Wir sind eine der Methoden zum Erzeugen von Bodhichitta durchgegangen, die eine Erweiterung der Meditationen zum Gleichsetzen und Austauschen unserer Geisteshaltungen uns selbst und anderen gegenüber ist. Sie ergibt sich aus den Lehren von Shantideva in „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (Skt. Bodhicharyavatara), aus den Lehren der verschiedenen Kadam-Meister, sowie den Kommentaren und Erklärungen von Lama Chöpa (Guru-Puja); die „Guru-Puja“ ist eine Opferzeremonie für die spirituellen Lehrer oder spirituellen Meister. Diese Praxis wurde vom verstorbenen Junior Tutor Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, Trijang Rinpoche, zusammengestellt.
Wir sind die Meditationen zum Entwickeln des bloßen Gleichmuts durchgegangen, die es sowohl in den Hinayana- als auch den Mahayana-Traditionen gibt und welche die Basis für diese Methode des Entwickelns von Bodhichitta und der siebenteiligen Meditation über Ursache und Wirkung sind, die sich damit befassen zu erkennen, dass jeder in einem früheren Leben unsere Mutter gewesen ist. Dann sind wir die neun Runden oder neun Schritte zum Erzeugen der ungewöhnlichen Mahayana-Form des Gleichmuts durchgegangen, die sich insbesondere darauf richten, Gefühle der Parteilichkeit gegenüber allen zu beseitigen, denen wir helfen wollen. Wir haben gesehen, dass viele Punkte in dieser Darstellung auch darauf angewandt werden könnten, die Qualitäten von uns selbst und allen anderen zu erkennen. Hier haben wir die Punkte hinzugefügt, die Shantideva selbst in Bezug darauf gemacht hat, uns zu helfen, dieses Verständnis der Gleichheit von uns und allen anderen zu entwickeln.
Die Entscheidung treffen, nicht mehr parteilich zu sein
Jetzt machen wir weiter mit den fünf Entscheidungen, die wir treffen, nachdem wir über diese neun Punkte der ungewöhnlichen Mahayana-Art des Gleichmuts nachgedacht haben. Jeder dieser Fünf hängt mit einem Vers der „Guru-Puja“ zusammen. Der erste Entschluss ist: „Ich soll aufhören, parteilich zu sein.“ Ob wir es nun aus relativer oder tiefster Sicht sehen, gibt es keinen Grund dafür, manche Wesen als nah und andere als fern zu betrachten. Wir treffen also den festen Entschluss damit aufzuhören, parteilich zu sein. Wir werden uns von Gefühlen der Voreingenommenheit trennen, mit den wir manche ablehnen und andere annehmen, denn wenn wir diese parteiliche Sicht haben, wird dies mit Sicherheit zu Problemen führen; alle hingegen als ebenbürtig zu betrachten ist der Pfad, dem die Buddhas folgten.
Werfen wir einen Blick auf die Verse der „Guru-Puja“, die mit dieser Praxis verbunden sind, bezieht sich das in dem Vers auf das Gleichsetzen von uns und anderen, anstatt die Gleichheit aller anderen zu sehen. Geht es uns nur um uns selbst, ist das eine andere Weise der Parteilichkeit, doch wenn wir eine unparteiliche Haltung entwickeln, arbeiten wir für das Wohl aller, was uns mit einbezieht. Befinden wir uns beispielsweise in einer schlimmen Situation, wie einer Umweltkatastrophe, ist es nicht nur „mein“ Problem, sondern das Problem aller und wir sind ein Teil von ihnen.
Der Vers der „Guru-Puja“ lautet:
(90) Inspiriert uns, das Wohlgefühl und die Freude anderer zu vermehren, indem wir denken, dass wir und andere nicht verschieden sind: Niemand wünscht sich das geringste Leiden, noch ist ein Wesen jemals mit dem Glück, das er oder sie erfährt, zufrieden.
Sagen wir: „inspiriert uns“, meinen wir damit den Guru, die Buddhas, Bodhisattvas usw. Oft wird das übersetzt als: „segnet mich“ oder „segnet uns“, was ich für eine unangemessene Übersetzung halte. Hier bitten wir die spirituellen Lehrer um Inspiration dafür, eine ebenbürtige Haltung gegenüber allen zu haben, ohne Gefühle von nah oder fern in unseren Gedanken oder Handlungen, um das Glück anderer zu bewirken und ihr Leiden zu beseitigen. Wir erkennen, dass wir und andere ebenbürtig sind und haben keine Gefühle von nah (nur uns) oder fern (alle anderen) und keine Gefühle von nah oder fern in Bezug auf alle anderen, denen wir versuchen zu helfen. Serkong Rinpoche gab eine Analogie für die Art des Geisteszustandes, den wir mit diesem Entschluss erzeugen: Wenn wir eine wunderschöne Sache in einem Geschäft sehen, die wir wirklich gern haben würden und auch brauchen, treffen wir den festen Entschluss sie zu kaufen – also dieser Geisteszustand mit dem festen Entschluss, diese Sache zu besorgen – und das wäre die Art der Geisteshaltung, die wir hier versuchen zu erzeugen und auf die wir uns konzentrieren; das ist der Entschluss, den wir entwickeln und diese ausgeglichene Geisteshaltung, die wir in Bezug auf uns und andere, sowie auf alle anderen, benötigen.
Dieser Entschluss hat zahlreiche Gründe, wie jener, dass wir alle in dem Sinne gleich sind, glücklich und nicht unglücklich sein zu wollen. Wir erinnern uns daran und fassen dann den festen Entschluss, niemanden einem anderen vorzuziehen und fokussieren uns darauf. Wir können das üben, während wir eine ganze Gruppe von Menschen ansehen, wie die Leute hier in diesem Raum oder jene in der Metro-Station, wenn wir öffentliche Verkehrsmittel benutzen. In Bezug auf all diese Menschen werden wir niemanden einem anderen vorziehen und versuchen ihnen zu helfen. Außerdem sind sie alle genau wie wir und wir sind wie sie.
Es ist auch hilfreich, einen großen Spiegel zu haben, den es hier leider nicht gibt. Machen wir die Übung allerdings mit einer großen Gruppe von Leuten in einem Fitnessraum oder Tanzsaal und setzen uns so vor den Spiegel, dass wir die ganze Gruppe von Teilnehmern (einschließlich uns selbst) im Spiegel sehen, ist es leichter, sich auf die Gleichheit von allen, einschließlich uns, zu konzentrieren. Diese Praxis ist im Grunde ziemlich effektiv, weil wir uns normalerweise nicht wirklich selbst visualisieren, wenn wir mit anderen zusammen sind. Wir vergessen also leicht, dass wir wie alle anderen sind, wie ein Schaf in einer Herde von Schafen. Betrachten wir eine Herde, wie eine Schar von Pinguinen, scheinen sie alle gleich auszusehen.
Lasst uns das versuchen.
[Meditation]
Punkte von Shantideva, um den Entschluss zu verstärken, niemanden zu bevorzugen
Shantideva erklärte auf folgende Weise, wie wir unsere Geisteshaltung gegenüber uns selbst und anderen gleichsetzen:
(VIII.90) Zunächst werde ich tief über die Gleichheit von mir selbst und anderen meditieren, (und zwar in dieser Weise): Da jeder ein Lebewesen ist, das gleichermaßen Glück und Schmerz erlebt, will ich mich (um andere Lebewesen) in der gleichen Weise kümmern, wie um mich selbst.
Laut ihm kommt der Schmerz anderer von ihrem Klammern an ein falsches „Ich“ – das „Ich“, welches sie für wahrhaft begründet halten – und das gleiche gilt für unser Leiden und unsere Schmerzen. Es liegt an unserem Klammern und Greifen nach einem soliden „Ich“, was gleichermaßen von uns beseitigt werden muss, da es nichts anderes ist. Was dieses falsche „Ich“ betrifft, so existiert es genau wie bei allen anderen nicht und somit gibt es keinen Unterschied in Bezug auf das Leiden, welches durch diese falsche Sichtweise des „Ich“ erzeugt wird. Er sagt, dass das Leiden, welches durch alle anderen im Sinne des Klammerns an ein falsches „Ich“ erzeugt wird, genauso unerträglich ist, weil es auf der gleichen Art der Verwirrung, der Unwissenheit (des schlichten Nichtwissens) oder des mangelnden Gewahrseins beruht.
(VIII.92) Obwohl mein eigener Schmerz dem Körper anderer nicht weh tut, so ist doch der Schmerz eines „Ichs“ unerträglich, weil ich [mich] an ein „Ich“ klammere.
(VIII.93) Auch wenn der Schmerz der anderen mir nicht widerfährt, so ist doch der Schmerz eines „Ichs“ (auch) schwer zu ertragen, weil sie [sich] an ein „Ich“ klammern.
(VIII.94) So ist der Schmerz der anderen etwas, das von mir beseitigt werden muss, einfach weil er (seiner Natur nach) Schmerz ist, wie der Schmerz eines „Ichs“; und ebenso muss ich anderen Lebewesen einfach deshalb helfen, weil sie (ihrer Natur nach) begrenzte Wesen sind, wie der Körper eines „Ichs“.
Wir können also andere ansehen und dies zu einer Meditation machen, indem wir denken: „alle haben die gleiche Art der Verwirrung wie ich.“ Dies ist das grundsätzliche Problem, mit dem jeder konfrontiert ist – es ist dieses mangelnde Gewahrsein oder die Verwirrung darüber, wie wir existieren. Es handelt sich nicht um „mein“ privates Problem oder „dein“ privates Problem, sondern das Problem von allen. Das Leiden, das dadurch erzeugt wird, ist etwas Furchtbares und muss beseitigt werden, egal wer es erfährt, wir oder andere. Er sagt, dass die Unwissenheit in der gesamten Welt beseitigt werden muss, nicht nur „meine“ Unwissenheit oder „deine“ Unwissenheit, sondern die Unwissenheit im Allgemeinen.
[Meditation]
Dieser Meditation, die ich von Serkong Rinpoche erhielt, weitere Punkte von Shantideva hinzuzufügen, ist keine ungewöhnliche Methode. Seine Heiligkeit der Dalai Lama lehrt normalerweise mehrere Texte gleichzeitig und fügt Teile eines Textes Abschnitten anderer Texte hinzu, wenn es dazu ausführlichere Erklärungen gibt. Dabei handelt es sich nicht um den Fehler „sich den Dharma zurechtzuzimmern“, sondern folgt einer Lehrmethode des Zusammenstellens von Themen verschiedener Texte, die alle aus der gleichen harmonischen Tradition stammen.
Der nächste Vers in Shantidevas Darstellung betont, dass an meinem Glück oder meinem Leid nicht besonderes ist. Warum sollten wir uns also nur auf unser Glück oder unser Leid fokussieren? Darin steckt viel Wahrheit. Was ist so besonders an meinen Kopfschmerzen – sie sind nicht viel schlimmer als deine – oder meinem Glück und deinem Glück? Daran ist nichts besonders.
(VIII.95) Wenn Glück etwas ist, das sowohl von mir als auch von anderen gleichermaßen geliebt wird, was ist dann so besonders an mir, dass ich nur für mich allein nach Glück strebe?
(VIII.96) Und wenn das Leiden etwas ist, das von mir und anderen gleichermaßen abgelehnt wird, was ist dann so besonders an mir, dass ich mich nur um mich selbst und nicht um andere kümmere?
Dieser Aspekt ist wirklich hilfreich und der Lieblingssatz der jungen Wiedergeburt von Serkong Rinpoche: „Es ist nichts Besonderes.“ Darauf können wir uns jetzt in Bezug auf unser Leid und unser Glück konzentrieren, mit dem wir nur daran arbeiten, unsere Leiden zu beseitigen und unser Glück zu bewirken. Dein Glück und dein Leid sind genauso wichtig wie mein Glück und mein Leid, es ist nichts Außergewöhnliches. Das gilt auch für das Gleichsetzen aller: keines von allen Wesen ist besonders. Man kann das sehr gut erkennen, wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama mit Menschen umgeht. In gewisser Weise gibt er jedem das Gefühl etwas Besonderes zu sein und somit ist keiner außergewöhnlicher als der andere.
[Meditation]
Dieser Punkt knüpft an die vorangegangenen Punkte an, die Shantideva gemacht hat. Gehen wir davon aus, dass unser Leid und unser Glück so besonders ist, weil es „meins“ ist, betrachten im Grunde alle ihr Leid und ihr Glück als etwas Besonderes, weil sie es ebenfalls als „meins“ sehen. Was ist also so anders daran? Es gibt keinen Unterschied. Es ist kein gültiger Grund, dass es besonders ist, weil es „meins“ ist, denn dieser Grund trifft für alle zu. Das ist ziemlich zutreffend, nicht wahr?
Wir können unsere Aufmerksamkeit auf das Leiden der anderen lenken, doch wir können es nicht wie unser eigenes Leiden erfahren.
Auf diesen Punkt wird in weiteren Versen von Shantidevas Darstellung eingegangen. Shantideva befasst sich mit all diesen Einwänden auf sehr schöne Weise. Er sagt, dass wir mit allen anderen zusammen ein Ganzes bilden, genau wie die Hand und der Fuß einen ganzen Körper bilden. Ein Ganzes kann unserem gesamten Körper zugeschrieben werden und in ähnlicher Weise kann es der Basis aller fühlenden Wesen zugeschrieben werden, von der wir ebenfalls ein Teil sind.
(VIII.91) So, wie wir uns trotz der zahlreichen Körperteile, wie den Händen und so weiter, um den Körper als Ganzes kümmern; so gleichen mir doch, trotz der Unterschiede, die es zwischen den einzelnen [im Daseinskreislauf] wandernden Lebewesen gibt, alle [Lebewesen] in Bezug auf [ihr Empfinden von] Glück und Schmerz: sie alle wünschen sich, glücklich zu sein und (bilden so) ein Ganzes.
Seine Heiligkeit führt oft folgendes Beispiel an: Sorgen wir uns nur um unsere eigenen Probleme, ist das eine Ebene; es ist gültig, eigene individuelle Probleme zu haben, doch laut ihm sind wir auch Teil eines größeren Ganzen, der Gesamtheit der Tibeter; aus diesem Grund ist es angemessen, sich auch um die Leiden der Tibeter zu kümmern, weil wir einer von ihnen und somit Teil dieser Gesamtheit sind. Wir sind Teil allen Lebens auf diesem Planeten und wir sind mit einem größeren Problem der Umweltverschmutzung und des Klimawandels konfrontiert. Es handelt sich nicht nur um unser eigenes individuelles Problem, sondern um ein Problem, das alle betrifft, denn wir sind Teil allen Lebens auf diesem Planeten.
In Bezug auf den Umgang mit diesen mächtigeren Problemen, die größere Gruppen betreffen, ist es vollkommen angebracht, denn wir bilden ein Ganzes und das Ganze ist von diesem Problem betroffen. Setzen wir uns mit diesen größeren Problemen auseinander, wie im Fall der Tibeter oder dem Leben auf diesem Planeten, befassen wir uns nicht nur mit unserem eigenen Problem, sondern mit dem Problem eines jeden. Wie Shantideva sagt: Wenn der Fuß ein Problem hat – wie ein Dorn im Fuß – hilft die Hand natürlich dem Fuß. Die Hand sagt nicht: „Tut mir leid, das ist dein Problem. Mir geht es gut hier oben.“ Die Hand hilft selbstverständlich dem Fuß, denn beide sind Teil des Ganzen. Dasselbe gilt in Bezug darauf, Teil der größeren Gruppe des Ganzen, aller begrenzter Wesen, zu sein.
(VIII.99) Wenn der Schmerz, den jemand erlitten hat, von diesem selbst versorgt werden muss, warum sollte dann, da das Leiden des Fußes nicht das Leiden der Hand ist, er von ihr behandelt werden?
(VIII.100) Wenn es der Fall ist, dass (Ignorieren) unlogisch wäre, [denn] hier wird es aus einem Gefühl eines (ganzen) Selbst heraus unternommen; nun gut: dann sollte ich [auch] etwas, das sicherlich in Bezug auf (das Ganze, das) von mir selbst und anderen (gebildet wird) unlogisch ist, so stark wie ich nur kann verwerfen.
Richten wir uns darauf aus.
[Meditation]
Wenn jeder seinen oder ihren individuellen Geistesstrom hat, wie kann ich wirklich davon ausgehen, dass jeder gleich ist?
Jeder ist gleich in dem Sinne, dass wir alle Teile eines Ganzen sind, dass sogar ein Geisteskontinuum seinen Teilen eines jeden Augenblicks zugeschrieben ist und eine Gruppe individueller geistiger Kontinua: wir können sie einem Ganzen, einer ganzen Gruppe zuschreiben. Shantideva hat ein Vers in dieser Reihe, der besagt, dass ein Rosenkranz und eine Armee nicht wirklich von sich aus festgelegt werden, sondern Gesamtheiten sind, die Teilen zugeschrieben werden. Es ist nicht falsch daran, immer größere Gruppen als Ganze zu bezeichnen. Obwohl unser individuelles Geisteskontinuum konventionell gesehen Individualität besitzt, wird es dennoch nicht nur als ein individuelles Ding begründet, das völlig isoliert von allen anderen ist.
(VIII.101) Was „ein Kontinuum“ und „eine Gruppe“ genannt wird, wie z.B. ein Rosenkranz, eine Armee und dergleichen, sind nicht wirklich (ein auffindbares Ganzes), und da es keinen Besitzer des Leidens gibt, in wessen Verantwortung liegt es dann (als „mein“)?
Wenn ich hier auch etwas hinzufügen darf, habt ihr in Bezug auf euer Alter zweifellos auch das Leben unter dem sowjetischen System erlebt, in dem ihr gezwungen wart, im Sinne von Kollektiven zu denken. Ihr wart also Teil eines Kollektivs und wenn ihr gezwungen wart, Teil eines Kollektivs zu sein und euch auf kollektive und nicht auf eure individuellen Bedürfnisse zu beziehen, könnt ihr das natürlich nicht anderen aufzwingen; die Menschen würden sich dagegen sträuben und es ablehnen. Es ist ziemlich verständlich, dass jene, die gezwungen wurden, mit einer kollektiven Geisteshaltung zu denken, gegen diesen Punkt hier einen Widerspruch erheben. Gehen wir jedoch logisch und vernünftig diese Überlegungen durch, die wir in Shantidevas Themen finden, denken wir im Sinne einer größeren Art der sozialen Verantwortung, beruhend auf unserer eigenen Wahl und unseres eigenen Verständnisses, nicht aufgrund von etwas, das uns aufgezwungen wurde. Man kann jedoch recht gut verstehen, wie dies im Fall der Erfahrung von Ländern, die unter dem Zwang eines kollektiven Systems standen, wie Russland, China usw., dass dies problematisch ist.
Ich denke, mit Hinblick auf größere Gruppen, wie Kollektive, gibt es künstlich festgelegte und natürlich festgelegte Gruppen. Es gibt Vorurteile und Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe. In Südafrika war es beispielsweise während der Apartheid jenen mit dunkler Hautfarbe nicht erlaubt, im selben Bus mit den Weißen zu fahren oder die gleichen Toiletten, die gleichen Strände zu benutzen oder gar auf die gleichen Schulen zu gehen. Viele dieser Aspekte gab es auch im Süden der Vereinigten Staaten; die Schwarzen mussten hinten im Bus sitzen, es war ihnen nicht erlaubt, vorn zu sitzen. War unsere Hautfarbe dunkel, waren wir von dem Problem betroffen, ob es uns gefiel oder nicht. Das ist keine künstlich festgelegte, sondern eine natürlich festgelegte Gruppe, der wir natürlicherweise angehören. Ich glaube in so einer Situation ist es viel leichter, sich mit dem Problem aller Schwarzen zu befassen, besonders wenn wir selbst eine dunkle Hautfarbe haben – oder mit den Rechten der Frauen, wenn Frauen diskriminiert werden. In manchen Ländern ist es Frauen nicht erlaubt, ein Auto zu fahren; es ist ihnen nicht gestattet nach draußen zu gehen, ohne ihr Gesicht zu verhüllen. Als Frau sind wir Teil davon; dann ist es auch unser Problem und das ist eine natürlich festgelegte Gruppe. Setzen wir uns mit diesem Punkt von Shantideva auseinander, ist es meiner Meinung nach am besten, sich gedanklich auf natürlich festgelegte Gruppen oder Gesamtheiten, anstatt auf künstlich festgelegte Kollektive zu beziehen, die durch eine autoritative Regierung geschaffen wurden.
[Meditation]
Der nächste Punkt, den Shantideva macht, ist ein wunderschöner Vers, in dem er sagt:
(VIII.102) In ihrem Sein ohne einen Besitzer fehlt allen Leiden ein Unterscheidungsmerkmal: Daher müssen die (Leiden einfach) deshalb, weil sie Leiden sind, verhindert werden. Warum werden hier starre (Grenzen) gezogen?
Denken wir an ein Ganzes, an alles Leben, dann hat das Leiden, das wir alle erfahren, in der Tat keinen individuellen Besitzer. Man muss es beseitigen, weil es ganz einfach wehtut.
Hier ein ganz einfaches Beispiel, das mir gerade dazu einfällt: In dem Gebäude, in dem ich lebe, gibt es einen Behälter für Müll. Manchmal liegt irgendwo Papier auf dem Boden und das Papier muss aufgehoben werden, nicht weil es mein Papier oder dein Papier ist, was heruntergefallen ist, sondern einfach, weil es auf dem Boden liegt. Komme ich also in das Gebäude und sehe so etwas auf dem Boden liegen, hebe ich es einfach auf und werfe es in den Müll, ohne eine große Sache daraus zu machen, wer es dort hingeworfen haben könnte, einfach weil es aufgehoben werden muss.
So sollten wir diese Dinge sehen. Das Umweltproblem ist nicht mein Problem und auch nicht dein Problem – niemand ist der Eigentümer dieses Problems. Es muss jedoch beseitigt werden, weil es ganz einfach für alle schädlich ist.
[Meditation]
Der nächste Punkt, den Shantideva macht, ist eine logische Überlegung, die veranschaulicht, dass die Leiden aller abgewendet oder beseitigt werden müssen. Es heißt:
(VIII.103) „Aber warum soll das Leiden eines jeden verhindert werden?“ Nun, es ist unbestreitbar: Wenn (das Leiden irgendeines [Wesens]) abgewendet werden soll, dann muss das [Leiden] aller abgewendet werden; wenn das nicht geschieht, (dann gilt) das auch für mich, so wie für (jedes andere) begrenzte Wesen.
Das könnten wir auch etwas anders formulieren: „Gäbe es eine Person, dessen Leiden nicht beseitigt werden soll, muss keines beseitigt werden, auch nicht mein eigenes.“
Könnt ihr dem folgen? Es ist nicht so einfach. Soll das Leiden einer Person beseitigt werden, muss das Leiden aller beseitigt werden, denn wir sind alle gleich; denn wäre das nicht der Fall, müsste, wenn das Leiden einer Person nicht beseitigt wird, niemandes Leiden beseitigt werden, denn auch hierin sind wir alle gleich. Versuchen wir damit zu arbeiten. Ist unser Leiden etwas, das beseitigt werden soll, muss das Leiden aller beseitigt werden; denn wenn das Leiden aller nicht beseitigt wird, wird auch unser Leiden nicht beseitigt. Das ist vielleicht eine klarere Formulierung dieser Überlegung.
Das beruht übrigens auf dem Verständnis des Teils und des Ganzen, das von Shantideva gerade dargelegt wurde. Soll das Leiden eines Teils beseitigt werden, muss das Leiden des Ganzen beseitigt werden. Andernfalls wird das Leiden eines Teils nicht beseitigt, wenn das Leiden des Ganzen nicht beseitigt wird, besonders wenn das Teil das individuelle „Ich“ ist.
[Meditation]
Dann präsentiert Shantideva Verse, die dem ersten Entschluss hier in unserer Meditationspraxis ähneln und sich darauf beziehen, dass wir definitiv aufhören sollten, parteilich zu sein, ob wir nun parteilich im Umgang mit anderen sind – also manche als nahestehend und andere als fremd sehen – oder uns selbst und alle anderen im Sinne von nah und fern betrachten. Shantideva sagt also:
(VIII.105) Wenn das Leiden vieler durch das Leiden eines [Menschen] verschwindet, dann ist diese [Form von] Leiden etwas, das jemand mit liebevollem Mitgefühl hervorbringen würde, und zwar sowohl um seiner selbst willen als auch zum Nutzen anderer.
Wie es in anderen Bodhichitta-Lehren heißt, sind wir nur einer und alle anderen sind viel mehr als einer. Und Shantideva sagt:
(VIII.109) Obwohl man also in dieser Weise zum Wohle anderer arbeitet, gibt es keine Überheblichkeit; es gibt kein Erstaunen; es gibt [auch] kein Hoffen auf eine gereifte Wirkung (für sich selbst) wenn man sich ausschließlich danach sehnt, was anderen nützt.
Shantideva führt auch ein Beispiel an:
(VIII.116) Obwohl man also in dieser Weise zum Wohle anderer arbeitet, gibt es weder Verwunderung noch Überheblichkeit; genauso wie man auch nicht auf eine Belohnung hofft, wenn man sich selbst mit Nahrung versorgt.
Für die Hand wäre es also absurd zu denken: „wie toll ich doch bin, weil ich dem Fuß helfe, einen Dorn herauszuholen“, oder „wie toll ich doch bin, weil ich meinen Körper füttere, indem ich Nahrung in den Mund stecke.“
Das passt sehr gut zu der Aussage: „Leiden muss ganz einfach beseitigt werden, weil es wehtut“, und nicht weil es dein Leiden oder mein Leiden ist und auch nicht, weil wir derjenige sind, der es beseitigt hat oder weil du es beseitigt hast. In meinem Eingang hänge ich kein Schild mit der Beschriftung auf: „Dieses Papier, das auf dem Boden lag, wurde entfernt durch...“ mit meiner Unterschrift; das tue ich bestimmt nicht, denn das wäre albern. Ich erwarte nicht, dass sich jeder bei mir bedanken wird. Ich hebe es einfach auf, weil es aufgehoben werden muss.
[Meditation]
Ich glaube, das ist ein äußerst wichtiger Punkt, dass wir einfach deswegen helfen, weil es getan werden muss. Mein eigener Lehrer, Serkong Rinpoche, hat mir sehr geholfen, dies zu verstehen. Ich diente ihm neun Jahre in vielfacher Hinsicht als sein Übersetzer, Sekretär und Helfer, und in dieser ganzen Zeit sagte er nur zweimal „danke“ zu mir. Der eigentliche Punkt war, dass ich ihm half und alles mögliche tat, um seine Lehren für andere verfügbar zu machen, einfach weil es nützlich war und getan werden musste, und nicht, weil ich Dank bekommen und wie ein Hund auf dem Kopf gestreichelt werden wollte und dann mit dem Schwanz wedelte. Das war ausgesprochen hilfreich.
Shantideva sagt weiter:
(VIII.114) So wie die Hand und so weiter ihrem Wesen nach deshalb geliebt werden, weil es sich um die Gliedmaßen des [eigenen] Körpers handelt, warum können Lebewesen, die einen Körper haben, nicht auf gleiche Weise deshalb geliebt werden, weil sie Glieder der [in Samsara] wandernden Lebewesen sind?
Die Hand wird mit anderen Worten deshalb als lieb und kostbar angesehen, weil sie ein Teil des Körpers ist, der als „Ich“ und „mein“ bezeichnet wird. Wir bezeichnen unsere Hand als „mein“. Verletzen wir unsere Hand, sagen wir „ich habe mir wehgetan“, doch die Hand bin natürlich nicht ich. Kümmern wir uns um die Hand, als wäre sie das „Ich“, obwohl sie nicht das „Ich “ ist, können wir uns auch um die Hand eines anderen kümmern, denn sie ist ebenfalls nicht das „Ich“. Wir können uns genauso um sie kümmern, wie um unsere eigene Hand; wir könnten sie als „Ich“ betrachten. Das hilft uns zu erkennen, wie wir andere genauso sehen und uns um sie kümmern könnten, wie wir uns um uns selbst kümmern. Ihr Körper ist nicht unser „Ich“, doch unser Körper ist ebenfalls nicht das „Ich“.
Daraus schlussfolgert Shantideva:
(VIII.115) So wie aus Gewohnheit eine Haltung von „Ich“ gegenüber diesem (meinen) Körper entstanden ist, obwohl ihm ein „Ich“ fehlte, warum könnte dann nicht auch gegenüber anderen begrenzten Wesen ebenso aus Gewohnheit eine Haltung von „Ich“ entstehen?
[Meditation]
Sie haben gesagt, es sei natürlich, wenn unsere Hand einen Dorn aus unserem Fuß zieht und das stimmt. Es ist natürlich, weil es da einen Körper und unseren Geistesstrom gibt, dem wir unser „Ich“ zuschreiben; dieses „Ich“ empfindet Schmerz und aus dem Grund denkt unsere Hand nicht daran, dem Fuß nicht zu helfen. Führen wir diese Analogie jedoch weiter und sehen uns die Situation mit den Teilen und dem Ganzen an, und betrachten uns Menschen als Teile der lebenden Welt, wie verhält es sich dann?
Zunächst gehen wir im Buddhismus nie von einem universellen Geist aus, dessen Teil wir alle sind. Wir haben also alle individuelle geistige Kontinua, das ist richtig. Fragen wir jedoch, was es bedeutet etwas zu erfahren, so heißt das nicht, einfach nur Daten oder Informationen zu registrieren, zu erfassen und dann wiedergeben zu können, denn auch ein Computer ist dazu in der Lage. Ein Computer erfährt die Daten nicht. Etwas zu „erfahren“ heißt, sich mit einem Gefühl eines gewissen Ausmaßes an Glücklichsein oder Unglücklichsein darüber bewusst zu sein. Dieses Glücklichsein oder Unglücklichsein, mit dem wir eine Information mit einem der Sinne oder nur als geistige Information erfahren oder wahrnehmen, ist das Resultat von Karma. Es wird definiert – das Gefühl von Glücklichsein oder Unglücklichsein – und die Definition lautet: „es ist die Weise, in der wir das Reifen unseres Karmas erfahren“; wir erfahren es mit Glücklichsein oder Unglücklichsein. Es ist auch das, was aus dem Karma heranreift. Wir bekommen eine Art der Sinnesinformation, wir sehen etwas oder empfinden einen Schmerz, das wäre eine körperliche Empfindung und sie wird ebenfalls durch Karma hervorgerufen; sie kommt jedoch zusammen mit einem Gefühl von Glücklichsein oder Unglücklichsein, welches im Grunde von einer anderen karmischen Tendenz, normalerweise einem Potenzial, heranreifen würde.
Hier geht es jedoch darum, ob wir das Unglücklichsein im Sinne des Schmerzes eines anderen erfahren können. Das ist etwas, wozu wir in der Lage sind, doch Shantideva hat eine Reihe von verschiedenen Versen, in denen er sich mit diesem Thema befasst. Wir haben das kurz zuvor erwähnt. Er sagt: ob es sich um unser Leiden – das Leiden, das wir haben – einen Schmerz, oder den Schmerz eines anderen handelt: es ist ein Schmerz, der durch ein Klammern an ein „Ich“ auftritt, und er muss wegen dem Klammern an das „Ich“ beseitigt werden. Wir wollen es beseitigen. Handeln wir in diesem Sinne, tun wir es mit einem Klammern an ein wahrhaft begründetes, wahrhaft existierendes „Ich“, welches ein falsches „Ich“ ist, das es überhaupt nicht gibt. In diesem Sinne gibt es in Bezug auf dieses falsche „Ich“ keinen Unterschied, ob es nun die Projektion eines konventionellen „Ichs“ von uns selbst oder eines konventionellen „Ichs“ eines anderen ist. Daher würden wir daran arbeiten wollen, den Schmerz und das Unglücklichsein zu beseitigen, weil es ganz einfach auf einem falschen „Ich“ beruht.
Nun haben wir natürlich das konventionelle „Ich“, das existiert, doch das, was bezeichnet wird (nämlich das „Ich“) ist nicht identisch mit der Grundlage und die Grundlage wäre, wie du sagtest, der Körper, doch das „Ich“ ist nicht der Körper. Shantideva sagt, dass wir diesen Körper haben, doch sogar innerhalb unseres Lebens ist der Körper des Säuglings und der Körper des alten Mannes oder der alten Frau nicht der gleiche Körper. Wir können daran arbeiten, das Unglücklichsein all dieser verschiedenen Arten von Körpern während eines Lebens zu beseitigen – und dann bezieht er sich auch auf Körper anderer Leben – doch keiner von ihnen ist das „Ich“. Wir würden daran arbeiten, den Schmerz zu beseitigen, der mit jedem dieser Körper verbunden ist. Doch dann könnten wir auch daran arbeiten, den Schmerz zu beseitigen, der mit irgendeinem anderen Körper verbunden ist und wir könnten das Unglücklichsein erfahren, das mit dem Schmerz eines Körpers verbunden ist, der nicht das „Ich“ ist: also den Schmerz irgendeines Körpers oder den Körper von jemandem – entweder den eines Säuglings in unserem eigenen Geisteskontinuum, den Körper eines alten Mannes oder einer alten Frau, den Körper eines zukünftigen Lebens, den Körper eines früheren Lebens oder den Körper eines anderen, der mit einem anderen Geisteskontinuum verbunden ist. Die Hand erfährt nicht den Schmerz des Fußes, doch beide bilden eine Ganzes und auf der Grundlage des Ganzen arbeiten wir daran, den Schmerz zu beseitigen. Ein Teil hilft also dem anderen Teil des Ganzen und das „Ich“ ist diesem ganzen Ding zugeschrieben.
Wir können uns auf ein größeres Ganzes der gesamten Menschheit oder des gesamten Lebens beziehen und auch wenn wir das „Ich“ dem Ganzen nicht im Sinne eines wahrhaft existierenden „Ichs“ zuschreiben – das wäre eher eine hinduistische Sichtweise – sind wir dennoch Teil dieses Ganzen und daher kann ein Teil einem anderen Teil helfen. Es ist ein Unterschied, ob wir sagen: „ich bin ein Mensch“ oder „ich bin die gesamte Menschheit“ oder „ich bin ein Tibeter“ oder „ich bin alle Tibeter“. Das ist ganz offensichtlich ein schwieriges Thema und eine schwierige Frage, was das falsche „Ich“, das konventionelle „Ich“, betrifft und was es bedeutet, etwas zu erfahren usw.