn die Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins des Lehrers vollkommen ausgebildet sind. So, wie die Götter eine Flüssigkeit als Nektar sehen, erleben wir unseren Lehrer als einen Buddha, der sich noch nicht manifestiert hat; jedoch ist meistens nur von einem „Buddha“ dir Rede, nicht davon, dass er sich „noch nicht manifestiert“ hat.

Die Fehler in unserem Lehrer zu sehen ist nicht verlässlich

In den Standardtexten, in denen es darum geht, sich einem spirituellen Lehrer anzuvertrauen, wird gesagt: „Wenn wir Fehler im Lehrer sehen, sollten wir wissen, dass wir uns darauf nicht verlassen können.“ Wir können solche Aussagen verstehen, indem wir uns auf die gleiche Analyse stützen, die gerade erklärt wurde. Wenn wir uns dessen, was für uns als definierende Charakteristika der Fehler des Lehrers erscheint, gewahr werden, sehen wir nur Eiter, wie die Geister und nicht Nektar, wie die Götter. Das Erkennen der definierenden Charakteristika des Eiters als Geist ist gültig und ebenso mag unser Erkennen der definierenden Charakteristika der Fehler unseres Lehrers gültig sein, jedoch ist es nicht verlässlich.

Was verstehen wir unter „verlässlich"? Es bedeutet nicht „fehlerhaft", sondern „nicht geeignet, sich darauf zu verlassen.“ Es geht hier nicht darum, sich auf die Erscheinung der definierenden Charakteristika als etwas zu verlassen, was wir auf der Seite unseres Lehrers finden können und was die Kraft hat, aus einer Person einen entweder grundsätzlich guten oder schlechten Lehrer zu machen. Auf beide Erscheinungen darf man sich nicht verlassen. Unser Lehrer ist weder als ein Buddha noch als Teufel wahrhaft begründet. Es wird geraten, sich nicht auf die Erscheinung der Fehler zu verlassen, weil es keinen Nutzen hat, dies zu tun. Es deprimiert uns nur und schafft einen gestörten Geisteszustand voller Lamentation. Das wird uns auf unserem spirituellen Pfad nicht weiterbringen. Stattdessen ist es viel nützlicher, die definierenden Charakteristika der guten Eigenschaften unseres Lehrers als die eines Buddhas zu erkennen, ohne jedoch die Fehler zu leugnen und naiv zu glauben, der Lehrer wäre schon ein manifestierter, allwissender Buddha, der alle Sprachen dieses Universums beherrscht usw. 

In keiner der Auflistungen der Qualitäten eines spirituellen Lehrers ist zu finden, dass der Lehrer tatsächlich ein erleuchtetes Wesen sein muss. Diese Qualifikation findet sich nirgends. Wir sollten also diese Unterweisung, den Lehrer als Buddha zu betrachten, nicht wörtlich nehmen, sondern es vielmehr in diesem größeren Kontext sehen. Auf diese Weise können wir die größtmögliche Inspiration von unserem Lehrer bekommen. 

Des weiteren wird uns diese Fähigkeit, die definierenden Charakteristika der guten Eigenschaften unseres Lehrers als die eines Buddhas zu erkennen, auf dem Pfad des Tantra helfen, unsere eigenen Buddhanatur-Faktoren als die der verschiedenen Buddhaformen zu erkennen, die wir uns vorstellen, selbst zu sein. Während wir uns bewusst sind, dass sich diese Buddhaform im Grunde noch nicht manifestiert, stellen wir uns vor, sie würde sich schon manifestieren, um zu üben, ein Buddha zu sein.

Sich selbst in der Tantra-Praxis als Buddhas visualisieren

Wir sollten uns der Bedeutung dieses Punktes, besonders im Tantra, bewusst sein. Wenn wir in unserem Lehrer Buddha-Qualitäten sehen können, können wir das auch in uns selbst. Der Vorgang ist genau der gleiche. Im Tantra visualisieren wir uns selbst als Buddha, auch wenn wir wissen, dass es noch nicht stattfindet. Da unser konventionelles „Ich“ der Gesamtheit unseres geistigen Kontinuums zugeschrieben ist, ist diese Zuschreibung gültig auf der Grundlage dieses weit entfernten noch-nicht-stattfindenden Punktes in unserem Kontinuum. Deshalb können wir diesen sich noch-nicht-ereignenden Buddha gültig als „Ich“ bezeichnen. Das nennt man: „göttlichen Stolz besitzen." Was unseren Lehrer betrifft, gründet diese Zuschreibung darauf, dass die Facette unserer Tendenzen für gute Eigenschaften ein Ergebnis hervorruft, wenn die Umstände dafür vorhanden sind.   

Im Tantra streben wir im Allgemeinen an, jeden als einen Buddha und alles als reines Land zu sehen. In diesem Zusammenhang würde man die Person, die uns das Lesen beigebracht hat und denjenigen, von dem wir die ersten Informationen über den Buddhismus erhalten haben, zutreffend als Buddhas betrachten. Das gleiche gilt für einen Hund, denn wir richten uns auf die Buddhanatur-Qualitäten aller Wesen und sehen, dass jeder die Fähigkeit hat, ein Buddha zu sein. Auf diese Weise fokussieren wir uns auf den sich-noch-nicht-ereignenden Buddha aller Wesen, der sich jedoch noch nicht manifestiert hat. Wie wir aber bereits betont haben, bedeutet das nicht, die wären bereits Buddhas, und das gleiche trifft für uns zu, wenn wir uns selbst als einen Buddha visualisieren und ihn als „Ich“ bezeichnen.

Ebenen, unsere Lehrer als Buddhas zu sehen

Bevor wir uns mit dem Tantra befassen, gibt es verschiedene Ebenen der Art und Weise, wie wir mit unserem Lehrer als Buddha umgehen. Aus der sogenannten Hinayana-Sichtweise sind die Lehrer wie der Buddha. Heutzutage steht Buddha uns nicht für Belehrungen zur Verfügung, aber die spirituellen Lehrer können uns, wie der Buddha, unterrichten und uns helfen, Befreiung zu erlangen. Damit das funktioniert, ist es, auch in diesem Kontext des Hinayana, notwendig, feste Überzeugung und Vertrauen in die guten Eigenschaften des Lehrers, wie sie in den Texten festgelegt sind, zu haben. In der Mahayana-Sichtweise betrachten wir unsere Lehrer als Emanationen eines Buddha, der gekommen ist, um uns zu unterrichten und zu helfen. In der Sichtweise des Tantra ist es jedoch nicht so, dass sie wie ein Buddha oder einfach nur Ausstrahlungen eines Buddha sind. Gemäß den Texten ist es nicht einfach nur ein geschicktes Mittel für uns, sie als Buddhas zu betrachten. In den Texten wird gesagt, dass sie Buddhas sind. Es ist wichtig zu verstehen, was das bedeutet. 

Laut Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, muss der spirituelle Lehrer nur dann tatsächlich ein Buddha sein, wenn er einem Schüler, der sich auf der letztendlichen Ebene des Pfades befindet und kurz davor ist, Buddhaschaft zu erlangen, die vierte Initiation im Anuttarayoga-Tantra erteilt. Der Grund ist, dass die vierte Initiation den Schüler ermächtigt, die zwei Wahrheiten gleichzeitig zu erfassen, offenkundig und unbegrifflich. Nur ein Buddha hat so eine Art der Wahrnehmung und daher kann nur ein Buddha jemanden ermächtigen, sie auch zu erlangen. 

In allen anderen Situationen im Tantra sollte dies nicht wörtlich genommen werden, obwohl es sich um eine gültige Wahrnehmung handelt, den spirituellen Meister als einen Buddha zu sehen. Jede gültige Untersuchung würde ergeben, dass der spirituelle Meister, auch ein tantrischer Meister, nicht allwissend ist, nicht alle Sprachen des Universums beherrscht und sich nicht in unzählige Formen erweitern kann. Das ähnelt wieder der Analogie, in der etwas für Geister Eiter, für Menschen und für Götter Nektar ist. Alle drei Wahrnehmungen sind gültig. Daher sollten wir nicht insgeheim denken, den Lehrer als einen Buddha zu betrachten, wäre lediglich ein geschicktes, aber trügerisches Mittel. Es ist gültig.

Was können wir lernen?

Wenn wir unseren spirituellen Lehrer als einen Buddha sehen, werden wir alles was er tut als Unterweisung betrachten, sobald wir überzeugt davon sind, dass der Lehrer einzig um unser Wohl bedacht ist und nur deshalb eine Beziehung zu uns hat. Automatisch denken wir: „Was kann ich daraus lernen?“

In den Jatakas, den Erzählungen aus den vergangenen Leben des Buddha, gibt es eine klassische Geschichte, in der ein Lehrer all seinen Schülern auftrug, loszugehen und für ihn zu stehlen. Buddha war einer dieser Schüler. Alle gingen nun also los, um zu stehen, nur Buddha tat es nicht. Als der Lehrer fragte: „Willst du mich nicht erfreuen? Warum gehst du nicht auch los, um etwas für mich zu stehlen?“ Buddha sagte daraufhin: „Wie kann man jemanden damit erfreuen, etwas zu stehlen?“ Und der Lehrer erwiderte: „Aha! Du bist der Einzige, der diese Lektion verstanden hat.“

Es gibt auch ein Beispiel, als Serkong Rinpoche einer Gruppe von westlichen Mönchen, in seiner Unterweisung zur Leerheit, mit Absicht etwas völlig Falsches lehrte und dann in der nächsten Sitzung sagte: „Meine Gute! Was ich da gesagt habe, war vollkommen falsch. Benutzt ihr eure Intelligenz nicht um zu unterscheiden? Warum habt ihr keine Fragen gestellt?“

Als gute Schüler würden wir auf Serkong Rinpoches falsche Erklärungen nie so reagieren, indem wir denken, er wäre dumm und habe keine Ahnung in Bezug auf die Leerheit. Das wäre nicht die richtige Erwiderung. Vielmehr sollten wir uns fragen: „Welche Lektion versucht er uns damit zu geben, indem er etwas auf falsche Weise erklärt?“

Ich erinnere mich an ein Beispiel, als ich mich gegenüber Serkong Rinpoche vor Jahren einmal wegen der Schreibweise in den Texten von Nagarjuna beschwerte. Ich sagte, es wäre unklar formuliert, mit so viel diesem und jenem, und man würde überhaupt nicht verstehen, worauf sich all das bezieht. Wie so oft wies er mich zurecht und sagte: „Sei nicht so eingebildet.“ Denkst du, Nagarjuna war nicht in der Lage, einen Text klar und deutlich zu verfassen? Er hat ihn ganz bewusst so formuliert. Du bist sowas von arrogant.“ Dann erklärte er mir, dieser Text wurde so formuliert, damit die Schüler ihr eigenes Verständnis der Bedeutung einfließen lassen können. Das ist eine Art des Lehrens.

Ein anderes Mal erklärte mir Rinpoche das System der Berechnung in der tibetischen Astrologie. Die Art und Weise, wie die Tibeter etwas berechnen, unterscheidet sich deutlich von dem, was wir unter Arithmetik verstehen: Addition, Subtraktion, Division, Multiplikation usw. Ich bemerkte gegenüber Rinpoche: „Das ist ein wirklich merkwürdiges System.“ Und wieder maßregelte er mich: „Du bist so eingebildet.“ Arroganz war einer meiner größten störenden Emotionen. Er erklärte mir: „Es ist anders. Es ist nicht merkwürdig; es ist einfach nur anders.“ 

Wenn Lehrer uns auf unsere Fehler hinweisen und uns tadeln, sollten wir es als eine Unterweisung betrachten, die wir von ihnen bekommen, anstatt zu denken: „Das war aber nicht gerade nett.“

Wertschätzung der Güte unseres Lehrers

Der zweite Aspekt einer gesunden Geisteshaltung gegenüber unserem spirituellen Lehrer ist die Wertschätzung seiner Güte (gus-pa). Manchmal wird dieser Begriff als „Respekt“ übersetzt. Obwohl es in einem anderen Zusammenhang Respekt bedeuten könnte, bezieht es sich genau genommen auf die Wertschätzung ihrer Güte, wenn wir uns tatsächlich die Definition und die Anwendung des Wortes, im Rahmen der Beziehung mit einem spirituellen Lehrer, anschauen. Wenn wir ihre Güte und Geduld, uns Unterweisungen zu erteilen, wertschätzen, setzt das natürlich voraus, dass wir ihnen gegenüber Respekt haben, weil sie diese Güte besitzen.

Diese Wertschätzung haben wir vielleicht auch gegenüber den Lehrern, bei denen wir Lesen und Schreiben gelernt haben, oder gegenüber Professoren an der Universität, von denen wir Informationen über den Buddhismus erhalten haben, ungeachtet dessen, was ihr Motiv gewesen sein mag, ob es nur ihr Job war und sie Geld damit verdient haben, oder was auch immer. Im Umgang ihnen gegenüber sollten wir uns, kurz gesagt, so verhalten, dass wir versuchen, ihre Arbeit zu unterstützen, ihnen zu helfen und respektvoll zu sein. In der Schule stören wir beispielsweise nicht den Unterricht, sind nicht unkonzentriert und verpassen es nicht unsere Hausaufgaben zu machen. Wir üben entsprechend ihren Anweisungen.

Das sind allgemeine Richtlinien, die für alle Lehrer zutreffend sind. Wir sollte nicht denken, das gelte nur für einige Tantra-Meister, die sich auf einer Ebene befinden, die nicht von dieser Welt ist, oder so etwas. Es handelt sich hier um allgemeine Richtlinien, es zu schätzen, nicht als Wurm geboren zu sein – das ist ein oft zitiertes Beispiel, um einen völlig hoffnungslosen und hilflosen Zustand auszudrücken, in dem wir keine Möglichkeit haben, unsere Situation zu verbessern, weil wir nichts dazulernen können. Alles, was uns beigebracht wurde, um als Menschen funktionieren zu können, ist zurückzuführen auf die enorme Güte anderer. Wie wäre es, wenn wir völlig isoliert von allen anderen aufgewachsen wären und man hätte uns nicht einmal beigebracht zu sprechen? Wir könnten nichts sagen, ist es nicht so? Das sind im Grunde sehr praktische Richtlinien.

Wenn wir uns die klassischen Beispiele der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler anschauen – wie beispielsweise Milarepa von Marpa behandelt wurde – können wir sehen, das die Schüler geschlagen, angeschrien oder ausgeschimpft wurden. Ich hatte das Glück, diese Art von Beziehung mit Serkong Rinpoche gehabt zu haben. Er hat mich zwar nie geschlagen, aber dafür hat er viel mit mir geschimpft, wenn ich mich wie ein Idiot aufgeführt habe. Man muss sehr stark und reif sein, um so einer Art von Beziehung standzuhalten. Im Buddhismus ist es gewissermaßen Teil des „Vertrages“ einer Lehrer-Schüler Beziehung, nicht wütend auf den Lehrer zu werden. Allerdings gehen beide Seiten diesen stillschweigenden Vertrag ein, wohl wissend, dass der Lehrer uns nicht missbrauchen oder uns in irgendeiner Form Schaden zufügen wird. 

Ich werden an einem Beispiel verdeutlichen, welche überzeugenden und wohlwollenden Methoden Serkong Rinpoche bei mir anwandte. Abgesehen vom Kalachakra, hat Serkong Rinpoche sich nie darauf eingelassen, mich etwas zu lehren, außer wenn ich etwas für andere übersetzte. Er hat mich nie persönlich unterrichtet. Alles, was ich von ihm lernte, lernte ich nur in dem Rahmen, anderen damit zu nutzen; nie nur für mich selbst. Das war eine außerordentlich gütige Art, mir zu helfen, mich zu entwickeln.

Im Allgemeinen scheint es jedoch für Menschen im Westen nicht die beste Methode zu sein, wenn man so strikt ist. Die meisten Westler leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl. Bei mir war es jedoch umgekehrt, denn mein Problem war Arroganz. Niedriges Selbstwertgefühl findet sich eher selten bei Indern, Tibetern und Chinesen; es scheint eher ein westliches Phänomen zu sein. Die meisten Menschen im Westen brauchen eine Bestätigung dafür, dass was sie machen gut ist. Aber, wie gesagt, benutzten meine Lehrer, sowohl Serkong Rinpoche, als auch Geshe Ngawang Dhargyey, immer die Analogie des Hundes, der nur darauf wartet, auf dem Kopf gestreichelt zu werden und man ihm sagt: „Gut gemacht", worauf er mit dem Schwanz wedelt.

Die drei Arten der Überzeugung

Um noch einmal zu wiederholen, besteht der erste Aspekt einer gesunden Geisteshaltung gegenüber unserem spirituellen Lehrer darin, eine feste Überzeugung in seine oder ihre guten Eigenschaften zu haben. Da gibt es diesen allgemeinen Begriff: „depa“ (dad-pa), was oft als „Glauben“ übersetzt wird. Diese Übersetzung kann sehr irreführend sein, denn „Glauben“  bezieht sich normalerweise darauf, etwas blind zu glauben. Der Begriff bedeutet jedoch: „zu glauben, dass eine Tatsache wahr ist.“ Die Rede ist von einer Tatsache, nicht von dem Glauben an den Weihnachtsmann, oder zu glauben, die Aktien würden steigen. So ist das nicht. Es geht um eine Tatsache und wir vertrauen darauf, dass sie wahr ist. Was die Überzeugung in die guten Eigenschaften unseres Lehrers betrifft, sollte es sich um eine Tatsache handeln, dass er oder sie diese Qualitäten hat; und wir sollten uns sicher in Bezug auf diese Tatsache sein. 

Es gibt drei Arten zu glauben, dass eine Tatsache, wie die guten Eigenschaften unseres Lehrers, wahr ist:

  • An eine Tatsache auf der Grundlage der Vernunft zu glauben – beruhend auf Beweisen, entweder durch Logik oder Beobachtung.
  • Mit klarem Verstand an eine Tatsache in Bezug auf etwas zu glauben – dies klärt unseren Geist von störenden Emotionen. Zu glauben, es ist wahr, dass unser Lehrer gute Eigenschaften besitzt, befreit uns von Zweifeln, Eifersucht, Arroganz („ich weiß es besser als du“), Ärger („du hast nicht genug Zeit für mich“) und davon, an unserem Lehrer zu hängen, gierig und besitzergreifend zu sein („ich will dich nur für mich allein und für niemanden sonst“). Wenn wir von den guten Eigenschaften unseres Lehrers vollkommen überzeugt sind, stellen wir fest, dass all solche egozentrischen Geisteshaltungen absolut lächerlich sind. Der Lehrer ist da, um allen zu nützen, nicht nur uns.
  • An eine Tatsache mit einem Streben in Bezug darauf zu glauben – wir sind vollkommen überzeugt und haben Respekt vor diesen guten Eigenschaften unseres Lehrers und streben an, auch so zu werden. Wir möchten ihm gern nacheifern.  

Hier gibt es noch einen anderen wichtigen Punkt. Wie schon erwähnt, ist es nicht notwendig, dass alle Besucher eines Dharma-Zentrums den Gründer der Organisation des Zentrums als ihren spirituellen Lehrer betrachten. Wenn wir aber merken, dass uns dieser Lehrer inspiriert, bedeutet das „Anstreben, die guten Eigenschaften dieses Lehrers zu entwickeln“ nicht, jede einzelne Praxis, die dieser Lehrer macht, auch machen zu müssen. Nur weil dieser Lehrer diesen oder jenen Yidam praktiziert, heißt das nicht, diese Praxis muss auch zu uns passen. Jeder hat ganz offensichtlich ein völlig anderes Karma. In all den anfangslosen Wiedergeburten haben wir bei zahlreichen Lehrern in vielen unterschiedlichen Traditionen gelernt. Es gibt Samen für zig verschiedene Dinge in uns; es geht nicht nur darum, was ein bestimmter Lehrer praktiziert.

Natürlich sind die allgemeinen Belehrungen und Praktiken, denen der Lehrer denen der Lehrer nachgeht, auch für uns hilfreich, aber nicht unbedingt alle Details. Beispielsweise war Serkong Rinpoche nicht nur ein außerordentlicher tantrischer Meister und, wie Seine Heiligkeit, ein Meister aller vier Tantra-Klassen, sondern auch einer der Meister-Debattierpartner Seiner Heiligkeit. Das hieß, in seinem Kloster war er der Beste im Debattieren. Was mich angeht, war ich als Harvard-Absolvent bereits viel zu offensiv, was Logik, Vernunft und Intellekt betraf. Meine Lehrer waren sich dessen bewusst und ich war es auch. Wenn ich das Debattieren gelernt hätte, wäre aus mir ein „Debattier-Monster“ geworden. Ein Debattier-Monster ist jemand, der nie weiß, wann er aufhören sollte zu debattieren und kann nicht unterscheiden, wann es angemessen ist und wann nicht. Ganz egal was jemand sagt; wenn es unlogisch ist, würde so eine Person sofort aufspringen und attackieren, wie in einer Debatte. Das ist eine Debattier-Monster. 

Und obwohl also Serkong Rinpoche ein Meister im Debattieren war, ermutigte er mich nie es zu lernen und unterrichtete mich auch nicht darin. Für meinen Charakter wäre es einfach nicht hilfreich gewesen. Es war nicht das, was ich brauchte. Viel wichtiger war, dass man mich ohne Gnade ständig darauf hinwies, wenn ich mich wie ein Idiot aufführte.

Das sind also die verschiedenen Arten der festen Überzeugung.

Die Güte unseres spirituellen Lehrers

Der zweite Aspekt einer gesunden Geisteshaltung gegenüber unserem spirituellen Lehrer ist, seine oder ihre Güte wertzuschätzen. Es gibt viele Beschreibungen dazu, wie gütig der Lehrer ist. Der Buddha ist momentan nicht da, um uns zu unterweisen. Es ist unser Lehrer, der uns zurzeit Belehrungen gibt. So gesehen haben unsere Lehrer mehr Güte als die Buddhas, wie in den Texten gesagt wird.

Eine der wunderbaren Eigenschaften eines wirklich qualifizierten Lehrers ist, jeden ernst zu nehmen. Wenn wir wirklich daran interessiert sind zu lernen, nehmen sie uns ernst, auch wenn wir uns auf einer sehr niedrigen Ebene befinden mögen, und geben uns Belehrungen, entsprechend unserer Ebene. Einmal kam zum Beispiel ein völlig unter Drogen stehender Hippie zu Serkong Rinpoche und sagte: „Bitte geben sie mir Belehrungen zu den Sechs Yogas von Naropa.“ Rinpoche schimpfte nicht mit ihm, weil er unter Drogen stand und jagte ihn auch nicht davon, sondern nahm ihn sehr ernst. Wenn man Menschen ernst nimmt, fangen sie an, sich selbst ernstzunehmen. Rinpoche erwiderte: „Prima. Wenn du das machen willst, dann musst du hiermit anfangen.“ Er sagte ihm, womit er beginnen müsste, um schließlich die Sechs Yogas von Naropa lernen zu können. Das ist ein Beispiel, an dem man sehen kann, was es bedeutet, jemanden ernst zu nehmen. Es hat nichts mit Güte zu tun, wenn man die Sechs Yogas von Naropa jemanden lehrt, der gänzlich unvorbereitet ist. Das ist keine Güte.

Unseren spirituellen Lehrer schätzen

Kachen Yeshe Gyaltsen, der Tutor des 7. Dalai Lama, ging in seinem Werk: „Indicating Clearly the Primary Minds and Mental Factors näher darauf ein, die Güte des Lehrers zu schätzen. Laut ihm bedeutet es, die Lehrer zu achten und zu ehren, sowie auch ihre Güte zu schätzen. Jemanden „zu achten“ heißt, großen Respekt gegenüber ihm zu haben. Er fügt diese Bedeutung des Wortes hinzu und damit ist gemeint, respektvoll zu sein. „Schätzen“ heißt soviel wie fürsorgliche Liebe. Das bringt uns zu der Frage, ob es angemessen ist oder nicht, unseren Lehrer zu lieben. Lieben wir unseren Lehrer wirklich? Wenn ja, um was für eine Art von Liebe handelt es sich da?

Wir haben schon darüber gesprochen, diesen Glauben in die guten Eigenschaften unseres Lehrers zu haben, der unseren Kopf von störenden Emotionen ihm oder ihr gegenüber reinigt. Wenn wir daher sagen, dass wir unseren Lehrer schätzen und lieben, heißt das nicht, ihn mit sehnsüchtigem Verlangen und Lust als eine Art sexuellen Partner zu betrachten, oder besitzergreifend zu sein und den Lehrer nur für sich haben zu wollen. Das bedeutet es mit Sicherheit nicht. Im Buddhismus wird die Liebe als Wunsch definiert, die andere Person möge glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Wünschen wir uns, dass unser Lehrer glücklich ist? Natürlich tun wir das.

Was das Verhalten gegenüber dem Lehrer angeht, ist es üblich, Opfergaben darzubringen und dem Lehrer Dinge zu geben, um ihn zu erfreuen. Was den Lehrer aber am meisten erfreut, ist unsere Praxis. Bedeutet das auch, dass wir damit den Lehrer glücklich machen wollen? Hier wird es ein bisschen heikel, denn wie es heißt, wollen wir unseren Lehrer erfreuen; aber in Wahrheit sind Buddhas gleichmütig, wie ein Tiger gegenüber dem Gras. Wir wollen sie nicht auf eine kindische Art und Weise erfreuen und auf Bestätigung hoffen, dass uns unser Lehrer beispielsweise den Kopf streichelt und sagt: „Guter Junge! Gutes Mädchen!“ und dann wedeln wir mit dem Schwanz. Wir empfinden diese fürsorgliche Liebe für unseren Lehrer; wir kümmern uns darum, dass er gutes Essen bekommt, es bequem hat, sich ausreichend erholen kann, oder was auch immer. Wir nehmen Rücksicht auf unseren Lehrer. Das ist ein Aspekt der Liebe, nicht wahr?

“Wertschätzen“ im Rahmen der siebenteiligen Übung zu Ursachen und Wirkungen

Kachen Yeshe Gyaltsen übersetzt diesen Begriff für gewöhnlich mit „wertschätzen.“ Wo wird er sonst noch benutzt? Man kann ihn in den Bodhichitta-Lehren finden, in der siebenteiligen Anweisung zu Ursachen und Wirkungen zur Entwicklung von Bodhichitta.

  • Es beginnt mit einem Punkt, der noch vor den sieben anderen kommt. Dabei handelt es sich um Gleichmut, bei der wir weder Anziehung, Ablehnung noch Gleichgültigkeit gegenüber anderen hegen. Damit wird unsere Geisteshaltung gegenüber allen anderen ausgeglichen.
  • Als nächstes geht es darum, dass jeder irgendwann einmal unsere Mutter gewesen ist.
  • Dann erinnern wir uns an die Güte mütterlicher Liebe, die Güte, die wir von allen schon einmal bekommen haben. Wie gesagt ging es darum, die Güte, die wir von unserem spirituellen Lehrer bekommen haben, zu schätzen. Wenn man aber all die unzähligen Leben in Betracht zieht, hat uns jeder schon einmal unterrichtet. Irgendwann war jeder einmal unser Lehrer.
  • Dann geht es weiter mit dem, was normalerweise mit „Güte zurückzahlen“ übersetzt wird. Diesen Begriff sollten wir mit Vorsicht genießen, denn es gilt zu vermeiden, sich schuldig zu fühlen, weil wir keinen Beitrag leisten oder weil wir Schulden begleichen müssen. Um diese Geisteshaltung geht es hier nicht. Vielmehr wollen wir ganz natürlich eine ausgeglichene Situation schaffen.

Und daraus folgt dann ganz automatisch das Entwickeln von herzerwärmender Liebe. „Herzerwärmende Liebe“ (yid-’ong byams-pa) ist ein schwer zu formulierender Begriff. Wörtlich bedeutet dieser Begriff im Tibetischen: „Liebe, die leicht in unseren Geist kommt." In der Erläuterung dieser Liebe taucht das Wort auf, das wir untersuchen. Wir schätzen die andere Person, es bereitet uns große Freude sie zu sehen und wir würden uns schrecklich fühlen, wenn ihr etwas Schlimmes zustoßen würde. Diese Art der Liebe geht automatisch aus dem vorangegangenen Schritt hervor, ohne weitere Meditation. Wenn wir den vorherigen Punkt mit „Güte zurückzahlen“ übersetzen würden, ergibt das keinen Sinn. Sich schuldig zu fühlen, würde kein Gefühl der Freude hervorrufen, jemanden zu sehen, ihn wertzuschätzen oder sich schlecht zu fühlen, wenn ihm etwas zustoßen würde. Das kann also nicht die richtige Bedeutung dieses vorherigen Punktes sein.

Gehen wir also noch ein bisschen tiefer in unserer Analyse. Welcher Geisteszustand liegt diesem Wunsch zugrunde, die Güte zu erwidern, indem wir auch gütig sind? Es ist ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Wir empfinden wahre Anerkennung und Wertschätzung der Güte und sind so dankbar dafür. Wir denken: „Ich bin so dankbar dafür, wie sehr du mir geholfen hast und wenn ich dich sehe, leuchte ich auf. Ich freue mich so dich zu sehen. Du liegst mir am Herzen und ich möchte, dass du glücklich bist. Es wäre einfach furchtbar, wenn dir etwas Schlimmes zustoßen würde.“ All das empfinden wir aus Dankbarkeit und Wertschätzung in Anbetracht der Güte, die jemand gegenüber uns hat.

Dieses Wort „wertschätzen“ benutzen wir auch im Kontext des Gleichsetzens und Austauschens unserer geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber. Statt uns selbst als so großartig zu sehen und sich nur um sich selbst zu kümmern, haben wir diese geistige Einstellung gegenüber anderen. Wir kümmern uns um sie in dem Ausmaß, wie wir uns auf egozentrische Weise um uns selbst gekümmert haben. Das ist also der gleiche Begriff.

Wenn wir also davon reden, was es bedeutet, unseren Lehrer zu lieben, stoßen wir auf diesen Begriff der „Wertschätzung." So steht es in den Texten. Im Zusammenhang mit diesem Begriff gibt es keine störenden Emotionen. Wenn wir mit unserem Lehrer zusammen sind, oder auch nur an ihn denken, wird uns „warm ums Herz“ und erfüllt uns mit Freude.

In der Vajrayogini-Praxis gibt es beispielsweise den Punkt, an dem wir uns vorstellen, dass unser Lehrer sich über unserem Kopf befindet und dann in uns verschmilzt. Etwas Ähnliches kann man in fast jeder Praxis finden. Was hier betont wird, ist das Gefühl großer Freude, die wir empfinden, wenn wir mit dem Lehrer verschmelzen. Das bezieht sich nicht auf ein geschlechtliches Verschmelzen; es bedeutet, die guten Eigenschaften von Körper, Rede und Geist unseres Lehrers mit unseren eigenen verschmelzen zu lassen. Darum geht es beim Guru-Yoga. In der Vajrayogini-Praxis weitet sich dieses außerordentliche Gefühl der Freude auf die Größe des Universums aus. Mit dem Verständnis der Leerheit dieser Freude wird unser Geist dann immer subtiler.

In Bezug auf die Wertschätzung unseres Lehrers geht es darum, dieses immense Gefühl der Freude zu haben, wenn wir ihn sehen oder nur an ihn denken, ganz zu schweigen davon, wenn wir die Guru-Yoga-Praxis ausführen. Die natürliche Folge davon ist dann, dass wir uns um unseren Lehrer kümmern wollen und uns schrecklich fühlen würden, wenn ihm etwas Schlimmes zustoßen würde. Wir möchten, dass er die Möglichkeiten hat, anderen helfen zu können. Und wir wollen uns um ihn sorgen, wenn er krank ist usw.

Es ist nicht einfach, tatsächlich diese Freude zu empfinden, besonders wenn wir dieses Verschmelzen als Teil unserer täglichen Praxis in einem Sadhana, einer tantrischen Rezitationspraxis, üben. Wie können wir sie entwickeln, wenn wir wirklich eine echte Beziehung mit einem spirituellen Lehrer haben? Indem wir die Güte unseres Lehrers, genau wie in der siebenteiligen Bodhichitta-Meditation, wertschätzen. Wir denken an die Güte unseres Lehrers und dadurch entsteht ein enormes Gefühl der Dankbarkeit, was automatisch zu dieser freudvollen Geisteshaltung – der herzerwärmenden Liebe – führt.

Inspiration vom Lehrer

Aus all dem folgt die Standardpraxis, auch bekannt als „Gebete machen“ oder solwa deb (gsol-ba ’debs) auf Tibetisch. Das kann man in jeder Art von Praxis finden. Worum bitten wir genau? Ganz offensichtlich bitten wir nicht um einen Mercedes Benz oder so etwas. In Übersetzungen können wir oft lesen: „Segne mich, dieses oder jenes zu tun.“ Hier handelt es sich nicht um eine genau Übersetzung des Gebetes und stammt aus einer anderen traditionellen Sichtweise. Der Begriff, der als „Segen“ übersetzt wird, hat einen Beigeschmack von Inspiration, unseren Geist zu erhellen und ihm Energie zu verleihen, „chingyilab“ (byin-gyis rlabs) auf Tibetisch. Um was wir also tatsächlich bitten, ist Inspiration. „Inspiriere mich, mehr Mitgefühl, oder mehr Verständnis gegenüber meinen Eltern oder Kindern zu haben", oder wofür auch immer wir Inspiration benötigen. Diese Bitten sollten wir der momentanen Situation in unserem täglichen Leben anpassen.

Wir sollten die Inspiration nicht als etwas wie einen Fußball betrachten, den unser Lehrer hat und uns zuwirft. Mit fester Überzeugung in die guten Eigenschaften unserer Lehrer, erinnern wir uns an ihre guten Eigenschaften, wie geduldig sie sind und wie verständnisvoll gegenüber anderen. Indem wir daran denken, werden wir inspiriert, diesem Beispiel zu folgen und versuchen auch so zu sein.

[Siehe: „Segen“ oder Inspiration?]

Wenn unser Lehrer nicht mehr da ist, scheint, aus meiner Erfahrung, seine Inspiration sogar noch stärker zu werden. Viele Menschen haben dieses Gefühl bestätigt. Serkong Rinpoche starb 1983. Wenn unser Lehrer noch lebt, ist er oft an einem anderen Ort und dann haben wir das Gefühl, dass er ziemlich weit weg ist. Aber wenn er bereits gestorben ist, haben wir ihn viel mehr verinnerlicht. Wir haben dann das Gefühl, dass er immer bei uns ist.

Was ist aber mit uns? Hier geht es um die Werte und das beispielhafte Verhalten unseres Lehrers. Wenn ich mit einer schwierigen Situation konfrontiert werde, frage ich mich: „Wie würde Serkong Rinpoche sich in dieser Situation verhalten?" „Was würde er tun?“ Oder: „Wie würde Seine Heiligkeit der Dalai Lama mit dieser Situation umgehen?“ Wir alle können all können Inspiration bekommen und versuchen, wie unsere Lehrer zu sein. Das ist sehr hilfreich. Natürlich ist es notwendig, vertraut damit zu sein, wie unser Lehrer verschiedene Situationen bewältigt hat. Oft haben wir nicht die Möglichkeit dazu, aber wenn wir sie haben, ist das natürlich großartig.

In so vielen Texten wird davon gesprochen, wie wichtig es ist, Gebete zu machen. Deshalb ist es essenziell zu verstehen, was das bedeutet, um was wir bitten und warum. Inspiration von unserem spirituellen Lehrer wird oft als Wurzel des Pfades bezeichnet. Sie verleiht uns Energie; sie erdet uns und gibt uns Stabilität. Wir wissen, dass schon andere vor uns diesem spirituellen Pfad gefolgt sind. Wir sind nicht allein.

Frage bezüglich der mündlichen Übertragung

Können Sie ein paar Erklärungen in Bezug auf die mündliche Übertragung im Allgemeinen und insbesondere auch darauf geben, wie all die mündlichen Übertragungen bis hin zu Buddha Shakyamuni zurückreichen? Wenn wir von einem Lehrer eine mündliche Übertragung für eine bestimmte Praxis erhalten haben, sollten wir dann anstreben, die mündliche Übertragung für diese gleiche Praxis auch von anderen Lehrern zu bekommen?

Der Brauch von mündlichen Übertragungen entstand im alten Indien, wo traditionell keine Lehren niedergeschrieben wurden. Der einzige Weg, die Unterweisungen zu lernen, bestand darin, sie von Shakyamuni Buddha selbst oder von Schülern späterer Generationen zu hören, die sie wiederholten. Das setzt voraus, sie zu memorieren; jemand hat sie auswendig gelernt, andere hören sie sich immer wieder an und lernen sie auch auswendig. Auch heute ist es oft so unter den Tibetern, dass sie alle Texte erst einmal auswendig lernen, bevor sie sie studieren. Sie lernen auch die Pujas auswendig. 

Drei Arten des unterscheidenden Gewahrseins treten in Erscheinung: zuerst das Hören, dann das Denken und schließlich das Meditieren. Zunächst ist es notwendig, die Wörter der Belehrung, die wir hören, maßgeblich in Betracht zu ziehen. Wir sollten schauen, ob sie korrekt sind; hier handelt es sich um die tatsächlichen Worte der Belehrung und wir haben sie richtig verstanden. Dann können wir beginnen, darüber nachzudenken und zu versuchen, sie zu begreifen. 

Aus diesem Grund ist es notwendig, die mündliche Übertragung von jemandem zu bekommen, der sich die Unterweisungen zu eigen gemacht hat. Wir hören zu und währenddessen sollten wir natürlich aufmerksam sein, nicht einschlafen usw. Und dann können wir schließlich die Wörter memorieren und die Unterweisung an die nächsten Generationen weitergeben. In diesem Zusammenhang ist dieser Brauch der mündlichen Übertragung entstanden.

Früher dachte ich immer, es sei notwendig, den Text tatsächlich zu verstehen, um die mündliche Übertragung weitergeben zu können, damit der Empfänger auf diese Weise inspiriert würde. Wenn dann die Person, die den Text rezitiert, ihn auch wirklich versteht, könnten wir überzeugt sein, dass auch wir ihn verstehen könnten. Aber dann fand ich heraus, dass dem nicht so war.

Der Vater des alten Serkong Rinpoche, der erste Serkong Dorjechang, war einer der größten Yogis zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Er stammt aus der Kalachakra-Linie. Einer der schwierigsten Texte von Tsongkhapa ist: Drang-nges legs-bshad snying-po, oder: „Die Essenz der vorzüglichen Erklärung über die interpretierbaren und die letztendlichen Bedeutungen“ auf Deutsch. Obwohl es eine mündliche Übertragungslinie von Tsongkhapa selbst gibt, hatte Serkong Dorjechang während eines Retreats eine Vision von Tsongkhapa, in der Tsongkhapa ihm in dieser Vision eine andere, besondere Übertragung dieses Textes gab.

Der alte Serkong Rinpoche hatte die mündliche Übertragung von seinem Vater bekommen und obwohl es sich um einen 250-seitigen Text handelt, rezitierte ihn Rinpoche jeden Tag auswendig, zusätzlich zu seinen Tantra-Rezitationen und all den anderen Dingen, die er jeden Tag als Teil seiner täglichen Praxis tat. Rinpoche gab diese mündliche Übertragung nie an Seine Heiligkeit den Dalai Lama weiter, obwohl er einer Seiner Lehrer war. Er sagte immer, er würde warten, bis er eine besondere Einsicht bekam, um ihn Seiner Heiligkeit erklären zu können.  

Doch dann starb der alte Serkong Rinpoche bevor er das tun konnte. Vor ein paar Jahren sagte seine Reinkarnation, der junge Tulku, der jetzt 27 Jahre alt ist, dass er wirklich daran interessiert sei, diese Übertragung zu bekommen. Ich stehe ihm sehr nahe, genauso wie ich dem alten Rinpoche sehr nahe stand. Er suchte nach jemanden, der diese Übertragung hatte und ihm geben konnte und fand heraus, dass ich der Einzige war, der die mündliche Übertragung von seinem Vorgänger, dem alten Serkong Rinpoche, hatte. Er hatte sie nur einer sehr kleinen Gruppe von drei Leuten gegeben und ich war einer von ihnen. Er gab uns diese mündliche Übertragung einfach so, auf klassische Weise aus dem Gedächtnis. Er las den Text nicht vor und das war wirklich beachtlich. Obwohl ich nun also diese mündliche Übertragung bekommen hatte, habe ich den Text nie wirklich studiert oder gar gelesen. 

Ich fragte Seine Heiligkeit den Dalai Lama, ob ich die mündliche Übertragung weitergeben könnte. Seine Heiligkeit erklärte: „Es ist egal, ob du den Text studiert hast, oder ob du ihn verstehst. Du solltest dem jungen Serkong Rinpoche die mündliche Übertragung geben.“ Ich übte also, den Text laut zu rezitieren, bis ich ihn in angemessener Geschwindigkeit vorlesen konnte, damit es keine Tortur für ihn werden würde, mir zuhören zu müssen. Ich habe ihn jedoch nicht auswendig gelernt. Dann reiste ich nach Indien, um Rinpoche zu sehen und gab ihm die mündliche Übertragung. Vor ein paar Monaten hat Rinpoche dann in Bodhgaya die mündliche Übertragung das erste Mal weitergegeben. Er gab sie einer Gruppe von Tibetern, unter ihnen Lama Zopa und Dagri Rinpoche. Es ist einfach schön, dass sie jetzt weitergegeben wird.

Habe ich den Segen dieses Textes weitergegeben? Das kann ich nicht sagen. Gab es eine Art von Inspiration? Gewiss nicht von meinem eigenen Verständnis oder meiner Verwirklichung, da ich den Text nie studiert habe. Die Tatsache, dass es eine Fortsetzung gibt, ist aber eine Art von Inspiration. Zweifellos gibt es einen Nutzen. Es wird immer gesagt: Wenn wir die mündliche Übertragung bekommen, wirkt das als Umstand dafür, uns zu helfen, den Text besser verstehen zu können. Deswegen ist es auch immer hilfreich, eine mündliche Übertragung mehrere Male zu bekommen.

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