Eine positive Einstellung zum eigenen Selbst entwickeln

Geistige Aktivität und wie das „ich“ existiert

Wir haben mit der Erörterung einer gesunden Entwicklung des Selbst durch die aufeinanderfolgenden Stufen des Lam-rim begonnen. Wir haben gesehen, dass wir klar unterscheiden müssen zwischen dem konventionellen Selbst und dem falschen Selbst – Letzteres ist dasjenige, das zu verneinen ist. Wenn wir vom Selbst bzw. von „mir“ sprechen, so ist das etwas, was jedem Moment unserer Erfahrung und all den verschiedenen Faktoren, die unsere Erfahrung ausmachen, den so genannten fünf Aggregaten, zugeschrieben werden kann. In jedem Moment gibt es Erfahrung einer geistigen Aktivität – das ist das, was vor sich geht – und zusammen mit dieser geistigen Aktivität gibt es einen Inhalt, den sie hat. Es gibt ein Objekt, das darin auftaucht, vergleichbar einem geistigen Hologramm. Es findet eine Art Wahrnehmung des Objekts statt, die beispielsweise auf Lichtreizen oder Schwingungen beruht, welche durch die lichtempfindlichen Sinneszellen bzw. die Klang-Rezeptoren unseres Körpers aufgenommen werden, und im Gehirn, im Nervensystem usw. werden diese Signale bzw. Informationen in eine Art geistiges Hologramm umgewandelt, und das ist es, was wir wahrnehmen. Das ist also geistige Aktivität; das ist es, was es bedeutet, ein Objekt wahrzunehmen. Eine Art geistiges Hologramm wird geschaffen und so wird etwas wahrgenommen bzw. erkannt.

Ob es sich um einen Gedanken oder eine Sinneswahrnehmung handelt – der Mechanismus ist derselbe. Man erkennt das Objekt mit einer bestimmten Art von Bewusstsein: mit einem Sinnesbewusstsein oder mit dem geistigen Bewusstsein. Diese Bewusstseinsart ist eines der Aggregate, die an der Erfahrung beteiligt sind. Etwas zu erfahren bedeutet auch, dass es mit irgendeinem Ausmaß von Glück oder Unglücklichsein wahrgenommen wird – das ist ein weiteres Aggregat, das an der Erfahrung beteiligt ist. Um etwas zu erkennen, muss man außerdem verschiedene Gegenstände innerhalb eines Sinnesbereichs unterscheiden können; andernfalls ist beispielsweise ein Anblick bloß eine Anhäufung von Pixeln – doch das ist ja nicht alles, was wir sehen, nicht wahr? Innerhalb dessen muss man Objekte unterscheiden können. Zudem gibt es alle möglichen Emotionen, die damit einhergehen, sowie geistige Mechanismen wie etwa Konzentration, Interesse, Aufmerksamkeit usw.

All das findet Augenblick für Augenblick statt. Jeder Aspekt davon ändert sich von Moment zu Moment mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Und in jedem Moment können wir dem die Bezeichnung „ich“ zuschreiben; wir können sagen: „Ich erlebe das“. Es ist nicht so, dass jemand anderes es erlebt. Doch – ohne jetzt auf die ganze Diskussion einzugehen, wie dieses „ich“ existiert – „ich“ ist lediglich das, was diesen Komponenten zugeschrieben werden kann. Da ist das Wort „ich“ womit auch ein Name verknüpft sein kann, in meinem Fall „Alex“ – aber ich bin nicht bloß ein Wort – das Wort „ich“ -; ich bin natürlich nicht nur ein Name. Aber der Name oder das Wort „ich“ können verwendet werden, um sich auf diese Erfahrung zu beziehen – oder ich sollte besser sagen, auf das Erfahren, nämlich auf diese geistige Aktivität. Das Wort „ich“ bezieht sich auf jemanden. Auf wen bezieht es sich? Auf „mich“. Das ist das konventionelle „ich“, und es existiert tatsächlich.

Wie es existiert usw. – nun, da wird es ein bisschen kompliziert. Aber es existiert. Es erfüllt Funktionen: Ich tue etwas, ich erfahre etwas usw. Und wenn ich an „mich“ denke, denke ich mit der Kategorie „ich“. Denn jedes Mal, in jedem Moment, ist das, was wir erleben, verschieden; die so genannte „Grundlage für die Bezeichnung“ ändert sich ständig. Obwohl also das Wort – „ich“ – oder der Name gleich bleibt und die Kategorie „ich“ gleich bleibt, ist (das konventionelle „ich“) in jedem Moment anders, je nachdem, was gerade erlebt wird.

Wir können das mit einem Film vergleichen. Ein Film hat einen Titel, nicht wahr? Aber der Film ist nicht bloß ein Titel. Jeder Augenblick des Films ist unterschiedlich, aber sie alle sind der Film. Der Name des Films bezieht sich auf jeden dieser Augenblicke. Aber momentan findet diese Szene des Films statt, dann jene Szene – das ändert sich Augenblick für Augenblick. Der ganze Film läuft nicht in einem Augenblick ab, nicht wahr? Ähnlich gilt: Es gibt das konventionelle „ich“. Der Name des Films, der Titel dieses speziellen Films „ich“, bezieht sich auf den Film „ich“. Es gibt einen Film, der abläuft, den Film „ich“. „Ich“ bezieht sich also auf etwas, nämlich auf das konventionelle „ich“. Dieses „ich“ gibt es.

Das ist also das konventionelle „ich“, und wenn wir unser Leben mit diesem Gefühl von „ich“ führen und mit dieser Vorstellung von „ich“ denken und handeln, dann sprechen wir von einem gesunden Selbst. Auf dieser Grundlage bin ich verantwortlich für das, was ich tue. Ich erlebe die Resultate dessen, was ich tue. Auf dieser Grundlage setze ich Mühe und Willenskraft ein, um tatsächlich etwas zu tun, z.B. morgens aufzustehen. Ich muss aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, um für die Kinder zu sorgen. Das ist eine konventionelle Wahrnehmung, ein gesundes Ichgefühl. Bitte nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um Ihr Verständnis des konventionellen „ich“ zu bekräftigen. Wir existieren tatsächlich.

Wenn Sie Schwierigkeiten mit diesem ganzen Konzept von Zuschreibung haben, versuchen Sie, an sich selbst zu denken. Wir haben dieses Vorgehen gestern schon erwähnt, und wir haben festgestellt, dass man nicht „ich“ denken kann ohne irgendeine Grundlage, ohne irgendetwas, das „mich“ in den Gedanken repräsentiert, sei es einfach der verbale Klang des Wortes „ich“ – wir denken ja: „ich“ – oder ein geistiges Hologramm, wie ich aussehe, oder ein bestimmtes Gefühl oder sonst irgendetwas. Wir bezeichnen das als „ich“ – wir nennen das „ich“ , um es noch einfacher auszudrücken. Aber ich bin nicht das Wort, und ich bin nicht die Grundlage, das geistige Hologramm. Doch es gibt ein „ich“. Das ist es, was geistige Zuschreibung bedeutet: Es wird der Grundlage zugeschrieben, die das „ich“ repräsentiert, wenn ich an mich denke.

Verstehen Sie das? Im Buddhismus ist viel von geistiger Zuschreibung bzw. geistiger Benennung die Rede, aber das ist nicht so einfach zu verstehen. Vielleicht macht diese Schilderung es ein bisschen einfacher.

Jetzt sehen alle todernst aus. Man muss etwas denken, um „ich“ zu denken. Was wir denken, ist nicht „ich“; es ist etwas, das „mich“ repräsentiert. Die Bezeichnung bezieht sich auf etwas. Aber ich bin nicht der mentale Klang des Wortes „ich – natürlich nicht, das wäre eine alberne Vorstellung.

Nun gut – wie existiert dieses „ich“? Es gibt eine tatsächliche Art und Weise, wie es existiert, und es ist die Rede von einer unmöglichen Art – einer Art, wie wir uns seine Existenz zwar vorstellen können, aber auf diese Art kann es nicht existieren; das ist ganz unmöglich. Gestern habe ich für diese beiden Arten folgende Beispiele genannt:

  • „Ich bin einer von sieben Milliarden Menschen, ich bin nichts Besonderes, und ich muss mit allen in gegenseitiger Wechselwirkung handeln und leben.“ – Das ist korrekt.
  • „Ich bin der außergewöhnlichste Mensch der Welt, für mich soll immer alles nach Wunsch gehen, und ich habe immer recht.“ – Das kann nicht sein.

Und über was denken wir hier nach? Wir denken über das konventionelle „ich“ nach, das existiert. Wir überlegen, wie es existiert: die eine Art ist die, wie es tatsächlich existiert, die andere ist unmöglich. Diejenige Art, die möglich ist, die real ist, bezieht sich auf das, was tatsächlich existiert – eine Existenzweise, die unsere Realität ist. Die unmögliche Art zu existieren bezieht sich auf keine Art reale Existenzweise. Sie ist unsere Projektion, eine Fantasievorstellung – beispielsweise dass ich der Mittelpunkt der Welt bin bzw. dass überhaupt jemand auf der Welt am wichtigsten wäre, immer recht haben und immer seinen Willen kriegen könnte. Solch eine Vorstellung bezieht sich nicht auf eine Existenzweise, die überhaupt möglich wäre.

Das sind die zwei Arten, die Existenzweise derselben Grundlage zu betrachten, nämlich des konventionellen „ich“. Was das falsche „ich“ betrifft: Was daran falsch ist, ist eigentlich nicht das „ich“. Was falsch ist und zu verneinen ist, ist die Art und Weise, wie wir uns vorstellen, dass dieses „ich“ existiert. Wenn wir von einem falschen „ich“ sprechen, so bedeutet das: Solch ein „ich“ gibt es nicht. Die Vorstellung davon ist eine Kombination von konventionellem „ich“, das tatsächlich existiert, mit jener unmöglichen Art zu existieren. Fügen Sie beides zu einem Paket zusammen und nennen Sie es „das falsche ‚ich‘“ – das nicht existiert. So etwas gibt es nicht. Eine solche Person gibt es nicht.

Aber genauer betrachtet ist das, was wir eigentlich widerlegen wollen, die unmögliche Existenzweise des konventionellen „ich“. Wenn wir das verstehen, wenn wir diesen feinen Unterschied erkennen, dann kommen solche Fragen wie diejenige, die gestern gestellt wurde, nicht auf. Die gestrige Frage lautete: „Wer erlebt die körperliche Krankheit des Körpers – das konventionelle ‚ich‘ oder das falsche ‚ich‘“? Nun, das falsche „ich“ gibt es nicht; insofern ist die Frage im Rahmen dieser Begrifflichkeit nicht ganz korrekt gestellt. Ich erlebe die Krankheit, ich erlebe den Schmerz. Nicht jemand anders. Das ist das konventionelle „ich“. Es kann sich ja nicht um jemand anderen handeln.

Das einzige Problem besteht eigentlich darin, wie unsere Auffassung von uns selbst ist, unsere Auffassung desjenigen, der die Krankheit erlebt. Wir können an dieses „ich“ in folgendem Sinne denken: „Nun, ich bin nicht der einzige, der diese Krankheit je erlebt hat; es gibt jede Menge Menschen, die sie ebenfalls erlebt haben. Die Krankheit ist aus Ursachen und Umstände entstanden, also wird sie sich in jedem Augenblick ändern, weil die Ursachen und Umstände, die sie hervorgebracht haben, sich jeden Augenblick verändern. Die Krankheit wird nicht in jedem Augenblick von irgendetwas neu erschaffen. Weil sie aufgrund von Ursachen und Umständen entsteht, wird sie irgendwann zu Ende gehen.“ Aufgrund dessen können wir die Geduld usw. entwickeln, um auf angemessene Weise damit umzugehen.

Betrachten wir hingegen die übersteigerte Projektion dessen, wie „ich“existiere: „Ich bin der Einzige auf der Welt, der das je gehabt hat“, „ich armes Opfer, alle müssen mich bedauern“, „jeder sollte mir besondere Aufmerksamkeit schenken, weil es mir so elend geht“ usw. Und wo führt das hin? Ich meine, das ist eine Denkweise im Sinne einer unmöglichen Art zu existieren. Doch dasjenige, das diese Krankheit erlebt, ist immer noch das konventionelle „ich“, niemand anders.

Wissen Sie, es ist sehr wichtig, dass wir bei der Erörterung des konventionellen „ich“ im Gegensatz zum falschen „ich“ nicht das eine als gutes und das andere als schlechtes „ich“ betrachten. Etwa: „Dies ist das schlechte ‚ich,; es ist dumm, es taugt nichts. Und das ist das gute ‚ich‘, das konventionelle.“ Wenn wir so anfangen zu denken, ist das irreführend, wir führen uns selbst in die Irre im Hinblick darauf, wie wir mit dem Problem umgehen, wie wir das Leiden überwinden können.

Der entscheidende Punkt ist wirklich, wofür wir unser Selbst halten, wie wir uns vorstellen, dass wir existieren. Das ist das Problem. Das Problem ist nicht das „ich“. Ein „ich“ gibt es. In Ordnung? Denken Sie darüber nach. Es geht um unsere Einstellung – ich meine: Wenn man denkt, das Problem sei ein falsches „ich“, das man irgendwie aus dem Kopf herauskriegen muss, dann ist das eine ziemlich merkwürdige Vorstellung – so als gäbe es Eindringlinge aus dem All in unserem Kopf, irgendein Monster, das wir hinauswerfen müssen. Darum geht es hier nicht. Es geht darum, unsere Einstellung zu ändern – wir ändern die Einstellung zu uns selbst durch Verständnis. Das ist alles, worum es im Buddhismus geht.

Um es noch anders auszudrücken: Man könnte denken, das Problem bestünde darin, dass man ein Ego hat, und das wäre dann das, was wir unter einem falschen „ich“ verstehen. „Ich muss nur mein Ego loswerden; sonst komme ich auf den Ego-Trip.“ Ein großes Ego zu haben wäre dann also unserer Meinung nach das eigentliche Problem, und dann unternehmen wir einen Feldzug, um das Ego zu beseitigen. Das ist ein totales Missverständnis des buddhistischen Pfades. Das ist es nicht, wovon hier die Rede ist. Bitte denken Sie darüber nach. Denn ich denke, dass die meisten von uns, die ja westlicher Herkunft sind und ein gewisses Verständnis von Psychologie entsprechend den westlichen Theorien haben, diese auf den Buddhismus projizieren und meinen, das wäre es, wovon da die Rede ist: das Ego loswerden. Das ist nicht der Fall. Wir versuchen, eine geistige Einstellung loszuwerden, ein Missverständnis in Bezug darauf, wie wir existieren. Denken Sie also bitte nicht in dieser Begrifflichkeit – Ego und ohne Ego und so etwas – das wird Sie nur verwirren.

Bitte verdauen Sie das – das ist eine große Mahlzeit, die wir hier zu verdauen haben.

Die Bewegung von einem westlichen zu einem buddhistischen Begriffsrahmen

Ich denke, es wird eine ganze Weile dauern, uns von der Konditionierung zu lösen, die damit verbunden ist, in einem westlichen Begriffsrahmen zu denken und zu analysieren. Wir befassen uns mit buddhistischen Lehren, und was haben wir zuvor in unserem Leben gelernt? Wir denken in einem westlichen Begriffsrahmen, der beispielsweise in der Psychologie oder in einer abendländischen Religion gültig ist – es gibt viele verschiedene Begriffsrahmen, die wir uns im Laufe unseres Lebens zu eigen gemacht haben, bevor wir uns mit Buddhismus befasst haben. Und natürlich versuchen wir die Bedeutung dessen, was wir hören, im Sinne desjenigen Begriffsrahmens zu verstehen, der uns vertraut ist. Das führt beim Hören von Dharma zu Missverständnissen.

Wir müssen also den buddhistischen Begriffsrahmen kennenlernen. Deswegen erlangen wir beim Studium all der Aufzählungen in den buddhistischen Lehren – der 51 Geistesfaktoren, der fünf Aggregate usw. – nicht nur nutzlose Information. Es liefert den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen wir die tiefgründigeren Aspekte der buddhistischen Lehren untersuchen und verstehen können. Die buddhistischen Lehren außerhalb dieses Begriffsrahmens im Sinne eines anderen Begriffsrahmens zu verstehen ist einfach unpassend.

Doch es ist natürlich nicht so, dass wir unser Studium bereits mit einem vollständigen neuen Begriffsrahmen beginnen. Die beste Haltung, die wir demgegenüber einnehmen können, ist zu akzeptieren, dass unser anfängliches Verständnis der buddhistischen Lehren mittels meines westlichen Begriffsrahmens nur ein vorläufiges Verständnis sein kann, das wir überprüfen und korrigieren müssen, während wir unsere Studien vertiefen, und an dem wir daher nicht festhalten dürfen. Um es zu überprüfen, ist es erforderlich, nicht daran anzuhaften, sonst versteifen wir uns darauf, dass dies die einzige Art wäre, die Inhalte zu verstehen.

Jeder Begriffsrahmen hat seine Gültigkeit. Wir behaupten nicht, dass die westlichen Begriffsrahmen, z.B. derjenige der Psychologie, für Untersuchungen ungeeignet oder dumm seien. Solche Konzeptionen sind gültig, aber es kann auch zahlreiche andere gültige Begriffsrahmen geben, um ein bestimmtes Phänomen – in diesem Fall im Grunde die Erfahrungen in unserem Leben – zu verstehen. Wenn wir wirklich optimalen Nutzen aus den buddhistischen Lehren ziehen wollen, müssen wir uns ihnen immer tiefer gehend mit dem buddhistischen Begriffsrahmen selbst nähern. Und sogar innerhalb des buddhistischen Begriffsrahmens gibt es wiederum unterschiedliche Lehrsysteme usw., die zu immer tiefer gehenden Verständnisweisen führen. Ein Begriffsrahmen ist lediglich ein nützliches Werkzeug. Aber wählen Sie die richtigen Begriffsrahmen, d.h. diejenigen, die angemessen sind.

Okay? Gut, das konventionelle „ich“ existiert; es ist das, worauf sich die Bezeichnung „ich“ bezieht, und zwar auf der Grundlage der sich ständig ändernden Momente unserer persönlichen Erfahrung. Und wie sich bei genauerer Untersuchung herausstellt, denken wir, ganz gleich, welchen bisherigen Begriffsrahmen wir zugrunde gelegt haben, im Hinblick auf ein ewiges Selbst, wie z.B. in der Formulierung „ich bin tot“. Wie kann man denn tot sein, wenn man nichts ist? Wenn man nichts ist, gibt es nicht einmal die Vorstellung „ich bin tot“, weil es dann kein „ich“ gibt, das tot sein kann, oder? Es mag uns vielleicht nicht so klar sein, dass wir auf diese Weise von uns denken, nämlich als etwas Ewiges, aber eigentlich ist es das, was wir denken.

Die Lehren des Lam-rim

Betrachten wir nun die Lehren des Lam-rim. Wie gehen wir nun mit dem ewigen, konventionellen „ich“ um? Wie entwickeln wir es auf gesunde Weise weiter, sodass wir unsere Probleme tatsächlich überwinden können? Denn darum geht es ja im Buddhismus, nicht wahr? Darum, dass man das Leiden los wird. Um Leiden loszuwerden und um mit Leiden umgehen zu können, braucht man ein gesundes Gefühl von „ich“, im Sinne des konventionellen „ich“. Wir brauchen ein gesundes Gefühl von einem „Selbst“, um Verantwortung für unser Leben zu übernehmen und eine gewisse Willenskraft einzusetzen, mit der wir steuern, was wir tun. Wir haben gesehen, dass wir ohne das nicht einmal morgens aus dem Bett kommen, um zur Arbeit zu gehen oder uns um unsere Kinder zu kümmern. Und wenn es schon dafür erforderlich ist, um wieviel mehr brauchen wir dann das gesunde Gefühl eines Selbst, um den spirituellen Weg zu beschreiten und Befreiung und Erleuchtung zu erreichen?

Das kostbare menschliche Leben

Nun wenden wir uns dem Thema des kostbaren menschlichen Lebens zu. In Anbetracht eines ewigen Selbst ist diese Gelegenheit des kostbaren menschlichen Lebens etwas, das überaus rar ist. Es ist eine unglaubliche, fantastische Möglichkeit, und wir müssen sie nutzen. Wozu führen also die Gedanken über die kostbare menschliche Wiedergeburt und ihre Wertschätzung? Sie führen dazu, dass wir eine konstruktive Einstellung zu uns selbst entwickeln. „Was habe ich für ein Glück! Kaum zu glauben, dass ich das erlebe – ich erfahre ein kostbares menschliches Leben.“ Wir beginnen, uns selbst gegenüber eine positive Haltung einzunehmen.

Ein Freund von mir, der buddhistischer Lehrer ist, lässt seine Schüler eine sehr wirksame Übung durchführen, um das kostbare menschliche Leben, das sie haben, wertzuschätzen. Er lässt sie einen ganzen Tag lang eine dicke schwarze Augenbinde tragen und den ganzen Tag wie ein Blinder herumlaufen, damit sie merken, wie sehr sie es schätzen, wenn sie die Augenbinde abnehmen und sehen können. Das ist echt eine ziemlich heftige Übung.

Ich weiß nicht, ob es hier so etwas gibt, aber in Berlin gibt es so genannte „Blindenrestaurants“, in denen es absolut dunkel ist, und man nimmt dort seine Mahlzeit in völliger Dunkelheit ein. Es gab auch eine Ausstellung in einem Museum, in der pechschwarze Finsternis herrschte; darin war ein Marktplatz aufgebaut und man versuchte einzukaufen, ohne etwas zu sehen. So lernt man wirklich zu schätzen, was wir haben, z.B. einfach die Fähigkeit, sehen zu können. Man kann auch mit ganz dichten Kopfhörern und Ohrstöpseln ausprobieren, wie es ist, einen ganzen Tag lang taub zu sein, oder versuchen, einen ganzen Tag im Rollstuhl zu verbringen. So etwas zeigt uns auf sehr wirksame Weise, was für ein Glück wir haben, dass wir gegenwärtig frei davon sind, uns in solch einer Situation zu befinden; wir genießen eine temporäre Freiheit.

Das soll natürlich nicht heißen, dass blinde oder taube Menschen nicht dem Dharma folgen und sich weiterentwickeln könnten. Heutzutage ist das möglich. Aber es ist mit etlichen Schwierigkeiten verbunden. Wenn wir diese Schwierigkeiten nicht haben, können wir uns erst recht glücklich schätzen. Und falls wir blind oder taub sind, können wir uns glücklich schätzen, dass wir keine anderen Behinderungen haben. Wir müssen jetzt nicht die Nachteile der so genannten elenden Bereiche und dergleichen aufzählen; stellen Sie sich einfach nur einmal vor, sie hätten Schüttellähmung und Ihr Kopf würde die ganze Zeit wackeln. Wie kann man dann lesen? Oder wenn man das Down-Syndrom hätte – was die Verständnisfähigkeit einschränken würde. Oder wenn es keine Bildungsmöglichkeiten gäbe – die ganze Gesellschaft wäre völlig ungebildet, oder es gäbe keinerlei spirituelle Lehrer, keinerlei Unterstützung irgendwelcher spirituellen Interessen.

Diejenigen von Ihnen, die schon älter sind, können die Möglichkeiten, die Sie während der Sowjetzeit hatten, mit den jetzigen vergleichen. Indem wir auf diese Weise denken, merken wir, was für ein Glück für haben. Es ist eine sehr positive Art, uns selbst zu betrachten. Dabei geht es um das konventionelle „ich“. Lassen Sie uns darüber nachdenken. So beginnt man in der buddhistischen Schulung, ein gesundes Gefühl von „ich“ zu entwickeln, nämlich indem man schätzen lernt, was für ein Glück man eigentlich hat – und welch eine Möglichkeit, etwas Positives mit unserem Leben anzufangen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sie nicht für immer währen wird.

Unterscheidendes Gewahrsein und Vertrauen auf uns selbst

Gut. Ich nehme an, ich sollte vielleicht noch etwas darauf eingehen, wie wir nun tatsächlich Überlegungen dazu anstellen. Wie meditiert man darüber? Wir haben über das „ich“ nachgedacht – das konventionelle „ich“, erinnern Sie sich? – und dabei gab es etwas, das dieses „ich“ repräsentiert. Wir können zum Beispiel ein geistiges Bild von uns haben oder etwas anderes, das uns repräsentiert – was immer wir wollen, das ist egal. Es kann einfach der Klang des mentalen Wortes „ich“ sein. Gut, und wie existieren wir? Erinnern Sie sich daran, das Thema ist: Was für eine Aussage ist in Bezug darauf korrekt und was ist unmöglich bzw. inkorrekt? Hier in diesem Zusammenhang sprechen wir von „inkorrekt“, da es um Dinge geht, die im Prinzip möglich wären. Korrekt ist hierbei beispielsweise die Feststellung, dass wir nicht blind sind. Wir sind frei davon – einstweilen; denn wir könnten unsere Sehfähigkeit verlieren, wenn wir älter werden – und wir können sehen. Wir überlegen, was für Vorteile vorhanden sind und was nicht vorhanden ist. „Ich kann sehen; ich bin nicht blind. Ich bin frei; ich sitze nicht im Gefängnis.“ Derartige Überlegungen stellen wir an. Dabei können wir die beiden wesentlichen geistigen Haltungen einnehmen, die wir in den Lehren über das Vertrauen auf den geistigen Lehrer finden. Welches sind diese beiden geistigen Haltungen? Die eine ist die feste Überzeugung von den guten Qualitäten des Lehrers. Hier in unserem Zusammenhang geht es um die feste Überzeugung von der Tatsache, dass wir gegenwärtig unglaubliche Freiheiten haben. Wir sind nicht blind, wir können sehen. Wir sind frei, wir sitzen nicht im Gefängnis. Es gibt in den Lehren eine lange Liste der Vorzüge eines kostbaren menschlichen Lebens.

Wir denken also: „Ja, ich bin tatsächlich frei – zumindest momentan – von dieser Einschränkung, dieser Behinderung. Ich habe tatsächlich diese Gelegenheit, die zur Verfügung steht die Sehfähigkeit. Wirklich, so ist es.“ Wir müssen ganz fest davon überzeugt sein; das ist hier ein Teil unserer geistigen Haltung, wenn wir an unser „ich“ denken. Die andere angemessene Haltung im Zusammenhang mit dem Vertrauen auf einen Lehrer ist die Wertschätzung der Güte des Lehrers. Hier in unserem Zusammenhang geht es nicht so sehr um Güte, sondern eher um den Nutzen, den wir haben, weil wir frei von dieser Behinderung sind – um unser Leben, das so reich an Möglichkeiten ist. Das erkennen und schätzen wir: Das ist etwas ganz Wunderbares!“ Einfach gesagt: „Ich habe diese Möglichkeit und das ist großartig.“ Auf diese Weise lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf „mich“, darauf, dass „ich“ dieses kostbare menschliche Leben habe. „Ich habe das tatsächlich zur Verfügung – toll! Das ist unglaublich, fantastisch – ich weiß das wirklich zu schätzen.“ Denken Sie einen Moment in diese Richtung. Und denken Sie daran, dass die wichtigste unserer Eigenschaften darin besteht, dass wir nicht verschlossen gegenüber dem Dharma, dem spirituellen Weg sind, sondern dem gegenüber aufgeschlossen sind. Das ist die beste Voraussetzung, die wir haben.

Gut. Wir wirken damit der „Ach-ich-Armer“-Mentalität entgegen, mit der wir irrtümlich meinen, wir würden auf eine Art und Weise existieren, die in Wirklichkeit nicht sein kann – der verkehrten Betrachtungsweise, dem so genannten falschen „ich“: „Ich armer Wicht, ich kann doch nichts tun …“ Es ist wirklich interessant, die „Ach-ich-Armer“-Mentalität zu untersuchen: „Ich Armer, ich habe keine Freundin“, „ich habe keinen Partner“, „ich habe keine Kinder“, „ich verdiene nicht genug Geld“. Wir denken an lauter Eigenschaften, die „mich“ zu einem armen Wicht machen. Was bewirkt das? Es bewirkt, dass man sich elend fühlt, nicht wahr? Wenn wir hingegen denken: „Wie wunderbar, dass ich nicht blind bin, dass ich nicht gelähmt bin, dass ich nicht vollkommen engstirnig bin – herrlich, das ist einfach spitze!“, dann haben wir eine erheblich positivere Einstellung zu dem konventionellen „ich“. Und so beginnen wir, ein gesundes Gefühl von „ich“ zu entwickeln.

Güte, Dankbarkeit, Liebe und Mitgefühl mit einbringen

Lassen Sie uns nun noch einen weiteren Faktor aus den Lehren des Dharma hinzufügen. Wissen Sie, die ganze Kunst des Dharma-Studiums besteht darin, dass man, je mehr man lernt, umso mehr fähig ist, die verschiedenen Bestandteile des Dharma auf immer mehr kreative und sinnvolle Arten miteinander zu verbinden. Lassen Sie uns nun noch einige Ratschläge aus den Lehren der siebenteiligen Anweisung zur Meditation über Ursachen und Wirkungen zur Entwicklung von Bodhichitta mit einbringen. Wie bewerkstelligen wir das? Wir haben bereits die Überlegungen über die Wertschätzung der Güte des spirituellen Lehrers mit eingebracht – auf ähnliche Weise haben wir dann Wertschätzung für die Güte und die Möglichkeiten dieses kostbaren menschlichen Lebens entwickelt und dafür, dass wir all das jetzt zur Verfügung haben. Nun geben wir „Güte“ in unsere innere Suchmaschine ein, starten den Vorgang, und was für Lehren finden wir, in denen von Güte die Rede ist? Oh, jedes Wesen ist früher meine Mutter gewesen – wie gütig sie waren, als sie meine Mutter waren. Lassen Sie uns sehen, wie wir diese beiden Bestandteile zusammenfügen können. Das ist die Art und Weise, wie wir die Teile des Dharma-Puzzles mittels unserer inneren Suchmaschine zusammensetzen.

In der gerade erwähnten siebenteiligen Meditation über Ursachen und Wirkungen besteht der Schritt, der auf die Erinnerung an die Güte der mütterlichen Liebe folgt, in dem Wunsch, diese „Güte erwidern“ englisch: „repay“ zu wollen – so wird das normalerweise übersetzt, aber das klingt, als hätte man gewissermaßen Schulden und würde für schuldig befunden, wenn man sie nicht zurückzahlt usw. Das ist ein Missverständnis dessen, was hier gemeint ist. Im Grunde lautet die Einstellung eher: „Ihr wart so gut zu mir und ich bin wirklich dankbar dafür.“ Es handelt sich um Dankbarkeit. Und weil man solche Dankbarkeit empfindet, möchte man diesen Wesen ebenfalls Güte erweisen. Die Gefühlslage ist nicht so, als hätte man Schulden, es handelt sich vielmehr um ein Gefühl der Dankbarkeit. In unserem Zusammenhang also: „Ich weiß es zu schätzen, dass ich dieses kostbare menschliche Leben habe, und ich bin dankbar dafür.“ Und wenn wir im Zusammenhang mit der Betrachtung aller Wesen als unsere Mütter in früheren Leben und der Erinnerung an die Güte der mütterlichen Liebe, die wir von ihnen empfangen haben diese große Dankbarkeit und Wertschätzung empfinden, stellt sich von selbst ein Gefühl von herzlicher Liebe ein, die jedes Mal, wenn wir jemandem begegnen, unser Herz wärmt – „Oh wie schön, sie zu sehen – es wäre wirklich schrecklich, wenn ihnen ein Unglück zustoßen würde.“

Wenn wir das in ähnlicher Weise auf die Meditation über das kostbare menschliche Leben übertragen und denken „Oh, diese Möglichkeiten, die ich habe, sind einfach fantastisch“, dann sind wir dankbar dafür, wissen sie zu schätzen und haben, wenn wir an uns selbst denken, eine positive Einstellung. Wir haben uns selbst gegenüber ein gutes Gefühl. Das ist ganz wichtig.

In den Meditationen zur Entwicklung von Bodhichitta ist das, was daraus folgt, Liebe – der Wunsch, dass andere glücklich sein mögen und die Ursachen für Glück haben mögen – und Mitgefühl: der Wunsch, dass sie frei von Leid und den Ursachen dafür sein mögen. Ähnlich gilt: Wenn wir diese warmherzige, positive Einstellung zu uns selbst haben, weil wir die Freiheit und die Möglichkeiten, die wir haben, so sehr zu schätzen wissen, dann führt das dazu, dass wir uns mit einer Art Fürsorge klarmachen: „Mir ist wirklich daran gelegen, glücklich zu sein und die Ursachen dafür zu schaffen, und frei von Leiden und den Ursachen dafür zu sein.“ Das beginnt dann in die Richtung zu wirken, dass man eine gewisse Verantwortung dafür übernimmt. Können Sie das nachvollziehen?

Sich des Todes bewusst sein

Allerdings werden die Situation, in der wir uns jetzt befinden, und die Möglichkeiten, die wir haben, natürlich nicht andauern. Wir werden sterben – das ist Realität -, und wir werden diese Möglichkeit verlieren. Wir müssen sie uns wirklich zu Nutze machen, solange wir sie haben. So, als wären wir in einer Kantine und müssten aufpassen, dass wir unsere Mahlzeit einnehmen, bevor es zwei Uhr ist und es kein Essen mehr gibt und die Türen geschlossen werden. Wir nutzen also die Möglichkeit, die wir haben, dieses Zeitfenster, bevor es sich schließt. Das ist ziemlich klar.

Man muss dafür noch nicht einmal nur an den Tod denken. Wie ist es mit dem Alter? Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, bevor wir allmählich unser Gedächtnis verlieren, bevor das Augenlicht schwächer wird, das Gehör nachlässt und wir immer weniger Energie haben, etwas zu tun usw. Es gilt auch die Leiden von Krankheit und Alter zu bedenken, nicht nur das Leiden des Todes. Wenn man 20 oder 30 Jahre alt ist, scheint das Greisenalter weit weg, aber wenn man so alt ist wie ich – ich bin jetzt 68 -, dann fängt man an, ernsthaft zu überlegen, wie viele Jahre an produktivem Leben einem noch bleiben. Man weiß nie, was einen noch erwartet.

Wir entwickeln also ein Gefühl, dass wir uns darum kümmern müssen, was mit uns wird und was wir erleben werden, nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft. Das ist überaus wichtig für die Entwicklung eines gesunden Gefühls in Bezug auf das „ich“. Wir haben eine positive Einstellung zu uns, weil wir zu schätzen wissen, was wir haben, und: „Mir ist daran gelegen, glücklich zu sein, aber nicht nur jetzt im Augenblick, sondern auch später, weil ich darauf bedacht bin, was dann passiert. Diese Möglichkeiten, die ich jetzt habe, werden nicht andauern.“ Solange die Kantine offen ist, wollen wir also das Angebot nutzen, so gut wir können, nicht wahr? Und uns genug mitnehmen für später, denn vielleicht macht sie nicht wieder auf.

In der Sowjetzeit war das so, nicht wahr? Ein Laden hat nur ein gewisses Angebot zur Verfügung: Jetzt gibt es Kaffee.

Man muss eine halbe Stunde Schlange stehen, um eine Tasse Kaffee zu kommen.

Richtig, und dann ist er verfügbar und man versucht, so viel wie möglich davon zu kaufen und mitzunehmen, weil man nie weiß, wann es wieder welchen gibt – oder was immer es sein mag. Was wäre ein gutes Beispiel?

Fleisch.

Fleisch, das ein gutes Beispiel. Und der Tod kann jederzeit eintreten.

Mit einbeziehen, was nach dem Tod geschieht

Und was ist mit der Zeit nach dem Tod? Wenn wir Angehörige des buddhistischen oder hinduistischen Glaubens sind, eines der Systeme, die den Glauben an Wiedergeburt beinhalten, dann halten wir es durchaus für möglich, dass uns eine schlimmere Wiedergeburt bevorsteht, sodass wir diese Möglichkeiten nicht mehr haben. Das ist ziemlich erschreckend, wenn wir uns ernsthaft überlegen, wie es wäre, beispielsweise eine Kakerlake zu sein, und jeder, der uns sieht, will uns einfach nur zertreten – keine sehr angenehme Vorstellung. Oder wenn wir einer der abendländischen Religionen oder derjenigen des mittleren Ostens angehören, halten wir es für möglich, dass uns ewige Verdammnis in der Hölle erwartet – auch kein sehr angenehmer Gedanke. Und wenn wir denken, wir würden zu Nichts – „dann bin ich tot, ich bin nichts“ – wenn man mal genauer darüber nachdenkt, ist das für die meisten Menschen ziemlich beängstigend, denn das heißt, gänzlich ins Ungewisse zu fallen ... Wie gesagt: Wie wird es sein, ein Nichts zu sein – „ich bin gar nichts“ – nun, da ist immer noch „ich“. Auch das ist also eigentlich ziemlich erschreckend.

Oder man kann, wie ich erwähnt habe, auch an zukünftige Generationen denken – z.B., dass Menschen uns in schlechter Erinnerung haben werden oder wir zukünftigen Generation alle möglichen Probleme hinterlassen. Auch das ist nicht schön. Niemand von uns möchte als abscheulicher Mensch in Erinnerung bleiben, oder?

Die ganze Meditation über schlimmere Wiedergeburten, nachdem wir gestorben sind, kann wiederum überaus hilfreich sein für die Entwicklung des gesunden Ichgefühls – nämlich im Hinblick darauf, dass wir das wirklich verhindern möchten. Wenn wir dankbar für die Möglichkeiten sind, die wir haben, haben wir uns selbst gegenüber dieses warmherzige Gefühl, dass wir glücklich sein möchten – und folglich möchten wir natürlich, wenn irgend möglich, verhindern, dass uns etwas Schreckliches passiert, wenn wir gestorben sind. Wir möchten etwas tun, um das zu verhindern.

Wenn wir uns hilflos fühlen und ohne Hoffnung sind, dann führt das nicht zu einem gesunden Ichgefühl. Wir können jedoch Verantwortung übernehmen für das, was mit uns geschieht, und in diesem Zusammenhang spielt die Zuflucht eine Rolle – das, was ich „sichere Richtung“ nenne. Die Situation ist nicht hoffnungslos, durchaus nicht. Es gibt etwas, das man tun kann, das wir tun können, um nicht nur die Gefahr abzuwenden, dass wir diese Möglichkeiten verlieren, sondern auch die Gefahr, dass wir sie nicht wieder erlangen. Aber lassen Sie uns die Erörterung der sicheren Richtung und dessen, was wir tun können, um schlimmere Wiedergeburten bzw. eine schlimmere Zukunft abzuwenden, auf heute Nachmittag verschieben und die kurze Zeit, die jetzt noch übrig ist, für ein paar Fragen nutzen, die Sie haben.

Fragen

Schwierige Situationen für die Vermeidung von Leiden

Wenn es um das Leid von anderen geht, darum, wie man dieses Leid lindern kann, und man zum Beispiel mit einer Situation konfrontiert ist, in der die einzige Möglichkeit, dass Leiden eines hungrigen Vogels zu lindern, darin besteht, ihn mit einem Wurm zu füttern – welche Betrachtungsweise nehmen wir da ein?

Das ist natürlich keine einfache Situation. Wenn es darum geht, ob ich das Leben meines Kindes rette oder das von Würmern, die als Schmarotzer in seinem Bauch leben, ist es klar, dass ich das Leben des Kindes rette, weil dieses Kind in seinem menschlichen Leben viel mehr zum Nutzen anderer bewirken kann als das Geisteskontinuum, das gegenwärtig in Form eines Wurms existiert. In dem Fall ist es recht klar, wie man die Unterscheidung trifft. Aber im Falle einer Spinne und einer Fliege z.B. oder, wie in Ihrem Beispiel, eines Vogels und eines Wurms, ist nicht so klar, was wir tun würden, wie wir uns entscheiden würden, nicht wahr?

Betrachten wir Beispiele aus der buddhistischen Literatur. Wie ging Buddha in einem früheren Leben mit solch einer Situation um? In einem früheren Leben begegnete er einer ausgehungerten Tigerin mit hungrigen Jungen. Was tat Buddha? Er bot sich selbst der hungrigen Tigerin zum Fraß. Asanga trennte ein Stück von seinem Bein ab, um einen verhungernden Hund zu füttern. Das sind Beispiele von weit fortgeschrittenen Bodhisattvas. Wir können dann untersuchen: „Bin ich so weit fortgeschritten, dass ich das tun kann?“ Wenn wir überlegen, was wir jetzt tun können, erwägen wir einerseits die karmische Wirkung, die daraus entsteht, das Leben des Wurms oder der Fliege zu retten, und auch daraus, dass die Spinne oder der Vogel daran gehindert wird, das negative Karma des Tötens zu schaffen. Das sind zwei positive Aspekte im Hinblick auf Karma, nicht wahr? Falls wir nichts tun, wenn wir etwas tun könnten, dann kommt die Fliege bzw. der Wurm ums Leben, und die Spinne bzw. der Vogel schafft negatives Karma. Gibt es da etwas Positives, das wir tun? Nun, wir verhindern, dass die Spinne oder der Vogel hungern; sie könnten vielleicht irgendwo anders Nahrung finden.

Auf diese Weise analysieren wir die Situation. Solche Fragen kommen auf, und wir müssen imstande sein, den jeweiligen Fall zu untersuchen. Das ist es, was ich meine: Wenn wir das begriffliche Instrumentarium des Buddhismus zur Verfügung haben, um so etwas zu untersuchen, können wir herausfinden, was zu tun ist. In diesem Fall verwenden wir dazu die Lehren über karmische Folgen: Ursache und Wirkung. Was wäre die karmische Folge der einen Entscheidung und was die der anderen? Dann unterscheidet man zwischen beidem: Welches ist das schwerer wiegende negative Karma, welches ist starkes positives Karma? So trifft man die Entscheidung. Denken Sie darüber nach.

Selbstbezogenheit und ein gesundes Ichgefühl

Wenn wir im Zusammenhang mit unseren Überlegungen über die Vorteile eines kostbaren menschlichen Lebens dieses warmherzige, liebevolle Gefühl für uns selbst entwickeln und dann beginnen, uns um unser Wohlergehen zu kümmern – geht das nicht in Richtung Selbstbezogenheit?

Ja, das geht definitiv in Richtung Selbstbezogenheit, aber das ist kein Fehler. Wenn man an einem gesunden Selbst arbeitet – einem gesunden Selbstgefühl anstelle eines übersteigerten, ungesunden Selbstgefühls -, muss man zuerst das gesunde aufbauen, bevor man das ungesunde aufbrechen kann. Deswegen wird immer geraten, Kindern und ganz jungen Teenagern, die noch nicht wirklich ein gesundes Gefühl von „ich“ ausgebildet haben, keine Lehren über Leerheit zu erteilen. Desgleichen wird davon abgeraten, sie Menschen zu erteilen, die ernsthaft psychisch gestört sind und kein gesundes Ichgefühl haben. Denn wenn man gleich damit beginnen würde, jegliches Gefühl von Selbst auseinanderzunehmen und diese Menschen kein konstruktives gesundes Gefühl von einem konventionellen Selbst zu haben, dann bleibt ihnen gar nichts mehr und das kann sehr schädlich sein.

Obwohl man also, wenn man die Stufen des Lam-rim als Anfänger beschreitet, diese Selbstbezogenheit entwickelt und ein starkes Gefühl von „ich“ aufbaut usw., ist das in Ordnung, denn auf den späteren Stufen wird man jegliche Übersteigerung abbauen, die dem aufgestülpt wurde. Doch man wird eine gesunde Basis haben, die dann noch vorhanden bleibt. Rufen Sie sich ins Gedächtnis, dass die gesunde Basis, wie ich erklärt habe, das konventionelle „ich“ ist. Es ist also unsere Einstellung gegenüber diesem konventionellen „ich“, an der wir arbeiten müssen. Zuerst müssen wir uns also vergewissern, dass wir ein konventionelles „ich“ haben und demgegenüber eine positive Einstellung entwickeln, bevor wir anfangen, die inkorrekte Betrachtungsweise in Bezug darauf zu entfernen.

Deswegen habe ich darauf hingewiesen, dass es zweierlei Ebenen gibt, den Lam-rim zu durchschreiten. Die eine Ebene ist: als Anfänger; man hat dabei nicht die buddhistische Sicht der Leerheit usw. Und die zweite ist: Man wendet sich mit der buddhistischen Sicht erneut den anfänglichen Stufen zu; man hat die gesamte Schulung durchlaufen, kehrt dann mit der Einstellung des großen Fahrzeugs und einem gewissen Verständnis der Leerheit wieder zurück zu den Anfängen und durchläuft den gesamten Prozess nochmals. So verfährt man wieder und wieder. Man geht dabei immer tiefer.

Die meisten von uns gehen im Sinne von Dharma light an den Lam-rim heran. Mal ehrlich: Die meisten denken oder glauben eigentlich nicht an spätere Leben. Es geht also nur darum, dieses Leben zu verbessern – dagegen ist nichts einzuwenden, es kann durchaus hilfreich sein, den Entwicklungsprozess des Lam-rim im Rahmen dieses Geltungsbereichs zu durchlaufen. Das liegt im Bereich der buddhistischen Wissenschaften, der buddhistischen Philosophie – auch gut, dafür brauchen wir uns nicht in den Bereich der Religion zu begeben, wo die Gedanken im Hinblick auf zukünftige Leben ausgerichtet werden.

Aber schauen Sie: Wenn wir anfangen, dieses ganze Thema zukünftiger Leben mit einzubringen – was geschieht dann? „Ich möchte in Zukunft wieder ein kostbares menschliches Leben erlangen, weil ich imstande sein möchte, den spirituellen Weg fortzusetzen.“ Gut, aber wie stellen wir uns das vor? Wir denken daran, dass wir wieder mit unseren spirituellen Lehrern zusammentreffen und wieder mit unseren Freunden zusammensein möchten – da spielt auch eine Menge Anhaftung mit. Wissen Sie, wir stellen uns das fast so vor, als wären wir ein Tulku (ein reinkarnierter Lama): „Sie werden mich wiederfinden, ich werde wieder mit allen meinen Freunden und meinen Lehrern vereint sein und einfach weitermachen.“ Nun, so ist das sicherlich nicht, aber das ist die Vorstellung, die unserer anfängliche Ebene entspricht. In der Art, wie wir uns das Erzielen eines weiteren menschlichen Lebens vorstellen, ist eine Menge Anhaftung und Selbstbezogenheit enthalten. Das ist vorläufig in Ordnung, denn zumindest denken wir daran, etwas zu tun, um schlimmere Wiedergeburten zu vermeiden.

Erst auf der mittleren Ebene beginnen wir zu denken: „Selbst wenn ich wieder mit meinen alten Freunden und meinen Lehrer zusammen bin usw., werden trotzdem immer noch Schwierigkeiten auftreten“, und deswegen müssen wir in Bezug darauf Entsagung entwickeln. Das ist der nächste Schritt. Und nur, wenn wir die gesamte Entwicklung des Lam-rim durchlaufen haben und dann wieder zum Anfang zurückkehren, können wir beginnen, den Wunsch, schlimmere Wiedergeburten zu vermeiden und bessere Wiedergeburten zu erlangen, nicht aus Anhaftung – an mein Haus, meine Freunde, meinen Besitz usw. – zu entwickeln, sondern auf reinere Weise: „Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen; deshalb brauche ich viele kostbare menschliche Lebenszeiten, um all die dafür erforderliche positive Kraft und entsprechendes Verständnis aufzubauen.“ Das ist die nächste Ebene. Dann haben wir nicht im Sinn, aufgrund von Selbstbezogenheit unserem Ich zu nützen. Aber das ist erst der Fall, wenn wir diese Entwicklung auf einer fortgeschritteneren Ebene durchlaufen.

Eine aufrichtige Motivation haben

Ich denke, eines der Probleme besteht eigentlich darin, dass wir viel zu schnell mit all diesen Materialien konfrontiert werden. Wir haben bereits gehört, dass wir die Selbstbezogenheit loswerden müssen. Wir haben ein bisschen was über die Leerheit gehört. Wir haben all diese verschiedenen Lehren gehört. Aber eigentlich haben wir es vernachlässigt, uns wirklich eingehend mit dieser ganz grundlegenden Ebene des Voranschreitens auf dem Stufenweg zu befassen und diese verschiedenen Arten der Motivation aufrichtig zu empfinden. Es ist überaus schwierig, sie aufrichtig zu empfinden. Man kann zwar die Worte sprechen, aber sie berühren eigentlich nicht unser Herz.

Deshalb denke ich, dass es stabiler und realistischer ist, zunächst im Sinne der Entwicklung eines gesunden Selbstgefühls vorzugehen. Gut, wenn wir dabei überhaupt erst einmal zu dem Punkt gelangen, an dem wir aufrichtig daran denken, zukünftige Leben zu verbessern, dann wird es mit Selbstbezogenheit sein: „O ja, ich möchte ein kostbares menschliches Leben – es heißt ja: ‚ Möge ich stets von meinen Lehren beschützt werden‘ und all das‘“. Wenn wir uns dann wirklich weiter entwickelt haben, dann wenden wir unser Verständnis der Leerheit an. Versuchen Sie nicht, es gleich zu Beginn einzusetzen, denn dann besteht eine große Gefahr, in eine Art Nihilismus zu verfallen.

Solange wir im Sinn behalten, dass diese mit Selbstbezogenheit und Anhaftung verbundene Art, auf künftige Leben hinzuarbeiten, etwas Vorläufiges ist, ist das in Ordnung. Wir halten es nicht für das eigentliche, letztendliche Ziel, sondern sagen uns, dass das ein einstweiliges Ziel und ganz in Ordnung ist als vorläufiger Schritt, der es uns erleichtert, all das aufrichtig zu empfinden. Ich denke, es ist wirklich sehr wichtig, dass wir aufrichtig auf zukünftige Leben hinarbeiten. Wir tun etwas dafür. Dann können wir darüber nachdenken, wie dieses „ich“ in zukünftigen Leben eigentlich existiert usw. und unsere Vorgehensweise verfeinern.

Lassen Sie mich ein Beispiel aus meinem eigenen Leben anführen. Ich bin dabei, diese riesige Website, studybuddhism.com, zu erstellen, und ich hoffe wirklich, dass ich aufgrund der vielen Arbeit, die ich da hineinstecke, in meinem nächsten Leben ein menschliches Wesen mit all den kostbaren Möglichkeiten sein werde und schon in sehr jungen Jahren ganz schnell diese Website im Internet finden und mich dazu hingezogen fühlen werde. Das steht mir dann alles zur Verfügung und ich kann es nutzen. Andere Menschen erlangen ebenfalls Nutzen dadurch – wunderbar; aber mir ist wirklich daran gelegen, dass ich all das ganz schnell und leicht ausfindig machen kann und dann fähig sein werde, damit weiterzumachen und hoffentlich weiter daran zu arbeiten, es weiterzuentwickeln. Natürlich ist dabei Anhaftung vorhanden, aber sie ermöglicht mir, aufrichtig daran zu glauben, sodass ich schließlich anfangen kann zu denken: „Ja, vielleicht befinde ich mich auf einer gewissen Stufe der Motivation anfänglicher Reichweite, nämlich so, dass ich sie aufrichtig empfinde.“

Was ich sagen will: Diese Arten der Motivation so zu entwickeln, dass sie aufrichtig sind, ist wirklich der erste Schritt und der wichtigste Schritt. Dann können wir unser Verständnis der Realität des Selbst usw. im Hinblick darauf verfeinern. Aber nur an der Verfeinerung zu arbeiten – was verfeinern wir denn dann? Wir stehen schließlich mit gar nichts da. „Ich sollte nicht selbst bezogen sein, weil es kein Selbst gibt. Also wenn es kein Selbst gibt – warum soll ich dann etwas tun, um eine menschlichen Wiedergeburt für das Selbst zu erlangen?“ Dann bleibt uns gar nichts mehr.

Das sind also wichtige Punkte. Bitte versuchen Sie, sie innerlich zu verarbeiten. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit dafür.

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