Die Effizienz des allgemeinen Tantra: Gelug

Methodik 

Tantra ist bekannt dafür, eine schnellere und effizientere Methode für das Erlangen der Erleuchtung zu sein, als Sutra. Um eine Wertschätzung für Tantra haben und es auf realistische Weise mit vollem Enthusiasmus praktizieren zu können, ist es wichtig zu wissen, was Tantra so besonders macht. Wir können dies auf mehreren Ebenen, abhängig von der Tantra-Klasse und dem spezifischen Tantra, diskutieren. Lasst uns hier jedoch nur auf drei Ebenen eingehen: 

  1. Tantra im Allgemeinen - bezieht sich auf alle vier Tantra-Klassen;
  2. Anuttarayoga-Tantra im Allgemeinen – bezieht sich auf die wichtigsten Anuttarayoga-Tantras, wie Guhyasamaja; und
  3. Kalachakra-Tantra.

Auf jeder Ebene werden wir vier Gründe für dessen größere Schnelligkeit analysieren. 

  1. Es gibt engere Analogien innerhalb der Praxis.
  2. Es gibt eine engere Verbindung von Methode und Weisheit.
  3. Es gibt eine besondere Basis für Leerheit, die benutzt wird, um das Verständnis der Leerheit zu erlangen.
  4. Es gibt eine besondere Ebene der geistigen Aktivität, die benutzt wird, um Leerheit wahrzunehmen.

Als Grundlage werden wir die Gelug-Darstellung der Thematik benutzen, wie man sie in dem Werk „Eine umfassende Darstellung der Stufen des Geheimen Mantra (tib. sNgags-rim chen-mo) des Meisters Tsongkhapa (tib. Tsong-kha-pa Blo-bzang grags-pa) aus dem 14. Jahrhundert finden kann. Die Untersuchung in vier Punkten wurde von den vordergründigen Punkten in seinem Text abgeleitet, obgleich Tsongkhapa selbst seine Darlegung nicht auf diese Weise angeordnet hat. Ergänzend werden wir auf die Erklärungen hinweisen, die in den Nicht-Gelug-Systemen – Sakya, Kagyü und Nyingma – gegeben werden, wenn es bedeutende Abweichungen gibt. 

(1) Engere Analogien 

Die Praktiken im Bodhisattva-Sutra und allgemeinen Tantra wirken als Ursachen dafür, das Ziel der Erleuchtung mit dem Erlangen der physischen Körper (Skt.  rupakaya, Formkörper) und der allwissenden all-gütigen geistigen Aktivität (Skt. dharmakaya) eines Buddhas zu erreichen. Die kausalen Praktiken ähneln in beiden dem Ziel jedoch in unterschiedlichem Maße. 

Im Sutra

In den Bodhisattva-Sutras werden die zwei erleuchtungsbildenden Netzwerke (tib. tshogs-gnyis, die zwei Ansammlungen) als Ursachen für das Erlangen des Körpers und Geistes eines Buddhas dargelegt. Dies sind die Netzwerke positiver Kraft (tib. bsod-nams, Skt. punya, Verdienst, positives Potenzial) und tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes, Skt. jnana, Weisheit, Erkenntnis). Jedes ist in dem Sinne ein „Netzwerk“, dass dessen Bestandteile miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen, anstatt nur als Mitglieder einer passiven Ansammlung zusammenzukommen. 

Wir bauen die zwei erleuchtungsbildenden Netzwerke ausschließlich mit einer vorangehenden Bodhichitta-Motivation und einer nachfolgenden Widmung der Erleuchtung auf. Ansonsten bilden unsere konstruktiven (tib. dge-ba, tugendhaften) Handlungen und Meditationen über die Natur der Wirklichkeit nur samsarabildende Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins. Solche Netzwerke dienen lediglich als Ursachen zum Erlangen eines Körpers und Geistes in einem der besseren Wiedergeburtszustände. 

Die minimale Ebene von Bodhichitta, die notwendig ist, damit unsere konstruktiven Handlungen und Meditationen erleuchtungsbildende Netzwerke bilden, ist ein mühevoller (tib. tsol-bcas) Zustand, der erreicht wird, indem man sich auf eine Ketten von Argumenten stützt. Mit dem Erlangen von mühelosem (tib. rtsol-med) Bodhichitta, welches ohne solch eine Stütze entsteht, werden wir „Bodhisattvas“. 

Ein umfangreiches erleuchtungsbildendes Netzwerk positiver Kraft dient als die herbeiführende Ursache (tib. nyer-len-gyi rgyu) für die Körper eines Buddhas. Eine „herbeiführende Ursache“ ist das Element, von dem wir das Resultat erhalten. Es wirkt als die Ursprungsquelle (tib. rdzas, Ursprungssubstanz), welche das Resultat als ihre Nachfolge hervorruft. Wenn das Resultat in Erscheinung tritt, hört die herbeiführende Ursache gleichzeitig auf zu existieren. Ein Same ist beispielsweise die herbeiführende Ursache eines Keimlings. Herbeiführende Ursachen und deren Resultate müssen jedoch nicht Formen physischer Phänomene sein. Das heutige Verständnis eines Dharma-Punktes ist beispielsweise die herbeiführende Ursache, die zu dessen morgigen Verständnis führt. 

Herbeiführende Ursachen benötigen gleichzeitig wirkende Bedingungen (tib. lhan-cig byed-rkyen), um ihre Resultate hervorzubringen. Hier erfordert ein erleuchtungsbildendes Netzwerk positiven Potenzials als eine gleichzeitig wirkende Bedingung ein umfangreiches erleuchtungsbildendes Netzwerk tiefen Gewahrseins. In ähnlicher Weise erfordert ein umfangreiches erleuchtungsbildendes Netzwerk tiefen Gewahrseins als die herbeiführende Ursache für den Geist eines Buddhas ein weitreichendes erleuchtungsbildendes Netzwerk positiver Kraft als dessen gleichzeitig wirkende Bedingung. Das Paar dieser erleuchtungsbildenden Netzwerke wird benötigt, um einen dieser zwei, den Körper oder Geist eines Buddhas, zu erlangen. 

[Für ausführlichere Erklärungen, siehe: Logische Durchdringungen zwischen Objekten]

Obgleich die Ursache der Sutra-Ebene für die Erleuchtung ein wenig ihren Resultaten nahekommt, ist sie ihnen doch nicht so ähnlich. So verfügt der physische Körper eines Buddhas über zweiunddreißig Hauptmerkmale, die auf ihre Ursachen hindeuten. Die lange Zunge eines Buddhas ist beispielsweise ein Hinweis und eine Repräsentation der Art der Liebe, mit der er oder sie sich in früheren Leben als ein Bodhisattva wie die Mutter von Tieren sich um ihre Jungen gekümmert hat, indem es sie ableckte. Ausschließlich mit solchen Ursachen zu arbeiten, erfordert drei Zillionen (unzählige) Zeitalter, um das Ziel zu erreichen. 

Allgemeines Tantra als Ergebnisfahrzeug

Im allgemeinen Tantra sind die herbeiführenden Ursachen zum Erlangen des erleuchtenden Körpers und Geistes eines Buddha analoger zu den Resultaten, die wir erreichen wollen. Wir praktizieren jetzt, als hätten wir unsere Ziele bereits erreicht. Wegen diesem Merkmal ist Tantra als das „Ergebnisfahrzeug“ effizienter für das Erlangen der Erleuchtung. 

Die Tantra-Praxis ähnelt einer Generalprobe. Wollen wir in einem Ballett tanzen, müssen wir zunächst die Ballettschule besuchen und Tanzen lernen. Die herbeiführende Ursache, die jedoch als Ursprungsquelle wirkt, welche die eigentliche Durchführung als deren unmittelbare Nachfolge hervorbringt, ist die Generalprobe des Balletts. Wollen wir also Tantra praktizieren, müssen wir zunächst das Wesentliche des Sutra lernen und entwickeln. Die darauffolgende Tantra-Praxis ist dann wie die Generalprobe, um die wesentlichen Dinge miteinander zu verbinden, und uns als dessen unmittelbare Nachfolge zur Erleuchtung zu führen. 

In allen Tantra-Klassen simulieren wir die vier gereinigten Faktoren (tib. rnam-par dag-pa bzhi), über die wir als Buddhas verfügen werden. Sie sind von allen Leiden und den Ursachen des Leidens in dem Sinne gereinigt, dass sie in unserer Erfahrung entstehen, wenn wir eine wahre Beendigung (tib. ‘gog-bden) von beiden erlangt haben. Diese vier sind:

  1. gereinigte Körper
  2. gereinigte Umgebungen
  3. gereinigte Arten des Erfahrens von Sinnesobjekten mit Freude (tib. longs-spyod)
  4. gereinigte Handlungen.

Wir tun dies, indem wir uns vorstellen, jetzt über alle vier Faktoren zu verfügen. Unsere Vorstellungskraft (tib. dmigs-pa) auf diese Weise zu benutzen, wirkt als Ursache dafür, die vier gereinigten Faktoren schneller zu erlangen. Die meisten Übersetzer nennen diesen Vorgang „Visualisierung“. Der Begriff ist jedoch etwas irreführend, da der Vorgang nicht rein visuell ist. Er umfasst die gesamte Bandbreite unserer Vorstellungskraft – das Sehen, Hören, Schmecken, körperliche Empfindungen, Gefühle, Emotionen, Handlungen usw. Tantra nutzt die Kraft der Vorstellung – ein äußerst leistungsstarkes Werkzeug, über das wir alle verfügen. 

Gereinigte Körper

Im Tantra stellen wir uns vor, gereinigte Körper, wie jene von Buddha-Gestalten zu haben – die zahlreichen Formen, in denen ein erleuchtender Körper erscheinen kann. Wie die Etymologie von „Yi-dam“, dem tibetischen Wort für Buddha-Gestalt andeutet, „binden wir unseren Geist eng“ in unserer täglichen Praxis an sie, um Erleuchtung zu erlangen. Somit stellen wir uns unsere Körper als durchsichtig und aus Licht bestehend vor, die in der Lage sind, sich in zahllose Ebenbilder zu multiplizieren, alle mit der grenzenlosen Energie und den Fähigkeiten eines Buddhas. 

Darüber hinaus visualisieren wir uns nicht nur während den Meditationssitzungen als Buddha-Gestalten, sondern versuchen die Vergegenwärtigung (tib. dran-pa) darauf den gesamten Tag aufrechtzuerhalten. Die Vergegenwärtigung ist ein Nebengewahrsein (tib. sems-byung, Geistesfaktor), das die Wahrnehmung von etwas begleitet. Wie ein „geistiger Klebstoff“ verhindert es, dass unsere Aufmerksamkeit vom Objekt abschweift. 

Mit Vergegenwärtigung bewahren wir sowohl die Klarheit (tib. gsal-ba) und das Selbstwertgefühl oder die Würde (tib. nga-rgyal, Stolz) der Buddha-Gestalt. „Klarheit“ ist die geistige Aktivität, die kognitive Erscheinung der Buddha-Gestalt, ungeachtet der Ebene der Klarheit aller Einzelheiten oder des Fokus, zu erzeugen. „Selbstwertgefühl“ ist die geistige Aktivität, das „Ich“ der Kontinuität der Erscheinung der Gestalt zuzuschreiben und das Gefühl zu haben, dies tatsächlich zu sein. 

Tsongkhapa betonte, das Bewahren der Vergegenwärtigung des Selbstwertgefühls in Bezug auf die Gestalt sei zunächst wichtiger, als zu versuchen, sich über die Einzelheiten klar zu werden und all die Details zu vergegenwärtigen. Zu Beginn ist es lediglich notwendig, eine ungefähre Klarheit der Visualisierung zu erreichen, die als Grundlage für die Bezeichnung (tib. gdags-gzhi) des „Ichs“ dient. 

Tantrische Transformation des Selbstbildes

Während wir uns als Buddha-Gestalten visualisieren, stellen wir uns auch vor, Selbstbilder zu haben, die mit diesen Gestalten verbunden sind. Viele Menschen haben negative Selbstbilder, wie nicht gut genug zu sein oder es nicht verdient zu haben, glücklich zu sein oder geliebt zu werden. Im Gegensatz zu solchen negativen Selbstbildern setzen Buddha-Gestalten positive Selbstbilder voraus. 

Im Buddhismus bedeuten „negativ“ und „positiv“ nicht schlecht und gut, sondern destruktiv und konstruktiv. „Destruktiv“ bezieht sich auf das Heranreifen von Problemen und Leiden in diesem und zukünftigen Leben durch den Vorgang, ein Vermächtnis (tib. sa-bon, Same, Tendenz) und eine Gewohnheit (tib. bag-chags, Instinkt) in unserem Geisteskontinuum zu hinterlassen. „Konstruktiv“ bedeutet das Heranreifen von Glück durch einen ähnlichen Vorgang. 

Die Praxis mit Buddha-Gestalten ähnelt in gewisser Weise einer Art „geistigem Judo“, durch das wir mit den Tendenzen unseres Geistes arbeiten, um Selbstbilder zu erzeugen. Anstatt also negative Selbstbilder zu erzeugen, projizieren wir positive. Jede Buddha-Gestalt wird mit einem positiven Selbstbild in Zusammenhang gebracht. So repräsentiert Avalokiteshvara eine herzliche, liebevolle und mitfühlende Person, und Manjushri (tib. ‘Jam-dpal dbyangs) jemanden mit klarem Verstand und der Fähigkeit, alles zu verstehen. Entsprechend unserer Veranlagung und unserer Bedürfnisse üben wir mit der einen oder anderen Gestalt, um ein bestimmtes positives Selbstbild hervorzuheben. 

Darüber hinaus repräsentiert jede Buddha-Gestalt nicht nur einen bestimmten Aspekt eines voll-erleuchteten Wesens, sondern auch die Gesamtheit eines erleuchteten Zustands. Somit ist die Praxis nur einer Buddha-Gestalt ausreichend, um Erleuchtung zu erlangen. Die meisten Praktizierenden arbeiten jedoch mit einer Vielzahl von Buddha-Gestalten, um die Vorteile der besonderen Merkmale eines jeden zu erlangen. 

Die tantrische Methode des Transformierens unserer Selbstbilder nutzt nicht einfach nur „die Kraft des positiven Denkens“. Die Veränderung des Selbstbildes ergibt sich aus dem Verständnis der Faktoren der Buddha-Natur sowie der Leerheit von uns selbst, dieser Faktoren und all der Selbstbilder, die wir haben mögen. 

Die Leerheit von Selbstbildern

Vom Gesichtspunkt unserer Buddha-Naturen haben wir alle das Potenzial dafür, selbst Buddhas zu werden, wie es die Selbstbilder der Buddha-Gestalten repräsentieren. Außerdem sind negative und positive Selbstbilder gleichermaßen frei von unmöglichen Existenzweisen, wie auch wir und unsere Potenziale. Diese unmögliche Weise bezieht sich auf wahre Existenz (tib. bden-grub, wahrhaft begründete Existenz). 

Laut den Prasangika-Madhyamaka-Theorien bezieht sich „wahre Existenz“ auf eine Existenz, welche durch die Kraft von etwas auf Seiten eines Phänomens und nicht nur durch geistiges Bezeichnen allein begründet wird. Wahrhaft begründete Existenz entspricht somit einer Existenz, welche durch die Selbstnatur (tib. rang-bzhin-gyis grub-pa, inhärente Existenz) begründet ist. Wenn also die oberflächliche Wahrheit von etwas mit gültiger Wahrnehmung genauestens untersucht wird, findet man auf Seiten der untersuchten Phänomene das „Bezugs-Ding“ (tib. btags-don), das dem Namen oder der Bezeichnung für das Phänomen entspricht. Man kann auch sagen, dass die Existenz von Phänomenen durch individuell definierende charakteristische Merkmale (tib. rang-mtshan-gyis grub-pa) begründet wird, die auf Seiten der Phänomene zu finden sind. 

So mögen wir zum Beispiel das Gefühl haben, es gäbe in uns etwas inhärent Gutes oder Schlechtes, was uns aus eigener Kraft zu guten oder schlechten Menschen macht. Wir und alle Selbstbilder, die wir haben mögen, sind gleichermaßen frei davon, auf diese Weise zu existieren, denn so etwas wie wahrhaft begründete Existenz gibt es nicht – es ist in Bezug auf alles eine unmögliche Existenzweise. 

Ferner ist alles frei von den vier extremen Weisen der unmöglichen Existenz: 

  1. wahre Existenz – die eternalistische Position
  2. völlige Nichtexistenz – die nihilistische Position
  3. beides – von einer Sichtweise eternalistisch, von der anderen nihilistisch
  4. keines – von einer Sichtweise eine Existenzweise, die nicht eternalistisch ist; von einer anderen Sichtweise, eine, die auch nicht nihilistisch ist.

Fragen wir, wie Selbstbilder tatsächlich existieren, ist alles, was wir gemäß der einzigartigen Gelug-Prasangika-Sicht sagen können, dass Selbstbilder konventionell (tib. tha-snyad) existieren, doch nur aufgrund von geistigem Bezeichnen oder Zuschreiben (tib. btags-pa ‘dog-tsam-gyis grub-pa). Genauer gesagt existieren sie bloß als das, worauf sich die Worte und Konzepte dafür (tib. btags-chos) beziehen, lediglich basierend darauf, sie einer gültigen Grundlage der Zuschreibung (tib. gdags-gzhi) zuzuschreiben. So etwas, wie Faktoren der Buddha-Natur oder Selbstbilder, die sie repräsentieren, die in uns zu finden sind und die uns, aus eigener Kraft oder durch unser Denken an sie, zu guten Menschen machen, gibt es nicht. Dennoch können wir sie, basierend auf unserer Erfahrung, gültig unserem Geisteskontinuum zuschreiben. 

Genauso können wir gültige negative Potenziale und negative Selbstbilder aufgrund der Erfahrungen unserem Geisteskontinuum zuschreiben. Allerdings sind negative Aspekte auf flüchtige Makel (tib. glo-bur-gyi dri-ma) zurückzuführen, die unsere Buddha-Natur vorübergehend verschleiern, wie Verwirrung darüber, wie wir, andere und alles um uns herum existiert. Die flüchtigen Makel können mit korrektem Verständnis der Wirklichkeit, insbesondere mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit, entfernt werden. Auf der anderen Seite dauern die Kontinuitäten unserer Buddha-Natur ohne Anfang und Ende für immer an. Daher können positive Selbstbilder negative dauerhaft ersetzen. 

Buddha lehrte, diese Punkte nicht auf der Basis blinden Glaubens zu akzeptieren. Korrektes Verständnis der Wirklichkeit, erhärtet durch gültige schlussfolgernde Wahrnehmung (tib. rjes-dpag tshad-ma) und gültige einfache Wahrnehmung (tib. mngon-sum tshad-ma), stützt diese Wahrheiten und beseitigt den Irrglaube, negative Eigenschaften wären unsere wahre Natur. Somit ist ein tieferes Verständnis der vier edlen Wahrheiten (vier Wahrheiten des Lebens) – wahre Probleme, deren wahre Ursachen, deren wahre Beendigungen und die wahren Pfade des Geistes, die sie bewirken – wesentlich für eine korrekte tantrische Transformation des Selbstbildes. 

Im Kontext unserer Darlegung können wir die vier edlen Wahrheiten folgendermaßen formulieren: 

  1. unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt ist das wahre Problem;
  2. der Glaube an wahrhaft existierende Selbstbilder, beruhend auf Verwirrung hinsichtlich der Realität, ist die wahre Ursache;
  3. das dauerhafte Beseitigen dieser flüchtigen Makel von unserer Buddha-Natur ist eine wahre Beendigung; und
  4. nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit und unserer Buddha-Natur ist der wahre Pfad des Geistes.

Mantras

Jede Buddha-Gestalt hat auch einen oder mehrere mit ihr verbundene Mantras. Mantras sind eine Gruppe von Silben und oft zusätzlichen Sanskrit-Worten und Phrasen, die alle erleuchtende Rede repräsentieren. Während wir die Mantras einer Buddha-Gestalt wiederholen, stellen wir uns vor die Fähigkeiten zu besitzen, allen die vollständigen Methoden zum Beseitigen von Leiden und dem Erlangen der Erleuchtung zu vermitteln. 

Mantras haben auch einen Einfluss auf unsere Atmung, und somit unsere subtilen Energiewinde, und befähigen uns die Winde unter Kontrolle zu bringen, um sie für die Meditationspraxis nutzen zu können. Aus westlicher Sicht haben sie bestimmte Schwingungsfrequenzen, die unsere Energien und demzufolge unsere Geisteszustände beeinflussen. 

Gereinigte Umgebungen – Mandalas

Wir stellen uns auch vor, die gereinigten Umgebungen der Buddha-Gestalten zu besitzen und Mandalas repräsentieren solche Umgebungen. Es gibt dreidimensionale Paläste mit Buddha-Gestalten in ihrem Zentrum und häufig vielen sie umgebenden sekundären Figuren – manche männlich, andere weiblich, einige allein und manche als Paare. Zweidimensionale Darstellungen von Mandalas, ob auf Stoff gemalt oder aus farbigem Pulver gestreut, sind wie Architekturentwürfe dieser Paläste. 

Wir stellen uns vor, nicht nur die zentrale Gestalt, sondern alle Buddha-Gestalten des Mandalas zu sein. Außerdem stellen wir uns bildhaft vollständige gereinigte Länder (tib. dag-zhing) vor, welche die Paläste umgeben, in denen alles förderlich für das Erlangen der Erleuchtung durch die Tantra-Praxis ist. 

Gereinigte Arten der Freude

Darüber hinaus stellen wir uns vor, wir wären in der Lage, Sinnesobjekte mit Freude zu erfahren, wie Buddhas es tun, also unbefleckt von jeglicher Verwirrung (tib. zag-med-kyi bde-ba, unbeflecktes Glück). Für gewöhnlich erfahren wir Dinge mit Verwirrung befleckt. Hören wir zu Hause Musik, sind wir vielleicht in der Lage sie zu genießen, ohne uns darüber zu ärgern, dass unsere Anlage nicht so gut wie die des Nachbarn ist. Vielleicht mögen wir gutes Essen und sind gierig nach mehr, wenn es etwas Köstliches gibt. 

Leiden wir unter niedrigem Selbstwertgefühl, mögen wir das Gefühl haben, es nicht zu verdienen glücklich zu sein oder nicht würdig genug sind, Zuneigung oder etwas Schönes von anderen zu bekommen. Sogar wenn andere uns etwas von hoher Qualität geben, haben wir vielleicht das Gefühl, sie meinen es nicht ernst oder würden uns nur bevormunden. Andersherum kann es sein, dass wir uns emotional betäuben, damit wir außer drastischen Sinneserfahrungen nichts fühlen. Im Extremfall mögen wir sogar meinen, man würde uns etwas Schönes wegnehmen, wenn wir es genießen – wie einem Hund den Knochen – und würden bestraft werden. 

Sind wir Buddhas, können wir jedoch alles ohne derlei Verwirrung genießen. Im Tantra stellen wir uns dann mit dem hohen Selbstwertgefühl und der Würde einer Buddha-Gestalt vor, dass wir in der Lage sind, uns an Dingen auf reine Art und Weise zu erfreuen. Wir tun dies beispielsweise, wenn wir die Opfergaben empfangen, die wir uns selbst in den tantrischen Ritualen (tib. bdag-bskyed mchod-pa) darbringen. 

In allen tibetischen Traditionen des Tantra werden indessen den Buddhas und allen begrenzten Wesen Opfergaben dargebracht. Wenn wir dies tun, stellen wir uns vor ihnen gereinigtes Glück zu schenken, ohne diesbezügliche Gefühle der Verwirrung. Geben wir anderen etwas, ist es oft so, dass wir das Gefühl haben, es war vielleicht nicht angemessen oder die anderen haben sich nicht wirklich darüber gefreut. Unsere negativen Geisteshaltungen verstärken unser niedriges Selbstwertgefühl und danach bereuen wir eventuell sogar, etwas gegeben zu haben. Im Tantra stellen wir uns hingegen vor, die bestmöglichen Dinge zu geben und haben das Gefühl, dass die Empfänger gereinigte Freude genießen. Das verstärkt das positive Selbstbild und das hohe Selbstwertgefühl eine Buddha-Gestalt zu sein, die in der Lage ist, die Wünsche nach Glück von allen zu erfüllen. Um Geiz entgegenzuwirken, stellen wir uns vor, über eine unbegrenzte Menge an Opfergaben zu verfügen, die niemals ausgehen. Nachdem wir Opfergaben dargebracht haben, freuen wir uns und sind ohne jegliche Verwirrung oder Zweifel glücklich darüber. 

Ob wir nun den Buddhas, allen begrenzten Wesen oder uns selbst Opfergaben darbringen, ist es notwendig, die Leerheit von allem und jedem Beteiligten zu verstehen. Mit anderen Worten verstehen wir, dass der Geber, die Empfänger, die Objekte, die Handlungen des Genießens und das empfundene Glück frei davon sind, auf unmögliche Weise zu existieren. Somit machen wir keine große Sache aus unserem Glücklichsein oder dem Glück der anderen und bauschen es nicht künstlich auf. Wir erleben es nicht auf dualistische Weise und hängen auch nicht daran. Solche Übungen schulen uns, uns mit glückseligem Gewahrsein auf die Leerheit zu fokussieren, ohne dass Glück und Verständnis außer Harmonie geraten. 

Gereinigte Handlungen

Wir stellen uns auch vor, wir wären in der Lage wie Buddhas zu handeln. Buddhas sind aktiv, indem sie einen erleuchtenden Einfluss (tib. ‘phrin-las, Buddha-Aktivität) auf andere ausüben. Das erfordert von ihrer Seite keine bewusste Bemühung. Durch die Weise, wie die Buddhas sind, verwirklichen sie ganz spontan alle Ziele (tib. lhun-grub) in dem Sinne, dass sie alle inspirieren (tib. byin-rlabs, segnen), die für ihre Hilfe empfänglich sind. Das funktioniert ähnlich wie Charisma. 

Buddhas üben vier allgemeine Arten von erleuchtendem Einfluss aus: 

  1. andere um sie herum zu beruhigen und zu befrieden (tib. zhi, Befriedung);
  2. andere zum Wachstum anzuregen, klarer im Geist und herzlicher zu sein, sowie sich in positiven Handlungen zu üben und so weiter (rgyas, Steigern);
  3. auf andere Macht auszuüben, damit sie eine positive Richtung einschlagen, sich vereinen und aus eigener innerer Kraft stark (tib. dbang, Stärke) werden; sowie
  4. gefährliche Situationen zu unterbinden, in denen Wesen sich selbst verletzen oder von anderen verletzt werden (tib. drag-pa, zornvoll). Die kraftvollen (zornvollen) Buddha-Gestalten, die von Flammen umgeben sind, repräsentieren diese letzte Art des erleuchtenden Einflusses.

Während wir uns selbst mit Körpern von Buddha-Gestalten in den gereinigten Umgebungen von Mandala-Palästen visualisieren und Mantras wiederholen, stellen wir uns vor, dass wir Lichtstrahlen und winzige Gestalten aussenden und andere in den vier Weisen beeinflussen. Wir tun dies mit einem Leerheitsverständnis von uns selbst, von jenen, die wir beeinflussen, von unseren Handlungen des Einflusses und dem Einfluss, den wir ausüben. Nichts von dem existiert auf unmögliche Weise. Somit wirken wir dem niedrigen Selbstwertgefühl entgegen, mit dem wir uns unbrauchbar und kraftlos fühlen, ohne unser Ego aufzublasen. 

Mudras, Mantras und Samadhis

Jede Buddha-Gestalt repräsentiert den Körper, die Rede und den Geist eines Buddhas sowie die Untrennbarkeit von den dreien. Visualisieren wir uns als Buddha-Gestalten, die Handlungen ausführen, wie Opfergaben darzubringen, tun wir daher auch gleichzeitig etwas auf der körperlichen, verbalen und geistigen Ebene mit unseren gewöhnlichen Körpern, um die drei zu integrieren. 

  1. Mit unseren Körpern machen wir für jede Handlung ein bestimmtes Mudra (tib. phyag-rgya). Ein „Mudra“ ist eine Handgeste, die oft mit komplexen, ineinander verschlungenen Fingern verbunden ist.
  2. Mit unserer Rede rezitieren wir laut ein bestimmtes Mantra für jede Handlung. Das Mantra ist für gewöhnlich eine Sanskrit-Phrase oder ein Satz mit besonderen Silben, die am Anfang oder Ende hinzugefügt werden, wie OM für den Körper, AH für die Rede und HUM für den Geist.
  3. Mit unserem Geist fokussieren wir uns in einem spezifischen Samadhi (tib. ting-nge-‘dzin) für jede Handlung. Ein Samadhi ist ein Zustand völliger Vertiefung, mit voller Konzentration auf ein Objekt oder auf einen Geisteszustand. Die Handlung kann verbunden sein mit einem Samadhi über:

    • eine Visualisierung, wie das Darbringen von Blumen;
    • eine Repräsentation der Visualisierung, wie Blumen, welche die Darbringung unseres Wissens zum Nutzen aller repräsentieren; oder
    • ein Verständnis, wie die Unerschöpflichkeit der Objekte, die wir darbringen, oder dessen Leerheit.

Gültigkeit der Methode

Wir könnten fragen, ob es sich dabei nicht um eine Lüge oder eine verzerrte Wahrnehmung (tib. log-shes) handelt, wenn wir meinen, Buddhas zu sein, obwohl wir es in Wahrheit nicht sind. Es ist jedoch keine Selbsttäuschung, denn alle Wesen verfügen im Innern über die vollständige Ansammlung der Faktoren, die es ihnen erlauben, Buddhas zu werden; mit anderen Worten besitzt jeder die Buddha-Natur. Wir alle haben die gleiche Realität des Geistes, sowie die geistige Aktivität, gleichzeitig kognitive Erscheinungen (tib. gsal-rig, Klarheit und Gewahrsein) zu erzeugen und wahrzunehmen. Wir alle haben ein bestimmtes Maß an positiver Kraft und tiefen Gewahrseins, welche, wenn sie ordnungsgemäß gewidmet werden, uns ermöglichen, Beschränkungen zu überwinden und unsere Potenziale zu erkennen, um Buddhaschaft zu erlangen und anderen effektiv von Nutzen sein zu können. 

Daher denken wir als Praktizierende des Tantra nur „ich bin ein Buddha“, wenn wir uns völlig bewusst darüber sind, noch nicht erleuchtet zu sein, und sind nicht überheblich, indem wir uns für allwissend halten und denken, den besten Rat für alle Wesen im Universum zu haben, wie sie ihre momentanen spezifischen Schwierigkeiten überwinden können. Vielmehr bezeichnen wir das „Ich“ als einen Buddha der zukünftigen Kontinuitäten unseres Geisteskontinuums. 

Genauer gesagt haben wir als qualifizierte Praktizierende des Tantra bereits:

  • ein korrektes Verständnis darüber, (1) was Erleuchtung ist, (2) welches die Faktoren der Buddha-Natur sind, die sie ermöglichen, und (3) wie diese Faktoren, die Erleuchtung und wie wir existieren;
  • eine feste Überzeugung davon, dass wir in diesem Augenblick die vollständigen Faktoren der Buddha-Natur in uns haben;
  • eine feste Überzeugung auf der Grundlage des Verständnisses der vier edlen Wahrheiten und der Leerheit, dass nicht nur die Erleuchtung sondern auch unsere eigene Erleuchtung möglich ist; 
  • ein korrektes Verständnis und eine feste Überzeugung von den vollständigen Methoden des Tantra zum Erlangen dieser Erleuchtung;
  • eine unerschütterliche Bodhichitta-Motivation und einen Entschluss, allen Wesen so viel wie möglich von Nutzen zu sein, und um dies umzusetzen, Erleuchtung durch diese Methoden zu erlangen; 
  • unsere Faktoren der Buddha-Natur aktiviert, indem wir eine tantrische Ermächtigung von einem qualifizierten tantrischen Meister auf ordnungsgemäße Weise empfangen haben;
  • eine gesunde Beziehung zu diesem tantrischen Meister, der eine Quelle stetiger Inspiration und eine verlässliche Orientierung für uns ist, dem Pfad des Tantra korrekt zu folgen; sowie
  • einen festen Entschluss, die Gelübde, die wir während der Ermächtigung genommen haben, so rein wie möglich zu halten.

Fehlt uns eine dieser unabdingbaren Grundvoraussetzungen, ist unsere tantrische Praxis, sich selbst als Buddha-Gestalten zu visualisieren, nicht nur verfälscht, sondern kann auch psychologisch und spirituell gefährlich sein. Verfügen wir jedoch über den vollständigen Satz voraussetzender Geisteszustände, können wir uns beruhend darauf, dass sich die zukünftigen Kontinuitäten unserer Faktoren der Buddha-Natur in diese erleuchteten Wesen entwickeln, jetzt gültig als Buddhas bezeichnen. Somit nutzen wir geistiges Bezeichnen als eine Methode, um Erleuchtung zu erlangen, ohne uns selbst etwas vorzumachen, sie bereits erlangt zu haben. 

Vielzahl von Körperteilen und Gesichtern

Manche Menschen finden es schwierig, einen Bezug zu den vielen Armen, Gesichtern und Beinen herzustellen, die manche Buddha-Gestalten besitzen. Diese Merkmale haben jedoch zahlreiche Ebenen der Bedeutung und Symbolik. 

Versuchen wir uns zum Beispiel über vierundzwanzig Dinge gleichzeitig auf abstrakte Weise bewusst zu sein, mag das recht schwierig sein. Stellen wir uns jedoch vor, vierundzwanzig Arme zu haben, von denen jeder eines dieser Dinge repräsentiert, ermöglicht uns die grafische Darstellung, uns viel einfacher über diese vierundzwanzig Dinge gleichzeitig bewusst zu sein. 

Da die Arme, Gesichter und Beine nicht nur eine, sondern viele Ebenen der Symbolik haben, hilft uns der Vorgang der Vorstellung, eine vielgesichtige Buddha-Gestalt mit zahlreichen Armen und Beinen zu sein, das Objektiv unseres Geistes zu öffnen. Indem er uns hilft, uns über viele Dinge gleichzeitig bewusst zu sein, dient er als eine Ursache dafür, das allwissende, all-gütige Gewahrsein (tib. rnam-mkhyen) eines Buddhas zu entwickeln. 

(2) Engere Vereinigung von Methode und Weisheit 

Im Sutra

Auf der Sutra-Ebene ist die Methode konventionelles Bodhichitta, und Weisheit ist unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit. Das sind die Grundlagen zum Stärken und Erweitern der erleuchtungsbildenden Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins, die herbeiführenden Ursachen zum Erlangen des Körpers und Geistes eines Buddhas. 

Konventionelles Bodhichitta richtet sich auf unsere zukünftige Erleuchtung mit den zwei begleitenden Absichten (tib. ‘dun-pa): diese Erleuchtung zu erlangen und allen Wesen dadurch von Nutzen zu sein. Unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit richtet sich auf eine absolute Abwesenheit (tib. med-dgag, nichtimplizierende Negierung) wahrer Existenz, mit dem Verständnis, dass es keine solche Existenzweise gibt. Keine Existenz und keine konventionelle Identität wird durch die Kraft irgendwelcher definierenden charakteristischen Merkmale begründet, die inhärent in ihnen auffindbar sind. Somit haben im Sutra die Hauptursachen für den Körper und den Geist eines Buddhas unterschiedliche Weisen, ihre Objekte kognitiv zu erfassen (tib. ‘dzin-stangs). Auf der grundlegendsten Ebene ist eine mit dem Wunsch verbunden, etwas zu erreichen, und die andere mit dem Verständnis, dass es so etwas wie bestimmte unmögliche Existenzweisen nicht gibt. 

[Für ausführlicher Erklärungen, siehe: Beziehungen zu Objekten]

Ein Moment der Wahrnehmung kann nicht zwei verschiedene Weisen haben, ein Objekt kognitiv zu erfassen. Aus diesem Grund können konventionelles Bodhichitta und das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit nicht gleichzeitig in einem Moment der Wahrnehmung auftreten. Wir können die Zwei nur im Kontext des jeweiligen üben. 

Die Wahrnehmung „A“ mit Rahmen der Wahrnehmung „B“ zu üben, bedeutet „B“ in dem Moment zu erzeugen, der „A“ unmittelbar vorangeht. Der Impuls oder das Vermächtnis (tib. sa-bon, Same) von „B“ setzt sich im Laufe von „A“ fort, obwohl „B“ nicht mehr erfolgt. In gewissem Sinne gibt der „B“-Impuls „A“ einen Beigeschmack, ohne das „A“ und „B“ gleichzeitig auftreten. Auf diese Weise werden Methode und Weisheit in der Sutra-Praxis kombiniert.

[Für ausführlichere Erklärungen, siehe: Die Vereinigung von Methode und Weisheit: Gelug und Nicht-Gelug]

Buddha-Gestalten als Methode im allgemeinen Tantra

Der erleuchtende Körper und Geist eines Buddhas sind von derselben Wesensnatur (tib. ngo-bo gcig, von Natur aus eins), in dem Sinne, dass sie zwei Tatsachen des gleichen Phänomens sind. Wie zwei Tatsachen bezüglich eines Buddhas, sind beide in jedem Augenblick der Erfahrung eines Buddhas gleichermaßen präsent. Umgangssprachlich ausgedrückt, treten sie „zusammen in einer Packung“ auf. 

Darüber hinaus sind der Geist und Körper eines Buddhas untrennbar (tib. dbyer-med) voneinander. Mit anderen Worten treten sie in jedem Moment gleichzeitig auf. Gibt es also einen von beiden, so gibt es auch den anderen. Den Körper eines Buddhas kann es nicht ohne den Geist dieses Buddha geben, und umgekehrt. 

[Siehe: Logische Durchdringungen zwischen Objekten]

Das effizienteste Mittel zum Erreichen des gleichzeitigen Auftretens eines erleuchtenden Körpers und Geistes ist, die Ursachen für beide in einem Moment der Wahrnehmung zu üben. Um dieses Ziel zu erreichen, wird im Tantra als Methode nicht nur konventionelles Bodhichitta benutzt, sondern auch das Visualisieren des Körpers einer Buddha-Gestalt. Solch einen erleuchtenden Körper zu haben, ist die eigentliche Methode, motiviert durch Bodhichitta und der Erleuchtung gewidmet, die uns in die Lage versetzen wird, allen Wesen von Nutzen sein zu können. Wir können mit unseren gewöhnlichen Körpern, die in vielerlei Hinsicht begrenzt sind, nicht allen so vollständig helfen, wie ein Buddha. 

Dementsprechend ist Weisheit im Tantra das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit von uns selbst in Bezug darauf, Buddha-Gestalten zu sein, und nicht einfach nur die Leerheit von uns selbst im Sinne der Aggregat-Faktoren (Skt. skandha), welche unsere gewöhnlichen Körper und unseren gewöhnlichen Geist ausmachen. 

Leerheit und die Grundlage für eine Leerheit

Leerheit ist eine absolute Abwesenheit wahrer Existenz. Sie ist die tiefste Wahrheit darüber, wie etwas existiert. Als eine unveränderliche Tatsache über etwas, kann die Leerheit von etwas nicht unabhängig für sich existieren; sie muss stets eine Grundlage haben – dieses „etwas“. Anders ausgedrückt ist die Grundlage für eine Leerheit (tib. stong-gzhi) das spezifische Objekt, das frei davon ist, auf unmögliche Weise zu existieren. 

Hier gilt es zu beachten, dass die Leerheit einer jeden Grundlage individuell ist, weil auch jede Grundlage für eine Leerheit individuell ist. Verbunden mit jeder Grundlage ist somit die individuelle Instanz einer Leerheit. Alle Leerheiten sind gleichermaßen Leerheiten, doch die Leerheit einer Grundlage ist nicht die Leerheit einer anderen. Das kann man mit der Tatsache vergleichen, dass alle Nasen gleichermaßen Nasen sind, aber meine Nase nicht deine Nase ist. 

Zudem muss jede Grundlage für eine Leerheit auch Aspekte (tib. rnam-pa) haben, von denen einer durch den Geist benutzt wird, um Erscheinungen hervorzubringen, wenn er die Grundlage wahrnimmt. Ist das Objekt beispielsweise physisch, kann der Aspekt dessen Form, Klang, Geruch, Geschmack oder physischer Eindruck sein. Ist das Objekt eine Weise, sich etwas gewahr zu sein, wie Liebe, ist die Erscheinung in einer Wahrnehmung vielleicht deren emotionales Gefühl, welches auftritt. 

Zwei Wahrheiten

Die Erscheinung der Grundlage für eine Leerheit und deren tatsächliche Leerheit sind zwei untrennbare Tatsachen des gleichen Objektes. Man nennt sie die zwei Wahrheiten (tib. bden-gnyis, zwei Ebenen der Wahrheiten) eines Objektes. Beide sind wahr und treffen untrennbar zu, ungeachtet dessen ob ein Moment des Geistes sie gleichzeitig wahrnimmt. 

  1. Bei der oberflächlichen Wahrheit (tib. kun-rdzob bden-pa, relative Wahrheit) über etwas geht es darum, wie es erscheint, nämlich:
    • was es zu sein scheint
    • wie es zu existieren scheint
  1. Bei der tiefsten Wahrheit (tib. don-dam bden-pa, letztendliche Wahrheit) über das gleiche Phänomen geht es darum, wie es tatsächlich existiert.

Im allgemeinen Tantra nehmen wir als Methode und Weisheit die zwei Wahrheiten über uns selbst als Buddha-Gestalten wahr – die Erscheinung der Buddha-Gestalt als eine Grundlage für Leerheit und deren tatsächliche Leerheit. 

Methode und Weisheit im allgemeinen Tantra haben eine Weise, ein Objekt kognitiv zu erfassen

Konzeptuelle und nichtkonzeptuelle Wahrnehmungen der Leerheit erfordern zwei Phasen, die beide während einer Meditationssitzung über Leerheit auftreten: 

  1. völlige Vertiefung (tib. mnyam-bzhag, meditative Ausgewogenheit) – Wahrnehmung der Leerheit, die raumgleich ist, und
  2. nachfolgende Erlangung (tib. rjes-thob, Nachmeditation, nachfolgende Verwirklichung) – Wahrnehmung der Leerheit, die illusionsgleich ist.

Das Objekt der Ausrichtung (tib. dmigs-yul) während der Phase der völligen Vertiefung ist die tiefste Wahrheit über etwas, dessen Leerheit. Die oberflächlichen Wahrheiten darüber erscheinen zu der Zeit nicht. Während der nachfolgenden Phase des Erlangens ist das Objekt der Ausrichtung die oberflächliche Wahrheit über das Objekt, während dessen tiefste Wahrheit nicht erscheint. Die Anwesenheit einer Erscheinung wahrer Existenz und die absolute Abwesenheit wahrer Existenz können nicht gleichzeitig in einem Moment der Wahrnehmung, ob konzeptuell oder nichtkonzeptuell, erscheinen. Sie schließen sich gegenseitig aus. Ungeachtet dessen bleiben die zwei Wahrheiten untrennbar. 

Man kann die Situation damit vergleichen, im Erdgeschoss eines Hauses zu sitzen und durch das Fenster eine vorbeigehende Person zu sehen. Obgleich nur der obere Teil der Person vorbeizugehen scheint, heißt das nicht, der Person würde der untere Teil fehlen. Die Beschränkung ergibt sich von Seiten der Perspektive, nicht von Seiten der Person. 

Obwohl die Erscheinung einer Buddha-Gestalt und deren Leerheit als Methode und Weisheit stets untrennbar bleiben, richtet sich die Wahrnehmung der Leerheit völliger Vertiefung nur auf Weisheit, während sich die Wahrnehmung der Leerheit nachfolgender Erlangung nur auf Methode richtet. 

Wie im Fall von Bodhichitta, kann die Wahrnehmung der Weisheit nur kraft eines unmittelbar vorangehenden Momentes der Wahrnehmung der Methode gehalten werden, und umgekehrt. Weisheit und Methode finden nicht zeitgleich statt. Dennoch werden durch die Wahrnehmung der Erscheinung einer Buddha-Gestalt als Methode trotz allem die Mängel von Bodhichitta vermieden. Das liegt daran, dass die Weisen, mit denen Weisheit und Methode ihre Objekte während der völligen Vertiefung und nachfolgenden Phasen des Erlangens kognitiv erfassen, sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr handelt es sich um äquivalente Weisen. Beides sind Weisen, Leerheit kognitiv als ein Objekt zu erfassen. 

Genauer gesagt sind die Weisen, mit denen Weisheit und Methode hier ein Objekt erfassen, zwei Tatsachen oder Möglichkeiten, das gleiche Phänomen zu beschreiben – eine Weise, ein Objekt kognitiv zu erfassen – die logisch voneinander isoliert und konzeptuell als zwei verschiedene konzeptuell isolierte Elemente (tib. ngo-bo gcig ldog-pa tha-dad) festgelegt werden können. Die zwei äquivalenten Weisen, ein Objekt kognitiv zu erfassen, finden mit dem unterscheidenden Gewahrsein statt, dass:

  1. es so etwas wie wahre Existenz nicht gibt, und
  2. die Erscheinung dessen, was wie wahre Existenz aussieht, nichts Realem entspricht.

Auf diese Weise wird im allgemeinen Tantra Methode und Weisheit mit einer Weise, ein Objekt kognitiv zu erfassen, praktiziert und somit eine engere Verbindung der zwei erreicht, als in der Sutra-Praxis. 

Zusammenfassung

  • Alle Grundlagen für Leerheit sind untrennbar von ihrer Leerheit.
  • Ihre Erscheinung und Leerheit sind zwei untrennbare Wahrheiten über sie.
  • Obwohl sich der Fokus auf beide nur abwechseln kann, sind die Weisen, sie während der völligen Vertiefung und nachfolgenden Erlangung kognitiv zu erfassen, nicht widersprüchlich: sie sind äquivalent.

Diese Punkte sind für alle Phänomene gültig sind; dennoch kann das Fokussieren auf einen Tisch oder unseren gewöhnlichen Körper als Grundlage für Leerheit nicht als Vereinigung von Methode und Weisheit dienen. Wir können anderen nur auf die erleuchtende Weise eines Buddhas mit dem Körper einer Buddha-Gestalt helfen. Darüber hinaus dient das Fokussieren auf konventionelles Bodhichitta und dessen Leerheit ebenfalls nicht als Vereinigung von Methode und Weisheit, weil diese zwei trotz allem auf widersprüchliche Weise ihre Objekte kognitiv erfassen. 

Auch wenn wir noch nicht in der Lage sind, uns auf unsere Erscheinungen als Buddha-Gestalten und deren Leerheit mit einer Weise des kognitiven Erfassens eines Objektes zu richten, haben wir dennoch Körper, während wir uns auf deren Leerheit richten. Wird in Tantra-Kommentaren gesagt, dass der Geist mit einem Leerheitsverständnis als eine Buddha-Gestalt erscheint, heißt das nicht nur, der die Leerheit wahrnehmende Geist lässt die Erscheinung einer Buddha-Gestalt als die Grundlage für diese Leerheit entstehen, während er ein Verständnis für dessen Leerheit bewahrt. Auf einer einfacheren Ebene bedeutet es auch, dass der Körper der Person, die sich auf die Leerheit richtet, als eine Buddha-Gestalt erscheint, ob sie sie in dem Moment nun wahrnimmt oder nicht. 

[Für ausführlichere Erklärungen, siehe: Die Vereinigung von Methode und Weisheit: Gelug und Nicht-Gelug]

(3) Besondere Grundlage für Leerheit 

Der nächste Grund, warum Tantra schneller als Sutra ist, liegt darin, dass die Grundlage für die Leerheit, die genutzt wird, besonders ist. Die Grundlage für die Meditation über Leerheit ist die Erscheinung des Körpers als eine Buddha-Gestalt. Solch eine Grundlage ist aus dreifacher Sicht besonders.

Verglichen mit den meisten anderen Objekten sind die Erscheinungen von Buddha-Gestalten:

  • weniger trügerisch,
  • stabiler, und
  • subtiler.

Buddha-Gestalten sind weniger trügerisch

Im Sutra richten wir uns auf die Leerheit eines Phänomens oder einer Person. Denken wir beispielsweise an die Grundlage für diese Leerheit, unsere gewöhnlichen Körper, werden die Erscheinungen der Grundlagen, die in unseren Wahrnehmungen entstehen – sowohl konzeptuell als auch nichtkonzeptuell – durch einen Geist erzeugt, der durch die Ursachen für trügerisches (tib. ‘khrul-snang) oder widersprüchliches Hervorbringen von Erscheinungen (tib. gnyis-snang, duale Erscheinungen) beeinflusst wird. Mit anderen Worten lässt unser normaler Geist unsere Körper erscheinen, als würden sie auf trügerische Weise und im Widerspruch zu ihrer tiefsten Wahrheit existieren. So lässt unser Geist sie zum Beispiel als wahrhaft und von Natur aus als fett, hässlich oder nicht liebenswert erscheinen. Weil wir glauben, diese trügerische Existenzweise würde der Realität entsprechen, empfinden wir dann vielleicht eine Art der Entfremdung oder Selbsthass gegenüber ihnen.

In der Leerheitsmeditation denken wir darüber nach, dass unsere Körper nicht wirklich auf diese unmögliche Weise existieren, in der sie zu existieren scheinen. Es mag eine korrekte oberflächliche Wahrheit sein, dass wir uns momentan, gemessen an den gängigen Standards unserer Gesellschaft, fett und hässlich fühlen und wegen unserer persönlichen Sichtweise darauf, was Liebe bedeutet, meinen, niemand würde uns lieben. Doch wir existieren nicht für immer, wahrhaft und von Natur aus, auf diese Weise, unabhängig von den Umständen und Sichtweisen. Das ist unmöglich.

Während wir uns auf die Leerheit unserer gewöhnlichen Körper fokussieren – die absolute Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen – können störende Emotionen und Geisteshaltungen (tib. nyon-mongs, Skt. klesha, befleckte Emotionen) nicht unseren Geist beeinflussen. Ungeachtet dessen sind die Grundlagen für diese Leerheit, unsere gewöhnlichen Körper, Objekte, die unser Geist vor unserer völligen Vertiefung in deren Leerheit auf trügerische Weisen erscheinen lies. Daher können unsere früheren Erfahrungen von trügerischem Hervorbringen von Erscheinungen und störenden Emotionen in gewisser Weise unser Verständnis dieser Leerheit infizieren oder destabilisieren. Der Mechanismus ähnelt jenem, durch den wir uns im Kontext der Vermächtnisse der vorangegangenen Momente von Bodhichitta auf Leerheit richten.

Im Tantra lösen wir hingegen zunächst alle gewöhnlichen Erscheinungen auf. Wir unterbrechen das trügerische Hervorbringen von Erscheinungen des Geistes, indem wir mit dem Verständnis der Leerheit beginnen. In diesem Zustand der absoluten Abwesenheit stellen wir uns dann vor, dass wir in den Formen der Buddha-Gestalten erscheinen und richten uns auf die Leerheit dieser Formen. Damit unterscheidet sich die Situation erheblich von der Meditation über die Leerheit unserer gewöhnlichen Körper. Im Tantra verstehen wir bereits Leerheit und im Kontext der Leerheit richten wir uns auf die Körper der Buddha-Gestalten, die wir bereits als frei von wahrer Existenz verstanden haben. Auf diese Weise sind die Erscheinungen von uns selbst als Buddha-Gestalten nicht trügerisch, wie es die Formen unserer gewöhnlichen Körper sein würden.

Kurzum ist es normalerweise so, dass wir emotional überreagieren, wenn wir an die Formen unserer gewöhnlichen Körper denken und störende Gefühlen und Urteile haben, wie „mein Körper ist hässlich, ich mag ihn nicht“, oder „wie hübsch ich bin“. Solche störenden Gefühle können unser Verständnis der Leerheit gefährden. Indem wir uns auf die Leerheit der gereinigten Formen der Körper von Buddha-Gestalten richten, vermeiden wir diese Gefahren und Nachteile.

Buddha-Gestalten sind stabiler

Wenn wir uns auf die Leerheit unserer gewöhnlichen Körper im Bodhisattva-Sutra richten, sind die Grundlagen für diese Leerheit wechselhafte (flüchtige) Objekte. Es sind Körper, die sich zuweilen gut anfühlen, dann schmerzen und so weiter. Sie unterliegen den unberechenbaren Impulsen des Karmas, sind instabil und verändern sich jedes Mal, wenn wir meditieren, spürbar. Sie ändern sich sogar im Verlauf einer einzelnen Sitzung, denn beispielsweise fangen unsere Knie irgendwann an wehzutun.

Im Gegensatz dazu ändert sich die Erscheinung des Körpers einer Buddha-Gestalt, wenn wir versuchen, uns auf deren Leerheit zu fokussieren, nicht auf grobe Weise. Der Körper, der erscheint, kann Funktionen ausüben, wie anderen zu helfen – auch wenn es nur in unserer Vorstellung geschieht – und in diesem Sinne ist er ein nichtstatisches (unbeständiges) Phänomen. Er ist jedoch ein so genanntes „statisches Phänomen“ (tib. rtag-pa shes-bya-ba’i mi-rtag-pa), in dem Sinne, dass er nicht alt, müde oder krank wird. Er bleibt immer im gleichen Zustand, wenn wir uns auf ihn in der Meditation fokussieren. Somit sind Buddha-Gestalten stabilere Objekte als unsere wechselhaften Körper, um das Verständnis der Leerheit zu erlangen und zu vertiefen, sowie um einsgerichtete Konzentration auf diese Leerheit zu bewahren.

Buddha-Gestalten sind subtiler

Unsere gewöhnlichen Körper als Grundlagen für Leerheit sind grobe Formen, die unserem Sehbewusstsein erscheinen. Weil sie grob sind, erscheinen sie uns als kompakte und solide Objekte, die unabhängig von einer Beziehung mit dem Geist erscheinen. Diese Beziehung ist das, worauf sich die geistigen Bezeichnungen oder Konzepte für sie beziehen. Die Wahrheit, dass sie frei davon sind, auf solch unmögliche Weisen zu existieren, ist nicht so offensichtlich.

Im allgemeinen Tantra sind die Körper der Buddha-Gestalten, auf die wir uns richten, subtile Formen, die wir ausschließlich mit den Augen unseres Geistes sehen. Wegen ihrer Subtilität ist es offensichtlicher, dass ihnen eine Existenz fehlt, die unabhängig davon ist, was ein Geist zuschreiben kann. Somit ist deren Leerheit einfacher zu verstehen.

(4) Besondere Ebene der geistigen Aktivität 

Im Anuttarayoga-Tantra werden drei Ebenen der geistigen Aktivität (Geist) analysiert: grobe, subtile und subtilste.

  1. Die grobe Ebene umfasst die fünf Arten des Sinnesbewusstseins – nämlich das Sehbewusstsein, Hörbewusstsein, Geruchsbewusstsein, Geschmacksbewusstsein und Körperbewusstsein. Sie ist stets nichtkonzeptuell.
  2. Die subtilste Ebene bildet das geistige Bewusstsein, sowohl konzeptuell als auch nichtkonzeptuell.
  3. Die subtilste Ebene des Geistes wird „klares Licht“ (tib. ‘od-gsal) genannt. Sie ist wie ein Laserstrahl geistiger Aktivität. Sie bezieht sich auf die grundlegende Aktivität des bloßen Erzeugens und Wahrnehmens kognitiver Erscheinungen gleichzeitig, was für die Kontinuität der Erfahrung von einem Augenblick zum nächsten und von einem Leben zu nächsten, sogar bis hin zur Erleuchtung, sorgt. Geistige Aktivität des klaren Lichts ist ausschließlich nichtkonzeptuell. Nur die Methoden des Anuttarayoga gewähren Zugang zu dieser Ebene des Geistes.

Im Sutra und den drei niedrigeren Tantra-Klassen, findet nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit durch gültige yogische Wahrnehmung (tib. rnal-‘byor mngon-sum) statt, die sich auf der zweiten der drei Ebenen der geistigen Aktivität, also der subtilen, befindet. Im Gegensatz zu unserer normalen geistigen Wahrnehmung, die aus der vorherrschenden Bedingung (tib. bdag-rkyen) unserer geistigen Sensoren (tib. yid-kyi dbang-po) in Erscheinung tritt, entsteht die yogische Wahrnehmung aus einem Zustand der Vereinigung von Shamatha (tib. zhi-gnas; ruhiges Verweilen, geistige Ruhe) und Vipashyana (tib. lhag-mthong, besondere Einsicht) als dessen dominante Bedingung. „Shamatha“ ist ein gelassener und zur Ruhe gekommener Geist, während „Vipashyana“ ein Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit ist.

Weil konzeptuelle Wahrnehmung ausschließlich mit der subtilen Ebene der geistigen Aktivität einhergeht und die Wahrnehmung klaren Lichts ausschließlich nichtkonzeptuell ist,

  • geht die konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit ausschließlich mit der subtilen Ebene des Geistes einher; und
  • bezieht sich nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit entweder auf die subtile oder subtilste Ebene des Geistes.

Daher wird im Allgemeinen in der Tantra-Praxis der höchsten Klasse eine besondere Ebene der geistigen Aktivität für das nichtkonzeptuelle Wahrnehmen der Leerheit benutzt – der Geist des klaren Lichts – obwohl nicht alle Tantra-Klassen diese Ebene benutzen.

Abschließende Punkte zur Leerheit in Sutra und Tantra 

Subtile und subtilste geistige Aktivität nimmt nichtkonzeptuell die gleiche Leerheit wahr, nämlich die Leerheit einer absoluten Abwesenheit wahrer Existenz. Gelug ist in seiner Behauptung einzigartig, dass konzeptuelle und nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit auch diese gleiche Leerheit wahrnimmt. Aus diesem Grund haben beide Stufen der Praxis in jeder der vier Tantra-Klassen – dem Yoga mit Zeichen (tib. mtshan-bcas-kyi rnal-‘byor) und dem Yoga ohne Zeichen (tib. mtshan-med-kyi rnal-‘byor) in den ersten drei Klassen, sowie der Erzeugungsstufe (tib. bskyed-rim, Entwicklungsstufe) und der Vollendungsstufe (tib. rdzogs-rim) im Anuttarayoga – das gleiche Verständnis der Leerheit.

Top