Die Blickwinkel von Grundlage, Pfad und Ergebnis
Die meisten tibetischen Texte, die sich damit beschäftigen, dass tantrische Meister Buddhas sind, erläutern das Thema der unreinen und reinen Erscheinungen aus einem speziellen Blickwinkel. Allerdings versäumen diese Texte häufig, ihren Blickwinkel deutlich zu machen. Daraus kann Verwirrung entstehen.
In seinem Text „Weitest gehendes immer währendes Kontinuum“ erklärt Maitreya drei Blickwinkel für die Betrachtung untrennbar unreiner und reiner Erscheinungen. Man kann diese Erscheinungen aus dem Blickwinkel einer noch nicht erkannten, einer teilweise erkannten oder einer voll verwirklichten Buddha-Natur betrachten. Mit anderen Worten, untrennbar reine und unreine Erscheinungen werden unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem, ob flüchtige Makel die Buddha-Natur der oder des Wahrnehmenden verhüllen oder ob diese Makel teilweise oder sogar völlig beseitigt sind.
Da Reinigung ein Name für die Beseitigung flüchtiger Makel ist, nannte Maitreya seine drei Blickwinkel „unrein“, „unrein und rein“ und „vollständig rein“ – eine weitere Gebrauchsform der Begriffe unrein und rein. Spätere Kommentatoren nannten die drei Blickwinkel die Ebenen von „Grundlage“, „Pfad” und „Ergebnis (Frucht)“. Die Erscheinungen sind von jeder der drei Blickwinkel gültig.
Die typischen Blickwinkel der vier tibetischen Schulen
Die Texte jeder der vier tibetischen buddhistischen Schulen tendieren dazu, das Thema unreiner und reiner Erscheinungen aus einem der drei Blickwinkel zu behandeln. Der große Rime-Meister Jamyang Kyentse Wangpo erklärte, dass die Mentoren der Gelug-Tradition hauptsächlich von der Ebene der Grundlage ausgehen, die Mentoren der Sakya-Tradition hauptsächlich von der Ebene des Pfades und die Mentoren der Kagyü- und Nyingma-Tradition hauptsächlich von der Ebene des Ergebnisses eines schon erleuchteten Buddhas. Dabei liegt der Blickwinkel der Ebene der Grundlage auf der Seite der unreinen Erscheinungen, der Blickwinkel der Ebene des Pfades auf der Seite der Erscheinungen als sowohl unrein als auch rein und der Blickwinkel der Ebene des Ergebnisses auf der reinen Seite. Die Analyse wird noch dadurch verkompliziert, dass die meisten Autoren die unterschiedlichen Bedeutungen von „rein“ und „unrein“ in ihren Darstellungen vermischen.
Die Texte der Kadam- und frühen Gelug-Tradition über die Schüler-Mentor-Beziehung tendieren dazu, das Thema vom Blickpunkt spiritueller Mentoren im Allgemeinen und ihrer unreinen Erscheinungen zu diskutieren. Sie erkennen völlig an, dass unsere Mentoren eine unreine menschliche Form mit konventionellen Fehlern besitzen, die unabhängig existent zu sein scheint. Auf der Ebene der Grundlage können wir jedoch die unreinen und reinen Erscheinungen nicht gleichzeitig wahrnehmen. Daher sollten wir uns – ohne die unreine menschliche Erscheinung unserer Mentoren zu leugnen – in der Guru-Meditation auf ihre reine menschliche Erscheinung konzentrieren, die gute Qualitäten besitzt, aber in Abhängigkeit existiert. Schließlich finden wir in ihren guten Qualitäten eine sichere Ausrichtung und nicht in ihren Fehlern. Und mit Entsagung entschließen wir uns dazu, uns von unseren Unzulänglichkeiten zu befreien, nicht von unseren guten Qualitäten. Darüber hinaus können wir nur dann gute Qualitäten entwickeln und Fehler beseitigen, wenn diese in Abhängigkeit existieren.
Auch zu einem späteren Zeitpunkt verfasste Texte der Gelug-Tradition über den Stufenpfad stellen das Thema der Beziehung zwischen Mentor und Schüler aus dem Blickwinkel der Grundlage dar. In den Texten wird erläutert, dass unser Geist, beeinflusst durch unser Karma, unsere Mentoren in vielerlei Formen erscheinen lässt – unsere Mentoren erscheinen uns daher so, als seien sie entweder mit Makeln behaftet oder so als wenn sie ausschließlich gute Eigenschaften besitzen würden. Wir sind durchaus in der Lage, uns nur auf die guten Qualitäten eines Menschen zu konzentrieren und seine Fehler zu ignorieren. Da es viele Vorteile mit sich bringt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nur auf die guten Qualitäten unserer Mentoren ausrichten, was durch die schriftlichen Quellen bejaht und auch durch Logik bestätigt wird, lenken wir unsere Aufmerksamkeit in der Guru-Meditation lediglich auf die reinen Erscheinungen unserer Mentoren.
Die Texte der Sakya-Tradition erörtern die Schüler-Mentor-Beziehung beinahe ausschließlich im Kontext des höchsten Tantra. Sie nehmen den Pfad-Blickpunkt der Untrennbarkeit unreiner und reiner Erscheinungen ein. Die Erscheinungen unserer Mentoren in Form eines Menschen oder einer Buddha-Gestalt sind untrennbare Tatsache in Bezug auf die Erscheinung ihrer Körper, ihrer Rede und ihres Geistes. Wenn von einem Blickwinkel aus betrachtet das eine gilt, dann kann von einem anderen Blickwinkel aus, dennoch die andere Tatsache ebenfalls gelten. Ebenso untrennbar sind die unreinen Erscheinungsweisen unserer Mentoren mit konventionellen Fehlern und ihre reinen Erscheinungsweisen mit ausschließlich guten Qualitäten. Jede Erscheinungsweise ist – von einem spezifischen Blickpunkt aus betrachtet – gültig.
Die Texte der Kagyü- und Nyingma-Tradition präsentieren die Schüler-Mentor-Beziehung zumeist vom Ergebnis-Blickwinkel der reinen Erscheinung von Buddhas. Von diesem Gesichtpunkt aus betrachtet, sind unsere Mentoren Buddhas mit ausschließlich guten Qualitäten. Auf der tiefsten Ebene sind unsere Mentoren tatsächlich der innere Guru – der voll verwirklichte Geist des klaren Lichts, frei von Makeln und vollständig mit allen Buddha-Qualitäten versehen. Der erleuchtende Geist der Buddhas lässt nur reine Erscheinungen von abhängiger Existenz entstehen, sowohl auf der Sambhogakaya-Ebene subtiler Erscheinungen als auch auf der Nirmanakaya-Ebene grober Erscheinungen. Die subtilen Erscheinungen beinhalten die Formen von Buddha-Gestalten, die ausschließlich gute Qualitäten besitzen, während die groben Erscheinungen auch menschliche Formen mit einschließen, die dem Anschein nach Fehler aufweisen.
Undefinierter Gebrauch der Begriffe unrein und rein
Da die Begriffe unreine und reine Erscheinungen mehrere Bedeutungen haben, kann eine Erscheinung in einem Sinne des Wortes rein sein und einer anderen Wortbedeutung nach unrein. In vielen Texten werden diese Begriffe jedoch verwendet, ohne dass die exakte Bedeutung spezifiziert wird, die mit dem Begriff beabsichtigt wird. Der Mangel an Präzision, mit dem der Begriff verwendet wird, ist häufig eine weitere Ursache für Verwirrung und Missverständnisse.
Die Texte des höchsten Tantra weisen die Schüler beispielsweise an, ihre tantrischen Meister in einer reinen Form zu sehen. Alle in den Meistern wahrgenommenen Fehler sind dann als Hirngespinste der eigenen Vorstellung zu betrachten. Ohne eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs rein zu treffen, können Schüler leicht den Fehler machen zu glauben, dass es sich bei den Handlungen eines Mentors auch dann noch um die vollkommene Handlungsweise eines erleuchteten Wesens handelt, wenn er Schülerinnen oder Schüler sexuell missbraucht. Schließlich sei ja jede Wahrnehmung missbräuchlichen Verhaltens eines Lehrers als Fehlverhalten eine Projektion, die der eigenen Einbildungskraft entspringt, und daher falsch.
Die beabsichtigte Bedeutung dieser Aussage ist allerdings eine ganz und gar andere. Die unreine Erscheinung des missbräuchlichen Verhaltens eines tantrischen Meisters als unabhängig existent zu betrachten, das ist das Hirngespinst eines verwirrten Geistes. Das missbräuchliche Verhalten ist in Abhängigkeit von vielen Ursachen und Bedingungen entstanden. Obwohl die trügerische Erscheinung, wie das Verhalten existiert, falsch ist, bleibt doch die Tatsache, dass das Verhalten missbräuchlich ist, wahr und unbestritten.
Jenseits von gut und böse
In vielen Nyingma- und Kagyü-Texte ist davon die Rede, dass das Verhalten eines tantrischen Meisters jenseits von gut und böse sei. Dabei ist allerdings nicht die Rede von der konventionellen Ebene der Grundlage einer Handlung, wie zum Beispiel einem Missbrauch oder davon, welche Wirkungen eine solche Handlung nach sich zieht. Der Buddhismus relativiert nicht alles bis zu einem Punkt, an dem sämtliche Phänomene ihre konventionelle Identität verlieren. Missbrauchsverhalten schädigt sowohl den Täter als auch das Opfer. „Jenseits von gut und böse“ bezieht sich auf die Tatsache, dass die Dinge nicht in die dualistischen Kategorien von unabhängig gut oder böse fallen. Die Aussage leugnet verhaltensbedingte Ursache und Wirkung nicht. Da vom Ergebnis-Blickwinkel her reine Handlungen nicht mit Verwirrung oder Täuschung verbunden sind, gehen sie über bloße karmische Ursachen und Wirkungen hinaus. Trotzdem haben auch reine Handlungen noch Wirkungen. Wäre es anders, könnten die erleuchtenden Handlungen eines Buddhas niemandem von Nutzen sein.
Doch es bleibt die Frage, wie eine reine Handlung Leiden schaffen kann. Obwohl eine Handlung vom Ergebnis-Blickwinkel aus betrachtet rein sein mag, kann sie vom Pfad-Blickwinkel aus gesehen sowohl rein als auch unrein sein und von der Grundlage her betrachtet unrein. Alle drei Blickwinkel sind gültig und führen zu gültigen Erfahrungen. So kann ein tantrischer Meister sein eigenes missbräuchliches Verhalten von der Ebene des Ergebnisses eines voll verwirklichten Geistes des klaren Lichts her betrachten und erfährt somit kein Leiden aus der Handlung, obwohl es seine Reputation zerstören kann. Die Opfer jedoch, die den Missbrauch gültig aus der Grundlagen-Perspektive der noch unverwirklichten Buddha-Natur sehen und erleben, leiden sehr darunter. Darum würde ein richtig qualifizierter tantrischer Meister schon aus bloßem Mitgefühl jedes missbräuchliche Verhalten meiden.
Reines Verhalten kann allerdings auch erfordern, dass man, um einen langfristigen Nutzen hervorzubringen, kurzzeitig Leiden verursachen muss, ähnlich wie bei einem chirurgischen Eingriff. Dennoch bleibt die Aussage des Nyingma-Meisters Ngari Panchen gültig. Meister des Tantra oder Dzogchen vermeiden, besonders wenn sie im Blick der Öffentlichkeit stehen, jedes im konventionellen Sinn destruktive Verhalten, das andere dazu bringen könnte, ihren Glauben an die Buddhisten und an den Buddhismus zu verlieren. Tantrische Meister versprechen die Einhaltung dieser Richtlinie sogar in einem ihrer Bodhisattvagelübde.
Die Praxis, den eigenen tantrischen Meister als einen Buddha zu betrachten, verneint also auf keinen Fall die konventionelle Gültigkeit unreiner Erscheinungen. Die unreine Erscheinung eines seine Schüler missbrauchenden spirituellen Mentors so zu verstehen, als habe er inhärente Makel, ist jedoch letztlich ungültig. Inhärente Existenz, unabhängig von irgendetwas, ist schlicht unmöglich. Dennoch kann die unreine Erscheinung in Bezug auf die Tatsache, dass das Verhalten des Mentors fehlerhaft ist und Leiden verursacht hat, als konventionell gültig angesehen werden. Alle tibetischen Traditionen akzeptieren eine gültige Unterscheidung zwischen fehlerfreien und verzerrten konventionellen Wahrheiten. Ebenso lehnen alle tibetischen Traditionen die so genannte „Hoshang-Position“ ab, die behauptet, zwischen konstruktiven und destruktiven Handlungen gebe es keinerlei Unterschied.
Negative Umstände in positive verwandeln
Eine weitere Möglichkeit der Erkenntnis Ausdruck zu verleihen, dass der eigene Mentor ein Buddha ist, liegt darin, all ihre oder seine Handlungen als Belehrung zu sehen, selbst wenn einige davon fehlerhaft oder destruktiv sein sollten. Diese Anweisung stammt aus der Kadam-Tradition. In „Sieben Punkte zur Reinigung der Geisteshaltungen“ („Sieben Punkte des Geistestrainings“) lehrte der Kadam-Geshe Chekawa, dass Schüler negative Umstände in positive Umstände verwandeln können, indem sie sich auf die Lehre konzentrieren, die sie daraus ziehen können. Der Kadam-Geshe Langri Tangpa gab ähnliche Ratschläge in „Schulung der Geistestraining in acht Verse“: Wenn spirituelle Schüler von anderen Menschen auf völlig unfaire Weise zutiefst verletzt werden, sollten sie diese Menschen als ihre spirituellen Mentoren ansehen.
Eines der tantrischen Gelübde zum Aufbau einer engen Bindung an einen tantrischen Meister lautet, sich davon zurückzuhalten, zornig auf den Lehrer zu werden oder den Respekt vor ihm zu verlieren, gleichgültig was er sagt oder tut; und das selbst dann, wenn unser tantrischer Meister unethisch handelt oder Schaden verursacht. Wenn wir den Anweisungen der Kadam-Tradition in Bezug auf dieses Gelübde folgen, versuchen wir eine Lehre aus dieser Situation zu ziehen. Dabei kann die gesamte Lehre einfach nur darin bestehen, dass wir selbst diese Art destruktiven Handelns meiden wollen. Das ist die allgemeine Bedeutung der Unterweisung, die Praktizierende des Sutra und des Tantra gleichermaßen akzeptieren. Wenn wir in unserer Praxis des höchsten Tantra weiter fortgeschritten sind, können wir das Geschehnis auch dafür nutzen, die Struktur einer der fünf Arten tiefen Gewahrseins (Buddha-Weisheit) zu erkennen, die dem falschen Verhalten zugrunde liegt – so können wir durch die Begebenheit beispielsweise das spiegelgleiche Gewahrsein oder das individualisierende Gewahrsein erkennen.
Die Nyingma- und Kagyü-Traditionen setzen die fünf Arten des Gewahrseins mit den fünf störenden Emotionen in Verbindung – wie etwa dem Zorn oder der Begierde – die wir in unseren Mentoren sehen. Die Sakya-Tradition verbindet die fünf Arten des Gewahrseins mit den fünf Skandhas, die das falsche Verhalten unserer Mentoren mit beinhalten – wie etwa dem Bewusstsein oder dem Unterscheiden. Die Sakya-Tradition verbindet die fünf Arten des Gewahrseins auch mit den Fehlern, die wir in Körper, Rede, Geist, Qualitäten oder Handlungen unserer Mentoren sehen. Die Ebene tiefen Gewahrseins zu erkennen, die den störenden Emotionen, Skandhas oder falschen Handlungen unserer Mentoren zugrunde liegt, hilft uns, diese tiefere Ebene auch im Zusammenhang mit unserer eigenen Verwirrung zu erkennen. Wenn wir uns auf unser grundlegendes tiefes Gewahrsein konzentrieren, können wir einen leichteren Zugang zu unserem Geist des klaren Lichts finden und besser verstehen, dass auch unsere eigenen Fehler bloß flüchtige Makel sind.
Eine Lehre aus dem fehlerhaften Verhalten des eigenen Mentors zu ziehen, bedeutet nicht, zu leugnen, dass das Verhalten falsch war. Wenn wir die Gültigkeit unserer Wahrnehmung untermauert haben, dass dieses Verhalten falsch war, können wir korrekt schlussfolgern, dass die konventionelle Erscheinung als ein fehlerhaftes Verhalten gültig ist. Wenn wir den Fehler unerträglich finden, können wir dem Rat aus dem „Kalachakra-Tantra“ folgen und uns dafür entscheiden, Abstand zu diesem Lehrer zu halten. Dieser Ratschlag ist in seiner allgemeinen Bedeutung für alle Ebenen von Lehrern gültig. Nichtsdestotrotz entspricht es einer gesunden Einstellung, dennoch Respekt für die guten Qualitäten der Lehrer zu empfinden und Wertschätzung für ihre Güte zu bewahren. Ohne diese Geisteshaltung könnten wir unseren spirituellen Fortschritt zunichte machen, weil wir uns auf Gefühle von Bitterkeit, Wut, Anklage oder Schuld fixieren. Mit Hilfe einer solchen Geisteshaltung können wir andererseits jedoch negative Umstände in positive Umstände verwandeln, und Inspiration aus den guten Qualitäten ziehen, die selbst ein fehlerhafter Lehrer zweifellos besitzt.
Während einer Ermächtigung erkennen, dass der tantrische Meister ein Buddha ist
Seinen eigenen tantrischen Meister als einen Buddha zu betrachten, bringt nicht nur die größte Inspiration mit sich, um den eigenen Geist des klaren Lichts erkennen zu können, vielmehr ist diese Methode auch ein wesentlicher Faktor im Prozess der Ermächtigungen des höchsten Tantra. Alle vier tibetischen Überlieferungslinien stimmen in diesem Punkt überein, obwohl jede den Mechanismus unterschiedlich beschreibt. Die Sakya-, Nyingma- und Kagyü-Traditionen erklären den Ermächtigungsprozess als einen Weg, auf dem Schülerinnen und Schüler bewusste Erfahrungen mit Aspekten ihrer Buddha-Natur machen. Dabei gehört die erste der vier Ermächtigungen des höchsten Tantra zum Körperaspekt der Buddha-Natur; die zweite gehört zur Rede, die dritte zum Geist und die vierte zum integrierten Netzwerk der drei vorherigen Fähigkeiten.
Aus dem Blickwinkel des Pfades heraus betrachtet, der die unreinen und reinen Erscheinungen der tantrischen Meister gleichermaßen betont, versuchen die Schüler während der Ermächtigung zu erkennen, dass Körper, Rede und Geist der tantrischen Meister über zwei gültige Quantenebenen verfügen. Auf der einen Ebene erscheinen und existieren die tantrischen Meister als Menschen mit gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten, gleichzeitig erscheinen und existieren sie auf einer anderen Ebene als Buddha-Gestalten mit erleuchtenden Fähigkeiten. Die Schüler müssen erkennen, dass diese beiden Ebenen untrennbar voneinander erscheinen und existieren, und zwar aufgrund der Buddha-Natur ihres tantrischen Meister – insbesondere aufgrund dessen, dass sie einen Geistes des klaren Lichts besitzen, der die Grundlage für alle die Formen ihrer Erscheinungen bildet.
Wir alle haben einen Geist des klaren Lichts als einen Aspekt unserer Buddha-Natur. Laut den Erklärungen der Sakya-Tradition enthält der Geist des klaren Lichts die „grundlegenden Samen“ für den erleuchtenden Körper, die erleuchtende Rede und den erleuchtenden Geist eines Buddha. Zu verstehen, dass unsere tantrischen Meister von einem gewissen gültigen Blickwinkel aus betrachtet tatsächlich über Körper, Sprache und Geist eines Buddha verfügen, stärkt und stabilisiert die grundlegenden Samen für die drei erleuchtenden Kräfte in unserem eigenen Geist des klaren Lichts. Diese Einsicht pflanzt dabei „kausale Samen“ in unseren eigenen Geist des klaren Lichts, mit deren Hilfe wir unsere grundlegenden Samen verwirklichen können. Diesen Zusammenhang während einer Initiationszeremonie bewusst zu verstehen, ermächtigt unsere grundlegenden Samen dazu, in die Verwirklichung von Körper, Rede und Geist eines Buddha auszureifen.
Vom Blickpunkt des Ergebnisses aus müssen die Schüler während einer Ermächtigung erkennen, dass alle erleuchtenden Qualitäten von Körper, Rede und Geist im „Geist-Vajra“ – dem Geist des klaren Lichts – des Meisters bereits vollständig vorhanden sind. In der Nyingma-Tradition wird erläutert, dass uns die in unserem eigenen Geist des klaren Lichts vollständig vorhandenen Buddha-Qualitäten, mit einer „grundlegenden Ermächtigung“ ausstatten. Wenn wir diese Qualitäten vollständig in unseren tantrischen Meistern erkennen können, wird diese Grundlage durch eine „kausale Ermächtigung“ ergänzt, die diese Qualitäten zur Reife bringt. Obwohl die Buddha-Qualitäten vom Geist des klaren Lichts untrennbar sind, so wie die Sonnenstrahlen untrennbar von der Sonne sind, können doch flüchtige Makel ihr Funktionieren verschleiern. Die kausale Ermächtigung verleiht dem Reinigungsprozess die nötige Energie, damit die Qualitäten reifen und dann frei von Makeln funktionieren und strahlen können.
Die Kagyü-Traditionen erklären den Sachverhalt ebenfalls vom Blickpunkt des Ergebnisses her. Die Drigung-Kagyü-Tradition der fünffachen Mahamudra-Praxis zum Beispiel erklärt, dass die Schüler während einer Ermächtigung erkennen müssen, dass die Aggregate, Elemente und so weiter der tantrischen Meister ursprünglich in der Natur der männlichen und weiblichen Buddhas verweilen. Dass etwas in der Natur (tib. rang bzhin) von etwas anderem verweilt, bedeutet, dass es auf dieselbe Art und Weise existiert und funktioniert. So umfassen zum Beispiel die fünf Skandhas von Körper und Geist jeden Augenblick unserer gewöhnlichen Erfahrung, während die fünf Arten tiefen Gewahrseins, symbolisiert durch die fünf Dhyani-Buddhas, jeden Augenblick der Erfahrung eines Buddhas umfassen. Dhyani-Buddhas stehen symbolisch für unterschiedliche Aspekte der Buddha-Natur. Sowohl die fünf Aggregate als auch die fünf Arten tiefen Gewahrseins existieren als Aspekte des „gleichzeitig entstehenden nicht-dualen tiefen Gewahrseins“ – mit anderen Worten, als Aspekte des Geistes des klaren Lichts. Körper, Rede und Geist unserer tantrischen Meister als Netzwerke (Körper-Mandalas) von Dhyani-Buddhas zu betrachten, pflanzt die Samen und befähigt uns, Netzwerke von gleicher Natur in uns selbst zu erkennen.
Während einer Ermächtigung innerhalb der Gelug-Tradition erkennen, dass der tantrische Meister ein Buddha ist
Selbst wenn man vom Blickwinkel des Pfades oder des Ergebnisses aus erklären kann, dass ein tantrischer Meister ein Buddha ist, so ist er von der Ebene der Grundlage her gesehen doch kein im wörtlichen Sinne allwissender Buddha. Die Gelug-Tradition betrachtet die Aussage, dass die Skandhas eines spirituellen Mentors Dhyani-Buddhas sind, vom Blickwinkel der Grundlage für die Erleuchtung.
Aku Sherab Gyatso zeigte diesen Gesichtspunkt in „Eine Erinnerung, um die für die erste Stufe des Pfades von Guhyasamaja beschriebenen Visualisationen nicht zu vergessen“. Die fünf Aggregat-Faktoren der Erfahrung (Skandhas) sind die transformierenden (tib. nyer-len; materiellen) Ursachen, und die fünf Arten tiefen Gewahrseins sind die gleichzeitig wirkenden Bedingungen für das Erlangen der fünf Dhyani-Buddhas. So wie Samen zu Sprossen werden, wenn gleichzeitig die Aktivitäten von Wasser und Sonnenlicht gegenwärtig sind, so verwandeln sich die fünf Aggregate durch die gleichzeitig mit ihnen aktiven fünf Arten von Gewahrsein in die fünf Dhyani-Buddhas. Während einer Ermächtigung des höchsten Tantra müssen Schüler die Aggregate ihrer tantrischen Meister als Dhyani-Buddhas erkennen, und zwar dem Sinne, dass die Meister ihre grundlegenden Aggregate durch die Entwicklung der fünf Arten tiefen Gewahrseins in die Dhyani-Buddhas transformiert haben. Das inspiriert die Schüler, das Gleiche zu tun.
Ob ein Schüler eine Ermächtigung in der Gelug-Tradition tatsächlich erhält, hängt davon ab, ob er eine bewusste Erfahrung des glückseligen Verständnisses von Leerheit macht, und nicht so sehr, ob der Schüler seine Buddha-Natur bewusst erlebt – diese Aussage gilt für alle vier Kategorien von Ermächtigungen in Praktiken des höchsten Tantra. Auf jeder Stufe von Ermächtigung wird durch ein solches bewusste Erleben ein Samen gepflanzt, um mit dem Geist des klaren Lichts ein glückseliges Verständnis von Leerheit zu erlangen. Dieses Verständnis von Leerheit ist gleichbedeutend damit, die eigene Buddha-Natur auf der tiefsten Ebene zu erkennen, wie dies in den anderen tibetischen Traditionen erläutert wird. Wenn man während einer Gelug-Ermächtigung ein gewisses Niveau eines glückseligen Verständnisses von Leerheit erlebt, bezieht sich dies jedoch nicht direkt darauf, auch wahrzunehmen, dass der tantrische Meister im Kontext der Ermächtigung ein Buddha ist.
In „Der Pfad zur Erleuchtung“ erklärt Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama, dass im Kontext der Gelug-Tradition die Schüler in allen vier Ermächtigungen des höchsten Tantra den tantrischen Meister als Buddha erkennen müssen. Die Aussage, dass auch der die Einweihung gewährende Meister ein Buddha ist, bleibt jedoch während der ersten drei Ermächtigungen auslegbar. Nur in der vierten Ermächtigung gilt es als eine eindeutige Tatsache, dass der tantrische Meister ein Buddha ist. Wie bereits erklärt, existieren auslegbare Phänomene nicht auf die Weise, wie sie erscheinen, aber sie führen uns zu den eindeutigen Phänomenen, die genauso existieren, wie sie erscheinen. In den ersten drei Einweihungen des höchsten Tantra erscheint der tantrische Meister als ein Buddha, aber er existiert nicht notwendigerweise auch als einer. Wenn aber die Schüler auch während dieser Schritte den Meister als Buddha sehen, so fällt es ihnen in der vierten Ermächtigung leichter zu sehen, dass der tantrische Meister nicht nur als Buddha erscheint, sondern dass er definitiv auch ein Buddha ist.
Die erste Ermächtigung des höchsten Tantra pflanzt Samen für die Verwirklichung der Erzeugungsstufe, die zweite für die Verwirklichung des Illusionskörpers – ein Körper, der aus dem allerfeinsten Energie-Wind besteht. Die dritte pflanzt Samen für die Verwirklichung des Geistes des klaren Lichts und die vierte für das gleichzeitige Erkennen der zwei Wahrheiten – in diesem Zusammenhang sind damit der Geist des klaren Lichts und seine Emanationen gemeint. Auch ein unerleuchtetes Wesen kann die Erzeugungsstufe, den Illusionskörper und den Geist des klaren Lichts erkennen. Nur ein Buddha kann jedoch die zwei Wahrheiten gleichzeitig wahrnehmen. Vom Blickwinkel der Grundlage aus, wie er in den Erklärungen der Gelug-Tradition eingenommen wird, können auch unerleuchtete Wesen, gegründet auf ihre Erfahrung, die ersten drei Ermächtigungen erteilen. Nur ein Buddha kann jedoch die gleichzeitige Wahrnehmung der zwei Wahrheiten aus eigener Erfahrung beschreiben und daher die vierte Ermächtigung kraft seiner Worte erteilen. Um also die vierte Ermächtigung überhaupt erhalten zu können, müssen die Schüler erkennen, dass der tantrische Meister definitiv ein Buddha ist.
Ursachen-, Pfad- und Ergebnis-Ermächtigung
Die Gelug-Tradition bietet noch eine weitere Erklärung dafür an, was man im Kontext einer Ermächtigung des höchsten Tantra darunter versteht, dass der tantrischen Meister ein Buddha ist. In seinem Werk „Eine Umfassende Darstellung der Stufen des Geheimen Mantra-Pfades“ erörtert Tsongkhapa drei Stufen von Ermächtigungen: „Die Ursachen-Ermächtigung, die heranreift“, „die Pfad-Ermächtigung, die befreit“, und „die Ergebnis-Ermächtigung der vollständigen Befreiung“. Der Siebte Dalai Lama erklärt die drei Ermächtigungen in dem Text „Klärende Erhellung der eigentlichen Bedeutung der Ermächtigung“. Der sich im Außen befindende äußere tantrische Meister verleiht die „Ursachen-Ermächtigung, die heranreift“, indem er ein Ritual vollzieht. Die Inspiration, die die Schüler erfahren und die bewussten Erfahrungen, die sie machen, pflanzen die Samen, die dazu heranreifen, dass sie selbst die Erleuchtung erlangen. Wenn Schüler mittels ihres Geistes des klaren Lichts die Leerheit nicht-konzeptuell verwirklichen, befähigt diese Verwirklichung sie dazu, sich tatsächlich stufenweise von den flüchtigen Makeln zu befreien. Auf diese Weise verleiht der innere Guru die „Pfad-Ermächtigung, die befreit“. Mit dem Abschluss des spirituellen Pfades verleiht einem das Erlangen der Erleuchtung die „Ergebnis-Ermächtigung der vollständigen Befreiung“, mit der man sich von sämtlichen flüchtigen Makeln befreit hat.
Die Ursachen-Ermächtigung durch einen äußeren Meister führt zur Pfad-Ermächtigung durch den inneren Guru, die wiederum zur Ergebnis-Ermächtigung durch den erleuchteten Geist eines Buddhas führt. Zu erkennen, dass der tantrische Meister ein Buddha ist, führt also zur definitiven Ebene der Ergebnis-Ermächtigung. Der Meister, der die Ergebnis-Ermächtigung erteilt, ist tatsächlich in jeglicher Hinsicht ein Buddha: Der definitive ermächtigende Meister ist der Buddha, zu dem der Schüler dann wird.
„Der tantrische Meister ist untrennbar von einem Buddha” im Vergleich zu „der tantrische Meister hat die Erleuchtung erlangt”
Wönpo Sherab Jungne hat erklärt, dass die Schüler gar keine wirkliche Ermächtigung erhalten, wenn sie nicht eine ganz bewusst Erfahrung der Einsicht darin haben, dass die Erscheinungsformen ihres tantrischen Meisters als gewöhnlicher Mensch und als Buddha-Gestalt untrennbar miteinander verbunden sind. Diese Einsicht muss nicht tief oder profund sein, aber es muss diese Einsicht zumindest auf der intellektuellen Ebene geben, während das Ritual stattfindet. Der Drigung-Kagyü-Meister hat allerdings auch betont, dass ein tantrischer Meister nicht die Erleuchtung erlangt haben muss, um die Ermächtigung qualifiziert erteilen zu können. Nicht eine einzige Liste von Qualifikationen, aus einer ganzen Reihe von solchen Listen für Meister des höchsten Tantra, beinhaltet den Punkt, dass der Meister tatsächlich erleuchtet sein muss. Wönpo Sherab Jungne hat drei Ebenen von Qualifikation für die Erteilung einer Ermächtigung des höchsten Tantra beschrieben. Am besten ist es natürlich, wenn der tantrische Meister tatsächlich den erleuchteten Zustand Vajradharas erlangt hat. Am zweitbesten ist es, wenn der Meister Stabilität in den Praktiken der Erzeugungsstufe erlangt hat und eine nicht-konzeptuelle Ebene in der Praxis der Vollständigkeitsstufe erreicht hat. Der Meister muss aber zumindest eine gründliche Kenntnis der Praktiken der Erzeugungsstufe und der Vollständigkeitsstufe besitzen, sowie die Fähigkeit, die rituellen Abläufe fehlerlos durchzuführen. Während einer Ermächtigung überträgt der tantrische Meister keine Einsichten oder kausalen Samen auf die Schüler, so wie man jemandem einen Ball zuwirft, den er fangen soll. Die bewusst erlebten Erfahrungen oder bewusst gemachten Einsichten, die den Vorgang der Ermächtigung definieren, entstehen in Abhängigkeit von den Qualifikationen der tantrischen Meisters einerseits, wie auch in Abhängigkeit der Qualifikationen der Schüler andererseits. Sie sind außerdem abhängig von den rituellen Abläufen – insbesondere dem Ablegen von Gelübden – wie auch von der durch das Ritual geschaffenen Atmosphäre und der Inspiration, welche der Schüler empfindet.
Alle Lehrer als Buddhas sehen
Sowohl in den Sutras als auch in den Tantras heißt es, dass ein Schüler sowohl einen Menschen, der ihm nur einen einzigen Dharma-Vers beigebracht hat, wie auch einen Menschen, der ihm den gesamten spirituellen Pfad gelehrt hat, gleichermaßen als Buddhas betrachten kann. Pabongka hat den Gelug-Meditationsmeister Drubkang Geleg Gyatso zitiert, der erst die Verwirklichung erlangen konnte, als er die reine Erscheinung einer ehemaligen Nonne erkennen konnte, die ihm das Lesen beigebracht hatte. Abendländer haben oft Schwierigkeiten mit diesem Beispiel, weil sie es so interpretieren, als müssten sie zuerst in der Lage sein, ihre Kindergarten-Betreuerinnen als Buddhas zu sehen, bevor sie Fortschritte auf dem spirituellen Pfad machen können. Viele meinen, die Anweisungen, die während einer Ermächtigung in Bezug auf ihre tantrischen Meister gegeben werden, würden für alle Lehrer gelten, die sie je hatten.
Die Ausbildungssysteme im traditionellen Tibet und im modernen Westen sind jedoch äußerst verschieden. Tibetische Kinder haben traditioneller Weise mit Hilfe von Gebeten und Dharma-Texten das Lesen erlernt und nicht mit Hilfe von Bilderbüchern für Kinder, in denen Sätze stehen wie: „Schau mal wie Bello läuft. Lauf, Bello, lauf.“ Und obwohl es zum Erkennen der eigenen Buddha-Natur sicher hilfreich ist, alle Menschen als Buddhas zu betrachten, einschließlich der Kindergärtnerinnen, richten sich die Anweisungen zum Aufbau einer Schüler-Mentor-Beziehung ausschließlich auf die spirituellen Lehrer.
Allgemein gesprochen: Haben wir erst einmal eine Schüler-Mentor-Beziehung aufgebaut, müssen wir alle unsere spirituellen Lehrerinnen und Lehrer, bis hin zu unserem ersten Buddhismus-Professor, mit demselben Respekt betrachten und behandeln, den wir unserem jetzigen Mentor entgegenbringen. Solange wir aber noch ausschließlich mit Lehrern umgehen, die sich auf der Stufe von Buddhismus-Professoren oder Dharma-Ausbildern befinden, bringen wir ihnen natürlich auch Respekt entgegen, sie allerdings genauso zu achten, wie wir unsere spirituellen Mentoren achten würden, wäre unangebracht.
Dieselbe Unterweisung gilt, wenn Schüler die reinen Erscheinungen der Körper, der Rede und des Geistes all ihrer spirituellen Lehrer sehen wollen. In dem Text „Die Unterteilungen der drei Gruppen von Gelübden“ erklärt Sakya Pandita ganz klar, dass Schüler dies erst dann tun sollten, wenn sie Ermächtigungen des höchsten Tantra erhalten haben. Da die Praxis des höchsten Tantra verlangt, uns selbst, unsere Umgebung und alle Wesen darin als reine Erscheinungen zu betrachten, beinhaltet sie mit Sicherheit auch, dass wir die reine Buddha-Natur all unserer Lehrer wahrnehmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir Unterweisungen zu unserer Tantra-Praxis bei unserem Buddhismus-Professor suchen.
Wie die Erkenntnis Erleuchtung verwirklicht
Die guten Qualitäten eines tantrischen Meisters und die guten Qualitäten eines Buddhas beziehen sich beide auf das gleiche Attribut eines einzigen Phänomens – den Geist des klaren Lichts – gleichgültig ob wir die Qualitäten vom Blickwinkel der Grundlage, des Pfades oder des Ergebnisses aus betrachten. Nach der Sakya-Darstellung von alaya (Fundament für alles) sind die guten Qualitäten, vom Blickwinkel der Grundlage aus betrachtet, die definierenden Merkmale des Geistes des klaren Lichts. Von der Ebene des Pfades aus gesehen, sind sie die Korrekturen, die sich aus der Beseitigung flüchtiger Makel ergeben. Auf der Ergebnis-Ebene sind sie die voll verwirklichten Potenziale des Geistes des klaren Lichts.
Diese drei Aussagen sind gleichermaßen gültig, ob man nun die guten Qualitäten seiner eigenen Mentorinnen und Mentoren oder die eines Buddhas betrachtet. Indem man sich auf die Qualitäten des eigenen Mentors als die eines Buddhas konzentriert, wird man dazu inspiriert zu erkennen, dass die guten Qualitäten, die man selber hat, gleichermaßen Funktionen des eigenen Geistes des klaren Lichts der drei untrennbaren Ebenen sind. Diese Erkenntnis ist essenziell, um die Stufe des Ergebnisses zu verwirklichen und ein Buddha werden zu können.
Die Verwirklichung der untrennbaren Ebenen von Grundlage, Pfad und Ergebnis unserer eigenen guten Qualitäten ist nur durch Methoden des höchsten Tantra möglich, denn nur die Methoden des höchsten Tantra versetzen uns in die Lage, Zugang zu ihrer Basis und Quelle zu finden – unseren eigenen Geist des klaren Lichts. Im Kontext eines Verständnisses der Leerheit mit Hilfe der subtilsten Ebene des Geistes, können wir dann in einer reinen Form einer Buddha-Gestalt erscheinen, wobei die guten Qualitäten unseres Geistes des klaren Lichts auf allen Ebenen funktionieren.
Um die Potenziale unserer Buddha-Natur zu aktivieren, damit wir diese höchsten Verwirklichung erlangen können, müssen wir Ermächtigungen des höchsten Tantra erhalten. Um diese Potenziale zu stärken, stellen wir uns in der Praxis der Erzeugungsstufe vor, dass wir die reine Form einer Buddha-Gestalt haben und alle Buddha-Qualitäten auf ihren jeweiligen Ergebnisebenen funktionsfähig sind. Um die Potenziale schließlich zu verwirklichen, müssen wir durch die Praxis der Vollendungsstufe Zugang zu unserem Geist des klaren Lichts herstellen. Allerdings kann ohne eine gesunde Beziehung zu einem tantrischen Meister der tantrische Prozess überhaupt nicht stattfinden.
Spezifische Erklärungen in Bezug auf Ermächtigungen und die Praxis der Erzeugungsstufe
Es kann keine kausale Ermächtigung geben, ohne einen qualifizierten tantrischen Meister, ein korrekt durchgeführtes Ritual, und auch nicht ohne einen qualifizierten Schüler, der von den Qualitäten des Mentors überzeugt ist, seine Qualitäten wertschätzt und von diesen inspiriert ist. Das Ablegen der Gelübde erfordert die Anwesenheit eines Meisters, der als Buddha gesehen wird. Die kausalen Samen können nur gepflanzt werden, wenn die drei Tore von Körper, Rede und Geist des tantrischen Meisters als untrennbar von den erleuchtenden drei Toren eines Buddhas erkannt werden. Darüberhinaus ist für das Pflanzen dieser Samen die Inspiration notwendig, die man dadurch erhält, dass man einen tantrischen Meister als einen Buddha betrachtet. Diese Inspiration ist erforderlich, um eine freudvolle Erfahrung der Leerheit zu erlangen.
Für die Praxis der Erzeugungsstufe ist die Inspiration durch einen tantrischen Meister ebenso unerlässlich. Bodhichitta bezeichnet ein Herz und ein Geist (eines Dharma-Praktizierenden), die auf die Erleuchtung ausgerichtet sind, wobei diese Ausrichtung mit dem Wunsch verbunden ist, selbst auch ein Buddha werden zu wollen, um allen Wesen zu nutzen. Sutra-Praxis konzentriert sich auf Erleuchtung, wie sie von einem Buddha symbolisiert wird. Seine Aufmerksamkeit auf die Ergebnisebene aller guten Qualitäten auszurichten, kann jedoch schwierig sein, wenn sie sich lediglich auf einen Buddha im allgemein gültigen Sinne (einen generischen Buddha) bezieht, oder wenn man sich in der Praxis der Erzeugungsstufe lediglich auf die Visualisation von sich selbst als eine Buddha-Gestalt bezieht. Sich auf ein lebendiges Vorbild als Objekt der Ausrichtung zu beziehen, macht einem die Ebene des Ergebnisses in der Meditation leichter zugänglich.
Aus diesem Grunde konzentriert sich die Praxis des höchsten Tantra auf den tantrischen Meister als untrennbar mit einem Buddha verbunden. Das Objekt der Ausrichtung wird dadurch äußerst lebendig, dass man sich durch den Mentor inspiriert fühlt, und zudem fest von seinen Qualitäten, die der persönlichen Erfahrung entstammen, überzeugt ist und diese auch wertschätzt. Sich auf die guten Qualitäten des Mentors auszurichten und diese dabei als untrennbar von den Buddha-Qualitäten zu erleben, hilft uns, unser Bodhichitta zu nähren, es aufrechtzuerhalten und zu verstärken.
Wenn Schüler, die sich im tantrischen Guru-Yoga üben, darüber hinaus visualisieren, dass sie von den Buddha-Qualitäten des Körpers, der Sprache und des Geistes des Mentors Inspiration erfahren und die vier Ermächtigungen erhalten, dann stärken sie dadurch ihre Netzwerke positiver Potenziale und tiefen Gewahrseins. Diese Verstärkung befähigt die tantrischen Schüler dazu, ihre eigenen guten Qualitäten ihres Geistes des klaren Lichts zu verwirklichen. In der Folge wird die Visualisation wesentlich lebendiger werden, bei der sich die Schüler selbst in Form einer Buddha-Gestalt visualisieren, die all diese Qualitäten besitzt. Schon Tsangpa Gyare hat darauf aufmerksam gemacht: Gleichgültig wie technisch korrekt die tantrischen Visualisationen der Schüler sein mögen, ohne die erhebende Energie, die man durch eine gesunden Beziehung zu einem tantrischen Meister erfährt, werden die Schüler keine Transformation ihrer selbst zustande bringen, die sie zur Erleuchtung führen wird.
Praxis der Vollkommenheitsstufe
In der Praxis der Vollkommenheitsstufe erhält man einen Zugang zum Geist des klaren Lichts, indem man entweder die Energiewinde auflöst, die als Grundlage für die gröberen Ebenen des Bewusstseins dienen, oder indem man dem Geist durch immer intensivere Erfahrungen von Glückseligkeit Energie zuführt. Wenn ein Schüler im tantrischen Guru-Yoga seine Aufmerksamkeit auf seine tantrischen Meister richtet, so tut er das in Verbindung damit, dass er in allen Einzelheiten davon überzeugt ist, dass die Qualitäten seiner Meister, die Qualitäten eines Buddha sind. Aufgrund der Inspiration, die er durch die Beziehungen zu seinen Meistern erfährt, erlebt der Schüler umso mehr Freude, je mehr er seine Aufmerksamkeit auf die Qualitäten seiner Mentoren ausrichtet. Und weil der gesamte tantrische Prozess im Kontext dessen stattfindet, dass man die Leerheit versteht, wirken die Freude, die Energie und die Inspiration, die man dadurch erlebt, dass man seine Aufmerksamkeit auf den tantrischen Meister ausrichtet, nicht als aufwühlend oder störend. Sie kochen nicht über, enden nicht in ungezügelter Ekstase oder verwandeln sich in fanatische Hingabe. Im Gegenteil, die freudvolle Energie stabilisiert und verfeinert den Geist.
Die Tantras erklären sogar, dass ein Feuer umso heißer brennt, je mehr Brennstoff zur Verfügung steht. Das heißt, je stärker die Emotion ist, desto energiereicher und konzentrierter ist der Geist. Wenn das bei störenden Emotionen wie der Begierde der Fall ist, dann gilt es ganz besonders für eine nicht-störende Emotion wie die freudvolle Inspiration.
Wenn tantrische Schüler sich mittels eines grundlegenden Verständnisses von Leerheit vorstellen, dass alle groben Erscheinungen sich in ihrem visualisierten Mentor/Buddha sammeln und auflösen, und ihr Mentor/Buddha dann immer kleiner wird und schließlich mit ihrem Herzen verschmilzt, dann hilft ihnen dieser Prozess der Visualisation dabei, die inneren Energiewinde aufzulösen, die die täuschenden Erfahrungen hervorbringen. Während der Auflösungsprozess stattfindet, wird ihr Geist immer subtiler, während er sich in einem freudvollen, energiereichen Zustand befindet, der die Leerheit versteht. Der aus dieser Praxis resultierende Geist, der durch die hinzukommende Energie der Bodhichitta-Motivation unterstützt wird, verfügt über die notwendige Intensität und Verfeinerung, um seine Natur des klaren Lichts zu enthüllen und zu identifizieren.
Einführung in die Natur des Geistes durch einen tantrischen Meister
Ein alternativer Weg, damit ein Schüler Zugang zu seinem Geist des klaren Lichts erhalten kann, ist die direkte Einführung in diese subtilste Ebene des Geistes durch die tantrische Meisterin oder den tantrischen Meister. Obwohl die Nyingma-Tradition sich auf diese Methoden spezialisiert hat, kommen sie auch in den Sakya- und Kagyü-Lehren vor. In dem Text „Der tiefgründige Pfad des Guru-Yoga“ gibt Sakya Pandita eine der klarsten Erklärungen. Während einer sachgemäß durchgeführten Zeremonie konzentrieren sich die richtig vorbereiteten Schüler mit ruhigem, wachem Geist auf den Punkt zwischen den Augenbrauen ihrer tantrischen Meister. Gleichzeitig richten die Meister ihre Aufmerksamkeit auf die Leerheit ihres Geistes des klaren Lichts, rezitieren ein Mantra, halten einen Vajra in die Höhe und lassen die Glocke klingen. Wenn die Schüler über genügend positive Potenziale und tiefes Gewahrsein, über eine feste Überzeugung in die Tatsache, dass die tantrische Meister Buddhas sind, und über Inspiration verfügen, können sie eine Erfahrung des Geistes des klaren Lichts machen. Diese Erfahrung entsteht durch einen Prozess des abhängigen Entstehens aus eben diesen Ursachen und Bedingungen.
Die eigenen tantrischen Meister als Buddhas zu betrachten, befähigt die Schüler letztlich dazu, auf der Grundlage des Geistes des klaren Lichts, zu begreifen, dass ihre eigenen guten Qualitäten untrennbar von den Qualitäten ihrer Mentoren und denen eines Buddha sind. Durch diese Verwirklichung, so hat es Ngoje Repa erläutert, können die Schüler, wenn sie die flüchtigen Makel aus ihrem Geist des klaren Lichts beseitigen, mit ihren Mentoren eins werden. Das bedeutet jedoch nicht, so fuhr der Drigung-Kagyü-Meister fort, dass die Schüler Abziehbilder ihrer tantrischen Meister werden, oder jetzt in allen Dingen dieselbe Meinung haben. Dass ihr Geist eins wird mit dem untrennbaren Geist der Mentoren und des Buddha bedeutet, dass die Schüler die endgültige Verwirklichung eines erleuchtenden Geistes erlangt haben.
Unsere Mentoren als Buddha zu sehen, hat kurz gesagt viele Bedeutungsebenen. Eine gesunde Beziehung zu einer spirituellen Lehrerin oder einem spirituellen Lehrer erfordert Klarheit darüber, welche Ebene der Bedeutung für uns auf jeder Stufe des spirituellen Pfades relevant ist. Auf keiner Stufe verlangt die Lehre nach der wörtlichen Interpretation, dass unsere Lehrer allwissend seien oder sich gleichzeitig in zahllosen Formen manifestieren können. Während des gesamten spirituellen Pfades zur Erleuchtung müssen wir unseren gesunden Menschenverstand beibehalten und ständig unser unterscheidendes Gewahrsein schärfen, um entscheiden zu können, was angemessen ist und was nicht.
Guru-Meditation für westliche Anfänger
Viele Westler beginnen das Dharma-Studium, ohne irgendein Interesse am Tantra zu haben und ohne die Absicht zu haben, sich in tantrischen Praktiken zu üben. Einige Westler habe ihre erste Begegnung mit dem tibetischen Buddhismus bei einer tantrischen Ermächtigung. Wenn man den Ritualen der Ermächtigung lediglich als Beobachter beiwohnt, ohne dass man die Ermächtigung bewusst nimmt oder beabsichtigt die Gelübde zu halten, baut man keine Schüler-Mentor-Beziehung zu einem tantrischen Meister auf. Und wie Wonpo Sherab Jungne ergänzt hat: An der Ermächtigung teilnehmende Zuschauer, die keine bewusste Erfahrung und Einsicht während der Zeremonie machen, durch die mentale Blockaden beseitigt und Samen für die Verwirklichung gepflanzt worden sind, empfangen die Ermächtigung ohnehin nicht wirklich. Die Teilnehmer einer Ermächtigung mögen sich zwar später, auch ohne diese Grundvoraussetzungen erfüllt zu haben, in tantrischen Praktiken üben, aber sie werden dann nur minimale Fortschritte machen.
Die spezifisch tantrischen Praktiken des Guru-Yoga und die besondere Art des Umgangs mit einem tantrischen Meister sind also für Schülerinnen und Schüler auf den frühen Stufen ihrer spirituellen Reise ohne Bedeutung. Man kann vernünftigerweise noch hinzufügen, dass die Anweisungen bezüglich der Beziehung zwischen Schüler und Mentor, die sich in den Texten zum Stufenpfad finden, und die explizit oder implizit das Tantra betonen, ebenfalls zu fortgeschritten sind für Abendländer, die sich auf diesem Niveau befinden. Für Menschen, die noch nicht bereit sind, sich mit lebenslangen Gelübden dem buddhistischen Pfad zu verpflichten, wären sicher die aus der Kadam-Tradition stammenden Praktiken der Guru-Meditation der Sutra-Ebene passender. Diese Meditationen der Sutra-Ebene zielen nicht nur darauf ab, die Schüler auf eine tantrische Schüler-Mentor-Beziehung vorzubereiten, sondern sie eignen sich auch für den Aufbau von Beziehungen zu einem Buddhismus-Professor, einem Dharma-Ausbilder, einem Meditationslehrer oder einem Ritualtrainer. Es handelt sich um grundlegende Übungen, die bequem sowohl von engagierten Schülern des Mahayana-Buddhismus und des Tantras geübt werden können, wie auch von Studenten des Buddhismus, die keine Verpflichtungen auf sich genommen haben. Beide Gruppen von Schülern können diese Praktiken üben, wenn sie sich danach sehnen, den größtmöglichen Nutzen aus der Beziehung zu einem Lehrer ziehen.