Einführung
Das Thema für diesen Abend ist die analytische Meditation. An uns selbst zu arbeiten, indem wir eine sichere und positive Richtung im Leben einschlagen und Bodhichitta entwickeln, beinhaltet einen Prozess in drei Schritten:
- Hören der Lehren
- Nachdenken über diese
- Meditation darüber.
In diesem Punkt stimmen alle buddhistischen Traditionen überein. Das ist eine standardmäßige buddhistische Lehre.
Zur Ruhe kommen
Sich auf den Atem zu konzentrieren, um zur Ruhe zu kommen – manche Leute denken, dies ist alles, was Shamatha beinhaltet –, ist lediglich eine Vorbereitung auf die drei genannten Punkte. Wir müssen zur Ruhe kommen, bevor wir den Lehren zuhören, bevor wir über sie nachdenken und bevor wir über sie meditieren. Sich auf den Atem zu konzentrieren kann dies bewirken. Zur Ruhe zu kommen bringt uns allerdings nicht zur einer einsgerichteten Konzentration und beseitigt ebenso sicherlich nicht die Ursachen unserer Probleme (obwohl es uns im Geiste klarer machen kann, um mit Hindernissen besser umgehen zu können).
Natürlich kann man den Atem als Objekt dafür verwenden, eine vollkommene Konzentration zu entwickeln; aber diesen Fokus lediglich dafür zu nutzen, zur Ruhe zu kommen, bringt uns nicht den ganzen Weg zu diesem vollkommenen Zustand der Konzentration. Und tatsächlich sind es nur die Theravada-Lehren, welche behaupten, dass man eine vollkommene Konzentration allein dadurch erreicht, dass man sich auf den Atem fokussiert. Sich auf den Atem zu konzentrieren ist Sinneswahrnehmung – das Wahrnehmen einer körperlichen Sinnesempfindung –, und gemäß den Mahayana-Lehren, welchen die tibetische Tradition folgt, kann man nur mit geistiger Wahrnehmung vollkommene Konzentration erlangen, nicht mit Sinneswahrnehmung.
Wenn wir uns also Meditation in der tibetisch-buddhistischen Tradition anschauen, müssen wir mehr in Betracht ziehen als nur zur Ruhe zu kommen, indem man sich auf den Atem konzentriert. Das ist lediglich eine Vorbereitung.
Zuhören
Nun gut, wir müssen die Lehren also anhören, über sie nachdenken und meditieren. In jedem dieser drei Schritte gewinnen wir an unterscheidendem Gewahrsein (was oft mit „Weisheit“ übersetzt wird, was allerdings viel zu ungenau ist). Zunächst halten wir etwas auseinander, was ich üblicherweise „auseinanderhaltendes Gewahrsein“ nenne. Wie im optischen Sinnesfeld: Um alles verarbeiten zu können und zu irgendeiner Form von tiefergehender Wahrnehmung zu gelangen, muss man dazu in der Lage sein, Form und Farbe des Gesichts einer Person und die Wand dahinter auseinanderzuhalten. Das ist der erste Schritt: Auseinanderhalten. Und was das unterscheidende Gewahrsein dann macht, ist, dem Ganzen Entschlossenheit oder Sicherheit zu geben: „Es ist definitiv dies und nicht das.“ Das ist, was unterscheidendes Gewahrsein bedeutet (wie bereits gesagt, wird dieser Begriff normalerweise mit Weisheit übersetzt, was jedoch nicht wirklich genau vermittelt, worüber wir hier sprechen).
Indem wir die Lehren hören, erlangen wir das unterscheidende Gewahrsein, welches vom Zuhören herrührt. Man unterscheidet dabei also die in den buddhistischen Lehren enthaltenen Worte. Das bedeutet, dass wir buddhistische Aussagen und andere (sagen wir, nicht-buddhistische Aussagen) auseinanderhalten und wir diesbezüglich sicher sind: „Dies ist die Lehre Buddhas.“ Um auf dem buddhistischen Pfad voranzuschreiten, müssen wir sicher sein, dass das, was wir hören, buddhistische Lehren sind, nicht wahr?
Was wir auf dieser Ebene also erreichen, ist, dass wir eine Vorstellung von dem Wortlaut des Dharma haben, aber wir wissen noch nicht, was diese Worte bedeuten. Nehmen wir beispielsweise die Lehre über das kostbare menschliche Leben. Wir sind in der Lage, diese und nicht-buddhistischen Aussagen auseinander zu halten. Wir haben also ein kostbares menschliches Leben und aus Respekt vor den Buddhas gehen wir davon aus, dass das stimmt, aber auf dieser Ebene verstehen wir noch nicht wirklich, was das bedeutet. Wir wissen, dass die buddhistischen Lehren nicht behaupten, dass dieses menschliche Leben sinnlos ist und keinen Zweck hat. In diesem Prozess war eine Unterscheidung beteiligt: „Okay, der Buddhismus besagt, dass wir ein kostbares menschliches Leben besitzen.“
Nachdenken
Nun müssen wir den nächsten Schritt machen: nachdenken, um die Bedeutung von etwas zu verstehen. Das bedeutet hier, über die Definition des kostbaren menschlichen Lebens und über die Argumentation, warum es so kostbar ist, nachzudenken. Sobald wir das verstanden haben, haben wir auch den jeweiligen Lehrsatz verstanden, nicht wahr? Daran müssen wir also arbeiten, indem wir nachdenken. Wir müssen verstehen, was die achtzehn Merkmale des kostbaren menschlichen Lebens sind. Nehmen wir beispielsweise die Tatsache, dass wir keine Tiere sind. Es geht hier nicht darum, dass wir aus biologischer Sicht eigentlich Tiere und keine Pflanzen sind, sondern dass wir Wesen sind, welche in der Lage sind, zu unterscheiden, was auf lange Sicht nützlich und was schädlich ist; Wesen, welche verstehen und kommunizieren können.
Es ist wichtig, zu verstehen, was es bedeutet, dass wir keine Tiere sind, und ebenso was die Argumentationsreihe ist, welche diese Behauptung unterstützt. Die Behauptung ist hier, dass die Tatsache, als Mensch geboren zu werden und nicht als Tier, kostbar in Bezug auf die Praxis und das Verständnis des Dharma ist. Behauptung ist hier das, was wir beweisen wollen. Die Argumentation ist, dass man als Tier unter dem starken, überwältigenden Einfluss tierischer Instinkte stehen würde. Was sind tierische Instinkte? Jagen, Töten, das eigene Revier beschützen wie ein Hund, der bellt, sobald jemand einen Fuß in seinen Hof setzt, und Sex mit jedem nächstmöglichen Artgenossen zu haben, wenn der Drang in einem aufkommt. Als Tier kann man sehr schlecht unterscheiden, was langfristig nützlich und was schädlich ist. Kurzfristig können Tiere das sehr wohl: Sie fliehen vor dem Löwen, da es nützlich ist. Auf lange Sicht können Tiere jedoch nicht differenzieren, was hilfreich und was schädlich ist. Wenn es uns auch so ginge, wäre es sehr schwierig, Dharma zu praktizieren.
Denkt darüber nach und versucht, euch vorzustellen, wovon hier die Rede ist. Wir versuchen, uns vorzustellen, wie es wäre, ein Tier zu sein, und versuchen, uns von dessen Nachteilen zu überzeugen. Hätte man dauerhaft diesen starken tierischen Instinkt, zu jagen… Denkt doch einfach daran, wie eine Katze einem Insekt oder einer Maus hinterherjagt – und sie frisst sie dann nicht einmal. Sie macht das nur, um ihr Opfer zu quälen und um zu versuchen, es zu fangen. Wenn das mein erster Impuls wäre, sobald ich etwas auf dem Boden sehe, das sich bewegt… Wie könnte ich da jemals an mir arbeiten, wenn ich solch einen automatischen Instinkt hätte, der so überwältigend stark ist?
Es ist sehr interessant, unser eigenes Verhalten zu beobachten. Wir bemerken eine Fliege, eine Kakerlake oder eine Schnake im Zimmer, und es ist, als würden wir unseren Tropenhelm und unser Gewehr rausholen und uns auf die Jagd begeben. Wir sind dann weder dazu in der Lage, zu meditieren, noch irgendetwas anderes zu tun, bis wir unsere Beute gefangen und getötet haben. Wir können nicht meditieren oder lernen – nichts dergleichen –, bis wir dieses Ding getötet haben. Wie ich immer sage: Es ist sehr hilfreich, Dinge ad absurdum zu führen. Wenn wir das Bild des Tropenhelms und der afrikanischen Safari im Kopf haben, während wir uns bei solch einem Verhalten ertappen, wird uns bewusst, wie lächerlich das Ganze eigentlich ist. Auch wenn wir dann weiterhin versuchen, die Schnake aus dem Zimmer zu treiben, ist wenigstens unsere Haltung dem gegenüber, was wir gerade tun, etwas anders. Wir sind nämlich nicht einfach ein Tier auf der Jagd.
Wären wir ein Tier, würden wir dauerhaft von anderen Kreaturen gejagt werden, die uns jeden Moment attackieren könnten. Wir müssen also immer auf der Hut sein. Auch das ist nicht wirklich eine förderliche Situation, um zur Ruhe zu kommen, sich in Konzentration zu üben und zu studieren.
In dieser Weise gehen wir durch die verschiedenen Charakteristika von Tieren – deren Sexualverhalten, Revierverhalten und so weiter –, um zu sehen, wie schwierig es wäre, Fortschritt zu machen, wenn auch wir solche Verhaltensweisen als Primärinstinkt zeigen würden.
Oder wenn wir ständig schwere Lasten tragen müssten – wie beispielsweise die Ochsen in Indien, die dabei auch noch gepeitscht werden –, würde auch das es uns sehr schwer machen, irgendeine Art von spiritueller Praxis auszuüben. Wenn wir an ein solches Beispiel im Kontext einer Wiedergeburt als Tier denken, sollten wir das auf den Kontext des alten Indiens beziehen; es geht hier nicht um Bambi oder ein Pudel, der bei reichen Leuten lebt. Wir sollten an Kakerlaken denken, an Straßenhunde und an Arbeitstiere.
In dieser Weise kommen wir zu einem Verständnis der Charakteristika, welche eine Wiedergeburt als Tier definieren, und davon sind wir frei. Aus diesem Grund haben wir die Möglichkeit und die Freiheit, den Dharma zu praktizieren. Deshalb haben wir ein kostbares menschliches Leben.
Lasst uns einen Moment damit verbringen, diese Schritte durchzugehen. Uns ist klar, wovon wir sprechen, wenn es um Tiere geht, und wir verstehen, dass wir frei von diesen Dingen sind. Und da wir davon frei sind, können wir den Dharma praktizieren.
Nun gut. Wir kommen zu dem Verständnis, dass wir nicht vollständig unter dem Einfluss von tierischen Instinkten stehen:
- Ich muss mich nicht sofort auf alles stürzen, was sich auf dem Boden bewegt.
- Ich muss nicht bellen, sobald alle anderen Tiere bellen und tun, was sie tun.
- Ich muss nicht jedes andere Tier anspringen, sobald ich eines sehe, zu dem ich mich hingezogen fühle.
Obwohl wir eine kleine Menge dieser Instinkte haben mögen, müssen wir diese nicht ausagieren. Wir sind Menschen. Wir besitzen die Fähigkeit, zu unterscheiden, was angemessen ist und was nicht. Deswegen haben wir ein kostbares menschliches Leben – und das zu einem gewissen Zweck: Dharma zu studieren und zu praktizieren. Es ist nicht kostbar in dem Sinne, dass wir viel Geld machen können.
Was machen wir also an diesem Punkt? Über den Dharma nachdenken. Wir verlassen uns nicht nur auf Worte. Das war nur der erste Schritt. Indem wir uns auf die Charakteristika, die ein kostbares menschliches Leben definieren, auf unsere eigene Situation, unsere individuellen Umstände, und eine gewisse Argumentationslinie verlassen, kommen wir zu einem Verständnis, welches auf Schlussfolgerung basiert. Schlussfolgerung bedeutet hier, sich auf eine Argumentationslinie zu stützen: Da es sich mit A so verhält, muss B so sein. So erlangen wir unterscheidendes Gewahrsein, welches vom Nachdenken herrührt, und damit konzentrieren wir uns auf einen Gedanken, der bedeutungsvoll ist, und nicht einfach nur auf sinnlose Worte. Der bedeutungsvolle Gedanke hier ist: „Ich habe ein kostbares menschliches Leben und muss kein Tier sein.“ Und diesbezüglich ist man überzeugt. Wir unterscheiden etwas: Das unterscheidende Gewahrsein unterscheidet dies von anderen Gründen und unpräzisen Definitionen und ist diesbezüglich überzeugt.
Lasst uns versuchen, uns auf dieses unterscheidende Gewahrsein zu konzentrieren: „Ich habe ein kostbares menschliches Leben und muss kein Tier sein.“ Wir konzentrieren uns auf dieses Verständnis. Eigentlich sollte die Reihenfolge andersrum sein: „Ich bin frei davon, ein Tier zu sein. Deshalb habe ich ein kostbares menschliches Leben.“ Mit anderen Worten: Wir stützen uns auf eine Argumentationsreihe und kommen dann zu einem Schluss und dann müssen wir uns wieder auf diese Argumentationsreihe stützen.
Ihr seht also, dass es einen großen Unterschied zwischen den ersten beiden Schritten gibt, dem Zuhören und dem Nachdenken. Das unterscheidende Gewahrsein, welches wir in den beiden Schritten jeweils erlangen, ist recht unterschiedlich.
- Der erste Schritt: „Ich habe ein kostbares menschliches Leben.“ Man weiß, dass das ein buddhistischer Lehrsatz ist – daran besteht kein Zweifel –, aber wir nehmen lediglich an, dass es wahr ist. Wir wissen nicht wirklich, warum dem so ist. Wir verstehen noch nicht wirklich, was das bedeutet.
- Der zweite Schritt: Wir wissen, was ein kostbares menschliches Leben bedeutet. Wir wissen, warum wir es haben (dessen Grund), und wir kennen dessen Zweck, welcher dieses kostbar macht (es ist kostbar, da es uns erlaubt, Dharma zu praktizieren). Anstatt also ohne Verständnis nur anzunehmen, dass es wahr ist, können wir jetzt zu einem Schluss kommen und wissen es in gültiger Weise durch Schlussfolgerung. Dies bedeutet, dass wir uns auf eine Argumentationsreihe stützen müssen. Und wir betrachten dies mit unterscheidendem Gewahrsein. Das bedeutet, dass wir die feste Überzeugung haben, dass „ich aus diesem Grund wirklich ein kostbares menschliches Leben habe, welches ich für diesen und jenen Zweck einsetzen kann.“
Debattieren
An dieser Stelle ist das Debattieren ein sehr nützliches Mittel, um eine feste Überzeugung zu erlangen, da es einem dabei hilft, unentschlossenes Schwanken bzw. unpräzise Vorstellungen bezüglich der Bedeutung von etwas loszuwerden. Wir sind dann nicht mehr unentschlossen oder unschlüssig: Habe ich dies oder jenes verwirklicht oder nicht? Bedeutet es dies oder das? Andere werden immer mehr Widersprüche in unserem Denken finden, als wir es selbst je tun könnten. Wenn man einfach für sich allein das eigene Verständnis überprüft, kann man sehr schnell an einen Punkt kommen, an dem man mit sich zufrieden ist und sagt: „Oh, gut, genug damit.“ Andere können Fehler und Widersprüche im eigenen Denken viel effektiver aufdecken und sie sind darin weitaus beharrlicher und energischer als wir es je mit uns wären. Manchmal kommt man in der Debatte an einen emotionalen Punkt, an dem man sagt: „Genug. Lass mich in Ruhe.“ Wäre man allein in Meditation, hätte man allerdings schon viel früher aufgehört. Aus diesem Grund legt die tibetische Tradition großen Wert auf das Debattieren. Es soll uns dabei helfen, zu einer festen Überzeugung in unserem Verständnis zu kommen, ohne jegliche Unentschlossenheit.
Analytische Meditation
Das war also das Nachdenken über die Lehren. Im nächsten Schritt meditieren wir darüber. Oft denken die Leute, dass der zweite Schritt bereits die Meditation ist, aber eigentlich ist es das Nachdenken. Meditation geht darüber hinaus. Aber natürlich können wir nicht meditieren, wenn wir nicht durch den zweiten Schritt gegangen sind. Wenn man den jeweiligen Lehrsatz nicht verstanden hat und nicht davon überzeugt ist, dass er der Wahrheit entspricht, kann man nicht wirklich darüber meditieren. Man kann etwas verstehen und davon überzeugt sein, dass es falsch ist; das, wovon wir hier sprechen, ist, etwas zu verstehen und ebenso davon überzeugt sein, dass es der Wahrheit entspricht. Meditation ist nämlich der Schritt, mit dem wir das Ganze – das Verständnis und die Überzeugung – in unser Sein und in unser alltägliches Leben integrieren.
Zunächst machen wir eine analytische Meditation, welche ich lieber klar erkennende Meditation nenne, und dann eine stabilisierende Meditation. Mit diesen beiden integrieren und verdauen wir die Lehren. Bei der klar erkennenden Meditation arbeiten wir hauptsächlich mit zwei Geistesfaktoren (auf diesen beiden liegt das Hauptaugenmerk; es gibt natürlich noch viele andere Geistesfaktoren, die wir nutzen müssen, beispielsweise Konzentration und so weiter). Ich übersetze diese üblicherweise als grobes Feststellen (rtog-pa) und subtiles klares Unterscheidungsvermögen (dpyod-pa). Manchmal bedeuten sie in einem anderen Kontext auch „Untersuchen“ und „genaues Prüfen“.
Wie sind diese beiden Geistesfaktoren zu verstehen? Nehmen wir das Beispiel des Editierens eines Textes: Man geht etwas durch, was man selbst oder jemand anders geschrieben hat, um zu sehen, ob man irgendwelche Fehler findet. Als erstes untersuchen wir den Text grob und finden so schon einige Fehler in dem Geschriebenen. Man schaut grob und findet etwas. Danach würde man sehr genau prüfen und nach den Details schauen. Seht ihr den Unterschied? Als erstes das Untersuchen, eine grobe Ermittlung der Lage, und dann das sorgfältige Prüfen, die Lage mit subtilem Unterscheidungsvermögen betrachten.
Was machen wir also in einer analytischen oder klar erkennenden Meditation über unser kostbares menschliches Leben? Wir konzentrieren uns auf uns selbst und untersuchen und prüfen genau, ob wir die definierenden, charakteristischen Merkmale besitzen, kein Tier zu sein. Zunächst untersuchen wir grob und stellen fest, dass wir davon frei sind, ein Tier zu sein. Was stellen wir fest, wenn wir das untersuchen? Wir stellen fest, dass wir lernen können, kommunizieren können und dass wir uns auf einer viel höheren Entwicklungsstufe befinden als ein Tier. Richtig? Tut das also. Und schaut tief in euch hinein, nicht nur oberflächlich mit Worten. Schritt zwei haben wir gemacht. Diese Worte haben eine Bedeutung, erinnert ihr euch? Wir stellen Dinge fest wie:
- Ich kann lernen.
- Ich kann kommunizieren.
- Ich kann mich auf eine viel höher entwickelte Weise verhalten als ein Tier.
Wir stellen also fest, dass wir davon frei sind, ein Tier zu sein. Dann prüfen wir sehr genau und nehmen mit Unterscheidungsvermögen wahr, dass, obwohl wir uns manchmal wir ein Tier verhalten – beispielsweise unser Sexualverhalten, unsere Diskobesuche, das Schnüffeln am Hinterteil eines potenziellen Partners und unsere One-Night-Stands –, wir nicht gezwungen sind, solche Dinge zu tun. Wir müssen nicht notwendigerweise so handeln. Wir haben die Fähigkeit, zu unterschieden, und können unser Verhalten ändern. Wir konzentrieren uns also auf die durch Unterscheidungsvermögen erlangte Klarheit, dass wir kein Tier sind. Das sind die feinen Details in Bezug auf unser Verhalten.
Ob wir nun nach einem Partner Ausschau halten oder die Schnaken und Kakerlaken in unserem Haus jagen – wir versuchen, das mit unserem Unterscheidungsvermögen zu betrachten: „Nun gut, Ich mag mich vielleicht so verhalten, aber ich bin nicht wirklich gezwungen, das zu tun. Ich habe die Wahl. Ich muss nicht so sein. Ich bin ein menschliches Wesen. Ich bin schließlich kein Tier. Ich muss nicht wie all die anderen Hunde dauernd bellen. Wenn jemand erklärt, dass man Kleider mit dieser Länge und nicht mit jener tragen soll, dass man seine Frisur so und nicht so zurechtmachen soll, oder dass man dieses anstatt jenes Lied singen soll, muss man das nicht tun. Wir sind keine Tiere, die zurückbellen, sobald jemand anders bellt.“ Lasst uns ein relevanteres, aktuelles Beispiel nehmen. Wenn jeder ausruft: „Krieg, Krieg, Krieg!“, müssen wir nicht dasselbe rufen, nicht wahr? Wir sind kein Tier, dass bellt, sobald andere das tun.
Wir stellen also, nachdem wir auch die subtilen Details betrachtet haben, mit unserem Unterscheidungsvermögen fest: „Ich bin absolut kein Tier.“ Tut das. Wir sind nicht wie ein Hund, der sitzen muss, bis sein Herrchen sagt: „Los, hol‘ den Knochen!“ Wir können denken.
Diese Erkenntnis und dieses Unterscheidungsvermögen beibehaltend – besonders das Unterscheidungsvermögen, mit dem wir feststellen, dass wir kein Tier sind – gehen wir erneut die Argumentationsreihe durch:
- Wären wir ein Tier, könnten wir nicht vollkommen den Dharma praktizieren.
- Wir sind frei davon, ein Tier zu sein.
- Folglich haben wir ein kostbares menschliches Leben, um Dharma zu praktizieren.
Dann konzentrieren wir uns auf das schlussfolgernde Verständnis und darauf, uns mit Unterscheidungsvermögen als jemanden zu sehen, der ein kostbares menschliches Leben hat.
Geht also bitte folgende Punkte durch:
- Wären wir Tiere, könnten wir nicht vollkommen den Dharma praktizieren.
- Wir sind frei davon, Tiere zu sein. Wir können das mit unserem Unterscheidungsvermögen wahrnehmen.
- Also haben wir ein kostbares menschliches Leben, um Dharma zu praktizieren.
- Wir nehmen uns war als jemanden, der ein kostbares menschliches Leben hat; und das mit einem schlussfolgernden Verständnis, wodurch wir verstehen, warum wir es haben.
Nun gut. Diese Meditation nennt sich klar erkennende Meditation, da an ihr unser Unterscheidungsvermögen beteiligt ist. Wie bereits gesagt, wird das tibetische Wort normalerweise mit analytischer Meditation übersetzt, aber analytisch vermittelt die Bedeutung nicht so ganz, nicht wahr? Hier haben wir das unterscheidende Gewahrsein, das vom Meditieren herrührt. Es ist sehr entschieden, weil wir aus diesem und jenem Grund unterscheiden können, dass wir dieses kostbare menschliche Leben haben. Wir prüfen sehr genau. Wir sehen, dass wir es aus diesem und jenem Grund haben.
Stabilisierende Meditation
Bezüglich Meditation gibt es zwei Schritte: ein klar erkennender und ein stabilisierender Teil. In der stabilisierenden Meditation fokussieren wir uns nur darauf, dass wir ein kostbares menschliches Leben haben, ohne dies aktiv in seinen Details zu unterscheiden – das entscheidende Wort hier ist aktiv –, ohne also die Unterscheidung zu machen: „Es ist so, weil ich kein Tier bin. Wäre ich ein Tier, könnte ich nicht meditieren.“ Was wir also tun, ist, dass wir uns auf das Gefühl konzentrieren, dass wir ein kostbares menschliches Leben haben. Gefühl bezieht sich hier auf eine feste Überzeugung – wir glauben es wirklich. Darauf konzentriert man sich hierbei. Es geht nicht darum, die Details zu analysieren. Es geht um die feste Überzeugung bzw. das Gefühl, dass wir ein kostbares menschliches Leben haben. Natürlich basiert das darauf, dass wir zuvor verstanden haben, was es ist, und es von dem unterschieden haben, was es nicht ist.
Lasst uns das für einen Moment tun.
Mit dieser Art von Meditation werden wir solche Schwächen und Probleme los wie beispielsweise unsere Zeit zu verschwenden. Durch diese Meditation entwickeln unsere guten Qualitäten, indem wir zu einem richtigen Verständnis unseres kostbaren menschlichen Lebens kommen und dieses dann konstruktiv für den Dharma nutzen. Weil wir zu einem Verständnis von etwas gekommen sind, das uns selbst betrifft, versuchen wir, es zu integrieren, wir versuchen, es wirklich zu fühlen. Dies ist es, was Veränderung bringt, da wir dadurch die Ursachen von Problemen beseitigen und gute Qualitäten entwickeln.
Vergleicht dies damit, euch einfach nur auf den Atem zu konzentrieren ohne irgendein Verständnis, welches damit einhergeht. Wir mögen dadurch vielleicht zur Ruhe kommen, aber das können wir auch erreichen, indem wir schlafen gehen oder eine Beruhigungstablette nehmen. Es führt nicht zu einer Beendigung der Ursachen unserer Probleme. Wenn wir uns jedoch mit Verständnis und Unterscheidungsvermögen – zum Beispiel bezüglich Unbeständigkeit, Veränderungen von Moment zu Moment, der Abwesenheit eines festen Ichs, welches den Atem kontrolliert oder als Beobachter abgesondert von dem ganzen Prozess ist – auf unseren Atem konzentrieren, kann dies als Startpunkt dienen, welcher bewirkt, dass wir die Ursachen unserer Probleme loswerden können.
Dieses Unterscheiden ist wirklich wichtig, um das Ziel des Dharmas tatsächlich zu erreichen: Es bewirkt, dass wir die Ursachen unserer Probleme loswerden, und dass wir unsere positiven Potenziale verwirklichen.
Verständnis auf intellektueller, intuitiver, emotionaler und auf Bauchgefühlebene
Behaltet im Kopf, dass die klar erkennende und die stabilisierende Meditation beide begrifflicher Natur sind. Im Zusammenhang damit, was wir hier beschreiben haben, sind beide begriffliche Wahrnehmung. Beide finden durch das Medium einer Vorstellung davon statt, was ein kostbares menschliches Leben bedeutet. Das ist, was begrifflich bedeutet: durch das Medium einer Vorstellung. Die klar erkennende Meditation baut auf eine Argumentation auf, die stabilisierende Mediation tut das nicht. In beiden fokussieren wir uns jedoch auf unser kostbares menschliches Leben mithilfe einer Vorstellung darüber, was ein kostbares menschliches Leben bedeutet. Diese Vorstellung ist eine Repräsentation. Was ist nun eine Vorstellung? Die Vorstellung steht repräsentativ für das kostbare Menschenleben. Wir setzen dafür eine Repräsentation entweder mit Worten, einem Bild oder einem Gefühl ein, doch mit dieser Repräsentation ist immer eine Bedeutung verbunden.
Ich erwähne das, da es oft große Verwirrung im Verständnis des Meditationsprozesses gibt – oft nutzen wir die Terminologie aus dem Westen, welche von einem vollkommen unterschiedlichen System kommt. Im Westen nutzt man gerne die Unterscheidung zwischen intellektuellen und intuitiven Vorgängen. Was könnte dem in unserer buddhistischen Analyse entsprechen?
- Wenn wir etwas mit Worten repräsentieren – eine Vorstellung, die aus Worten besteht – und uns auf etwas mittels Worten konzentrieren, würden wir das einen intellektuellen Prozess nennen.
- Würden wir hingegen etwas mit einem Gefühl oder einem Bild repräsentieren – eine Vorstellung, die aus einem Gefühl oder einem geistigen Bild besteht – und uns darauf konzentrieren, würden wir das einen intuitiven Prozess nennen.
Bitte denkt aber daran: Ob wir etwas mit Worten, mit einem Bild oder einem Gefühl repräsentieren, in allen Fällen könnte diese Repräsentationen akkurat oder fehlerhaft sein. Beide sind begrifflicher Natur. Intellektuelle und intuitive Prozesse sind beide begrifflich und müssen beide von einem richtigen Verständnis begleitet sein, was die Worte bedeuten oder wofür das Gefühl oder das geistige Bild steht. Könnt ihr dem folgen?
Darüber hinaus müssen wir, um dieses Verständnis verdauen zu können, es als wahr betrachten und uns darauf mit fester Überzeugung konzentrieren. Feste Überzeugung – das würde man im Westen wohl Verständnis aus dem Bauch heraus nennen. Und wenn dieses Verständnis aus dem Bauch heraus mit konstruktiven Emotionen wie Wertschätzung – wir schätzen den Wert und die Seltenheit des kostbaren Menschenlebens – begleitet wird, würden wir im Westen vielleicht sagen, dass wir durch unser Verständnis emotional ergriffen oder berührt sind.
Aus diesem Grund gibt es zwei Aspekte in einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Lehrer und in den Meditationen darüber. Der erste ist die feste Überzeugung von den guten Qualitäten des Lehrers, und der zweite ist die Wertschätzung von dessen Güte. Es sind also feste Überzeugung und ebenso emotionale Ergriffenheit vorhanden. Haben wir diese beiden, spielt es keine Rolle, ob das Verständnis durch eine Repräsentation mit Worten oder mit einem Gefühl zustande gekommen ist – das macht keinen Unterschied. Es ist egal, ob wir eine aus der westlichen Perspektive intellektuelle oder eine intuitive Herangehensweise haben. Solange wir feste Überzeugung, Verständnis diesbezüglich und Wertschätzung haben, können wir wirklich eine Veränderung erreichen. Aber denkt immer daran: Solange wir in Samsara sind, ist Veränderung nicht linear. Es geht auf und ab. Es wird nicht immer am nächsten Tag besser sein. Der langfristige Trend mag vielleicht Verbesserung sein, aber von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde geht es auf und ab.
Erinnert euch daran, dass wir uns trotzdem, wenn wir einen intuitiven Ansatz wählen, auf eine Argumentationsreihe stützen müssen, um Verständnis und Überzeugung zu erlangen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass, wenn wir nur ein Gefühl haben, dieses sehr unpräzise und vage ist, und wir nicht verstehen, was etwas bedeutet. Wenn wir jedoch eine Reihe von Argumenten verwenden, mit Unterscheidungsvermögen verschiedene geistige Prozesse in uns durchlaufen und das verstanden haben, davon überzeugt sind, die Definitionen kennen und in der Lage sind, diese Dinge in uns selbst zu erkennen, dann können wir dies – wenn wir ein intellektueller Typ sind – mit Worten repräsentieren und uns mit Worten darauf konzentrieren; sind wir eher ein intuitiver Typ, dann eher mit einem geistigen Bild oder einem Gefühl. Das spielt keine Rolle. Beide sind gültig und beide sind begrifflich. Eine nicht-begriffliche Wahrnehmung davon zu haben, ist sehr schwierig. Nicht-begrifflich bedeutet, etwas einfach wahrzunehmen – beispielsweise die Tatsache, dass wir ein kostbares menschliches Leben haben –, und das dann nicht durch eine Vorstellung oder ein Gefühl davon, sondern einfach ganz direkt. Das ist äußerst schwer.
Ist uns das klar, können wir – ob wir nun ein intellektueller oder intuitiver Typ sind – sehen, dass wir durch diese gültigen Arten, etwas zu wissen, gehen müssen, um Fortschritte zu machen: Man hört etwas. Man nimmt an, es entspricht der Realität. Man versteht es und betrachtet es mit Unterscheidungsvermögen. Dann erlangt man ein schlussfolgerndes Verständnis und konzentriert sich darauf. Das ist also der Prozess, welcher beschreibt, wie wir Fortschritte auf dem spirituellen Pfad machen können: Durch Hören, Nachdenken und Meditieren. Darum dreht sich analytische Meditation.
Es wird eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Jetzt habt ihr gerade einmal davon gehört; vielleicht zum ersten Mal. Nun könnt ihr darüber nachdenken und es durchkauen. Zuvor hattet ihr vielleicht nur eine grobe Vorstellung davon, was analytische Meditation bedeutet. Jetzt habt ihr darüber einen etwas präziseren Vortrag gehört. Anschließend könnt ihr euch das alles durch den Kopf gehen lassen. Geht es langsam durch.
Fragen
Ich verstehe die Wichtigkeit dieser analytischen Meditation und auch den Bezug zu der Beziehung zu einem spirituellen Lehrer. Was ich nicht verstehe, ist, warum wir spirituelle Lehrer nicht infrage stellen sollen, und warum wir annehmen müssen, was sie sagen und wie sie sich verhalten, und das alles schweigend, ohne irgendwelche Zweifel zu haben oder Fragen zu stellen.
Nun ja, das ist eigentlich nicht das, was wir in den Lehren des Dharma finden. Besonders aus der Sicht des Vinaya, der ethischen Disziplin, ist es so: Wenn der spirituelle Lehrer der ethischen Disziplin zuwiderhandelt, also gegen die Gelübde handelt, machen wir darauf aufmerksam. Wir fügen uns dem nicht einfach. Wenn der spirituelle Lehrer etwas von uns verlangt, das nicht mit den ethischen Lehrsätzen vereinbar ist, heißt es sehr klar, dass wir nein sagen sollen.
Und wenn wir uns die Sutra- und Tantralehren genauer anschauen: Wenn der spirituelle Lehrer etwas sagt, das nicht in die Lehren passt, fragen wir „Ich verstehe das nicht. Das widerspricht dem, was Sie mir zuvor gesagt haben. Könnten sie das genauer erklären?“ oder „Das widerspricht diesem Text. Können Sie das genauer erklären?”. Wie jeder andere auch machen auch spirituelle Lehrer Flüchtigkeitsfehler.
In einem klassischen Beispiel aus einem früheren Leben des Buddha heißt es: Als der spirituelle Lehrer den Buddha und seine anderen Schüler anwies, stehlen zu gehen, ging Buddha nicht mit. Der Lehrer fragte ihn also, worauf er antwortete: „Wie könnte es irgendjemandem helfen, wenn man stiehlt? Der spirituelle Lehrer entgegnete: „Aha, du hast verstanden, worauf diese Lektion hinauslief; nur du allein.“
Vom höchsten Standpunkt des Tantra ist es so: Wenn wir Widersprüche im Verhalten des spirituellen Lehrers finden, sehen, dass er nicht im Einklang mit dem Dharma handelt, wir ihn dann hinterfragen und er dies nicht eingesteht oder verändert – wenn wir all diese Arten von Fehlverhalten sehen, heißt es, dass wir einfach Abstand halten sollen, auch wenn wir von diesem spirituellen Lehrer eine tantrische Initiation bekommen haben. Es besteht kein Grund, weiterhin bei diesem Lehrer zu studieren oder bei ihm zu bleiben. Man sollte jedoch nicht darüber sprechen. Haltet einfach eine respektvolle Distanz. Verbreitet keine Geschichten und denkt nicht, wie schrecklich dieser Lehrer doch ist. Man schätzt, was man gelernt hat; man schätzt die guten Qualitäten dessen, was man gelernt hat, und mit dem Rest verbleibt man in Gleichmut.
Was bedeutet es, wenn man sagt, dass man nicht infrage stellt? Man stellt nicht infrage, dass der spirituelle Lehrer Buddha-Natur hat. Es bedeutet jedoch nicht, dass man eine Unterweisung des Lehrers nicht infrage stellt, wenn sie unangemessen zu sein scheint. Wenn wir uns Beispiele anschauen wie Tilopa, welcher Naropa beauftragte, von einer Klippe zu springen, was dieser dann auch tat: Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama immer sagt, prüft es. Tilopa war ein spiritueller Meister, der einen solchen Zustand erreichte, dass er einen lebenden Fisch essen konnte, dann die Gräten auf den Boden legte, mit dem Finger schnipste und der Fisch dann wieder zum Leben erwachte. Darüber hinaus war Naropa der gelehrteste Abt seiner Zeit. Ist unser spiritueller Lehrer also auf der Ebene von Tilopa und sind wir auf der Ebene von Naropa, dann ist das Beispiel aus der Biografie von Naropa relevant für uns. Sind wir und unser Lehrer nicht auf einer solchen Ebene – was für so gut wie alle zutrifft –, ist das eine ganz andere Sache. Wir müssen also überprüfen. Wie verhält sich unser spiritueller Lehrer? Ist sein Verhalten im Einklang mit dem Dharma? Was lehrt er? Ist auch das in Einklang mit dem Dharma? Wir müssen immer überprüfen. Wenn wir etwas nicht wissen, prüfen wir.
Ich selbst bin noch ein Anfänger der ersten Ebene. Ich bin Neuling hier im Zentrum und auch neu in den Lehren. Natürlich weiß ich, dass meine Schwierigkeit mit meiner Unzulänglichkeit und meinem Mangel und Verständnis zu tun hat, aber ich finde es sehr schwer, die Vorstellung von Widergeburt und von aufeinander folgenden Leben zu verstehen und zu akzeptieren. Ich verstehe, dass das ein wichtiger Punkt in den buddhistischen Lehren ist. Wenn ich über mein kostbares menschliches Leben meditiere – was ich getan habe, so tief ich damit gehen wollte – und es als Geschenk, als Möglichkeit, als Chance zu Veränderung gesehen habe, weiß ich, dass ich zukünftige Leben einbeziehen muss, was mir sehr schwerfällt. Ich habe das Gefühl, dass es keine Rolle spielt, wie tiefgründig oder wie oft ich über mein kostbares menschliches Leben meditiere, da die Wertschätzung meines kostbaren menschlichen Lebens ohne ein Verständnis von zukünftigen Leben immer unvollständig bleiben wird. Das ist mein Dilemma. Was kann ich da tun?
Deine Beobachtung ist sehr gut. Eines der tantrischen Gelübde ist, dass man niemals mit seinem Verständnis von etwas zufrieden sein soll, bis man Erleuchtung erlangt hat. Das bedeutet unser Verständnis von allem, auch des kostbaren menschlichen Lebens, wird tiefer und tiefer, während wir auf dem Pfad voranschreiten. Auch wenn wir das Konzept der Wiedergeburt jetzt vielleicht verstanden haben, kann man in Bezug auf das kostbare Menschenleben immer noch viel tiefer gehen als das. Das bedeutet nicht, dass eine anfängliche Verständnisebene nicht nützlich ist. Jede Ebene bringt auf dem Pfad einen Nutzen, besonders wenn wir dabei immer im Kopf haben, dass die Ebene des Verständnisses, die wir jetzt haben, nur ein Sprungbrett auf dem Weg zu einem tieferen, besseren Verständnis ist. Mit dieser Bescheidenheit ist dann alles perfekt.
In den Lehren ist es ganz klar: Denke niemals, dass du etwas bereits ausreichend verstanden hast. „Oh, jetzt hab’ ich’s. Jetzt muss ich nicht mehr über das kostbare Menschenleben nachdenken.“ Das ist ein großer Fehler. Man kann immer noch tiefer gehen.
Wie Sie erklärt haben, haben wir als menschliche Wesen ein Unterscheidungsvermögen. Wir können entscheiden, nicht zu bellen oder all die anderen Dinge, die Sie genannt haben, nicht zu tun. Mit diesem Unterscheidungsvermögen haben wir ein gewisses Potenzial; nennen wir es mal so. Wie kann es dann sein, dass, sobald wir als Tier wiedergeboren werden, wir dieses Potenzial verlieren? Für mich klingt das unlogisch und inkongruent, dass wir solche Potenziale verlieren können, wenn wir als Tier wiedergeboren werden, ein Potenzial für Unterscheidungsvermögen, welches wir jetzt doch haben. Was geschieht da?
Man muss einen Unterschied machen zwischen einem Potenzial und einer tatsächlich manifesten Fähigkeit. Ein Kind hat viele Potenziale. Es hat das Potenzial, Auto fahren zu können, aber es hat nicht die eigentliche Fähigkeit dafür. Wenn wir krank sind, haben wir immer noch das Potenzial, klar zu denken, zu arbeiten und so weiter, aber in diesem Moment gibt es eine gewisse Blockade, und deswegen haben wir die tatsächlich manifeste Fähigkeit in dem Moment nicht. In derselben Weise sind die Potenziale in einem Tier immer noch da – die Potenziale der Buddha-Natur sind trotzdem da –, aber die tatsächlich manifesten Fähigkeiten sind es nicht (oder wenn sie es sind, sind sie auf einer niedrigen Ebene im Vergleich mit einem Menschen).
Widmung
Lasst uns mit einer Widmung schließen. Wichtig ist: Wenn wir die positive Kraft, welche wir hier durch die Handlungen des Zuhörens und des Meditierens usw. geschaffen haben, nicht der Erleuchtung widmen, wird sie automatisch wie in einer Art Standardeinstellung als Ursache für eine Verbesserung von Samsara wirken. Wir schätzen unser menschliches Leben wert, mit dem wir beispielsweise eine Menge Geld verdienen können. Damit diese positive Kraft nun als Ursache für Erleuchtung wirken kann, müssen wir sie der Erleuchtung direkt widmen. Wir machen dies also ganz bewusst. Wir sagen: „Möge dies als Ursache dafür wirken, dass ich in der Lage sein werde, den Geist, den Körper und die Rede eine Buddha zu erlangen, um so jedem von Nutzen sein zu können.“ Dann wird diese positive Kraft tatsächlich als Ursache für Erleuchtung wirken. Und: „Möge dieses Verständnis und diese Wertschätzung sich immer weiter vertiefen, sodass mein Verhalten dadurch während des gesamten Weges zur Erleuchtung allen Nutzen bringen kann.“