Die Effizienz des Anuttarayoga-Tantra: Nicht-Gelug

Die Nicht-Gelug-Traditionen stimmen in den meisten Punkten den Gelug zu, warum Anuttarayoga ein effizienterer und schnellerer Pfad als die drei niederen Tantras ist. Wir sollten jedoch die folgenden Ergänzungen oder Variationen in Betracht ziehen. 

(1) Engere Analogien 

Allgemeiner Sakya-Anuttarayoga

Bei der analogen Meditation zu Tod, Bardo und Wiedergeburt, liegt im Sakya die Betonung auf das Reinigen der Vergangenheit – also unseren Tod von unserem unmittelbar vorangehenden Leben, dem darauffolgenden Bardo und unserer gegenwärtigen Wiedergeburt. „Reinigen“ bedeutet hier das Beseitigen des Einflusses unseres früheren Karmas. 

Nyingma- und durch Nyingma beeinflusste Kagyü-Praktiken

In den Nyingma- und durch Nyingma beeinflusste Kagyü-Praktiken entspricht die dreiteilige Analogie auch den drei zunehmend gröberen Aspekten des Rigpa. Was Rigpa betrifft, so wirken die Analogien auch absteigend als die unverwirklichte Buddha-Natur und aufsteigend als die vollkommen verwirklichte Buddha-Natur eines erleuchteten Wesens.  

  1. Die essentielle Natur (tib. ngo-bo) von Rigpa ist dessen ursprüngliche Reinheit (tib. ka-dag), dessen Abwesenheit aller flüchtigen gröberen Ebenen geistiger Aktivität und aller unmöglichen Existenzweisen.
  2. Dessen Einfluss (tib. ’phrin-las) ist die mitfühlende Fähigkeit, auf andere einzugehen (tib. thugs-rje, Mitgefühl), die kommunikative Aktivität.
  3. Dessen funktionelle Natur (tib. rang-bzhin) ist, dass es spontan Erscheinungen hervorbringt (tib. lhun-grub), beruhend auf dessen Fähigkeit, auf andere einzugehen.

Somit gilt für die Anuttarayoga-Praxis oder ihrer Dzogchen-Entsprechung: 

  1. analog zum Tod, Schlaf, Dharmakaya und Rigpas ursprünglicher Reinheit erhalten wir Zugang zur subtilsten Ebene der geistigen Aktivität;
  2. analog zum Bardo, dem Traumzustand, Sambhogakaya als subtile Formen oder Rede und Rigpas mitfühlender Fähigkeit, auf andere einzugehen, erscheinen wir innerhalb des Ripga-Zustandes als Mitgefühl;
  3. analog zur Geburt, dem erwachten Zustand, Nirmanakaya und Rigpas spontanem Hervorbringen von Erscheinungen, erscheinen wir innerhalb eines Zustandes des Mitgefühls in der Form von Keimsilben und aus ihnen als Buddha-Gestalten.

Entsprechend der Nyingma-Praxis steht die Anuttarayoga-Praxis des Animierens durch Lieder (tib. glus-bskul) in Analogie mit subtilen Bewegung von Rigpa mit Mitgefühl, die man sowohl in den Traditionen der Nicht-Gelug und der Gelug finden kann. Animiert durch weibliche Buddhas, die Lieber über die vier unermesslichen Geisteshaltungen (tib. mtshams-med bzhi, vier Brahmavihāras) der Liebe, des Mitgefühls, der Freude und des Gleichmuts singen, entstehen wir durch den Fokus auf Leerheit und erscheinen in subtilen Formen, um anderen zu helfen. Das ist die Analogie zum Dharmakaya, der als Sambhogakaya erscheint. 

Sakya-Traditionen des Lamdre

Die Sakya-Tradition des Lamdre (tib. lam-’bras, der Pfad zusammen mit seinen Resultaten), die im Zusammenhang mit der Buddha-Gestalt Hevajra (tib. Kyai rdo-rje) praktiziert wird, umfasst weiter Analogien in der Meditation. 

Als menschliche Wesen haben unsere subtilen Körper als vorläufige Basis (tib. gnas-skabs-kyi kun-gzhi, vorläufiges ālaya) die vier Mandala-Sitze (tib. gdan dkyil-’khor bzhi): 

  1. Energiekanäle;
  2. subtile Silben in ihnen;
  3. kreative Energietropfen; und
  4. Energiewinde.

Beruhend auf ihnen erzeugen die Erscheinungen hervorbringenden Aspekte (tib. gsal-cha, Klarheitsaspekt) unseres subtilsten Geistes klaren Lichts als unsere letztendlichen alles umfassenden Fundamente (tib. mthar-thug-gi kun-gzhi, ultimate ālaya) zwei untrennbare Quantenebenen ungereinigter Erscheinungen von Körper, Rede und Geist, sowie der untrennbaren Simultanität der drei. Die zwei Quantenebenen sind deren grobe Erscheinungen in unseren gewöhnlichen menschlichen Formen und deren subtile Erscheinungen als Buddha-Gestalten. 

Indem wir in Analogie mit den vier Mandala-Sitzen meditieren, reinigen wir uns von den vier in dem Sinne, dass wir eine wahre Beendigung von ihnen erreichen. Demzufolge lassen die Erscheinungen hervorbringenden Aspekte unseres Geistes des klaren Lichts entsprechend auf dem Pfad zwei untrennbare Quantenebenen gereinigter Erscheinungen von Körper, Rede und Geist, sowie der untrennbaren Simultanität der drei entstehen. Durch weitere Praxis auf der resultierenden Ebene lassen die Erscheinungen hervorbringenden Aspekte unseres erleuchtenden Geistes klaren Lichts die zwei untrennbaren Quantenebenen grober erleuchtender Erscheinungen des Nirmanakaya und die subtilen erleuchtenden Erscheinungen des Sambhogakaya entstehen. 

(2) Engere Vereinigung von Methode und Weisheit 

Laut dem Meister des 19. Jahrhunderts Jamyang Kyentse Wangpo (tib. ’Jam-dbyangs mkhyen-rtse dbang-po) des Rime (nichtsektiererische Bewegung) entstehen viele der scheinbaren Widersprüche in den Erklärungen der vier tibetischen Traditionen aus einer unterschiedlichen Sichtweise, mit der sich jede dem Dharma zuwendet. 

  1. Die Gelug-Tradition legt ihn aus der Sicht der Grundlage dar,
  2. die Sakya-Tradition aus der Sicht des Pfades, und
  3. die Traditionen des Kagyü und Nyingma aus der Sicht des Resultates.

Beispielsweise 

  1. vertreten die Gelug, dass der Geist des klaren Lichts nicht von Natur aus glückselig ist, weil die gewöhnliche Wahrnehmung klaren Lichts im Moment des Todes nicht glückselig ist.
  2. Während Anuttarayoga-Praktizierende auf dem Pfad die Wahrnehmung des klaren Lichts in ein glückseliges Gewahrsein erzeugen, beschreiben die Sakya den Geist des klaren Lichts als natürlicherweise glückselig. Er ist die „Jugend des Geistes“.
  3. Da das allwissende Gewahrsein klaren Lichts eines Buddhas glückselig ist und alle Buddha-Qualitäten im Geist des klaren Lichts oder Rigpa bereits vollkommen sind, vertreten Kagyü und Nyingma ebenfalls den Geist des klaren Lichts als ein glückseliges Gewahrsein.

Durch die Blickwinkel von Pfad und Ergebnis, aus denen die Nicht-Gelug-Traditionen die geistige Aktivität des klaren Lichts beschreiben, behaupten sie, dass glückseliges Gewahrsein als Methode im Anuttarayoga besonders eng mit dem klaren Licht nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit als Weisheit verbunden ist. Wir müssen lediglich das glückselige Gewahrsein vertiefen, welches bereits da ist, oder die Schleier beseitigen, welche dessen volle Funktion verhindern, um das glückselige Gewahrsein des Geistes klaren Lichts zu erlangen oder zugänglich zu machen. 

(3) Besondere Grundlage für Leerheit 

Sakya- und Kagyü-Erklärungen

Gemäß den Sakya- und Kagyü-Traditionen ist ein gereinigter Illusionskörper eine speziellere Basis für die Leerheit, als die gereinigte Erscheinung des Körpers einer Buddha-Gestalt, die im Sutra und den drei niederen Tantras während der nichtkonzeptuellen Wahrnehmung der Leerheit erscheint. Gereinigte Illusionskörper und gereinigte Erscheinungen, die während yogischer nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit auftreten, bestehen beide aus subtilsten Energiewinden. Die gröberen Energiewinde, die dualistische Erscheinungen auf solche Erscheinungen übertragen oder projizieren, sind dennoch auf der Ebene yogischer Wahrnehmung vorhanden. Wie im Fall von störenden Emotionen und Geisteshaltungen können die nicht aufgelösten subtilen Energiewinde die gereinigten Erscheinungen destabilisieren und gewissermaßen infizieren. Ein gereinigter Illusionskörper verhindert solche Gefahren der Infizierung durch dualistisches Hervorbringen von Erscheinungen und dient somit als Grundlage, die besonders für die gleichzeitige Ausrichtung auf dessen Leerheit zuträglich ist. 

Nyingma-Erklärung

In der Nyingma-Dzogchen-Tradition werden reine Erscheinungen nicht in Bezug auf subtilste Energiewinde erklärt, sondern als natürlicher Strahlenglanz (tib. rtsal) Rigpas, der sich aus der funktionellen Natur von Rigpa des spontanen Hervorbringens von Erscheinungen ergibt. Die essentielle Natur von Rigpa ist dessen ursprüngliche Reinheit, also dessen Leerheit. Somit sind die funktionelle Natur und die essentielle Natur von Rigpa, nämlich dessen reine Erscheinungen und dessen Leerheit, zwei Aspekte des gleichen Phänomens. 

In den Nyingma-Darstellungen des Bodhisattva-Sutra und der drei niederen Tantras gibt es keine Erklärungen zum Rigpa oder zu Methoden des Zugangs zu Rigpa. Obgleich in yogischer nichtkonzeptueller Wahrnehmung ebenfalls reine Erscheinungen wahrgenommen werden, befinden sich diese Wahrnehmungen noch auf der Ebene begrenzten Gewahrseins. Folglich kann begrenztes Gewahrsein diese Erscheinungen destabilisieren oder infizieren. 

(4) Besondere Ebene der geistigen Aktivität 

Einführende Bemerkungen bezüglich der zwei Gruppen von Schleiern

Die Karma-Kagyü-Darstellung der Prasangika-Madhyamaka-Behauptung der zwei Gruppen von Schleiern und der Stufen, auf denen sie beseitigt werden, stimmt in der Struktur mit der Gelug-Prasangika-Sicht überein. Da ich nicht über ausreichend Informationen verfüge, um die Karma-Kagyü-Darstellung dieser Punkte hinsichtlich der Maha-Madhyamaka-Sicht des Tantra darzulegen, werden wir uns in unserer Diskussion hier auf die Nyingma- und Sakya-Positionen beschränken. Die Nyingma- und Sakya-Traditonen behaupten, dass sowohl in den Schulen des Prasangika-Madhyamaka als auch in denen des Svatantrika-Madhyamaka die Darstellung der zwei Schleier akzeptiert wird, während die Gelug- und Karma-Kagyü-Traditionen davon ausgehen, dass sie nur im Svatantrika-Madhyamaka so anerkannt wird. 

Wir vereinfachen die Nyingma- und Sakya-Positionen somit folgendermaßen: 

  • Die emotionalen Schleier umfassen das mangelnde Gewahrsein, das mit dem Greifen nach einer unmöglichen „Seele“ von Personen (tib. gang-zag-gi bdag-’dzin, Greifen nach dem Selbst von Personen) verbunden ist. Hier geht es um das Greifen danach, dass Menschen eine Seele haben, die eine nichtstatische, monolithische Entität, getrennt von den Aggregaten oder eigenständig erkennbar ist. Zu dieser Gruppe von Schleiern gehören auch die Vermächtnisse (tib. sa-bon, Samen, Tendenzen) dieses mangelnden Gewahrseins, sowie all die störenden Emotionen und Geisteshaltungen, und deren Vermächtnisse.
  • Die kognitiven Schleier umfassen das mangelnde Gewahrsein, das mit dem Greifen nach einer unmöglichen „Seele“ von Phänomenen (tib. chos-kyi bdag-’dzin, Greifen nach dem Selbst von Phänomenen) verbunden ist. Das bezieht sich auf das Greifen danach, dass alle Phänomene, einschließlich Personen, eine wahrhaft begründete Existenz haben. Zu dieser Gruppe von Schleiern gehören auch die Gewohnheiten (tib. bag-chags) dieses mangelnden Gewahrseins, sowie die Gewohnheiten all der emotionalen Schleier.

Shravakas (tib. nyan-thos, Hörer von Buddhas Lehren, die Arhats, befreite Wesen, werden wollen) erlangen lediglich eine wahre Beendigung der ersten Gruppe von Schleiern. Sie tun es mit der Wahrnehmung einer absoluten Abwesenheit der unmöglichen „Seele“ von Personen, wie zuvor definiert. Aus der Shravaka-Sicht ist diese Wahrnehmung nichtkonzeptuell, doch aus der Sicht eines Bodhisattvas ist sie trotz allem auf subtile Weise konzeptuell, denn absolute Abwesenheiten sind nur Objekte konzeptueller Wahrnehmung. 

Im Gelug vertritt man dagegen die Meinung, dass Shravakas und Bodhisattvas nichtkonzeptuell die gleiche Leerheit wahrnehmen. Die Leerheit, die sie gemeinsam nichtkonzeptuell wahrnehmen, ist eine absolute Abwesenheit wahrer Existenz. Im Karma-Kagyü stimmt man mit der Tradition des Gelug in diesen Punkten nur in Bezug auf Sutra Prasangika überein. Vom Punkt des Karma-Kagyü Maha-Madhyamaka nehmen lediglich Bodhisattvas Leerheit jenseits von Worten und Konzepten wahr, und zwar nur mit Anuttarayoga-Methoden. 

Alle Traditionen sind sich darin einig, dass Bodhisattva-Praktizierende, sowohl des Sutra als auch des Tantra, eine wahre Beendigung beider Gruppen von Schleiern erlangen. Gemäß Nyingma und Sakya erlangen Bodhisattva-Praktizierende im Erreichen nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit die jenseits von Worten und Konzepten ist, diese Wahrnehmung auch in Bezug auf Personen. Obwohl sie die erste Gruppe von Schleiern bereits vor dem völligen Beseitigen der zweiten Gruppe entfernen, beginnen sie mit dem Beseitigen der zwei Gruppen von Schleiern gleichzeitig und nicht aufeinanderfolgend, wie in Theorien des Gelug und Karma-Kagyü Prasangika behauptet wird. 

Die Nicht-Gelug-Traditionen haben drei Positionen hinsichtlich der Verwirklichung, welche die zwei Gruppen von Schleiern für immer beseitigt. 

  1. Die reguläre Sakya-Tradition vertritt Leerheit jenseits von Worten und Konzepten als Selbstleerheit gemäß dem Sakya-Gebrauch des Wortes, nämlich als ontologischen Zustand nicht fassbarer Leerheit. Somit ist Leerheit, wie sie im Bodhisattva-Sutra und -Tantra verwirklicht wird, dasselbe. Es gibt keine Annahme der Leerheit jenseits von Worten und Konzepten als einen kognitiven Zustand.
  2. Die Nyingma-Tradition vertritt Leerheit jenseits von Worten und Konzepten sowohl in einem ontologischen als auch in einem kognitiven Sinn. Im ontologischen Sinn bedeutet Leerheit jenseits von Worten und Konzepten nicht mit Worten fassbare Leerheit und wird „Selbstleerheit“ genannt. Im kognitiven Sinn bezeichnet man die Leerheit jenseits von Worten und Konzepten als „Anderesleerheit“. Praktizierende des Bodhisattva-Sutra und Tantra erkennen die gleiche Selbstleerheit als ontologischen Zustand nicht fassbarer Leerheit und nur Praktizierende des Dzogchen erkennen Anderesleerheit als den kognitiven Zustand von Rigpa.
  3. Die Traditionen des Karma- und Shangpa-Kagyü Maha-Madhyamaka vertreten ebenfalls Leerheit jenseits von Worten und Konzepten sowohl in einem ontologischen als auch kognitiven Sinn. Doch anders als in den regulären Sakya- und Nyingma-Traditionen, wird Leerheit jenseits von Worten und Konzepten als ein ontologischer Zustand nicht fassbarer Leerheit als „Anderesleerheit“ und nicht als „Selbstleerheit“ bezeichnet. Sie benutzen den Begriff „Selbstleerheit“ nur im Sinne einer nichtimplizierenden Negierung, einer absoluten Abwesenheit – mit anderen Worten: als den ontologischen Zustand von mit Worten fassbarer Leerheit. Wenn der Begriff „Anderesleerheit“ in Bezug auf die ontologischen und kognitiven Zustände benutzt wird, die gleichzeitig erkannt werden, nennt man sie „endgültige Anderesleerheit“. Obgleich also die Existenzweise aller Phänomene, die im Bodhisattva-Sutra und allen vier Tantra-Klassen erkannt wird, dieselbe ist – nämlich Anderesleerheit in ihrem ontologischen Sinne als nicht fassbare Leerheit jenseits von Worten und Konzepten –, ist das Erlangen der Anderesleerheit, die im Bodhisattva-Sutra und den drei niederen Tantras erkannt wird, nur Anderesleerheit in ihrem ontologischen Sinne als nicht fassbare Leerheit. Es handelt sich nicht um die endgültige Anderesleerheit, die im Anuttarayoga als sowohl nicht fassbare Leerheit und als ein kognitiver Zustand jenseits von Worten und Konzepten erkannt wird.

Wie im Gelug vertritt man im Nicht-Gelug, dass das Erlangen eines Bodhisattva-Pfadgeistes des Sehens, dann das Erreichen einer achten Ebene des Bhumi-Geistes eines Arya-Bodhisattvas (der ersten der drei gereinigten Arten des Bhumi-Geistes) und schließlich das Erlangen der Erleuchtung jeweils eine Zillion Zeitalter benötigen, wenn man ausschließlich die Bodhisattva-Sutra-Methoden praktiziert. 

Geistige Aktivität des klaren Lichts ist von Natur aus nichtkonzeptuell

Die Nicht-Gelug-Systeme stimmen mit dem Gelug dahingehend überein, dass geistige Aktivität des klaren Lichts, da sie von Natur aus nichtkonzeptuell ist, frei von den Mängeln des Erlangens nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit auf der gleichen geistigen Ebene, wie jener der konzeptuellen Wahrnehmung, ist. Das Erlangen nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit erfordert demnach keine Zillion von Zeitaltern. 

Geistige Aktivität des klaren Lichts ist von Natur aus frei von allen störenden Emotionen und Geisteshaltungen

Behauptungen, die alle Nicht-Gelug-Traditionen miteinander teilen

Die Nicht-Gelug-Schulen stimmen auch mit den Gelug überein, dass die Wahrnehmung klaren Lichts von Natur aus frei von allen störenden Emotionen und Geisteshaltungen ist, sowohl konzeptuell-basierenden als auch automatisch erscheinenden. Entsprechend ihren Definitionen der zwei Gruppen von Schleiern, ist die Wahrnehmung klaren Lichts auch von Natur aus frei von Unwissenheit über die tatsächliche Existenzweise von Personen und allen Phänomenen. 

Obgleich yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit von Phänomenen, die im Bodhisattva-Sutra und den drei niederen Tantras erlangt wird, auch frei von diesen Schleiern ist, treten sie alle trotzdem auf der subtilen Ebene des Geistes auf. 

Spezifische Behauptungen im Nyingma

Laut dem Nyingma erfordert yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit, die auf dem Bodhisattva-Sutra Pfad erlangt wird, eine Zillion Zeitalter, um folgende Dinge für immer zu beseitigen: 

  1. die doktrinär bedingten emotionalen Schleier; und
  2. die doktrinär bedingten kognitiven Schleier.

Eine zweite Zillion von Zeitaltern ist in dieser yogischen Wahrnehmung erforderlich, um Folgendes für immer zu beseitigen: 

  1. die automatisch entstehenden emotionalen Schleier; und
  2. die ersten sechs der neun Grade automatisch entstehender kognitiver Schleier.

Der Geist des klaren Lichts, der durch Anuttarayoga-Methoden zugänglich gemacht wird, hat auf der anderen Seite die gesteigerte Kraft des vorangehenden Erzeugens von Glückseligkeit und des vorangehenden Auflösens der Energiewinde in der Meditation. Das ist auch der Fall, wenn das Erzeugen und Auflösen in der Dzogchen-Praxis nicht dem Manifestieren von Rigpa unmittelbar vorangeht, sondern während früherer Anuyoga-Praxis stattgefunden hat. Des Weiteren hat Rigpa, welches durch Dzogchen-Methoden manifestiert wurde, die zusätzliche Kraft der Dzogchen-Methoden. 

Geistige Aktivität des klaren Lichts besitzt nicht nur verstärkte Effizienz und Nachhaltigkeit; sie ist tiefer als die Ebene, auf der die störenden Emotionen und Geisteshaltungen wirken. Somit beseitigt das anfängliche Erlangen nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts vollkommen all die störenden Emotionen und Geisteshaltungen, einschließlich der Unwissenheit bezüglich Personen – sowohl doktrinär bedingter als auch automatisch erscheinender – und deren Vermächtnisse und Gewohnheiten. Weil es tiefer als die konzeptuelle Ebene ist, beseitigt deren erstmaliges Erlangen auch doktrinär bedingte Unwissenheit in Bezug auf Phänomene und deren Gewohnheit. 

Mit anderen Worten beseitigt die anfängliche Ebene des Erlangens nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts für immer die emotionalen Schleier und die doktrinär bedingten kognitiven Schleier. Somit beseitigt sie, außer den ersten sechs der neun Grade der automatisch erscheinenden kognitiven Schleier – nämlich die ersten sechs von neun Graden der automatisch erscheinenden Unwissenheit in Bezug auf Phänomene und deren Gewohnheiten – vollständig all die anderen Schleier, deren Beseitigung andernfalls zwei Zillionen von Zeitaltern erfordern würden. 

Spezifische Behauptungen im Sakya

Gemäß der Sakya-Darstellung beseitigt das anfängliche Erlangen yogischer nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit im Bodhisattva-Sutra und den drei niederen Tantras und nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts im Anuttarayoga für immer Folgendes: 

  1. die doktrinär bedingten und automatisch entstehenden emotionalen Schleier; sowie
  2. die doktrinär bedingten kognitiven Schleier.

Somit werden all die emotionalen Schleier, zusammen mit den doktrinär bedingten Schleiern, die Allwissenheit verhindern, auf einmal und für immer beseitigt, unabhängig von der Bodhisattva-Methode, die für das Erlangen nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit jenseits von Worten und Konzepten genutzt wird. Dieses Erlangen durch yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit durch Bodhisattva-Sutra-Methoden erfordert eine Zillion Zeitalter, während es durch nichtkonzeptuelle Wahrnehmung im Geist des klaren Lichts mit Anuttarayoga-Methoden viel weniger Zeit braucht. 

Eine zweite Zillion von Zeitaltern ist im Bodhisattva-Sutra erforderlich, um yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit mühelos und spontan zu erlangen, damit Folgendes für immer beseitigt werden kann: 

  • die ersten sechs der neun Grade der automatisch entstehenden kognitiven Schleier.

Wegen den außergewöhnlichen Methoden des Anuttarayoga, mit denen die gröberen Ebenen der geistigen Aktivität in Bezug auf die Unwissenheit über Phänomene aufgelöst werden, ist es viel leichter, nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts spontan und mühelos zu erlangen, als yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit mittels anderer Methoden. Somit erfordert Anuttarayoga keine zweite Zillion von Zeitaltern. 

Geistige Aktivität des klaren Lichts bringt keine Erscheinungen irgendeiner der vier extremen Weisen unmöglicher Existenz hervor

Gemäß den Nyingma- und Sakya-Darstellungen erfordert yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Sutra eine dritte Zillion von Zeitaltern, um Folgendes für immer zu beseitigen: 

  • die letzten drei der neun Grade automatisch entstehender kognitiver Schleier. 

Konzeptuelle Wahrnehmung bringt Erscheinungen von Objekten als wahrhaft existierende „diese“ und „jene“ hervor. Sensorische und geistige nichtkonzeptuelle Wahrnehmungen bringen Erscheinungen von Objekten als wahrhaft existierende „diese“ und „jene“ hervor. Beide Erscheinungen sind ungereinigte Erscheinungen, weil deren konzeptuelle und nichtkonzeptuelle Wahrnehmung von mangelndem Gewahrsein begleitet wird. 

  1. Konzeptuelle Wahrnehmung wird von dem mangelnden Gewahrsein begleitet, nicht zu wissen, wie das, was erscheint, existiert und zu meinen, es würde auf eine Weise existieren, die dem widerspricht, wie es tatsächlich existiert.
  2. Sensorische und geistige nichtkonzeptuelle Wahrnehmungen werden einfach durch das mangelnde Gewahrsein begleitet, nicht zu wissen, wie das, was erscheint, tatsächlich existiert.

Die Gewohnheiten des mangelnden Gewahrseins, die zu den emotionalen Schleiern gehören, bringen während konzeptueller Wahrnehmung die Erscheinungen von wahrhaft existierenden „diesen“ und „jenen“ hervor. Die Gewohnheiten des mangelnden Gewahrseins, die zu den kognitiven Schleiern gehören, bringen Erscheinungen von Objekten als nicht wahrhaft „diese“ und „jene“ hervor. 

Wenn wir die emotionalen Schleier für immer beseitigt haben, bringen unsere konzeptuellen Wahrnehmungen keine Erscheinungen von wahrhaft existierenden „diesen“ und „jenen“ hervor. Haben wir die letzten drei Grade kognitiver Schleier beseitigt, hören unsere sensorischen und geistigen nichtkonzeptuellen Wahrnehmungen auf, Erscheinungen von Objekten als nicht wahrhaft existierende „diese“ und „jene“ hervorzubringen. An diesem Punkt erfahren wir als Buddhas keine sensorische oder geistige Wahrnehmung mehr. Das allwissende Gewahrsein eines Buddhas ist jenseits von beidem. 

Die letzte Gruppe von Schleiern mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts jenseits von Worten und Konzepten zu beseitigen, erfordert keine dritte Zillion von Zeitaltern, wie deren yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung im Sutra. Das liegt daran, dass geistige Aktivität des klaren Lichts, wie allwissendes Gewahrsein, jenseits sensorischer und geistiger Wahrnehmung ist und keine Erscheinungen wahrhaft existierender oder nicht wahrhaft existierender „dieser“ und „jener“ hervorbringt. Sie ist subtiler als die Ebenen des Geistes, die diese ungereinigten Erscheinungen hervorbringen. Nichtkonzeptuelle Wahrnehmung nichtfassbarer Leerheit im Geist des klaren Lichts bringt, wenn sie zu Tage tritt, ausschließlich gereinigte Erscheinungen hervor. 

Des Weiteren verhindert die dritte Gruppe von Schleiern, dass mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit jenseits von Worten und Konzepten gereinigte Erscheinungen und Leerheit gleichzeitig und gleichrangig, sowie ohne Unterbrechung wahrgenommen werden. Nur geistige Aktivität des klaren Lichts ist fähig zu so einer Wahrnehmung, weil nur sie sich ohne Unterbrechung und bis zur Erleuchtung fortsetzt. Die subtilste Ebene der geistigen Aktivität, auf der yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit stattfindet, kann nicht während der Erfahrung des Todes aufrechterhalten werden und endet mit der Erleuchtung ganz. 

Geistige Aktivität des klaren Lichts hat stabileres reflexives tiefes Gewahrsein ihrer eigenen Natur

Geistige Aktivität des klaren Lichts ist frei von allen Formen mangelnden Gewahrseins, einschließlich dem mangelnden Gewahrsein, nicht zu wissen, wie Dinge tatsächlich existieren. Das liegt daran, dass sie subtiler ist, als die Ebenen, auf denen mangelndes Gewahrsein auf manifeste Weise auftritt. Zudem ist sie nicht nur frei von mangelndem Gewahrsein, sondern verfügt über das reflexive tiefe Gewahrsein (tib. rang-rig ye-shes) darüber, wie alles tatsächlich existiert. 

Yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit, die im Bodhisattva-Sutra und den drei niederen Tantras erlangt wird, verfügt gemäß Karma-Kagyü ebenfalls über reflexives tiefes Gewahrsein, jedoch nicht gemäß Nyingma. Trotzdem befindet sich yogische Wahrnehmung, wie sie im Karma-Kagyü erklärt wird, auf der Ebene des Geistes, auf der dieses tiefe Gewahrsein nicht einsatzbereit sein mag, nämlich auf der Ebene subtiler geistiger Aktivität und nicht auf der subtilsten Ebene der geistigen Aktivität klaren Lichts. Diese subtilste Ebene der geistigen Aktivität hat, wenn sie Leerheit nicht nichtkonzeptuell wahrnimmt, kein funktionierendes reflexives tiefes Gewahrsein. Folglich ist das reflexive tiefe Gewahrsein der Wahrnehmung klaren Lichts stabiler, weil die Ebene klaren Lichts als Teil ihrer Natur über reflexives tiefes Gewahrsein verfügt. 

Geistige Aktivität des klaren Lichts kann allwissendes Gewahrsein besitzen

Worte und Konzepte setzen eine unmögliche Existenzweise voraus – nämlich, dass Dinge durch sie in festgelegten Kategorien beschrieben werden. Mit anderen Worten implizieren Worte und Konzepte, dass die Struktur dessen, wie alles miteinander in Beziehung steht, in Schubladen oder Kategorien unterteilt und von feststehenden Linien umgeben ist, und dass Phänomene in diesen Schubladen oder Kategorien der Realität entsprechen. Dem ist jedoch nicht so; dies ist eine unmögliche Existenzweise. 

Nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit jenseits von Worten und Konzepten, ob mit yogischer Wahrnehmung oder geistiger Aktivität des klaren Lichts, bringt keine ungereinigten Erscheinungen irgendeiner der vier extremen unmöglichen Existenzweisen hervor. Somit bringt sie keine Erscheinungen von Dingen hervor, die in den festen Kategorien wahrhaft existierender „dieser“ oder „jener“, oder nicht wahrhaft existierender „dieser“ oder „jener“ existieren. In diesem Sinne sind die gereinigten Erscheinungen, die durch nichtkonzeptuelle Wahrnehmung nicht fassbarer Leerheit hervorgebracht werden, jenseits von Worten und Konzepten. 

Nur nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts kann jedoch eine Erscheinung der gesamten Struktur dessen, wie alles miteinander verbunden ist und zueinander in Beziehung steht, erzeugen. Nur geistige Aktivität des klaren Lichts kann allwissendes Gewahrsein werden. Das ist wahr aufgrund folgender Überlegung. 

  • Nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts bringt gereinigte Erscheinungen zeitgleich mit reflexivem tiefen Gewahrsein ihrer Leerheit hervor. Dennoch ist dies anfangs für die nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts nicht möglich, wenn Erscheinungen und tiefes reflexives Gewahrsein der Leerheit gleichermaßen vorhanden sind. Das gleiche gilt für yogische nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit jenseits von Worten und Konzepten.
  • So lange das ungereinigte Hervorbringen von Erscheinungen konzeptueller Wahrnehmung wieder auftreten kann, können die Gewohnheiten der Unwissenheit darüber, wie Phänomene existieren, was ungereinigtes Hervorbringen von Erscheinungen bewirkt, dem Geisteskontinuum zugeschrieben werden. Diese Gewohnheiten erzeugen keine ungereinigten Erscheinungen, während gereinigte Erscheinungen entstehen. Trotzdem infiziert deren ungereinigtes Hervorbringen von Erscheinungen in gewisser Weise die gereinigten Erscheinungen. Aus diesem Grund ist eine Wahrnehmung, die gereinigte Erscheinungen hervorbringt, nicht allwissend, so lange diese Gewohnheiten noch zugeschrieben werden können, ob es sich bei der Wahrnehmung nun um eine Wahrnehmung klaren Lichts oder um yogische Wahrnehmung handelt.
  • Im Gegensatz zu yogischer nichtkonzeptueller Wahrnehmung, kann nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts für immer und ohne Unterbrechung aufrecht erhalten werden. Wenn diese Wahrnehmung klaren Lichts mit der endgültigen Beseitigung der Schleier in Bezug auf alles Erkennbare so aufrecht erhalten werden kann, können die Gewohnheiten der Unwissenheit, die ungereinigte Erscheinungen erzeugen, nicht mehr dem Geisteskontinuum zugeschrieben werden. Daher kann die Wahrnehmung klaren Lichts mit gleichermaßen vorhandenen gereinigten Erscheinungen und Leerheit auftreten. Wenn das der Fall ist, nimmt die geistige Aktivität des klaren Lichts die gesamte Struktur von allem Erkennbaren wahr. Somit wird sie zum allwissenden Gewahrsein eines Buddhas.

Wenn alles miteinander in Beziehung steht, bedeutet dies nicht, dass die korrekte Existenzweise von allem eine undifferenzierte Einheit ist. Innerhalb der Struktur dieser Verbundenheit hat alles weiterhin eine Individualität. Dennoch existieren Dinge und bewahren ihre Individualität auf eine Weise jenseits von festgelegten Schubladen, die deren Worte und Konzepte entsprechen würden. 

Yogische und nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit im Geist des klaren Lichts, sowie allwissendes Gewahrsein besitzen alle von Natur aus das tiefe Gewahrsein, welches Individualität wahrnimmt (tib. so-sor rtogs-pa’i ye-shes). Denn nur geistige Aktivität des klaren Lichts hat die Fähigkeit, als das allwissende Gewahrsein eines Buddhas zu wirken, und nur dessen innewohnendes tiefes, die Individualität wahrnehmendes Gewahrsein hat die Fähigkeit, die Individualität von allem wahrzunehmen. 

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