Vertrauen und Achtung für einen Mentor in Handlungen umwandeln
Je mehr wir von den guten Qualitäten unserer Mentoren überzeugt sind, desto zuversichtlicher vertrauen wir unseren Mentoren, wie auch ihren Fähigkeiten, uns richtig anzuleiten. Und je mehr wir die Güte unserer Mentoren wertschätzen, desto mehr Respekt entwickeln wir vor ihnen. Eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor erwächst aus dem Muttergestein von Vertrauen und Respekt.
Wenn sich die Beziehung entwickelt, übersetzen sich Vertrauen und Achtung ganz natürlich auch in unser Handeln. Maitreya beschreibt die am häufigsten vorkommenden Formen in seinem „Filigranschmuck für die Mahayana-Sutras“. Weil die Schüler fest an die guten Qualitäten ihrer Mentoren glauben und ihre hilfreiche Arbeit aufrichtig schätzen, macht es ihnen große Freude diese Arbeit zu unterstützen und jede nur mögliche Hilfe anzubieten. Ganz automatisch möchten sie ihre Achtung auf angemessene Weise zum Ausdruck bringen. Auf die sinnvollste Weise können Schüler ihr Vertrauen und ihre Achtung aber demonstrieren, indem sie den Anweisungen ihrer Mentoren folgen, insbesondere den Anweisungen im Bezug auf ihre spirituelle Praxis.
Die Arbeit eines Mentors unterstützen
Gemäß der klassischen Interpretation ist das Gewähren materieller Unterstützung die erste Art und Weise, in der man seine Verbundenheit mit einem Mentor in Handlungen ausdrückt. In vielen Texten heißt es ausdrücklich, dass die Schüler ihren Mentoren ihren eigenen Reichtum, ihre Familie und sogar ihr Leben darbringen müssen. Wenn man keine angemessene Erläuterung zu dieser Aussage erhält, scheint diese Anweisung zu implizieren, dass wir unserem Mentor unser ganzes Geld und allen Besitz geben, und uns selbst und unsere Familien dem Mentor als Sklaven unterwerfen müssten, wie es bei Mitgliedern von Sekten manchmal der Fall ist. Und selbst wenn die Aussage nur bedeuten würde, dass wir unserem Mentor großzügige Geschenke zu machen hätten, bliebe bei den meisten Abendländern schon ein schlechter Beigeschmack zurück.
Gemeint ist hier allerdings lediglich, dass es eine natürliche Nebenerscheinung der Wertschätzung, des Respekts und des Vertrauens gegenüber dem Mentor und seinen Bemühungen darstellt, wenn wir ihn in seiner Arbeit finanziell und materiell unterstützen. Eine wie auch immer geartete Unterstützung ist allerdings nur dann aufrichtig und gesund, wenn sie auf völlig freiwilliger Basis geleistet wird. Ngoje Repa hat diese Aussage bestätigt, als er betont hat, dass die Unterstützung der Arbeit eines Mentors frei sein müsse von Berechnung und Scheinheiligkeit. Bei einer berechnenden Gabe, die das Ziel hat die Gunst des Mentors zu gewinnen oder andere Menschen zu beeindrucken, handelt es sich nicht um einen aufrichtigen Akt der Wertschätzung oder Achtung. Gleiches gilt für eine scheinheilige Gabe, die man aus Schuldgefühlen oder unter Gruppendruck macht, die jedoch kein Ausdruck aufrichtiger Empfindungen ist.
Unserem Mentor unsere Familie und Freunde darzubringen, bedeutet natürlich nicht, sie in die Sklaverei zu verkaufen. Stattdessen bedeutet es zum Beispiel, dass wir unseren Mentor in unserem Haus willkommen heißen, und die Wärme, den Humor und die Gastfreundschaft der Familie mit ihm zu teilen, vorausgesetzt, dass unser Mentor daran interessiert ist und auch die Familie nichts dagegen hat. Einen Lehrer bei passender Gelegenheit – etwa zu Feiertagen – nach Hause einzuladen, ist eine sinnvolle Art dem Mentor als Mensch grundlegende Unterstützung zuteil werden zu lassen. Gegründet auf unserer Wertschätzung und unserem Vertrauen, öffnen wir ihm die Tür zu unserem Heim und unserer Familie, in der Hoffnung, dass unser Mentor sich daran erfreuen kann, in einer warmherzigen, menschlichen Umgebung zu entspannen.
Der Fünfte Dalai Lama hat diese Punkte ganz deutlich erläutert. Er schrieb, obwohl gewöhnlichen buddhistische Grundtexte erklären, dass die Unterstützung der eigenen Mentoren mit materiellen und familiären Mitteln die Netzwerke positiver Potenziale im Schüler stärken würden, diese Praktiken doch des einfühlsamen und aufrichtigen Nachdenkens bedürften. Aufgrund von familiären Verantwortlichkeiten oder anderen Verpflichtungen kann es unangebracht sein, dass der Schüler seinen wertvollsten Besitz weggibt oder teilt. Seinen Besitz mit dem Ziel wegzugeben, auf dem spirituellen Pfad Fortschritte zu machen, sollte nicht ohne Zögern geschehen. Auch wird nicht geraten, all seinen Besitz wegzugeben. Wenn die Umstände es dem Schüler nicht gestatten, seinem Mentor diese Art von Unterstützung zukommen zu lassen, muss er das seinem Lehrer nur erklären und sich entschuldigen. Zu solchen Zeiten ist es wichtiger, sich aufrichtig zu wünschen, eines Tages in der Lage zu sein, den Mentor und seine Arbeit auch auf diese Weise zu unterstützen.
Der fünfte Dalai Lama sagte weiter, dass Schüler, die in der Lage seien, ihren Mentor zu unterstützen, sich Gedanken über den passenden Ort, die passende Zeit und das rechte Maß machen müssten. Mit anderen Worten, es ist nicht nötig unter den gegenwärtigen Umständen die kaum vorstellbaren Handlungen selbstloser Großzügigkeit nachzuahmen, die außergewöhnliche Schüler in der Vergangenheit ihren beispiellosen Meistern erwiesen haben. Die klassischen Texte zitieren diese extremen Beispiele lediglich zum Zwecke der Inspiration und nicht, um den Menschen unmögliche Aufgaben zu stellen, die über ihre gegenwärtigen Fähigkeiten hinausgehen.
Es ist darüber hinaus auch allgemein üblich, dass man talentierte und kompetente Menschen, deren Arbeit man schätzt, finanziell und materiell unterstützt. Universitäten gewähren zum Beispiel besonders begabten Studenten Stipendien. Viele Menschen spenden auch für gemeinnützige Zwecke oder machen wohltätigen Organisationen Schenkungen. Diese Art der Unterstützung kann sich auf alle Arten von Lehrern beziehen. Besonders wenn unsere spirituellen Lehrer ausschließlich von Spenden leben, ist es unsere Aufgabe, für die nötige finanzielle und materielle Unterstützung zu sorgen, wenn wir wollen, dass sie auch weiterhin lehren. Die Bemühungen unserer Lehrer freiwillig zu unterstützen, ist ein gesunder Ausdruck von Wertschätzung und Vertrauen.
Wie wir einem Mentor behilflich sein können
Die zweite Möglichkeit, wie wir in einer gesunden Art und Weise durch Handlungen eine persönliche Beziehung zu unserem Mentor aufbauen können, besteht darin, ihm unsere Hilfe anzubieten und ihm unseren Respekt zu zeigen. Wir können unserem Mentor zum Beispiel helfen, indem wir Reisearrangements für ihn treffen, ihn zu Verabredungen fahren, Briefe für ihn schreiben oder seine Lehren transkribieren und bearbeiten. Unseren Respekt können wir zeigen, indem wir pünktlich sind und jede Arbeit, für die wir uns verpflichtet haben, so schnell wie möglich fertig stellen. Ein weiterer Weg unseren Respekt aktiv zum Ausdruck zu bringen liegt darin, unseren Mentor mit unserer Kultur vertraut zu machen, wenn er aus einem anderen Kulturkreis kommt oder ihm alle Probleme zu erläutern, die wir in unserem Dharmazentrum haben mögen. Auf diese Weise helfen wir unserem Mentor dabei, dass er uns besser verstehen kann und uns auf diese Weise besser unterstützen kann.
„Nyenkur“ (tib. bsnyen-bkur), ein zusammengesetztes Wort aus dem Tibetischen, das hier als „helfen und Respekt erweisen“ übersetzt wurde, wird meistens als „dienen und verehren“ übersetzt. Die zweite Übersetzung lässt aber eher auf eine hierarchisch, feudalistische Beziehung schließen. Folglich glauben viele westliche Suchende, dass die Beziehung zu einem spirituellen Mentor Unterwürfigkeit und Kriecherei von ihnen verlangen würde, was manche – wohl aufgrund mangelnder Selbstachtung – auch noch angemessen finden. Für andere ist die Vorstellung von Dienerschaft und Unterwerfung eher abstoßend. Lassen Sie uns das Thema näher betrachten.
Tatsächlich ist die traditionelle tibetische Gesellschaft ein hierarchisch strukturiertes Feudalsystem gewesen. Viele Menschen, die über keine direkte Erfahrung einer derartigen gesellschaftlichen Struktur verfügen, beurteilen alle Ausdrucksformen dieser Gesellschaftsform als repressiv und ausbeuterisch. Ihr Urteil ist von Vorurteilen geprägt und häufig ungerecht, obwohl manche Einschätzungen durchaus korrekt sein können. Wenn Menschen unter harten und schwierigen Umweltbedingungen leben, ohne über die bequemen Mittel der Moderne zu verfügen, ist die Form der Arbeitsteilung in einer erweiterten Hausgemeinschaft die einzig realistische Verhaltensweise, um das Leben zu bewältigen. Im optimalen Fall sorgt der Haushaltsvorstand für Schutz, Sicherheit und eine kluge Strategie im Umgang mit Problemen und Gefahren, während Diener für die körperlichen Bedürfnisse sorgen. Alle tragen zum allgemeinen Gedeih des Haushalts bei und alle Beteiligten behandeln sich gegenseitig mit Liebe und Respekt. Eine derartige Ordnung kann ein sehr harmonisches Sozialsystem hervorbringen. Ich habe die Möglichkeit einer solchen Lebensweise in meinem neunundzwanzigjährigen Zusammenleben mit traditionellen Tibetern in Indien selbst beobachten können.
Traditionelle tibetische Lehrer, speziell tantrische Meister, haben gewöhnlich sowohl Diener (bzw. Bedienstete oder Begleiter) als auch Lehrlinge. Obwohl nicht alle Diener gleichzeitig auch Lehrlinge sind, kann eine Person durchaus beide Rollen innehaben. Rigide Feudalgesellschaften werden zu Recht kritisiert, wenn sie keinen sozialen Wandel zulassen. Bei einer feudalen Beziehung zwischen Meister und Lehrling sind jedoch sowohl das Dienen als auch die soziale Beweglichkeit inbegriffen. Ein Lehrling wird irgendwann selbst zum Meister. Wenn die gegenwärtige Inkarnation im Haushalt eines monastischen Tulkus stirbt, steigt der erste Diener des Lamas zum Haushaltsvorstand auf und übernimmt die Verantwortung für die Suche und die Erziehung der nächsten Inkarnation. Die meisten klösterlichen Gesellschaften Tibets, lassen also einen bestimmten Grad an sozialem Wandel zu. Nach heutigem westlichem Standard sind sie wohl nicht ideal, aber sie sind auch keine Hochburgen der Unterdrückung.
In den egalitären Gesellschaften des Westens bezeichnen wir unsere Diener als Assistenten, Sekretäre oder Hausmeister und zahlen ihnen ein Gehalt. Statt Lehrlingen haben wir freiwillige Praktikanten und Menschen, die eine praktische Ausbildung am Arbeitsplatz machen. Hauptunterschied zwischen den Menschen im westlichen Kulturkreis und in der tibetischen Gesellschaft, die diese verschiedenen Rollen und Funktionen bekleiden, besteht allerdings darin, dass tibetische Diener und Lehrlinge gewöhnlich schon als Kinder in die Hausgemeinschaft eines Meisters aufgenommen werden. In den meisten Fällen wählen die jungen Menschen ihre Positionen nicht freiwillig; allerdings zwingt ihnen auch niemand gegen ihren Willen diese Aufgabe auf. Das Zusammenleben mit einem Lehrer ist nicht nur eine Ehre, sondern auch eine der besten Möglichkeiten Bildung zu erlangen. Darüber hinaus stellt die neue Hausgemeinschaft auch eine Ersatzfamilie dar und bildet die materielle Lebensgrundlage. Außerdem übernehmen tibetische Kinder auch in ihren eigenen Familien generell wesentlich mehr Pflichten und Hausarbeiten als irgendein Kind im Westen. Sie müssen also im Haushalt ihres Lehrers nicht mehr arbeiten, als zuhause bei ihren Eltern.
Die schwindende Anzahl älterer Menschen, die noch im traditionellen Tibet aufgewachsen sind, sowie die Einflüsse moderner Erziehung und sozialer Normen, führen zu einem rapiden Zusammenbruch des Systems der Dienerschaft bei den Tibetern im Exil. Obwohl einige Kinder in den Mönchs- und Nonnenklöstern immer noch mit ihren Lehrern zusammen leben und ihnen dienen, wohnen die meisten doch in Schlafsälen, fast wie in einem Internat. Niemand muss mehr Wasser vom Fluss holen oder nach Heizmaterial suchen. Das hat dazu geführt, dass die meisten Lehrer der jüngeren Generation, besonders wenn sie außerhalb der monastischen Institutionen oder Laienhaushalte leben, lieber unabhängig von einer Dienerschaft sind und für sich selbst sorgen wollen.
Wenn sich die Situation der modernen Tibeter untereinander schon ändert, dann muss sie sich ganz gewiss auch zwischen Suchenden des Westens und tibetischen oder westlichen Lehrern ändern. Das bedeutet nicht, dass die heutigen Schüler ihren Lehrern nicht mehr zur Hand gehen oder sie zum Essen einladen sollten. Natürlich können sie diese Dinge auch weiterhin tun. Besonders wenn der Lehrer sehr viel lehrt, Schüler anleitet, schreibt, Zeremonien durchführt und so weiter, und damit sehr beschäftigt ist, ist es durchaus angebracht, wenn einige Schüler das Kochen übernehmen und bei der Hausarbeit helfen, damit der Lehrer seine kostbare Zeit möglichst sinnvoll nutzen kann. Wenn der Lehrer andererseits aber viel Muße hat und der Schüler trotzdem dauernd persönlich für sein Wohl sorgt, obwohl auch andere Möglichkeiten zur Verfügung stünden, verwöhnt er den Lehrer nur und läuft zudem Gefahr seine eigene freie Zeit zu missbrauchen. Auch hier ist ein „mittlerer Weg“ nötig, der natürlich das Alter und die Gesundheit des Lehrers sowie die persönlichen Umstände des Schülers berücksichtigen muss.
Wenn wir einen angemessenen mittleren Weg finden, unserem spirituellen Lehrer zu helfen, so ist das eine gesunde Art, unser Vertrauen zum Ausdruck zu bringen, das wir in seine Qualitäten setzen, und auch eine gesunde Art, die Wertschätzung, die wir für seine Güte empfinden auszudrücken. Unserem spirituellen Lehrer in dieser Weise zu helfen, entspricht auch der allgemeinen gesellschaftlichen Konvention. Die Menschen helfen ganz selbstverständlicher Weise denen, die sie achten und deren Freundlichkeit sie schätzen. Bei dem Ratschlag, dem Lehrer zu helfen, handelt es sich daher um einen Ratschlag mit allgemeingültiger Bedeutung, der für jede Art von Lehrer gültig ist, d. h. vom Buddhismus-Professor bis hin zum tantrischen Meister.
Respekt erweisen
Der zweite Teil des zusammengesetzten Wortes, nyenkur, bedeutet: in Worten und durch die Art des Verhaltens Respekt erweisen. In traditionellen buddhistischen Kulturen erwiesen Schüler ihren spirituellen Mentoren Respekt, indem sie sich vor ihnen niederwarfen und ihre Häuser umwandelten. Auf diese Weise Respekt zu erweisen, ist für die meisten westlichen Suchenden unnatürlich und sie empfinden es als peinlich oder fühlen sich dabei unbehaglich. Da Niederwerfungen und Umwandlungen den allgemeinen Gebräuchen und Sitten nicht entsprechen, sind sie als Praktiken nicht für alle Gesellschaftsformen geeignet.
Der wesentliche Punkt ist dabei aber auch nicht, in welcher Form wir unseren Respekt erweisen, sondern dass wir ihn auf irgendeine Weise überhaupt zeigen. Wir können uns beispielsweise von unserem Sitz erheben, wenn unser Mentor den Raum betritt, brauchen uns aber nicht niederzuwerfen oder zu verbeugen. Abhängig von den Teilnehmern, der Situation und der Begleitung in der wir uns befinden, kann eine formelle Ehrerbietung absurd, unangemessen oder linkisch wirken.
Bestimmte Formen der Höflichkeit sind allerdings universell. Dazu gehört es zum Beispiel sich zu waschen und angemessen zu kleiden, wenn man jemanden besuchen will, jemandem die Tür zu öffnen, jemanden zu seinem Platz zu führen, etwas Geeignetes zu trinken anzubieten und das Getränk dann in einem sauberen Glas oder einer sauberen Tasse zu servieren, still und aufmerksam zuzuhören, wenn jemand zu uns spricht, ihn nicht zu unterbrechen, höflich zu antworten und so weiter. Zuvorkommendes Verhalten und höfliche Worte sind bei allen Stufen von spirituellen Lehrern und auf allen Ebenen des Pfades angebracht.
Allerdings muss unsere Respektsbezeugung aufrichtig gemeint sein. Gemäß dem Text: „Schwierige Punkte in Bezug darauf, einem Guru zu helfen und ihm Respekt zu erweisen“, kann auch ein wichtigtuerischer Schüler mit einem groben, weltlichen Geist einem spirituellen Mentor auf vielerlei Weise physisch helfen. Der Schüler wird dabei möglicherweise sogar äußerliche Formen der Höflichkeit an den Tag legen. Solange jemand aber einen Mentor nicht zutiefst und aufrichtig respektiert, zeugen seine höflichen Handlungen nicht wirklich von Respekt.
Den Rat eines Mentors annehmen
Alle klassischen Texte stimmen darin überein, dass man sein Vertrauen und seine Achtung am sinnvollsten zum Ausdruck bringt, wenn man bereit ist, den Rat seines Mentors anzunehmen. Das ist die bedeutendste Art und Weise, wie man eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor aufbaut. Viele Schüler missverstehen allerdings die Absicht, die mit dieser Aussage intendiert.
In einer gesunden Beziehung zu einem Lehrer suchen wir den Rat unseres Mentors nur in wirklich wichtigen Angelegenheiten, die unsere spirituelle Entwicklung und Praxis betreffen. Würden wir unseren Mentor bitten, uns all unsere Entscheidungen abzunehmen, besonders auch die trivialen, würden wir dadurch einen Mangel an Reife an den Tag legen. Serkong Rinpoche wandte sich daher entschieden gegen Fragen wie: „Was soll ich aus meinem Leben machen?“ Außer wenn sie einen Rat bezüglich ihrer nächsten Praxis suchen, informieren reife Schüler ihren Mentor einfach über ihre persönlichen Pläne und fragen nur, ob der Lehrer in Zusammenhang damit irgendwelche Probleme sehen kann.
Eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor setzt also niemals die Verantwortung für das eigene Leben außer Kraft. Sie erzeugt auch keine psychische Abhängigkeit und verlangt nicht die unkritische Befolgung der Ratschläge des Mentors, als seien es militärische Befehle. Der Buddhismus verlangt niemals unterwürfigen Gehorsam, selbst nicht von einem Mönch gegenüber seinem Abt bzw. einer Nonne gegenüber ihrer Äbtissin. Schließlich ist eine der von Aryadeva aufgeführten Hauptqualitäten eines Schülers der gesunde Menschenverstand. Das bedeutet, dass man sowohl über Unterscheidungsvermögen verfügt, als auch über die Freiheit der Wahl.
Gampopa bekräftigte Aryadevas Argument in seinem Text „Eine kostbare Girlande für den höchsten Pfad“. Dort listet der Kagyü-Meister „das begeisterte Umsetzen des Ratschlages des Mentors unter zur Hilfenahme von unterscheidendem Gewahrsein und gläubigem Vertrauen“ als eine von zehn Eigenschaften auf, die den Schüler befähigen den Weg zu gehen. „Unterscheidendes Gewahrsein“ beinhaltet aber nicht, dass man den gesunden Menschenverstand dazu gebraucht, wie man den Ratschlag praktisch umsetzt. Ebenso ist die Fähigkeit damit gemeint, zwischen dem, was der Schüler tun kann, und dem, was über seine momentanen Fähigkeiten hinausgeht, unterscheiden zu können. Auch ist damit gemeint, dass man zwischen einem Ratschlag, der sich im Einklang mit den Lehren des Buddha befindet, und einem Ratschlag, der dem Dharma widerspricht, unterscheiden kann.
Ashvaghosha hat diesen Punkt, insbesondere in Bezug auf tantrische Meister, vollkommen unmissverständlich herausgearbeitet. Wenn ein tantrischer Meister seinen Schüler bittet, etwas Unvernünftiges zu tun, was er überhaupt nicht leisten kann, dann muss der Schüler höflich erklären, warum er sich nicht danach richten kann. Diese Lehre bezieht sich auf spirituelle Lehrer aller Ebenen. Die indischen und tibetischen Kommentare zu diesem Punkt liefern die schriftliche Grundlage dafür und erläutern seine Bedeutung. Wenn ein Mentor seinen Schüler um etwas bittet, was zwar in Übereinstimmung mit den Lehren des Buddha steht, aber für den Schüler nicht tragbar ist, oder was er nicht schaffen kann, so sehr er sich auch anstrengen mag, muss der Schüler sich höflich entschuldigen. Verlangt der Mentor andererseits etwas, das dem Dharma zuwiderläuft – besonders wenn es mit dem Bruch von Gelübden verbunden ist – sollte der Schüler seinen Gleichmut bewahren und der Anweisung einfach nicht Folge leisten. Wie Gampopa gesagt hat, muss man sein moralisches Fundament bewahren und darf seinen Halt nicht verlieren. Allerdings muss der Schüler auch in diesen Fällen stets höflich bleiben und seinem Mentor die Gründe erklären, warum er der Bitte nicht nachkommt. Schließlich wäre es auch möglich, dass der Mentor nur die ethische Sattelfestigkeit des Schülers prüfen will, so wie der Buddha in einem seiner früheren Leben von seinem Mentor getestet worden ist, indem dieser ihn bat zu stehlen.
Kürzlich kamen einige Fälle ans Licht, in denen scheinbar respektable spirituelle Lehrer ihre Schüler zu einer sexuellen Beziehung gezwungen haben. Viele Westler reagierten darauf mit tiefgreifender Verwirrung. In den Texten, wie beispielsweise in Kongtrüls Text „die Lampe zur Erhellung der definitiven Bedeutung“, lesen sie, dass gute Schüler alles tun müssen, was ihre tantrischen Meister ihnen auftragen, so wie es auch Naropa getan hat, als Tilopa ihn aufforderte von einer Klippe zu springen. Allerdings hatte Tilopa auch die Fähigkeit, lebendige Fische zu essen, über den abgenagten Gräten dann mit dem Finger zu schnippen, und den Fisch so wieder zum Leben zu erwecken. Zudem war Naropa bereits Abt des Nalanda-Klosters und einer der gelehrtesten Menschen seiner Zeit. Wenn unsere Lehrer und wir uns selbst auf einer ähnlichen Stufe der Verwirklichung befinden, dann ist das eine andere Sache. Wenn das aber nicht der Fall sein sollte, dann ist der Buddha sehr eindeutig in seiner Aussage, dass der Ratschlag, der für einen Bodhisattva einer hohen Stufe gilt, nicht für Praktizierende auf niedrigeren Verwirklichungsstufen geeignet ist.
Die Autorität eines Mentors ehren
Wenn im Buddhismus gesagt wird, dass ein Mentor Autorität besitzt, dann bedeutet das nicht, dass er die autoritäre Macht und das Recht hätte, seine Schüler herumzukommandieren und Gehorsam zu verlangen. Autorität bezieht sich hier auf die Tatsache, dass ein Mentor anerkanntermaßen über ein umfassendes Wissen, Fachkenntnisse und andere gute Qualitäten verfügt. Die Autorität eines Mentors gründet sich auf seiner Authentizität und nicht auf Macht, Zwang, Selbstgerechtigkeit oder den Willen Gottes.
Weil die Schüler klaren Verstandes und auf vernünftige Gründe gestützt daran glauben, dass es sich bei den guten Qualitäten ihrer Mentoren um authentische Qualitäten handelt, bringen sie ihnen Vertrauen und Respekt entgegen, da die Schüler ihre Mentoren als eine verbindliche Quelle für die Beratung in spirituellen Angelegenheiten betrachten. Und weil die Schüler nicht naiv sind in Bezug darauf, dass die Kompetenz ihres Mentors Grenzen hat, überhöhen sie ihren Mentor nicht zu einer allmächtigen Gottesfigur, der man fraglos gehorchen muss. Die fortgeschrittene Anweisungen, gemäß derer man den eigenen Mentor als einen Buddha betrachtet, hat nicht zur Absicht, dass man sich naiv verhält.
Wenn ein Schüler enge Beziehungen zu mehr als einem spirituellen Mentor unterhält, bittet er nicht jeden seiner Mentoren wegen ein und derselben Angelegenheit um Rat. Mehr als einen Mentor zu fragen, beweist einen Mangel an Vertrauen in die Autorität eines jeden, als würde der Schüler solange weiterfragen, bis er die Antwort erhält, die er zu hören wünscht. Indem ein Schüler von seinem eigenen unterscheidendem Gewahrsein Gebrauch macht, kann der Schüler den richtigen Mentor als ein Ratgeber für ein spezifisches Problem auswählen. Nur ein Idiot würde einen Rechtsanwalt um medizinische Beratung bitten.
Erst wenn wir tatsächlich Schüler eines spirituellen Mentors geworden sind, fragen wir um Rat bezüglich unserer spirituellen Praxis. Bevor wir diese Stufe der Verpflichtung erreicht haben, solange wir also noch Buddhismus-Studenten, Dharma-Schüler oder Meditations- bzw. Ritualpraktikanten sind, stellen wir keine Fragen dieser Art. Dann ist es passender unserem Buddhismus-Professor Fragen über die Lehre zu stellen, unseren Dharma-Ausbilder darüber, was eine bestimmte Lehre mit dem Leben zu tun hat und unserem Meditations- bzw. Ritualtrainer Fragen über die Körperhaltung zu stellen. Auch in diesen Fällen müssen wir unser unterscheidendes Gewahrsein einsetzen, indem wir nur Antworten akzeptieren, die mit dem Dharma im Einklang stehen.
Serkong Rinpoche warnte, dass selbst die gelehrtesten Meister sich gelegentlich versprechen, die Übersetzer häufig Fehler machen und die Schüler das Gesagte oft falsch hören. Wenn irgendetwas sich unpassend anhört, muss man es anhand der buddhistischen Standardtexte überprüfen. Wenn man einen Rat erhält, der nicht mit den Lehren in Einklang steht, muss man seinem Lehrer die Diskrepanz höflich erklären und um Erläuterung bitten.
Häufig gibt es aber Menschen, die den Buddhismus als spirituellen Pfad zur Selbsttransformation ernsthaft praktizieren wollen, obwohl sie noch keinen spirituellen Mentor gefunden haben. In diesem Fall hat man keine andere Wahl, als seinen Dharma-Ausbilder oder Meditationstrainer um Rat zu fragen, wie man in ernsthafter Weise praktizieren kann. Jeder Ratschlag, den man daraufhin erhält, gilt jedoch nur solange, bis man eine Beziehung zu einem qualifizierten spirituellen Mentor aufgebaut hat.
Einen Mentor nachahmen
Paltrül erklärte, dass potenzielle Schüler einen Menschen sehr genau prüfen müssen, bevor sie sich ihm als spirituellem Mentor verpflichten. Sind sie dann von der Qualifikation und Autorität des Mentors überzeugt und seine Schüler geworden, müssen sie sich mit akribischer Genauigkeit nach dem richten, was ihr Lehrer ihnen im Zusammenhang mit der Praxis rät. Schließlich müssen sie das Verhalten und die Verwirklichungen des Mentors nachahmen.
Manche Menschen nehmen diese Unterweisung wörtlich und glauben, sie müssten alles genauso machen wie ihr Mentor. Die Unterweisung bezieht sich aber in keinem Fall auf persönliche Angelegenheiten oder politische bzw. kulturelle Ansichten. Ist unser Mentor Tibeter und wir sind Abendländer, müssen wir keine tibetischen Bräuche übernehmen und Buttertee trinken. Auch müssen wir nicht auf traditionell patriarchalische Weise mit Frauen umgehen. Ebenso wenig müssen wir die gleichen Ermächtigungen erhalten, die gleichen Text studieren und die gleichen Meditationspraktiken üben wie unser Mentor. Die Unterweisung den eigenen Mentor nachzuahmen, bedeutet lediglich, authentische Verwirklichungen zu erlangen und sich dann entsprechend zu verhalten. In dieser Angelegenheit muss man höchste Sorgfalt walten lassen. Paltrüls Schüler, Ngawang-Palzang erklärte in „Notizen zu ‚ Persönliche Anleitung meines vollkommen vortrefflichen Gurus’“, dass es sowohl angeberisch als auch gefährlich wäre, würde man das Verhalten seines Mentors nachahmen, ohne vorher die gleiche Verwirklichungsstufe erreicht zu haben.
Klärung des Begriffs Hingabe
Der tibetische Begriff tenpa (tib. bsten-pa) beschreibt eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Mentor. Die übliche Übersetzung lautet „Hingabe“, daher der Begriff Guru-Hingabe. Das Wort Hingabe verleitet jedoch zu einer missverständlichen Assoziation. Es beschwört das Bild eines hingebungsvollen Dieners oder eines glühenden Anhängers eines Gottes oder einer Sekte herauf. Es vermittelt außerdem das Gefühl einer Kombination von emotionaler Inbrunst und blindem Gehorsam.
„Tenpa“ ist jedoch ein Verb und bedeutet: Jemandem in Gedanken und Handlungen nahe kommen und sich vertrauensvoll auf einen Menschen verlassen. Was es jedoch nicht bedeutet, ist, einem Scharlatan oder Schuft nahe zu kommen oder sich auf neurotische Weise auf jemanden zu verlassen, selbst wenn der Mensch die Kompetenz besitzt uns helfen zu können. Aus diesem Grunde habe ich es stets mit „das Aufbauen einer gesunden Beziehung“ übersetzt. Eine solche förderliche Beziehung baut man nicht nur zu einem spirituellen Lehrer auf, sondern beispielsweise auch zu einem Arzt.
Gemäß dem Texte: „Schwierige Punkte in Bezug darauf, dem Guru zu helfen und Respekt zu erweisen“, hat tenpa auch noch die Bedeutung von „seinen Guru auf die rechte Weise erfreuen“. Die rechte oder gesunde Weise für einen Schüler seinem Mentor zu gefallen, besteht darin, dass er ihm nahe kommt, indem er sich nach seinem Vorbild richtet und seinem Ratschlag folgt, seinen eigenen Geist zu transformieren und allen Wesen zu helfen. Jeder Versuch sich durch verschwenderische Geschenke einzuschmeicheln oder den Dharma nur zu üben, um dem Mentor zu gefallen, gehört nicht dazu. Wie der Buddha in „Besondere Verse, nach Themen geordnet“, sagte: „Man mag sein ganzes Leben einem spirituellen Mentor nahe sein. Wenn man sich jedoch den Dharma, den der Mentor unterrichtet, nicht zu Eigen macht, ist die eigne Erfahrung, die man durch die Lehren macht, so dürftig wie der Geschmack eines Eintopfs den man lediglich am Schöpflöffel probiert.“