Einführung: Das Selbst und das „ich“ untersuchen
Heute Abend beginnen wir mit einem Kurs über die gesunde Entwicklung des Selbst durch die aufeinanderfolgenden Stufen des Lam-rim. Schon bei der Ausrichtung der Motivation dafür, den Vorträgen zuzuhören, können wir sehen, dass im Buddhismus die gesamte Vorstellung von einem „Selbst“ auf dem spirituellen Weg eine zentrale Rolle spielt. Veranlasst durch Mitgefühl arbeiten wir darauf hin, einen Zustand zu erreichen, in dem wir anderen so gut wie möglich helfen können, ihre Probleme zu lösen. Doch wer ist es denn, der durch Mitgefühl bewegt wird, dies zu tun? Man muss dafür das Wort „ich“ benutzen. Und wer ist es, der anderen helfen wird, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen? „Ich“ bin es. Und was hält mich davon ab, das tatsächlich tun zu können? Wieder müssen wir sagen „ich selbst“, oder? „Ich habe keine Lust dazu“, „ich will das nicht“, „ich traue mich nicht, es zu versuchen“ – all das dreht sich um „mich“, nicht wahr? Um „mich“ und was ich meines Erachtens nach bin und wozu dieses „ich“ in der Lage ist: wozu ich fähig bin.
Wenn wir das Thema etwas tiefer gehend betrachten, stellen wir fest: Was gemäß den buddhistischen Lehren das eigentliche Problem ist, ist unser mangelndes Gewahrsein in Bezug darauf, wie wir existieren. Entweder wir wissen einfach nicht, wie wir existieren, oder wir haben irgendeine verkehrte Vorstellung davon, eine Vorstellung, die alles andere als korrekt ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir damit anfangen, dieses ganze Thema des „Selbst“, des „ich“, zu untersuchen. Ich denke, eine Möglichkeit, unser Seminar zu beginnen, besteht darin, dass jeder von uns zunächst einmal ein Weilchen darüber nachdenkt, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir von uns bzw. von „mir“ sprechen. Versuchen Sie, in sich selbst zu erforschen und zu identifizieren, was „ich“ eigentlich ist. Das ist schwer in Worte zu fassen, weil unsere Sprache – zumindest im Englischen – nicht sonderlich gut geeignet ist, die Frage überhaupt angemessen zu formulieren.
Aber wir alle denken im Sinne des Begriffs „ich“, nicht wahr? „Was werde ich tun?“ „Was denken die Leute von mir?“ Ich meine, wir denken ja tatsächlich im Hinblick auf „mich“. „Ich bin solch ein Versager.“ „Ich bin eben ein Gewinner.“ Wir haben alle möglichen Vorstellungen von uns. Versuchen Sie einen Moment, an sich selbst zu denken, an „mich“, nicht im Sinne Ihrer Eigenschaften – ich bin jung, ich bin alt, ich bin ein Mann, ich bin eine Frau -, und nicht in dem Sinne, wer Sie sind – obwohl das tatsächlich eine sehr schwierige Frage ist: „Wer bin ich?“ – Ich bin „ich selbst“, aber was bedeutet das? Bin ich ein Name? Wer bin ich? Aber im Augenblick überlegen Sie bitte einfach nur, was dieses „ich“ ist und das Gefühl von „ich“ – denn wir alle haben ein Gefühl von „ich“. Wir sprechen hier nicht von psychologischen Theorien über das „Ego“, etwa im Gegensatz zum Über-Ich und all so etwas, sondern einfach über unser gewöhnliches Ichgefühl, das, wovon wir sprechen, wenn wir von „mir“ reden oder an uns selbst denken.
Lassen Sie uns ein paar Minuten darüber nachsinnen.
Die Bezeichnung und Repräsentation von „ich“
Ich nehme an, wenn wir versuchen zu erforschen, was dieses „ich“ eigentlich ist, ist das nicht gerade einfach, oder? In unserem Alltag verwenden wir ständig diese Vorstellung von „ich“ auf sehr vorherrschende Weise, aber wenn wir tatsächlich versuchen, uns darauf zu konzentrieren, ist das nicht so einfach. Wenn wir hier die fachspezifischen Zusammenhänge einbeziehen wollen: Die fachspezifische Beschreibung, wie wir unsere Aufmerksamkeit auf das „ich“ richten, stammt aus den grundlegenden buddhistischen Lehren über die Wahrnehmung. Das, woran wir denken, wenn wir „ich“ denken, ist ein vielschichtiges Objekt. Zuerst einmal gibt es die Kategorie „ich“ – das ist die allgemeine Kategorie dessen, woran wir dabei denken. Jedes Mal, wenn ich an „mich“ denke oder es in meinen geistigen Prozessen in irgendeiner Weise um dieses „ich“ geht, fällt jedes dieser „ichs“ unter die allgemeine Kategorie von „ich“. Alle Einzelfälle des Gedankens „ich“ gehören in die Kategorie der Gedanken an „mich“, nicht etwa in die Kategorie „du“.
Was sind die Bestandteile dieser Kategorie? Es sind die Einzelfälle der Bezeichnung „ich“. Dieses „ich“ wird irgendeiner Grundlage zugeschrieben – unseren so genannten Aggregaten, den Aggregat-Faktoren, die unsere Erfahrung ausmachen. Die Grundlage kann also eine Art physisches Phänomen sein: Sie könnte darin bestehen, wie unser Körper aussieht; sie könnte eine physische Empfindung sein, die wir z.B. im Magen wahrnehmen („ich bin hungrig“). Es könnte sich aber auch unsere Stimme sein bzw. der Klang, den wir im Geiste hören, wenn wir „ich“ denken, oder die Stimme, die uns im Kopf herumzugehen scheint.
Doch das, was wir als „ich“ bezeichnen, kann auch unser Bewusstsein sein. Es kann ein Gefühl von Glück oder Unglücklichsein oder irgendeine Emotion sein. All diese verschiedenen Komponenten gehören zu den so genannten fünf Aggregaten. Sie sind das, wodurch das „ich“ repräsentiert wird, wenn ich „ich“ denke. Man kann nicht „ich“ denken, ohne irgendetwas, das dieses „ich“ repräsentiert, oder? Es kann der Klang des Wortes „ich“ sein, den wir im Geiste hören, wenn wir innerlich „ich“ sagen, oder es kann das Bild von uns im Spiegel sein, wenn wir uns betrachten – „das bin ich“. Es kann jeder dieser Aspekte aus der Gruppe der Aggregate sein, von denen wir sagten, dass sie das „ich“ repräsentieren. Wir denken an uns selbst auf solche Weise, nicht wahr?
Denken Sie darüber nach. Ist das einleuchtend? Etwas repräsentiert das „ich“, und all das gehört zu der Kategorie „ich“. Und innerhalb dieser Kategorie „ich“ befinden sich die jeweiligen Einzelfälle der Bezeichnung „ich“ für etwas, das dieses „ich“ repräsentiert.
Ist das so weit verständlich?
Jedesmal wird die Bezeichnung „ich“ einem Aspekt zugeschrieben, der das „ich“ repräsentiert – es existiert also jeweils auf bestimmte Weise, nicht wahr? Und jedesmal, wenn wir an dieses „ich“ denken, wird unser Bewusstsein es in Bezug darauf, wie es existiert, auf die eine oder andere Weise betrachten. Wenn es das auf angemessene Weise betrachtet – das nennt man dann korrekte Betrachtungsweise -, so ist das zutreffend. Es ist tatsächlich die Art und Weise, wie ich existiere, und das „ich“ wird etwas zugeschrieben, das „mich“ repräsentiert und das es mir somit ermöglicht, an „mich“ zu denken – etwa mein Aussehen, mein Alter, mein Name oder sonst irgendetwas. Das wird „das konventionell existierende ‚ich‘“ genannt: das, was tatsächlich existiert.
Aber wir können auch eine verkehrte Betrachtungsweise in Bezug darauf haben, wie dieses „ich“ existiert. Wir können annehmen, dass es auf irgendeine unmögliche Art und Weise existiert, und so betrachten wir es dann. Ein ganz einfaches Beispiel dafür wäre, dieses „ich“ für den Mittelpunkt der Welt zu halten, für das Allerwichtigste, für jemanden, für den immer alles nach Wunsch gehen muss. Für das konventionelle „ich“ gilt hingegen: „Ich bin einer von sieben Milliarden Menschen, bin nicht besser und nicht schlechter als jeder andere. Wir alle stehen miteinander in Verbindung, jeder möchte glücklich sein und niemand möchte unglücklich sein.“ Dies schreiben wir einer angemessenen Grundlage zu, etwas das uns repräsentiert – und das ist korrekt, das ist das konventionelle „ich“.
Doch wenn wir meinen, „ich“ sei das wichtigste und etwas ganz Besonderes – „ich sollte immer meinen Willen kriegen, jeder sollte mir und dem, was ich denke, Beachtung schenken; was ich denke, ist überaus wichtig, und jeder auf der Welt sollte über Facebook und Twitter davon erfahren“ – dann ist das das falsche „ich“. Es bezieht sich nicht auf irgendetwas Reales. Es stimmt nicht einmal mit irgendetwas Realem überein. Es gibt einen kleinen Unterschied zwischen diesen beiden Formulierungen, aber darauf brauchen wir jetzt nicht einzugehen; das würde von dem abschweifen, was wir hier besprechen.
Wichtig ist hier jedenfalls, dass wir den Unterschied verstehen zwischen dem konventionellen „ich“ – das existiert – und dem falschen „ich“ – dem so genannten Selbst, das verneint werden soll und sich nicht auf irgendetwas bezieht. Wir können es meinen Körper, meinem Alter, meinen Gefühlen, meiner Meinung usw. zuschreiben, aber es bezieht sich nicht auf etwas Reales.
Was wir auf jeden Fall tun, ist, das konventionelle „ich“ einer Grundlage zuzuschreiben, die „mich“ repräsentiert. Wir denken daran, und zwar mit der allgemeinen Kategorie „ich“, und wir haben entweder eine korrekte oder eine verkehrte Betrachtungsweise in Bezug darauf, wie „ich“ existiere.
- Mit der korrekten Betrachtungsweise denken wir im Sinne des konventionellen „ich“.
- Mit der verkehrten Betrachtungsweise denken wir im Sinne des falschen „ich“ – eines „ich“, das nicht existiert.
Aber in beiden Fällen schreiben wir die Bezeichnung „ich“ irgendetwas zu, das „mich“ repräsentiert.
Was wir erörtern werden, ist Folgendes: Wie entwickelt man ein gesundes Ichgefühl, indem man im Sinne des konventionellen „ich“ an sich selbst denkt, und wie werden wir dieses übersteigerte „ich“ los, mit dem wir uns identifizieren und in dessen Sinne wir an uns denken? In den westlichen Ländern sprechen wir von einem gesunden Selbst und einem überdimensionierten Selbst. Ein gesundes Selbst bedeutet, dass man im Sinne des konventionell existenten „ich“ an sich denkt; und ein ungesundes bzw. überdimensioniertes Selbst bedeutet, dass wir im Sinne dieses falschen „ich“ an uns denken, desjenigen, das eigentlich nicht der Realität entspricht.
Das konventionelle „ich“ kommt in der Einstellung zum Ausdruck: „Ich halte mich nicht für etwas Besonderes. Ich bin einer von sieben Milliarden Menschen. Und wie jeder andere möchte ich glücklich und nicht unglücklich sein.“ Ein gesundes Ichgefühl besteht darin, dass man auf diese Weise von sich denkt. Dass ich für mein Leben und für das, was ich erlebe, Verantwortung übernehme – all das ist im Sinne des konventionellen „ich“, dieses gesunden Ichgefühls. Aber wenn wir von uns denken: „Ich bin das Wichtigste, alle sollten sich nach mir richten“ usw. und uns damit identifizieren – in unserer Terminologie ausgedrückt: uns selbst als diese Art von „ich“ betrachten -, dann ist das ein übertriebenes Ichgefühl. Weil es nicht der Realität entspricht, kann es nie zufrieden gestellt werden. Es ist unmöglich, dass alles immer nach unserem Willen geht und dass jeder uns für etwas ganz Besonderes hält – das geht nicht, oder?
Wo führt dieses übertriebene Ichgefühl hin? Es führt zu Frustration, Leiden, Unglücklichsein. Wenn wir hingegen denken: „Ich bin einer von sieben Milliarden Menschen, nichts Besonderes, und um ein glückliches, realistisches Leben zu führen, muss ich mit anderen zurechtkommen, auf sie Rücksicht nehmen; wir leben hier schließlich alle zusammen“ – dann führt das zu einem glücklicheren Leben, nicht wahr? Es ist realistischer. Das bedeutet es, im Sinne des konventionell existenten „ich“, eines gesunden Ichgefühls, zu denken.
Bitte denken Sie darüber nach, denn ich meine, dass es für unser Seminar wichtig ist, diesen Unterschied zwischen dem konventionell existenten „ich“, dem, das tatsächlich existiert, und demjenigen, das nicht existiert, dem falschen übertriebenen „ich“, zu begreifen. Und wir können nicht „ich“ denken ohne etwas, das „mich“ repräsentiert, nicht wahr? Das haben wir bei unserer Untersuchung festgestellt – zumindest muss man verbal „ich“ denken, um den Gedanken an sich selbst zu haben. Es geht wirklich nur darum, wie dieses „ich“ unseres Erachtens existiert.
Das Selbst als etwas Ewiges
Unser Thema ist, wie gesagt (und angekündigt), die gesunde Entwicklung des Selbst durch die aufeinanderfolgenden Stufen des Lam-rim. Und es gibt zwar auch das, was ich „Dharma-light-Lam-rim“ nenne – dabei bezieht man diese aufeinanderfolgenden Stufen lediglich auf dieses Leben. Doch die vollständige Schulung des Lam-rim ist das, was wir „den echten Lam-rim“ nennen würden. Und der echte setzt die Existenz vergangener und zukünftiger Leben, als Prozess ohne Anfang, voraus.
Was beinhaltet das? Das beinhaltet, dass das Selbst, „ich“, ewig ist. Ohne Anfang und ohne Ende. Sogar wenn ich ein Buddha werde, ist das immer noch „ich“. Nun stellt sich die Frage, d.h. wenn irgendetwas von diesen Inhalten des Lam-rim“ für uns von Bedeutung sein soll, müssen wir untersuchen: Glaube ich, dass ich ewig bin? Tun wir das? Überlegen Sie. Das ist tatsächlich eine höchst interessante Frage. In der Tat ist es oft so, dass ich nicht einmal daran denken will, nicht ewig zu sein.
Wenn wir Gläubige einer westlichen Religion oder einer Religion des mittleren Ostens sind, glauben wir, dass ein ewiger Gott uns geschaffen hat; wir haben also eine anfangslose Herkunft. Unsere Seele, „ich“, ist ewig, und nach diesem Leben kommen wir entweder in den Himmel oder in die Hölle (oder vielleicht gibt es dazwischen noch ein Fegefeuer, je nachdem, welcher Art der westlichen Religionen wir angehören), und das ist dann für immer. In diesen Religionen der westlichen Länder und des mittleren Ostens glauben wir also an ein ewiges Selbst. Richtig? Gott hat uns nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern gewissermaßen aus einem Teil von ihm; und insofern haben wir diese anfangslose Herkunft, und nachdem wir gestorben sind, werden wir im Jenseits ins ewige Leben eingehen. Also ein ewiges Selbst.
Aber was ist, wenn wir keinen Glauben haben – was, soweit ich weiß, hier in Lettland seit langem traditionell üblich ist? Vielleicht nicht gerade eine lange Tradition, aber zumindest seit dem letzten Jahrhundert eine fest etablierte Tradition. Was glauben wir also, wenn wir weder daran glauben, dass Gott uns geschaffen hat, noch an die ewige Glückseligkeit im Himmel oder ewige Verdammnis in der Hölle? Was denken wir? Wenn Sie keinen solchen Glauben haben, stellen Sie sich bitte diese Frage. Wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Das klingt wie der Text eines Liedes, nicht wahr?
Ich nehme an, die meisten von uns werden antworten: Nichts. Wir kommen aus dem Nichts und wir kehren zurück ins Nichts. Ist das richtig? Also wird man zu Grabe getragen und dort bleibt man dann ewig? Ihr Körper befindet sich im Grab; sind Sie in dem Grab? Ich liege im Grab und ich bin tot. Nun, „ich bin tot“ beinhaltet immer noch „ich“, und was ist das Charakteristikum oder die Phase, in der sich dieses „ich“ befindet? Die Phase ist die Zeit des Totseins. Untersuchen wir das, denken wir logisch über diese Aussage nach: „Ich bin tot.“ Das ist die Aussage im Präsens, nicht wahr? Das ist ein schreckliches Schicksal. Was bedeutet das – dass im großen Nichts dieses „ich“ quasi immer noch existiert? Und bin ich nur für kurze Zeit tot? Nein, ich bin tot für immer – ewig. Es klingt seltsam, aber im logischen Sinne werden wir zu der Schlussfolgerung geleitet, dass wir sogar dann, wenn wir keinen Glauben haben, immer noch glauben, es gebe ein ewiges Selbst. Denken Sie darüber nach. Ist das nachvollziehbar? So merkwürdig es klingt – das ist die logische Schlussfolgerung.
Es ist erschreckend, dass ich zu Nichts werde, oder? Wie könnte das erschreckend sein, wenn man wirklich nichts ist – außer man würde als Nichts existieren, als Teil von Nichts. Der große Schrecken kann natürlich auch daher rühren, dass man nicht ganz sicher ist. Jeder sagt, da wäre nichts, das wurde einem so beigebracht, aber man weiß es eigentlich nicht. Doch auch, wenn man Agnostiker ist – „ich weiß nicht, ich bin nicht sicher“ -, dann beinhaltet das immer noch, dass es anschließend etwas gibt, das für immer andauert, nicht nur für einen Monat und dann ist es vorbei. Ob wir es nun zugeben wollen oder nicht, eigentlich glauben wir alle an eine Art ewiges Selbst. Was wir darunter verstehen, wie wir die verschiedenen Phasen unserer Existenz im Laufe der Ewigkeit ansehen, das unterscheidet sich natürlich je nach unserem konzeptionellen Rahmen. Aber eigentlich denke ich, dass – wenn wir all die Möglichkeiten wirklich logisch untersuchen – jeder im Sinne eines ewigen Selbst denkt.
Anfangslose Wiedergeburt im buddhistischen Sinne ist nur eine Variante der Thematik eines ewigen Selbst, für das dieses Leben nur ein Abschnitt ist. Ganz gleich, auf welche Weise wir an ewiges Leben denken, dieses eine, jetzige Leben ist nur ein Abschnitt bzw. Teil davon. Die meisten von uns erinnern sich nicht an ein „mich“ in einem früheren Leben, und wir kennen kein „mich“ in einem späteren Leben, aber das ist nicht sonderlich überraschend. Als wir uns noch als Fötus im Mutterleib befanden – war das „ich“? Ja. Aber erinnere ich mich daran? Nein. Was ist mit mir, wenn ich sehr, sehr alt bin – wird das immer noch „ich“ sein? Es ist noch nicht geschehen, aber das werde immer noch „ich“ sein. Es wird niemand anderes sein. Nur die Tatsache, dass wir uns nicht an frühere Leben erinnern und noch nicht „mich“ in späteren Leben kennen, widerlegt nicht die Existenz früherer und späterer Leben.
Ich hoffe, Sie sehen, wohin all dies führt. Es führt zu der ganzen Erörterung der kostbaren menschlichen Wiedergeburt. Das ist die Art und Weise, wie wir mit dem Lam-rim beginnen, nämlich damit, dass dies für jeden von Bedeutung ist, ganz gleich, ob wir im Sinne buddhistischer Wiedergeburt oder einer der Religionen im Westen oder mittleren Osten denken oder keinen Glauben haben, auf jeden Fall ist dies ein besonderer Zeitraum, dieses kostbare menschliche Leben, das wir im Laufe der Ewigkeit von „ich“ jetzt erfahren.
Warum ist es wichtig, im Sinne eines ewigen „ich“ denken zu können, um die Meditation über die kostbare menschliche Wiedergeburt wirklich wertzuschätzen? Wenn wir nur an dieses Leben denken und frühere und späterer Leben nicht einmal richtig in Erwägung ziehen, können wir uns dieses Leben, im Sinne von Dharma light, zu Nutze machen, denn der Tod wird kommen. Es wird nicht ewig währen. Wir können also eine durchaus förderliche Dharma-light-Version der Meditation über das kostbare menschliche Leben durchführen. Doch wenn wir dieses Leben lediglich als einen Abschnitt eines viel größeren ewigen Kontinuums verstehen und nicht wissen, was als nächstes kommt, dann wird es wirklich erheblich dringlicher, diese Lebenszeit gut zu nutzen, weil danach irgendetwas kommen wird, und sei es auch nur das große Nichts. Denn was kann man im großen Nichts schon tun? Gar nichts natürlich.
Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass es noch eine andere vollkommen gültige, äußerst hilfreiche Dharma-light-Version der Schlussfolgerung aus dieser Erörterung gibt, und zwar, dass es eine andere Variante der Ewigkeit gibt, nämlich die Tatsache, dass die Nachkommen unserer Familie in der Zukunft weiter leben werden. Auch wenn wir keine Kinder haben, wird unser Vermächtnis, unser Andenken sich in Zukunft fortsetzen und wir hoffen, dass es fortdauern wird. Wir können also denken: „Ich möchte dieses kostbare menschliche Leben nutzen, so dass ich keinen Schlamassel für meine Kinder, für meine Schüler, für die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, für die Menschen in meiner Gesellschaft und die Menschen der Zukunft hinterlasse (etwa indem ich die Umwelt verschmutze usw.). In diesem Sinne können wir denken, dass wir dieses kostbare menschliche Leben jetzt nutzen wollen, um sicherzustellen, dass wir ein gutes Vermächtnis hinterlassen.
Aber wem wollen wir etwas vormachen in Bezug darauf, wie wichtig mir das ist, was die Menschen in Zukunft erleben werden, im Vergleich dazu, wie wichtig mir das ist, was ich selbst in Zukunft erleben werde? Was wir selbst erleben werden, ist für die meisten von uns (sofern wir nicht spirituell äußerst weit fortgeschritten sind) wesentlich dringlicher als das, was die Menschen in der Zukunft erfahren werden. Überlegen Sie und vergleichen Sie, wie Sie es finden, wenn Sie Unordnung hinterlassen und irgendjemand anders muss damit zurechtkommen, und wie Sie es finden, wenn Sie selbst aufräumen müssen. Was veranlasst Sie eher dazu, keine Unordnung zu schaffen?
Es ist dringlicher für uns, kein Durcheinander anzurichten, wenn wir selbst damit fertigwerden müssen, als wenn wir es unseren Nachkommen oder anderen überlassen können, in der Zukunft damit fertigzuwerden. Was wir mit diesem kostbaren menschlichen Leben anfangen, wenn wir denken „Ich werde die Konsequenzen davon erleben“, ist viel kraftvoller, als wenn wir denken, dass andere erleben, was ich hinterlasse. Und das ist durchaus angemessen, es beruht auf einem gesunden Ichgefühl, sich klarzumachen: „Ich trage die Verantwortung für das, was ich tue, was ich aus meinem Leben mache, denn ich werde die Resultate davon erleben müssen.“ Das ist eine ziemlich gesunde Einstellung.
Die Einstellung, dass außer mir selbst auch andere die Folgen tragen müssen zeugt von mehr Reife. Beide werden die Folgen tragen müssen. Aber nur zu denken, dass ich die Folgen gar nicht tragen muss, sondern jemand anderes – daran ist irgendetwas für mich logisch nicht ganz einwandfrei. Denken Sie darüber nach.
Worüber wir nachdenken, ist die Bedeutung und der Nutzen davon, im Sinne eines ewigen „ich“ zu denken, um dieses kostbare menschliche Leben wertzuschätzen, das wir jetzt haben. – ganz gleich, wie wir uns diese Ewigkeit vorstellen. D.h., wenn wir denken, es gibt auch danach irgendetwas und dies ist nur ein Abschnitt davon.
Wie man auf den Stufen des Lam-rim voranschreitet
Wissen Sie, es gibt zwei Arten, zweierlei Ebenen, den Lam-rim zu durchschreiten – und zwar den echten Lam-rim; ihn im Sinne von Dharma light zu durchlaufen wäre noch eine andere Variante. Aber die eine Art, den echten Lam-rim durchzugehen, liegt im Grunde im Bereich dessen, was Seine Heiligkeit der Dalai Lama buddhistische Wissenschaft oder buddhistische Philosophie nennt; man begibt sich damit also nicht notwendigerweise in den Bereich buddhistischer Religion. Das heißt, man kann die Stufen des Lam-rim – oder zumindest die anfänglichen davon – durchschreiten, ohne dem buddhistischen Glauben anzugehören. Wir fangen nicht als Angehörige des buddhistischen Glaubens an, nicht wahr? Wir beginnen einfach ganz allgemein als Person, mit den Überzeugungen, die wir bisher haben. Aber was ich hier hervorheben möchte, ist folgender Punkt: Wenn wir die Angelegenheit wirklich untersuchen, stellen wir fest, dass wir tatsächlich an ein ewiges Selbst glauben, und das ist meines Erachtens das wesentliche Kriterium dafür, dass wir uns mit dem echten Dharma befassen. Während wir über die Stufen des Lam-rim voranschreiten, ohne Buddhist zu sein, erkennen wir allmählich den Wert und die Richtigkeit, die Genauigkeit der buddhistischen Sicht der Realität, und dann erst akzeptieren wir tatsächlich den buddhistischen Weg.
An welcher Stelle der verschiedenen Stufen wir die korrekte Sicht (der Realität) einbringen, kann variieren. Wir können sie bereits einbringen, wenn wir uns mit der Zuflucht befassen – der „sicheren Richtung“, wie ich sie nenne. Man muss wirklich die vier edlen Wahrheiten verstehen, um eine Art Vertrauen zu dem zu entwickeln, was Buddha lehrte und was er erreicht hat. Und um die vier edlen Wahrheiten zu verstehen, muss man Leerheit, Realität und den wahren Pfad verstehen. So könnte die korrekte Sicht der Realität bereits hier mit eingebracht werden. Oder sie kann auf der mittleren oder der fortgeschrittenen Ebene eingebracht werden. Das variiert von Person zu Person.
Wenn wir den echten Lam-rim auf die erstgenannte Weise angehen, also nicht als Buddhist anfangen, dann würden wir auf der anfänglichen Ebene einfach mutmaßen, dass die vier edlen Wahrheiten stimmen. Wir sind uns dessen nicht sicher, wir haben keine Gewissheit, die auf Logik und Schlussfolgerungen beruht, geschweige denn auf entsprechenden Erfahrungen. Man nimmt zunächst einmal einfach an, dass es sich um die Wahrheit handelt. Erst auf der mittleren und der fortgeschrittenen Ebene kommt es dazu, dass wir wirklich auf die Erörterung der Leerheit eingehen. Das ist ganz in Ordnung so.
Die zweite Art, den echten Lam-rim zu durchschreiten, findet statt, während man bereits Buddhist ist, wenn man die buddhistische Sichtweise bereits akzeptiert hat. In dem Fall hat man die Lam-rim-Schulung vermutlich bereits durchlaufen und wendet sich nun wieder den Anfängen zu – was überaus wichtig ist -, und durchläuft nun den ganzen Prozess der aufeinanderfolgenden Stufen beruhend darauf, dass man die Mahayana-Einstellung zugrunde legt: Man strebt nach Erleuchtung, und um Erleuchtung zu erreichen, muss man sich dieses kostbare menschliche Leben zu Nutze machen, denn es wird nicht andauern usw. usw.
Das sind die zwei Möglichkeiten, den echten Lam-rim durchzugehen: entweder zunächst nicht als Buddhist oder von Anfang an als überzeugter Buddhist. In beiden Fällen ist das, was das Ganze zu echtem Dharma macht, dass wir im Sinne eines ewigen Selbst denken.
Im Gegensatz dazu gibt es auch Dharma light, wobei wir alle die Stufen des Lam-rim durchlaufen, indem wir dabei einfach nur im Sinn haben, dieses Leben zu verbessern, und dies das Einzige ist, worum es uns geht. Auch das kann sehr hilfreich sein, allerdings insbesondere im Zusammenhang mit der Erörterung von Karma nicht ganz einfach, da wir die Resultate der meisten unserer Handlungen eigentlich nicht in diesem Leben erfahren. In dieser Hinsicht wird unser Verständnis also nicht ganz stabil sein.
Diese Punkte sind, so hoffe ich, hilfreich dafür, die unterschiedlichen Arten einzuschätzen, auf die wir uns mit dem Lam-rim Material befassen können:
- Dharma light
- echter Dharma anfangs nicht als Buddhist, also während man noch nicht wirklich überzeugt ist oder die buddhistischen Lehren über die Realität noch nicht einmal kennt
- und schließlich echter Dharma auf der Grundlage, dass man bereits im buddhistischen Pfad geschult ist und nun auf die Anfänge zurückkommt und sie verstärkt.
Was ich an diesem Wochenende tun möchte – heute Abend findet die „Einführung“ statt , ist, die gesunde Entwicklung des Selbst durch den echten Dharma, den echten Lam-rim, von dem Gesichtspunkt aus zu erörtern, dass man den buddhistischen Standpunkt eigentlich noch nicht angenommen hat, und darauf einzugehen, wie wir als ganz normaler Mensch, wenn wir genauer nachdenken, verstehen, dass wir eigentlich auf die ein oder andere Art an ein ewiges Selbst glauben, und sei es auch nur im Sinne jenes großen Nichts: „Dann bin ich tot.“ Wie gesagt finden wir immer noch ein „ich“ in dieser im Präsens formulierten Aussage „ich bin tot“. Stimmt‘s? Bevor ich dies jetzt zur Diskussion stelle und zu Fragen oder Anmerkungen einlade, können Sie vielleicht einfach darüber nachdenken, wie Sie an den Lam-rim herangegangen sind, denn ich nehme an, dass die meisten von Ihnen die aufeinanderfolgenden Stufen des Lam-rim schon in mehr oder weniger tief greifender oder auch oberflächlicher Weise kennengelernt haben. Wie haben Sie sich dem angenähert, und welchen Nutzen haben Sie daraus gewonnen?
Fragen
Erleben von Leid mit dem konventionellen oder dem übersteigerten „ich“
Mir geht es um eine Klarstellung: Sie haben am Anfang gesagt, dass es ein konventionelles „ich“ und ein übersteigertes „ich“ gibt. Das übersteigerte „ich“ führt zu Leid. Womit würden Sie in dieser Hinsicht körperliche Krankheiten in Zusammenhang bringen – mit dem konventionellen „ich“ oder mit dem übersteigerten „ich“? Krankheiten schaffen ja auch Leiden.
Nun, zunächst einmal: Wer erfährt das körperliche Leid der Krankheit? Das konventionelle „ich“. Das falsche „ich“ existiert überhaupt nicht. Wir können eine unzutreffende Betrachtungsweise des konventionellen „ich“ hegen und meinen, sie würde sich auf etwas Reales beziehen und der Realität entsprechen. Aber es handelt sich dabei um ein falsches „ich“. Sie bezieht sich nicht auf etwas Reales. Das falsche „ich“ kann also gar nichts erfahren. Aber wir können Krankheit und das Leiden der Krankheit mit einer fehlerhaften Betrachtungsweise des „ich“ erfahren, etwa indem wir denken: „Ich Armer“, „ich bin bloß ein Opfer“, „niemandem geht es so schlecht wir mir“, „warum muss gerade mir das passieren“ und all diese geistigen Plagen, die mit einer Krankheiten einhergehen können.
Es geht eigentlich nicht darum, wo das Leiden einer Krankheit einzuordnen ist: als verursacht vom konventionellen „ich“ oder einem falschen „ich“, oder wie Krankheit einzustufen ist im Zusammenhang mit meiner Aussage, dass es zu Leiden führt, wenn wir im Sinne eines falschen „ich“ an uns denken und daran glauben. Ich meine nicht, dass dies die angemessene Art ist, das Phänomen der körperlichen Krankheit zu betrachten. Die Zusammenhänge sind da sehr komplex. Wissen Sie, ich gebe gern ausführliche Antworten. Manche Menschen sind sehr geschickt darin, sehr kurze Antworten zu geben, aber ich kann das nicht so gut. Lassen Sie mich daher eine längere Antwort geben.
Wir sagen also: Es ist das konventionelle Selbst, welches das Leiden an einer Krankheit erlebt, nicht das falsche „ich“. Soviel ist klar. Nun könnte man sagen: „Die Krankheit ist durch Karma verursacht. Ich habe in einem früheren Leben etwas Schreckliches getan, dass das Leben von anderen verkürzte, und als Resultat davon ist nun mein eigenes Leben verkürzt, ich habe eine Krankheit usw.“, und: „Ich habe aus Unwissenheit so gehandelt, aufgrund von fehlendem Gewahrsein in Bezug darauf, wie ich existiere. Ich habe im Sinne eines falschen „ich“ an mich gedacht.“ Diese – ich würde sagen, ziemlich vereinfachte – Erklärung könnte man geben.
Vor Beginn der Aufzeichnung dieses Vortrags hatte ich Tsongkhapas Darstellung der Meditationsobjekte für die Entwicklung von Shamatha, einem still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand, erwähnt. Tsongkhapa wies darauf hin, dass es für diejenigen, in deren Bewusstsein eine Menge verbale geistige Aktivität vor sich geht, hilfreich ist, sich auf den Atem zu konzentrieren und diesen zum Objekt der Ausrichtung zu machen: sich zu beruhigen und einfach auf den Atem auszurichten. Denjenigen, die naiv hinsichtlich der Realität sind, riet er, die Aufmerksamkeit auf das abhängige Entstehen im Zusammenhang mit den Aggregaten zu richten. Und das erklärt er folgendermaßen – es ist nicht so einfach zu verstehen, aber es geht um Folgendes: Worauf wir uns dabei konzentrieren, ist eine Situation, die wir gerade erleben, sagen wir, eine körperliche Krankheit. Sie ist in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen entstanden. Vom ursächlichen Gesichtspunkt aus ist es so, dass wir die Situation aufgrund des Heranreifens einer karmischen Tendenz erfahren. Unpersönlicher ausgedrückt: Sie ist als Resultat einer karmischen Tendenz zustande gekommen – diese karmische Tendenz ist die Ursache dafür, und dazu kommen all die Umstände, die bedingt haben, dass sie gerade zu dieser Zeit heranreifte. Ohne diese Umstände wäre sie jetzt nicht herangereift. Dazu gehören das Wetter, die Art und Weise, wie ich mich verhalten habe, möglicherweise ist auch gerade eine Epidemie im Umlauf. Viele verschiedene Faktoren spielen also eine Rolle – meine Ernährung und wie gut trainiert ich bin, die Menschen, mit denen ich in Berührung gekommen bin – man kann anfangen, alle möglichen Umstände auflisten, die dazu beigetragen haben, warum ich krank geworden bin.
Überdies sind all die verschiedenen ursächlichen Faktoren beteiligt, die mit meiner emotionalen Reaktion im Zusammenhang mit meinem ganzen psychologischen Hintergrund zu tun haben, und zudem natürlich alles, was sich von Seiten meiner Familie, meine Erziehung usw. darauf ausgewirkt hat, und warum ein gewisses Maß von Selbstmitleid vorhanden ist – da gibt es so viele verschiedene Emotionen. Und jede davon entsteht aus einer anderen Art von Tendenz, einer anderen Art von Gewohnheit. Die Situation trägt sich nicht in einem Vakuum zu. Des Weiteren gibt es den Umstand, welche medizinischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, welche Krankenhäuser mir zugänglich sind, ob ich Freunde und Familie habe, die sich um mich kümmern können, oder ob ich ganz allein bin – zahlreiche weitere Faktoren tragen also mit zu der Situation bei.
Die karmische Ursache – eine frühere Handlung, die ebenfalls bedingt durch eine Anhäufung von Umständen und Bedingungen begangen wurde – ist also nur Teil dieses riesigen Netzwerkes abhängig entstandener Faktoren. Tsongkhapa sagt: Wenn man diese Zusammenhänge zum Meditationsobjekt macht, mit dem man Shamatha erlangen möchte, konzentriert man sich einfach mit seinem eigenen Verständnis auf die jeweilige Situation, nämlich mit dem Verständnis, dass sie aus dieser riesigen Ansammlung von Ursachen und Umständen entstanden ist,
- ohne dass ein wahrhaft existentes „ich“ vorhanden ist, dass all das verschuldet hat und dasjenige war, was es herbeigeführt hat;
- und ohne ein wahrhaft existierendes „ich“, welches das Resultat erlebt, mit anderen Worten: das Opfer, „ich Armer“;
- folglich: ohne das Schuldgefühl: „Ich bin der Schuldige, der all das herbeigeführt hat, weil ich in einem früheren Leben schlecht war“, und ohne die Opfermentalität – „Ich Armer, das hab ich nicht verdient“, „Das ist nun die Bestrafung für mich“ – ohne all das.
Die Situation ist eben in Abhängigkeit von einem enormen Netzwerk von Ursachen und Umständen zustande gekommen. Darüber meditiert man, ohne dabei auf all die Einzelheiten einzugehen; das macht man zum Meditationsobjekt für das Erlangen von Shamatha, und diese Vorgehensweise ist eine hervorragende, ganz ausgezeichnete Meditation.
Warum komme ich nun darauf zu sprechen, mal abgesehen von der Tatsache, dass ich das für eine großartige Meditation halte? Der Grund dafür ist: Beim Studium des Dharma heißt es, dass die Wurzel aller Probleme – das erste Glied in der Kette der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens – dieses fehlende Gewahrsein in Bezug darauf ist, wie wir existieren, wie das Selbst existiert, „ich“ und jeder andere auch. Das wissen wir nicht oder unsere Kenntnis ist nicht korrekt, und daraus geht alles hervor. Obwohl das so ist, missverstehen wir es. Worin besteht das Missverständnis? Es wird in den vier fehlerhaften Sichtweisen der zweiten edlen Wahrheit beschrieben, im Rahmen der 16 Aspekte der vier edlen Wahrheiten (ich erwähne das nur, damit Sie nicht denken, ich hätte mir das ausgedacht).
Was wird dort als ein falsches Verständnis der wahren Ursache des Leidens aufgeführt? Die Auffassung, dass alles Leid aus einer einzigen Ursache entsteht, dass Resultate nur aus einer einzigen Ursache hervorgehen. Es kann zwar eine Grundursache geben, eine ganz grundlegende Ursache, aber es ist nicht lediglich so, dass nur wegen „mir“ und „weil ich so blöd bin“, ich nun diese Leiden erfahren muss. Sehen Sie, was für ein Ego-Trip das ist und welche Gefahr darin besteht, so zu denken? „Das ist alles nur wegen mir, ich bin so dumm und hab nichts verstanden, und ich muss bloß aufwachen und das richtig verstehen und schon werden sich alle meine Probleme in Luft auflösen.“ Das ist viel zu sehr vereinfacht – das ist die Denkweise, dass Resultate nur aus einer Ursache stammen. In Wirklichkeit entstehen Resultate aus einem riesigen Netzwerk von Ursachen und Umständen.
Wissen Sie, wir greifen hier eigentlich der Reihenfolge des Lam-rim vor, aber es handelt sich um einen überaus interessanten Punkt. Wir können den Unterschied zwischen dem gesunden „ich“ und dem übersteigerten „ich“ im Zusammenhang mit dem speziellen Thema erkennen, was meine Verantwortung im Hinblick auf das Leiden ist, das ich erlebe. Das übersteigerte „ich“ ist dieses große „ich“ und, dass „alles mein Fehler ist“. Das ist eine Übersteigerung des „ich“: die Auffassung, dass alles, was passiert, mein Fehler ist. Sie sehen, wie das zu einer Art Wahn werden kann: „Ich habe im früheren Leben schlimme Sachen gemacht, lauter dumme Sachen, und deswegen muss ich jetzt so leiden.“
Ein gesundes Ichgefühl ist: „Ja, im konventionellen Sinne habe ich so gehandelt, und aufgrund dessen sind karmische Samen dafür vorhanden, dies und jenes zu erleben, aber es gibt noch zigtausend andere Ursachen und Bedingungen, die dabei eine Rolle gespielt haben.“ In diesem Fall übersteigern wir das Ichgefühl nicht mit dem Gedanken: „Ich bin verantwortlich für alles Unheil, das in der Welt geschieht, insbesondere alles Unheil, das mir geschieht. Das ist alles mein Fehler.“ Diese Einstellung ist zu übertrieben.
Was so schwierig ist, ist eigentlich, die beiden Extreme zu vermeiden:
- „Es ist alles mein Fehler“ ist das eine Extrem, nämlich das übersteigerte „ich“.
- Das andere Extrem lautet: „Das ist gar nicht meine Verantwortung; ich erlebe etwas, was nur von außen kommt. Ich hab nichts getan, ich bin unschuldig.“
Das sind die beiden Extreme, und in der Mitte dazwischen liegt ein gesundes Ichgefühl und ein gesundes Verantwortungsgefühl, das jedoch kein übersteigertes Verantwortungsgefühl ist. Die Bemessung von „schuldig“ oder „unschuldig“ entspricht den buddhistischen Erklärungen ganz und gar nicht.
Es ist wirklich interessant, darüber nachzudenken, wie wir zu Missverständnissen kommen, indem wir den Buddhismus mit bestimmten Aspekten aus unserer Kultur überlagern, die unserem Rechtsempfinden entstammen – schuldig oder nicht schuldig, schuldig oder unschuldig. Das ist nicht zweckdienlich.
Bitte entschuldigen Sie, dass ich so viel Zeit für die Beantwortung einer Frage brauche. Wir werden in den anderen Vorträgen noch Zeit für Fragen einräumen. Aber Ihre Frage bringt uns auf sehr wichtige Punkte; es ist eine gute Frage. Und ich finde, es trägt auch dazu bei, uns einen Einblick zu geben, was die Unterschiede zwischen einem gesunden Ichgefühl und einem übersteigerten Ichgefühl sind, wenn wir dies unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit für unsere Erlebnisse betrachten.
Selbstbezogenheit und die Wurzel der Probleme gegenüber den Ursachen von Problemen
Wenn dieses falsche „ich“ in der Selbstbezogenheit besteht, können wir dann sagen, dass auch das konventionell existierende Selbst selbstbezogen ist?
Das falsche „ich“ existiert nicht. Wir halten das konventionelle „ich“ irrtümlich für das falsche „ich“. Welches ist es nun, das selbstbezogen ist? Es kann nicht das falsche „ich“ sein, weil das falsche „ich“ nicht existiert. Es ist also das konventionelle „ich“: Zu meiner Erfahrung der Welt gehört der Geistesfaktor Selbstbezogenheit, der mit verschiedenen Momenten meiner Erfahrung einhergeht. Was in meinen Aggregaten stattfindet – was meine Erfahrung, eine Kombination vieler Bestandteile, mit ausmacht -, ist eine verkehrte Betrachtungsweise meiner selbst. Ich denke an „mich“, indem ich dabei das falsche „ich“ im Sinn habe – „Ich bin der Beste, ich bin einfach grandios, alle sollten sich nach mir richten“. Und als weiterer Geistesfaktor ist auch die Selbstbezogenheit an meiner Erfahrung beteiligt. Aufgrund dessen denke ich nur an „mich“ und daran, was ich dabei gewinnen kann.
Wenn wir von diesen Geistesfaktoren und all dem hören, können wir das einfach als Wissenselemente usw. betrachten. Wenn wir jedoch wirklich anfangen, Untersuchungen mittels dieser Systematik anzustellen, gewinnen wir dadurch echte Hinweise, wie wir mit unseren verschiedenen Problemen umgehen können. Alles, was Buddha lehrte, diente schließlich dazu, die Überwindung von Problemen zu ermöglichen und Leid zu überwinden. Ich bin selbstbezogen – was geht dabei vor? Selbstbezogenheit ist ein Teil von „mir“, ich bin also dafür verantwortlich, und zwar das konventionelle „ich“, das die Dinge erlebt. Fälschlicherweise stelle ich mir unter „mir“ ein falsches „ich“ vor, und diese Auffassung ist von Selbstbezogenheit begleitet. Wenn ich die falsche Vorstellung von „mir“ loswerden könnte, hätte ich diese Selbstbezogenheit nicht. Ich erkenne also, woran ich zu arbeiten habe.
Wenn ich nur an der Selbstbezogenheit arbeite – okay, dann bin ich nicht mehr egoistisch, aber ich denke immer noch im Sinne dieses „ich“ „ich“ „ich“. Ich denke an mich etwa mit dem Gedanken: „Ich bin ein Märtyrer, ich werde nicht selbstsüchtig sein und werde alles Leid auf mich nehmen“ – da ist ein großes übersteigertes „ich“ dabei. Ich denke also immer noch an ein falsches „ich“. Ich bin nicht zur Wurzel der Probleme vorgedrungen. Aber das Problem ist vielschichtig. Es hat viele Bestandteile, es besteht aus vielen Faktoren.
Sie sehen: Die falsche Vorstellung vom Selbst ist die Wurzel der Probleme. Es besteht ein großer Unterschied darin, ob man sagt: „Dies ist die Wurzel des Problems, und wenn man die Pflanze loswerden will, muss man die Wurzel entfernen“ oder „Die Wurzel ist die einzige Ursache für die Pflanze“. Die Pflanze ist unter zahlreichen Bedingungen gewachsen und viele Umstände haben dazu beigetragen – der Erdboden, der Regen, das Wetter. Vieles hat dabei eine Rolle gespielt. Aber wenn man die Pflanze loswerden möchte, muss man die Wurzel beseitigen. Auf diese Weise verstehen auf konventionell korrekte Weise, wie wir mit diesem fehlenden Gewahrsein bzw. der Unwissenheit in Bezug auf das Selbst umgehen können – nicht in dem Sinne, dass dies die einzige Ursache wäre – „bloß weil ich so dumm bin“ usw.
Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um das zu verdauen: den Unterschied zwischen der Wurzel eines Problems und der Reduzierung der Ursachen auf eine einzige: „Das alles kommt nur von dieser einen Ursache, also bin ich der Schuldige“ – den Unterschied zwischen Beseitigen der Wurzel des Problems und dem Gedanken „Das war alles nur mein Fehler.“
Können wir Resultate der Situation erleben, wofür wir keine Ursachen erzeugt haben?
Das vierte Gesetz des Karma lautet, dass man keine Resultate erlebt, ohne Ursachen dafür geschaffen zu haben. Die Auffassung dass man Resultate von Handlungen erleben würde, die man nicht begangen hat wäre die extreme Einstellung: „Ich bin unschuldig, ich habe nichts getan, warum passiert mir das also?“ Das ist das Extrem der Opfermentalität. Es ist das nihilistische Extrem.
Gut, lassen sie uns an dieser Stelle für heute Abend mit einer Widmung schließen. Wir denken: Möge jegliches Verständnis, jegliche positive Kraft, die hieraus entstanden sind, sich immer weiter vertiefen und als Ursache dafür wirken, zur Erleuchtung aller beizutragen – nicht nur „ich, ich ich – ich möchte Erleuchtung erlangen“. Aus diesem Grund ist das zehnte Kapitel von Shanitidevas Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ so wunderbar inspirierend, nämlich weil es durchgehend so formuliert ist: „Möge jeder dieses erleben, möge jeder jenes erfahren“ und nie: „Möge ich ...“