Die Guru-Meditation der Sutra-Ebene auf einen fehlerhaften oder missbräuchlichen Lehrer anwenden
Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama hatte als Minderjähriger zwei Regenten. Sie unterrichteten ihn umfassend und gaben ihm zahlreiche tantrische Ermächtigungen. Sie gerieten aber auch in einen Machtkampf und ließen ihre Anhänger die Waffen gegeneinander erheben. Seine Heiligkeit erklärte, dass er auf seinem Meditationssitz keinerlei Probleme hatte, sich mit voller Überzeugung auf die guten Qualitäten zu konzentrieren, die jeder der beiden Regenten ja tatsächlich hatte. Auch fand er es nicht schwierig die Güte zu schätzen, die jeder der beiden ihm erwiesen hatte. Wenn er jedoch von seinem Meditationssitz aufstand, kritisierte er die politischen Intrigen seiner Regenten. Seine Heiligkeit sagte stets, dass er dabei keinerlei Widerspruch empfunden habe und es ihn auch emotional nicht aufregte.
Manche Westler sind in Bezug auf einige ihrer spirituellen Lehrer mit einer ähnlichen Situation konfrontiert. So sind beispielsweise einige berühmte Meister völlig anderer Meinung im Hinblick auf den Status eines kontroversen Dharma-Beschützers und die Folgen seiner Praxis. Sie missbrauchen ihre Positionen als spirituelle Mentoren und verbieten ihren Schülern, unter Androhung von Höllenstrafen, mit Lehrern der Gegenseite im Meinungsstreit irgendetwas zu tun zu haben. Andere berühmte Meister widersprechen sich äußerst heftig im Hinblick auf die Anerkennung der Inkarnationen der höchsten Lamas ihrer Überlieferungslinie. Einige Wenige sind gegen andere Lamas und ihre Besitzansprüche auf vererbte Besitztümer sogar polizeilich vorgegangen. Guru-Meditation der Sutra-Ebene kann, so hat es Seine Heiligkeit der Dalai Lama erlebt, traumatisierten westlichen Dharma-Schülern helfen, mit diesen schwierigen und verwirrenden Problemen fertig zu werden. Die Guru-Meditation der Sutra-Ebene kann auch denjenigen helfen, die von ihrem spirituellen Lehrer sexuell missbraucht worden sind oder die aus Macht- oder Geldgründen ausgebeutet worden sind. Schließlich kann diese Meditation auch allen Schülern von verantwortungslosen Lehrern helfen, die zwar persönlich keinen Schaden erlitten haben, die es aber niedergeschmettert hat, als sie von den Taten ihrer Lehrer gehört haben.
Viele Schüler können mit derartig schwierigen Situationen nicht fertig werden, ganz besonders dann, wenn sie bereits eine Schüler-Mentor-Beziehung zu den beiden Parteien, die sich nun im Streit befinden, aufgebaut haben. „Das Gekürzte Kalachakra-Tantra“ hat erklärt, dass Schüler, die zu viele objektive Fehler bei ihrem spirituellen Mentor finden und keine enge Verbindung zu ihm mehr aufrechterhalten können, nicht länger mit ihm zusammenarbeiten müssen. Sie können einen respektvollen Abstand wahren, selbst wenn sie Ermächtigungen des höchsten Tantra von ihm erhalten haben.
Ob wir nun Abstand von verantwortungslosen Lehrern halten oder nicht, wichtig ist auf jeden Fall, dass damit wir aufhören, auf ihrem irritierenden Verhalten oder ihren Fehlern herumzureiten. Besessenheit in Bezug auf solche Angelegenheiten vertieft nur unsere Verwirrung und unsere spirituelle Verzweiflung. Wir müssen einen Heilungsprozess einleiten. Vielleicht gelingt es uns irgendwann sogar davon zu profitieren, uns die guten Qualitäten und die Güte unseres Lehrers durch den Kopf gehen zu lassen, ohne dabei seine fragwürdigen Verhaltensweisen zu leugnen.
Die Mängel und das Fehlverhalten eines Mentors noch einmal durchdenken
Verletzte und verwirrte Schüler erleben häufig emotionale Blockaden, die sie daran hindern, ihre Aufmerksamkeit auf die guten Qualitäten umstrittener oder missbräuchlicher Lehrer zu richten. Im Laufe der Zeit und mit Unterstützung durch andere, können sie die aus ihrer traumatischen Erfahrung resultierenden manifesten emotionalen Probleme vielleicht überwinden. Der spirituelle Schaden geht jedoch häufig sehr tief. Das Problem zu leugnen oder zu unterdrücken hilft nicht viel. Um vollständige Heilung zu erfahren, müssen spirituell verletzte Schüler irgendwann in der Lage sein, die Fehler und Mängel ihres Mentors klaren Verstandes und frei von Naivität, Zorn oder Schuldzuweisung zu erkennen.
Der Fünfte Dalai Lama fügte der Guru-Meditation im Kadam-Stil noch einen vorbereitenden Schritt hinzu, der sich mit dem Problem befasst. Bevor die Schüler sich darin üben, die guten Qualitäten und die Güte ihres Mentors zu erkennen und ihre Aufmerksamkeit auf diese zu richten, vergegenwärtigen sie sich zuerst einmal seine Unzulänglichkeiten; dann arbeiten sie daran, wie sie diese Unzulänglichkeiten betrachten. Dieser Prozess ähnelt einem chirurgischen Eingriff. Das Säubern einer infizierten Wunde erfordert, dass man sie aufschneidet, obwohl das Anstechen des Abszesses und Freilegen der Infektion den Schmerz erst einmal deutlich verstärkt. Im Falle einer eiternden spirituellen Wunde kann die verborgene Entzündung in Leugnung oder unterdrückter Wut bestehen. Um die Infektion zu säubern, muss die Wunde wieder geöffnet und der tiefer liegende Eiterherd an die Oberfläche gebracht werden, selbst wenn die Prozedur zeitweilig noch mehr emotionale Schmerzen freisetzt. Aber selbstverständlich muss diese Operation solange warten, bis die emotional verletzte Person sich ausreichend vom ihrem anfänglichen Trauma erholt und die emotionale Stärke wiedererlangt hat, das Problem anzupacken.
Einen geschützten geistigen Raum zur Behandlung spiritueller Wunden schaffen
Um die spirituelle Infektion aufstechen und heilen zu können, braucht es aber mehr, als dass die verletzte Person genügend emotionale Stärke wiedergewonnen hat. Die Operation selbst muss in einem förderlichen, geschützten Raum stattfinden, damit die Prozedur nicht selbst wieder traumatisch wird. In der Guru-Meditation stellen wir mit den vorbereitenden Praktiken den passenden geistigen Raum her, um die manchmal schmerzhafte Prozedur der Meditation, bei der wir uns mit den Fehlern unseres Mentors und mit unserer Betrachtungsweise seiner Fehler auseinander setzen, in Grenzen zu halten und den Prozess der Heilung zu unterstützen. Mit Hilfe der vorbereitenden Praktiken schaffen wir uns diesen geistigen Raum, indem wir unsere sichere Richtung, die wir im Leben eingeschlagen haben, bestärken, indem wir unsere Bodhichitta-Ausrichtung erneut bestätigen und indem wir bei der Praxis der siebengliedrigen Praxis unsere Aufmerksamkeit auf die Buddhas und die großen Meister der Vergangenheit und Gegenwart richten.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, dass die Drei Juwelen imstande sind, unserem Leben eine sichere Richtung zu bieten – und wir uns insbesondere auf die buddhistischen Methoden ausrichten, mit denen wir an uns selber arbeiten können, um unsere emotionalen Probleme zu überwinden – dann wird uns das dabei helfen, unseren spirituellen Anker wiederzufinden. Wir brauchen diesen Anker, wenn wir unseren Glauben an den spirituellen Pfad verloren haben und ohne klare Richtung durchs Leben treiben. Wenn wir uns wiederholt klarmachen, dass wir unsere eigenen emotionalen Wunden heilen müssen, um unsere Aufmerksamkeit vollständiger auf andere Lebewesen, die der Unterstützung bedürfen, richten zu können, so wird uns das dabei helfen, unsere eigenen Bemühungen auf dem spirituellen Pfad wieder mit Leben zu erfüllen.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit vorurteilslos auf die guten Qualitäten der Buddhas und der großen Meister der Vergangenheit und Gegenwart richten und wir durch Niederwerfungen und das Darbringen von Gaben unseren Respekt zum Ausdruck bringen, so hilft uns das dabei, unser Gespür für Werte zu stärken. Ohne ein Gespür für Werte werden wir in einem missbräuchlichen Lehrer keine guten Qualitäten erkennen können. Wenn wir uns die Enttäuschung und den Schmerz offen eingestehen, die wir in Bezug auf das Fehlverhalten und das Versagen unserer Mentoren empfinden, können wir die emotionalen Verspannungen vielleicht ein wenig auflösen, die unseren weiteren Fortschritt behindern. Unsere Mentoren sind dem Maßstab der Buddhas vielleicht nicht gerecht geworden. Trotzdem hilft uns das Erfreuen an den guten Qualitäten und Taten der großen Meister der Vergangenheit und Gegenwart möglicherweise dabei, den deprimierenden Gedanken abzulegen, dass es überhaupt keine qualifizierten Meister gibt.
Die großen Meister darum zu bitten, nicht ins Nirwana einzugehen, sondern weiterhin zu lehren, hilft uns möglicherweise dabei, unser Herz und unseren Geist dafür zu öffnen, dem spirituellen Pfad weiter zu folgen. Und indem wir die, durch die vorbereitende Praxis entstandene, positive Geisteshaltung dem Heilungsprozess widmen, können wir schließlich den Aufbau eines geschützten und förderlichen geistigen Raums abschließen. Diese vorbereitenden Übungen der Guru-Meditation – vorausgesetzt sie werden mit Aufrichtigkeit praktiziert – können uns helfen, die emotionale Stabilität zu gewinnen, die wir dazu benötigen, die Fehler unserer Mentoren nochmals objektiv zu untersuchen.
Die Erscheinungen untersuchen, die der Geist hervorbringt
Die chirurgische Prozedur der Meditation beginnt damit, dass wir uns die Mängel unserer Mentoren bewusst vor Augen führen. Wenn wir die Fehler dann entblößt haben, müssen wir mit klarem Verstand untersuchen, ob unsere Lehrer diese Unzulänglichkeiten auch heute noch haben, bzw. ob sie immer noch die gleichen Fehler machen. Vielleicht haben wir uns ja in längst vergangenen Geschichten verloren. Um zum Beispiel die Wunden eines Missbrauchs zu heilen, müssen wir herausfinden, ob der betreffende Lehrer seine Handlungen vielleicht bereut und sein Verhalten geändert hat. Ein derartiges Eingeständnis entschuldigt das frühere Fehlverhalten des Lehrers natürlich nicht, aber für eine ehrliche Einschätzung der Situation müssen wir alle Tatsachen berücksichtigen.
Die aufrichtige Untersuchung der Fehler unserer Mentoren erfordert natürlich auch, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeiten und Fehler ausrichten, die unsere Lehrer tatsächlich haben. Wir müssen alle Macken beiseite lassen, die wir aufgrund unserer störenden Emotionen oder Geisteshaltungen vielleicht nur projizieren. Bei Problemen, die weniger schwer wiegen als der spirituelle Missbrauch, sind derartige Projektionen relativ häufig. So kann beispielsweise die Eifersucht auf unsere Mitschüler dazu führen, dass wir uns einbilden, unsere Mentoren würden uns ignorieren, weil sie nicht an unserem Wohl interessiert seien. Wir treffen diese Annahme, auch wenn es in Wirklichkeit vielleicht so ist, dass unsere Lehrer den Bedürfnissen aller gerecht werden, ohne dass sie dabei selbst irgendwelche Vorlieben haben.
Darüber hinaus müssen wir auch zwischen wirklichen Fehlern, etwa unethischem Verhalten, und scheinbaren Fehlern unterscheiden, bei denen es sich nur um eine andere Art und Weise handelt, die Dinge zu tun, als wir es gewohnt sind. Häufig verwechseln Menschen diese beiden Arten von Fehlern und halten alles, was ihnen an einem Lehrer nicht gefällt, für einen objektiven Fehler mit negativen Konsequenzen. Der Stil eines Mentors kann unbequem oder auch ineffizient sein, was uns bisweilen aufregt, so dass wir seine wahren Qualitäten aus den Augen verlieren. Aber darauf zu bestehen, dass das Verhalten eines Lehrers völlig mit unseren eigenen Neigungen übereinstimmen sollte, beweist eine unrealistische Erwartungshaltung.
Ferner müssen die Fehler, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, sich auf die Fähigkeiten unserer Mentoren beziehen, uns auf dem spirituellen Pfad führen zu können. Zudem negiert die Tatsache, dass unsere Mentoren nicht über die Kompetenz verfügen, uns alles zu lehren, was wir brauchen, um ein Buddha zu werden, nicht ihre Fähigkeiten, uns auf unserer gegenwärtigen Entwicklungsstufe nützen zu können. Wenn wir die Richtigkeit, Aktualität und Bedeutung der Fehler, die wir bei unseren Mentoren wahrnehmen, nochmals bestätigt haben, können wir die Verzerrungen und überholten oder gegenstandslose Gesichtspunkte von der Hand weisen.
Als nächstes müssen wir den Prozess untersuchen, durch den unser Geist täuschende Erscheinungen erschafft und diese dann projiziert. Karmische Hindernisse aufgrund unserer früher gemachten Erfahrungen und unseres psychologischen Profils können unseren Geist dazu veranlassen, dass er Mängel in unseren Lehrern hervorbringt, die mit unserem Karma übereinstimmen, zum Beispiel, dass ihnen nicht das Geringste an uns liegt. Unser Mangel an Gewahrsein für die verhaltensbedingte Ursache und Wirkung und unser Mangel an Gewahrsein der Realität, lässt uns glauben, dass diese Erscheinungen korrekt sind. Durch unsere tief verwurzelte Gewohnheit, die Dinge ohne ein Gewahrsein der Realität wahrzunehmen, lässt unseren Geist die Fehler, die wir wahrnehmen, auf eine Weise existent erscheinen, die sich nicht in Übereinstimmung mit der Realität befindet. Das geschieht unabhängig davon, ob wir die Erscheinungen akkurat wahrnehmen oder nicht. Es ist unser eigener Geist, der bewirkt, dass uns die Fehler unserer Lehrer als beständige, inhärent existierende und letztendlich auffindbare Makel erscheinen, und wir unsere Lehrer daraufhin als unzulängliche oder abscheuliche Menschen betrachten, und dabei Ursachen, Umständen und das begriffliche Bezugssystem ausblenden. Und schließlich lässt unser Mangel an Gewahrsein uns auch noch glauben, dass unsere Mentoren tatsächlich auf diese unmöglichen Arten und Weisen existieren.
Die Guru-Meditation verlangt nicht von uns, die korrekte konventionelle Erscheinung der eventuellen Fehler unseres Mentors zu leugnen. In Wirklichkeit kann es sein, dass unsere Mentoren einfach zu beschäftigt sind, um uns, wann immer wir es wünschen, zur Verfügung zu stehen; vielleicht verhalten sich unsere Lehrer aber auch tatsächlich beleidigend. Stattdessen lädt uns die Guru-Meditation dazu ein, unseren verwirrten Glauben an die zutiefst täuschenden Erscheinungsweisen in Bezug darauf endlich abzulegen, wie unsere Mentoren zu den Fehlern kamen, die sie tatsächlich besitzen. Wir müssen die logische Absurdität und damit die Unmöglichkeit verstehen, die sich daraus ergibt, dass unsere Mentoren dank irgendwelcher beständiger, auffindbarer, innerer Defekte bestimmte Fehler besitzen würden, die sie, ganz aus ihrer eigener Kraft heraus und unabhängig von irgendetwas anderem, zu inhärent schlechten Menschen machen würden.
Eine solche Einsicht ermöglicht es uns zu erkennen, dass die Mängel und Fehler unserer Mentoren in Abhängigkeit von einer enormen Anzahl komplexer Faktoren entstanden sind. Diese Einsicht schließlich macht den eigentlichen Heilungsprozess erst möglich. Dasselbe Verständnis versetzt uns auch in die Lage, die Fehler, die unsere Mentoren vielleicht wirklich haben, für den Augenblick zu ignorieren und stattdessen unsere Aufmerksamkeit in der Guru-Meditation auf ihre guten Qualitäten zu richten und uns sogar von ihren guten Qualitäten inspirieren zu lassen. Das alles gilt völlig unabhängig davon, ob wir nun weiter mit unseren Mentoren studieren oder ob wir uns dazu entschlossen haben, Abstand von ihnen zu halten. Wenn wir von unseren Mentoren Abstand halten, so ermöglicht uns unser Verständnis davon, wie ihre Mängel und ihr Fehlverhalten zustande gekommen sind, diesen Abstand mit Respekt und innerem Frieden zu erleben.
Die Analogie mit der kontextuellen Therapie für Missbrauchsopfer
Der aus Ungarn stammende Gründer der kontextuellen Therapie, Boszormenyi-Nagy, schlägt in seinem Buch: „Unsichtbare Bindungen: Die Dynamik familiärer Systeme“ („Invisible Loyalties“) einfühlsame Methoden und Wege vor, wie die psychischen Verletzungen von Opfern körperlicher Gewalt oder sexuellen Missbrauchs geheilt werden können. Die von ihm aufgezeigten Methoden gleichen in vielerlei Hinsicht dem Ansatz der Guru-Meditation der Sutra-Ebene. Seine Analyse kann unser Verständnis davon bereichern, wie die Guru-Meditation dazu beitragen kann, die Wunden von Schülerinnen und Schülern zu heilen, die von missbräuchlichen spirituellen Lehrern zutiefst verletzt worden sind.
Boszormenyi-Nagy hat erläutert, dass der erste Schritt im Heilungsprozess für Missbrauchsopfer darin besteht, dass sie ihren Schmerz anerkennen und ebenso ihr Recht darauf, sich schlecht fühlen zu dürfen. Tatsächlich sind sie ja gewaltsam verletzt worden, und wenn sie diese Wahrheit leugnen, verstärken sie nur ihre unterdrückte Wut und ihre Schuldgefühle. Und wenn wir persönlich von unserem spirituellen Mentor missbraucht worden sein sollten, oder aus verlässlicher Quelle erfahren haben, dass unser Mentor andere Schüler schlimm behandelt hat, müssen wir ebenfalls zuerst unseren Schmerz anerkennen und uns das „Recht“ einräumen, dass wir uns schlecht fühlen dürfen. Wir wurden ja tatsächlich schlecht behandelt oder fallen gelassen. Die Guru-Meditation kann diese Anerkennung unseres Schmerzes und unserer Berechtigung, uns schlecht zu fühlen, als Teil ihrer vorbereitenden Übungen umfassen, und zwar an der Stelle, wo wir unsere Schwierigkeiten offen einräumen.
Als nächstes lädt uns die kontextuelle Therapie dazu ein, den Kontext zu verstehen, in dem der Missbrauch entstanden ist – und zwar sowohl von der Seite des Täters aus betrachtet, als auch von der Seite des Opfers. Das heißt nicht etwa, dass man das falsche Verhalten oder das fehlerhafte Urteil seitens des Täters wegrationalisieren sollte oder dass das Opfer die ganze Verantwortung übernehmen und sich schuldig fühlen sollte. Stattdessen ist es für die Missbrauchsopfer notwendig, klar zu erkennen, dass die Situation in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entstanden ist. Dieser Prozess entspricht den Erkenntnissen aus den Schlussfolgerungen, zu denen man in der Guru-Meditation dadurch gelangt, dass man die täuschenden Erscheinungen in Bezug darauf zerlegt, wie unser Mentor und seine Fehler existieren.
Es ist für die Missbrauchsopfer auch notwendig zu erkennen, dass sie das Anrecht auf ein besseres Leben haben. In buddhistischem Vokabular ausgedrückt heißt das, dass das Anrecht auf Glück sich aus unserem eingeborenen Netzwerk positiver Potenziale als Teil der Buddha-Natur ableitet. Dennoch ist es notwendig, dass die Missbrauchsopfer sich dieses Glück auch verdienen, indem sie sich anständig verhalten. So haben zum Beispiel Kriegsflüchtlinge, einfach deshalb weil sie Menschen sind, ein Anrecht auf Unterkunft und einen Lebenserwerb in ihren Gastländern. Dennoch müssen sie sich diese gute Behandlung auch verdienen, indem sie sich an die Gesetze halten und ein aufrechtes Leben führen. Auf ähnlich Weise müssen missbrauchte spirituell Suchende nochmals die Notwendigkeit bekräftigen, den Richtlinien des Dharmas zu folgen.
Viele Missbrauchsopfer haben negative Selbstbilder. Sie geben sich entweder bewusst oder unbewusst selbst die Schuld für das Geschehene und haben vielleicht sogar das Gefühl, es nicht besser verdient zu haben. Selbst wenn sie doch das Recht auf eine bessere Behandlung empfinden, resignieren sie leicht wieder und lassen sich weiter missbrauchen. Ein ähnliches Verhaltensmuster entwickelt sich oft bei Opfern, denen gesagt wurde, dass sie etwas ganz Besonderes seien, und die sich auch so fühlen. Während der Missbrauchsbeziehung führt ein überhöhtes Selbstwertgefühl dazu, dass die Missbrauchsopfer nicht einmal bemerken, dass sie missbraucht werden. Häufig leugnen sie den Missbrauch und verteidigen den Täter, selbst dann, wenn sie mit den Fakten konfrontiert werden. Wenn der Täter dann aber andere „Auserwählte“ findet, fühlen sie sich gedemütigt, erleben den plötzlichen Verlust ihres Selbstwertgefühls und sind zutiefst verletzt oder von wilder Wut erfüllt.
In allen diesen Fällen müssen die Opfer ihre Identifikation mit einem negativen Selbstbild aufgeben, um emotionale Stabilität zu finden oder wiederzufinden. Dieselben Richtlinien gelten für missbrauchte spirituell Suchende zur Herstellung oder Wiederherstellung gesunder Beziehungen zu spirituellen Lehrern. Solange sie sich für unwürdig halten, bleiben sie anfällig für mögliche Manipulationen und Missbrauch.
Der nächste Schritt im Heilungsprozess der kontextuellen Therapie bezieht sich auf das, was das Missbrauchsopfer aus seiner Beziehung zu dem Missbraucher mitnimmt. Ist es bloß Wut, Bitterkeit und die Unfähigkeit, in Zukunft noch irgendwem vertrauen zu können, oder kann das Missbrauchsopfer etwas Positiveres aus der Beziehung mitnehmen? In der Therapie richtet das Opfer seine Aufmerksamkeit auf die aus der Beziehung gewonnenen positiven Faktoren und hört auf, sich zwanghaft mit den negativen Faktoren zu beschäftigen. Diese konstruktive Ausrichtung hilft dem Opfer zu einer Loyalität gegenüber den positiven Faktoren und macht es möglich, diese in sein Leben einzubauen. Im Falle einer inzestuösen Beziehung versetzt dieser Prozess das Opfer in die Lage, das Beste von den vergangenen Generationen zu übernehmen und es an seine Nachkommen weiterzugeben.
Darüber hinaus hilft der Prozess dem Opfer auch, nicht unbewusst mit unangebrachter Loyalität gegenüber den negativen Aspekten des Missbrauchers zu handeln. Eine derartige Loyalität kann dazu führen, dass das Opfer eine gewisse Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber entwickelt und aus Schuldgefühlen heraus sein Recht auf gesunde Beziehungen leugnet. In der Folge erlebt das Missbrauchsopfer häufig mentale Blockaden gegenüber emotionaler und körperlicher Intimität und zweifelt an seinem Recht auf Heirat und Kinder.
Mit Hilfe der Guru-Meditation kann ein missbrauchter Schüler sich ebenfalls auf die guten Qualitäten seines missbrauchenden Mentors konzentrieren und aufhören, sich zwanghaft mit dem falschen Verhalten des Lehrers zu beschäftigen. Wenn er die positiven Dinge, die er tatsächlich aus der Mentor-Schüler-Beziehung zu diesem Lehrer gewonnen hat, anerkennt, wird der Schüler fähig, sich ihnen auf bewusste, positive Weise würdig zu erweisen, indem er die spirituelle Tradition seines Lehrers weiterführt und versucht sie an andere weiterzugeben. Auf diese Weise „verdient er sich das Recht“ sein spirituelles Leben fortzusetzen und gesunde Beziehungen zu anderen Lehrern aufzubauen. Herrschen beim Schüler hingegen Gefühle von Bitterkeit und Zorn vor, vielleicht noch verbunden mit unbewussten Schuldgefühlen aus dem Glauben, dass der Missbrauch aufgrund persönlicher Unzulänglichkeiten und Fehler erfolgt ist – „ich bin als Schüler nicht gut genug gewesen“ – spricht er sich selbst das Recht auf zukünftige vertrauensvolle Beziehungen ab. Derartig traumatisierte Dharma-Schüler sind häufig so frustriert, dass sie dem spirituellen Pfad den Rücken kehren.
Lehrer, die in Kontroversen verstrickt sind
Die Vorgehensweise der Guru-Meditation im Stil der Kadam-Tradition, ergänzt durch Einsichten der kontextuellen Therapie, kann auch bei den Problemen hilfreich sein, die sich durch Lehrer ergeben, die in eine spirituelle Kontroverse verwickelt sind, auch wenn damit kein missbräuchliches Verhalten verbunden ist. Wenn unser spiritueller Mentor uns zum Beispiel nicht unter Androhung von Höllenstrafen befiehlt, einen speziellen Dharma-Schützer oder einen speziellen Kandidaten als Inkarnation eines großen Meisters zu verehren bzw. abzulehnen, findet kein Missbrauch im Zusammenhang mit diesen strittigen Fragen statt. Dennoch kann unser Mentor im Privaten die umstrittene Schützer-Praxis entweder selbst ausüben oder ablehnen; er kann auch die Vor- und Nachteile dieser Praxis aufzeigen, solange er die Wahl uns selbst überlässt. Das Gleiche gilt im Zusammenhang mit der Unterstützung des einen oder anderen Tulku-Kandidaten. Vielleicht weicht unsere Meinung von der Meinung unseres Mentors ab, und vielleicht stimmen wir eher mit der anderen Seite überein, haben aber das Gefühl, dass wir uns damit unloyal verhalten würden. Wir können die Beziehung jedoch gesund erhalten, wenn wir uns lediglich den guten Qualitäten unseres Mentors gegenüber loyal erweisen, indem wir sie in unser Verhalten übernehmen, während wir gleichzeitig die Aspekte, mit denen wir nicht übereinstimmen, nicht annehmen und auch nicht auf ihnen herumreiten.
Derselbe Ratschlag gilt auch, wenn wir bereits eine Beziehung zu Lehrern beider im Streit liegenden Seiten aufgebaut haben. Beide Lehrer könnten nun versuchen ihre Macht auf uns auszuüben, indem sie verlangen, dass wir die Gegenseite ablehnen und aufgeben; beide Parteien könnten die Entscheidung aber auch uns selbst überlassen, oder aber ein Lehrer verhält sich auf die eine Weise und der andere Lehrer anders. Es spielt eigentlich kaum eine Rolle. Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama gab den Rat, dass sich jeder Schüler seine eigene Meinung bilden müsse, wobei sich diese Meinungsbildung auf die eigenen beschränkten Kräfte der Logik und Beweisführung gründen, sowie darauf, wie gut der Schüler die Schriftquellen selbst versteht. Wenn spirituell Suchende ihre Entscheidung darauf gründen wollen, dass sie beide Lehrer als Buddhas betrachten, oder wenn sie nur vom Blickpunkt der Leerheit oder des Geistes des klaren Lichts argumentieren, werden sie niemals eine Entscheidung treffen können. Andererseits ist es für die Schüler vielleicht notwenig, sich bewusst dafür zu entscheiden, dass der Meinungsstreit für ihre jetzige Stufe der spirituellen Praxis bedeutungslos oder irrelevant ist, und sie können dann mit Gleichmut versuchen, Abstand zu der kontroversen Debatte zu halten.
Ob wir nun zu der Entscheidung kommen, Abstand zu einem oder beiden Lehrern zu halten, oder ob wir eine Beziehung zu beiden aufrechterhalten, in jedem Fall können wir von der Guru-Meditation der Sutra-Ebene im Kadam-Stil profitieren. Wir müssen uns auf die guten Qualitäten jedes unserer Lehrer konzentrieren und aufhören uns zwanghaft mit ihren zerstörerischen und für uns unverständlichen Handlungen zu beschäftigen.
Emotionale Blockaden in der Wertschätzung von Güte überwinden
In „Eine Lampe zur Erhellung der definitiven Bedeutung“, setzt Kongtrül ein wesentliches Element der Bodhichitta-Meditation mit der Guru-Meditation in Verbindung. Eine Methode zur Entwicklung von Bodhichitta besteht darin, dass der Schüler erkennt, dass jedes Lebewesen in irgendeinem früheren Leben einmal die eigene Mutter war, und darin, dass der Schüler seine Aufmerksamkeit dann auf die Güte all dieser eigenen Mütter lenkt. Auch in der Guru-Meditation ist es erforderlich, dass der Schüler seine Aufmerksamkeit auf die Güte seiner Mentoren richtet.
Viele Westler haben jedoch große Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit auf die Güte ihrer Mutter zu richten. Sie können in ihren Müttern keine Güte und Freundlichkeit finden, und häufig genug können sie nicht einmal in sich selbst irgendetwas Gutes entdecken. Obwohl sie sich verzweifelt nach Liebe und Güte sehnen, verhindern ihre geistigen Blockaden häufig, dass sie die Güte anderer – etwa ihrer spirituellen Mentoren – erkennen können. Gleichgültig wie viel Güte ihnen zuteil wird, es ist niemals genug.
Ein Grund dafür, dass wir die Güte unserer Mutter nicht schätzen können, mag darin liegen, dass sie es nicht schafft unserem Idealbild einer Mutter gerecht zu werden. Und wenn unser spiritueller Mentor Unzulänglichkeiten hat und unserem Idealbild eines Lehrers nicht gerecht wird, haben wir möglicherweise die gleichen Schwierigkeiten, seine Güte zu schätzen. Wie Kinder, die sich nach vollkommener Liebe sehnen, fühlen wir uns betrogen, wenn unser Mentor unsere Erwartungen nicht erfüllt.
Unsere emotionale Blockade in Bezug darauf, die Güte unserer alles andere als perfekte Mentoren wertschätzen zu können, kann sich aus Fehlern im Prozess des geistigen Benennens ergeben. Die Madhyamaka-Philosophie erklärt, dass Worte und Konzepte für erkennbare allgemeine Phänomene, wie etwa Güte, geistige Benennungen sind, die sich auf eine ganze Reihe spezifischer Beispiele von Güte beziehen. Wenn wir jedoch eine fixierte Vorstellung davon haben, was Güte ist, dann glauben wir fest, dass Güte sich nur auf eine spezielle Form von Güte beziehen kann. Unsere eigenen fixen Vorstellungen berauben uns der Fähigkeit, auch andere Formen rücksichtsvollen Verhaltens in unser Konzept der Güte mit aufzunehmen. Daher sind wir dann unfähig, auch diese Formen des Verhaltens als gütig zu erkennen und zu benennen, und folglich können wir diese Verhaltensweisen auch nicht schätzen.
So könnten wir zum Beispiel glauben, Güte bedeute warmherzige und körperliche Zuneigung zu zeigen. Nun mag unsere Mutter aus einer Reihe von Gründen nicht besonders warmherzig sein. Sie hat nur selten mit uns geschmust, als wir klein waren. Vielleicht hat sie ihre Zuneigung auf andere Weise gezeigt, zum Beispiel indem sie sich pedantisch um unsere körperlichen Bedürfnisse gekümmert hat. Das Verhalten unserer Mutter entsprach jedoch nicht unseren fixen Vorstellungen von Güte. Und weil wir unsere begrenzten Vorstellungen von Güte strikt für die definierenden Merkmale einer ideal gütigen Mutter halten, können wir die körperliche Fürsorge, die unsere Mutter uns angedeihen ließ, nicht als gütig erkennen und benennen.
Ein ähnlicher Fehler in der geistigen Benennung kann uns nun daran hindern, die Güte unseres Mentors zu erkennen und zu schätzen. Vielleicht haben wir feste Vorstellungen von einem idealen spirituellen Mentor – jemand, der seine ganze Zeit ausschließlich uns widmet, mit liebevoller Wärme und Zuneigung, wie unsere ideale Mutter oder unser vollkommener Vater es tun würden. Vielleicht hat unser spiritueller Mentor nun aber viele andere Schüler und ist jemand, der seine Zuneigung nicht unbedingt körperlich zeigt. In einer Gesellschaft, die auf jede mögliche sexueller Belästigung hypersensibel reagiert, mag unser Mentor sich auch wohler fühlen, etwas reservierter mit dem Zeigen seiner Zuneigung umzugehen. Seine Güte zeigt sich eher darin, dass er sich mit größter Sorgfalt um unsere spirituellen Bedürfnisse kümmert und uns – seine nicht gerade vollkommenen Schüler – mit nie ermüdendem Enthusiasmus lehrt. Um die Güte unserer Mentoren zu erkennen und entsprechend zu schätzen, müssen wir unsere begrenzten Konzepte von Güte lockern und erweitern. Außerdem ist das korrekte geistige Benennen eine Voraussetzung für jede Richtigstellung von Bezeichnungen.
Emotionale Blockaden im Erweisen von Respekt überwinden
Vielen Abendländer, besonders aus der jüngeren Generation, fällt es schwer Respekt zu zeigen. Sie respektieren einfach nichts und niemanden, vielleicht weil sie nichts oder niemanden für vertrauenswürdig halten. Sie wurden stets von anderen im Stich gelassen oder ihr Vertrauen wurde betrogen, häufig bereits von ihren berufstätigen Eltern, die durch die Anforderungen des modernen Lebens gezwungen waren, sie als Kleinkinder bei Fremden in einer Kinderkrippe zurückzulassen. Sie haben erleben müssen, dass Versprechen und Verträge häufig gebrochen wurden und wie oft politische und spirituelle Führungspersönlichkeiten an Skandalen beteiligt waren. Sie halten jeden, der einer Führungspersönlichkeit vertraut oder an die Worte eines solchen Menschen glaubt für hoffnungslos idealistisch und naiv. Häufig mangelt es ihnen sogar an Respekt für sich selbst. Ihre unbewussten Gefühle manifestieren sich in der Geisteshaltung: „Alles ist in Ordnung; letztlich spielt es keine Rolle.“
Man denke nur an die Opfer von Kindesmissbrauch. Menschen, die von ihren Eltern in der Kindheit missbraucht wurden, haben gewöhnlich keinerlei Vertrauen in das Gesetz von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung. Gleichgültig, was sie taten, ihre Eltern betranken sich und missbrauchten sie. Sie wurden niemals entsprechend ihres Verhaltens behandelt. Selbst wenn sie sich bestens benommen hatten, wurden sie missbraucht oder geschlagen. Diese Opfer müssen ihren Glauben an die korrekte Wirkungsweise von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung wiederfinden.
Verhaltensbedingte Ursache und Wirkung, oder Karma, funktioniert auf äußerst komplexe, nichtlineare Weise. Die Art und Weise wie Eltern auf Situationen reagieren wird nicht allein von den jeweiligen Begebenheiten bestimmt, sondern ebenso von ihrem Persönlichkeitsprofil und ihrer persönlichen Geschichte, von anderen Geschehnissen des Tages, wirtschaftlichen Notwendigkeiten und so weiter. Daher ist auch das Verhalten des Kindes nicht der einzige bestimmende Faktor für den Missbrauch durch die Eltern. Häufig erzeugen sie durch ihr Verhalten Umstände, die tiefere psychologische Mechanismen in ihren Eltern auslösen. Um ihre Selbstachtung zu finden, müssen missbrauchte Kinder ein erweitertes Verständnis der vielen Faktoren gewinnen, die zum Missbrauchsverhalten ihrer Eltern beigetragen haben.
Die Guru-Meditation fordert uns ebenfalls auf, die ganze Bandbreite von Ursachen und Umständen zu begreifen, die nicht nur zu den Errungenschaften unserer Mentoren, sondern auch zu ihren Fehlern geführt haben. Je besser wir das Prinzip von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung verstehen, desto einen klareren Blick erlangen wir in Bezug auf unsere Mentoren. Ein mit klarem Verstand ausgestatteter Glaube und klarsichtiges Vertrauen in einen Mentor sind frei von jeder Naivität.
Zu erwarten, dass ein zum Missbrauch neigender Elternteil wie ein idealer Elternteil handeln würde, ist schlicht naiv. Ein missbrauchtes Kind hat ganz recht damit, wenn es dem anderen Menschen keine Vollkommenheit zutraut. Wenn wir unsere Mentoren idealisieren, machen wir uns blind gegenüber der Arbeitsweise von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung, die zum tatsächlichen Verhalten unserer Mentoren beiträgt. Wenn unsere Mentoren unseren Idealen nicht gerecht werden, trauen wir ihnen nicht länger und finden es sehr schwierig ihnen Respekt zu erweisen. Wenn wir jedoch zumindest die Prinzipien von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung verstehen, haben wir das Vertrauen, dass unsere Mentoren sich diesen Prinzipien entsprechend verhalten werden. Wir werden nicht enttäuscht sein.
So mögen wir zum Beispiel den Dharma zwar aufrichtig üben, aber unser Mentor ist schlicht zu müde oder zu beschäftigt, um uns zu empfangen. Wenn wir erwarten, dass unser Mentor stets zur Verfügung steht, sobald wir einen Rat wollen, ist unsere Erwartung naiv. Wenn wir das Unmögliche erwarten, wird unser Mentor uns unweigerlich enttäuschen. Wenn wir jedoch die verhaltensbedingte Ursache und Wirkung verstehen, vertrauen wir auf etwas viel Vernünftigeres. Wir glauben, dass unser Mentor uns genug Zeit und Aufmerksamkeit widmet, wenn die Umstände es erlauben.
Vernünftiges Vertrauen entsteht aus rationalem Denken, nicht aus Naivität oder idealistischen Träumen. Wenn wir solch ein Vertrauen empfinden, werden wir unseren Lehrer nicht als einen schlechten Mentor verunglimpfen, weil er keine Zeit für uns hat. Ebenso wenig setzen wir uns selbst herab, indem wir uns vorstellen, dass unser Mentor keine Zeit für uns hat, weil wir schlechte Schüler sind. Auf diese Weise ermöglicht ein auf Vernunft basierendes Vertrauen es uns, dass wir mithilfe eines klaren Verstandes Respekt für den eigenen Mentor wie auch für uns selbst empfinden.