Man hat mich gebeten, heute über die buddhistische Sexualethik zu sprechen. Sexualität ist offensichtlich ein Thema, das viele hochgradig interessiert. Besonders, wenn man eng zusammenlebt, in einer Gemeinschaft auf dem Land, wie Sie es hier tun, kann es in Bezug auf Sexualität und sexuelle Beziehungen viel Verwirrung geben. Unkluges Sexualverhalten – sei es das eigene oder das des Partners – kann viel Leid erzeugen. Es kann hilfreich sein, einen Blick auf die Ratschläge zu werfen, die der Buddhismus in dieser Hinsicht bietet.
Ich möchte die heutige Diskussion eher informell gestalten. Ich werde also eine Weile sprechen und wenn jemand zwischendurch Fragen hat, kann er oder sie diese gerne stellen. Außerdem scheint es mir angebracht, heute am späten Nachmittag eine Diskussion mit Fragen anzuregen und Ideen auszutauschen.
Das Erbe der westlichen Ethik
Im Allgemeinen unterscheidet sich die buddhistische Herangehensweise an die Ethik sehr von der westlichen. In der westlichen Kultur finden wir im Grunde eine Mischung aus zwei ethischen Systemen. Das eine hat biblischen Hintergrund, das andere geht auf das antike Griechenland zurück.
Aus biblischem Hintergrund leiten sich eine Reihe von ethischen Gesetzen ab, die von einer höheren Autorität erlassen wurden. „Ethisch zu sein“ bedeutet hier grundsätzlich, dass man Geboten gehorcht. Folgen wir den Geboten, so sind wir „gut“ bzw. „ein guter Mensch“ und werden dafür im Himmel belohnt. Folgen wir den Geboten nicht, so sind wir „schlecht“ und werden nach dem Tode dafür bestraft. Ethik ist hier also wirklich eine Frage des Gehorsams gegenüber dieser höheren Autorität. Immer fragen wir uns: „Was muss oder soll ich tun?“ Immer spielt die Vorstellung „Du sollst“ mit. „Ich muss dies tun, doch ich tue es nicht, deshalb bin ich schlecht und schuldig“. Wir sind uns unsicher und im Zweifel, weil wir immer wissen wollen: „Was sollte ich tun?“
Im antiken Griechenland gab es ebenfalls eine Reihe von Gesetzen. Bei diesen handelte es sich allerdings nicht um die Gebote einer göttlichen Autorität, sondern vielmehr um Gesetze, die von den Bürgern geschaffen wurden. Die Repräsentanten der Bürger kamen in der Legislative zusammen, um zum Wohle der Gesellschaft Gesetze zu erlassen. Sodann ist alles wieder eine Sache des Gehorsams: Wir müssen den Gesetzen folgen. Wenn wir das tun, sind wir nicht bloß gute, moralisch einwandfreie Menschen, sondern auch gute Bürger. Folgen wir den Gesetzen dagegen nicht, dann sind wir „schlechte“ Menschen und müssen eine Strafe zahlen oder ins Gefängnis.
Unsere westliche Ethik ist eine Kombination aus diesen Systemen, die beide auf Gehorsam gegenüber Gesetzen beruhen. Bei der buddhistischen Ethik verhält es sich vollkommen anders. Als Westler, die sich dem Buddhismus nähern, finden wir das oft verwirrend, da wir erwarten, dass der Buddhismus uns sagt, was wir „tun und lassen müssen“. Wenn wir die ethischen Lehren des Buddhismus betrachten, neigen wir dazu, sie als etwas in der Art von biblischen Geboten oder juristischen Gesetzen anzusehen.
Buddhistische Ethik und Entsagung
Die buddhistische Ethik hat einen vollkommen anderen Ausgangspunkt. Sie geht von Buddhas zentralen Lehren aus – den vier edlen Wahrheiten bzw. vier Tatsachen des Lebens. Im Grunde ist das Leben mühsam und schwierig. Doch dafür gibt es eine Ursache, und wenn wir uns von den Schwierigkeiten im Leben befreien wollen, müssen wir die Ursache dafür beseitigen. In diesem Zusammenhang lehrte Buddha, dass bestimmte Verhaltensweisen uns Probleme und Unglück schaffen. Wenn wir uns selbst Leiden ersparen wollen, ist es angebracht, diese Verhaltensweisen zu vermeiden. Wenn es uns egal ist, wieviel Probleme wir uns schaffen - gut, dann ist das in Ordnung; in dem Fall macht man einfach so weiter und bleibt dabei, sich so zu verhalten wie bisher. Jeder hat die Wahl.
Im Unterschied zur Bibel stellte Buddha keine moralischen Gebote auf. Er sagte nie: „Du musst dies tun, und wenn du es nicht tust, bist du schlecht.“ Er sagte vielmehr: „Wenn du dies tut, schaffst du dir Probleme. Wenn du diese Probleme nicht willst, dann hör auf, dich so zu verhalten.” Verhält man sich weiterhin auf eine Weise, die einem Probleme einbringt, dann macht einen das nicht zu einem „schlechten Menschen“, ebenso wenig wie es einen zu einem „guten Menschen“ macht, wenn man sich von diesen Handlungen zurückhält. Wenn man sich weiter auf eine Weise verhält, die einem Probleme schafft, ist man töricht, und das ist schade. Wenn man aufhört, sich so zu verhalten, ist man weise. Das ist alles.
In der buddhistischen Ethik spielt also die Wahl unserer Verhaltensweisen eine wichtige Rolle. Die buddhistische Schulung zielt darauf ab, konstruktive Geisteshaltungen zu entwickeln, wie beispielsweise Entsagung. Nachdem wir unsere Probleme untersucht haben, kommen wir zum Schluss: „Das ist unerfreulich. So etwas möchte ich nicht mehr.“ Mit Entsagung entscheiden wir dann voller Entschlossenheit, dass wir uns von diesen Problemen befreien werden. Genauer gesagt, wir fassen den Entschluss, uns selbst von ihnen zu befreien. Niemand außer uns selbst wird uns befreien. Deshalb müssen wir den Ursachen der Probleme, die in uns selbst liegen, entsagen. Wir werden es unterlassen, diese Ursachen zu schaffen, damit die Probleme, die daraus entstehen, nicht mehr auftreten.
Wenn unsere Probleme z.B. aus unserem schrecklichen Ärger oder aus unserer zwanghaften Anhaftung herrühren, entsagen wir ihnen und ihren Ursachen, weil wir diese Probleme nicht mehr erleben wollen. Wir entwickeln eine entschlossene Geisteshaltung, in der wir denken: „Ich will versuchen, mich zu verändern. Ich bin bereit dazu, meinen Jähzorn und meine Wut aufzugeben. Ich bin bereit dazu, meine Anhaftung aufzugeben. Ich will versuchen, das zu schaffen.“ Ohne die Bereitschaft, unsere negativen Charakterzüge aufzugeben, ist es unmöglich, Fortschritte in der buddhistischen Praxis zu machen.
Bloß das Ritual einer Puja zu rezitieren und durchzuführen, ohne jedoch bereit zu sein, die eigene Anhaftung oder Wut aufzugeben, wird kaum eine Wirkung auf destruktive Persönlichkeitszüge haben. Das liegt daran, dass wir dann keine der positiven Geisteshaltungen, die wir in der Puja entwickeln, in unserem alltäglichen Leben anwenden werden. Das Ritual wird dann lediglich eine Art Nebenbeschäftigung, die wir zum Vergnügen ausüben, so, als würden wir jeden Abend eine Fernsehsendung anschauen. Wenn wir also wirklich daran interessiert sind, uns von unseren Problemen zu befreien, dann erlangt das Thema der buddhistischen Ethik eine zentrale Bedeutung.
Ehrlichkeit den eigenen Zielen gegenüber
Bei der buddhistischen Praxis ist es von entscheidender Bedeutung, Heuchelei zu vermeiden. Wenn man sich ehrlich prüft – was suchen denn die meisten Menschen, die mit dem Buddhismus in Kontakt kommen? Den meisten geht es nicht wirklich um Erleuchtung, nicht einmal um Befreiung. Die meisten möchten einfach ihre samsarische Situation – ihr gewöhnliches, alltägliches Leben – etwas verbessern.
Nun, das ist in Ordnung. Buddha lehrte Methoden, mit denen man Samsara verbessern kann, nämlich indem man eine bessere Wiedergeburt erlangt. Das ist ein Teil der buddhistischen Lehren. Die meisten von uns glauben jedoch nicht an zukünftige Leben - wie sollen wir dann daran interessiert sein, diese zu verbessern? Uns geht es darum, Samsara in diesem Leben zu verbessern, jetzt gleich. Auch das ist in Ordnung. Doch man sollte nicht unehrlich sein und niemandem etwas vormachen, indem man sagt: „Ich arbeite daran, zum Wohl aller Wesen ein Buddha zu werden“, wenn dies eigentlich gar nicht das eigene Ziel ist. Die Ethik, der es zu folgen gilt, um Erleuchtung zu verwirklichen, ist dieselbe, die auch Samsara verbessert. Wenn wir ehrlich und realistisch hinsichtlich unserer Ziele sind, werden wir weniger Schwierigkeiten haben, der buddhistischen Ethik zu folgen.
Einer der Punkte, mit denen wir uns hier nochmals beschäftigen müssen, ist, dass die meisten von uns sich dem Buddhismus von einem jüdisch-christlichen Hintergrund aus nähern. Daher neigen wir dazu, zu denken: „Ich muss mich um die Erleuchtung bemühen, denn dann bin ich ein guter Mensch, ein guter Schüler, ein guter Buddhist. Wenn ich nicht daran arbeite, ein Buddha zu werden und allen zu helfen, sondern bloß Samsara verbessern will, dann bin ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Schüler, ein schlechter Buddhist.“ Dabei liegt die Betonung wieder auf dem „Du sollst“. Wir orientieren uns an dem, was wir tun „sollten“.
Im Buddhismus ist es anders. Wir versuchen, in einer für uns angemessenen Weise Fortschritte zu machen, auf der Stufe, auf der wir stehen. Es gibt kein „Du sollst.“ Es gibt kein „Wenn du dies tust, bist du ein guter Mensch, und wenn du dich in einem früheren Stadium befindest, ist das schlecht.“ Man kann nicht sagen: „Es ist gut, ein Erwachsener zu sein, und schlecht, ein Kind zu sein, und deshalb solltest du, auch wenn du in spiritueller Hinsicht ein Kind bist, trotzdem spirituell erwachsen sein und dich auch so verhalten.“
Wenn man der buddhistischen Ethik folgen will, ist das Wichtigste, dass man das Verhältnis zwischen verhaltensbedingter Ursache und Wirkung versteht. Das bedeutet: Es geht darum, den Zusammenhang zu verstehen, der zwischen unserem Verhalten und dem Maß an Glück oder Leid besteht, das wir infolge unseres Verhaltens erleben. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man von diesem Zusammenhang nicht überzeugt ist, gibt es keinen Grund, dem buddhistischen System der Ethik zu folgen.
Destruktives Verhalten und seine Auswirkungen
Wenn wir betrachten, was im Buddhismus als „destruktives Verhalten“ bezeichnet wird, so stellen wir fest, dass es sich um ein Verhalten handelt, das von Ärger, Anhaftung, Gier oder Unwissenheit motiviert ist. Dies sind die wichtigsten störenden Emotionen – geistige Zustände, die unseren inneren Frieden stören und uns unsere Selbstbeherrschung rauben. Einige Erklärungen fügen hinzu, dass destruktives Verhalten außerdem immer von einem Mangel an ethischer Selbstachtung begleitet wird sowie von mangelnder Rücksicht darauf, welches Licht unser Verhalten auf andere Menschen wirft – etwa auf unsere Eltern oder auf unsere spirituellen Lehrer. Unter dem Gesichtspunkt des Karma steht fest, dass Verhalten, welches durch diese störenden Emotionen und Geisteszustände verursacht wird, zu Leiden führt. Es wird zu Leiden „heranreifen“.
Diese Aussage gilt es nun zu verstehen. Das ist nicht so einfach. Es geht hier nicht darum, welche Wirkungen unsere Handlungen auf jemand anderen haben werden, da dies ungewiss ist. Es kann z.B. sein, dass wir jemandem voller Liebe Blumen schenken, diese aber eine heftige Allergie bei ihm auslösen, durch die er sich sehr elend fühlt. Oder es mag sein, dass man das Auto einer Person stiehlt und sie dadurch sehr glücklich macht, weil sie den Wagen ohnehin loswerden wollte und nun das Versicherungsgeld kassieren und sich einen neuen kaufen kann. Es ist also unsicher, ob unsere Handlungen bei jemand anderem Glück oder Unglück auslösen werden. Auch wenn wir natürlich versuchen, anderen nicht zu schaden, wissen wir trotzdem nie, was sie daraufhin erleben werden. Wir kochen vielleicht einem Gast ein wundervolles Mahl und dann verschluckt er sich daran und stirbt. Wie können wir wissen, was passieren wird?
Nach Aussage der buddhistischen Lehren gibt es hingegen keine Zweifel darüber, wie sich die Handlungen auf einen selbst auswirken werden. Hier geht es nicht um die unmittelbare Wirkung der Handlungen: Ein Vergewaltiger kann z.B. als unmittelbare Folge seiner Tat die für ihn genussreiche Erfahrung eines Orgasmus machen. Um diesen resultierenden Grad von Glück geht es hier nicht. Hier ist davon die Rede, was man langfristig erleben wird: von der langfristigen Wirkung auf den eigenen Geist und auf das, was man infolge dessen im Allgemeinen in Zukunft als daraus resultierende Neigungen und Gewohnheiten erleben wird, die wir in uns aufbauen.
Im Falle einer außerehelichen Affäre beispielsweise kann es sein, dass man es momentan genießt, mit dem anderen Partner zusammen zu sein. Doch später, selbst wenn man etwaige Partnerprobleme in zukünftigen Leben einmal beiseite lässt, wird man auch in diesem Leben zweifellos eine Menge Probleme in der eigenen Familie haben. Wir reden hier also nicht von dem unmittelbaren Vergnügen, das eine sexuelle Affäre einem verschaffen mag, sondern vielmehr um die langfristige Wirkung.
Die Motivation für sexuelles Verhalten
Der wesentliche Punkt, den es in der buddhistischen Sexualethik zu betrachten gilt, ist die Motivation für das eigene Sexualverhalten. Als Handlung unterscheidet sich sexuelle Aktivität nicht besonders von Essen, nämlich insofern, als es sich um eine biologische Funktion handelt, die damit zusammenhängt, dass wir diese Art von Körper haben. Wenn wir einen solchen Körper haben, wird er notwendigerweise hungrig. Wir müssen ihn ernähren. Und wenn wir eine solche Art Körper haben, wird er auch Sexualhormone produzieren und es werden biologische Funktionen vorhanden sein, mit denen wir irgendwie umgehen müssen. Allerdings besteht natürlich ein großer Unterschied zwischen dem Befriedigen von sexuellem Gelüsten und dem Stillen von Hunger nach Nahrung. Ohne Sex können wir leben, ohne Nahrung nicht.
Aber wie Essen kann auch sexuelle Aktivität von einer destruktiven, einer positiven oder einer neutralen Emotion oder Geisteshaltung motiviert sein. Aufgrund der Motivation wird die sexuelle Handlung oder die Handlung des Essens ebenfalls destruktiv, konstruktiv oder neutral. Wenn wir beispielsweise aufgrund einer enormen Gier und Anhaftung essen – d.h. uns einfach vollstopfen wie ein Tier – dann ist das selbstzerstörerisch. Wenn wir essen, weil wir Energie und Kraft brauchen, um uns um unsere Familien zu kümmern – um zu arbeiten usw. –, dann ist das eine positive Motivation und zu essen ist dann etwas Konstruktives. Wenn wir einfach bloß essen, weil es Essenszeit ist und alle anderen auch essen, dann ist das ethisch neutral.
Dasselbe gilt für Sex. Wenn wir aufgrund von enormer Anhaftung und Begehren Sex haben oder aufgrund von Hass – etwa wenn Soldaten die Frauen und Töchter ihrer Feinde vergewaltigen –, dann ist das destruktiv. Wenn wir Sex haben, um unsere Zärtlichkeit auszudrücken oder um jemandem zu helfen – einer passenden Person –, weil wir hoffen, dass sie sich dadurch etwas besser fühlen wird, dann ist das konstruktiv. Wenn wir Sex haben, weil wir nicht einschlafen können und wir davon müde werden und dann schneller einschlafen können, ist das etwas ethisch Neutrales.
Was wir als Resultat gleicher Handlungen erleben, unterscheidet sich je nach der Motivation. „Destruktiv“ bedeutet, dass eine Handlung uns zukünftige Probleme schafft. Die negative Motivation für Sex, die die entsprechende Handlung destruktiv macht, ist für die meisten Menschen Anhaftung und sehnsüchtiges Verlangen. Das, worum man sich im Zusammenhang mit Entsagung kümmern muss, ist nicht der Sexualakt selbst, sondern vielmehr diese Anhaftung und das sehnsüchtige Verlangen.
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Nehmen wir an, wir suchen den perfekten Orgasmus. Solch eine Suche bewirkt, dass wir mit den sexuellen Erfahrungen, die wir machen, immer unzufrieden sind. Immer suchen wir nach etwas Besserem. Immer wollen wir mehr und können nie wirklich das genießen, was wir gerade erleben. Eine solche Geisteshaltung macht uns frustriert und unglücklich. Sie führt dazu, dass wir nie eine befriedigende sexuelle Erfahrung machen.
Dasselbe ist der Fall, wenn wir immer nach dem perfekten Sexualpartner suchen: Wir werden ihn nie finden, unsere Geisteshaltung wird uns immer unglücklich machen. Eine sexuelle Aktivität, die von solchen Geisteshaltungen getrieben ist, ist immer destruktiv – sie ist selbstzerstörerisch. Wenn wir in diesem Zusammenhang von destruktiv sprechen, ist damit immer selbstzerstörerisch gemeint.
Das ist es also, was es aufzugeben gilt: das Märchen vom perfekten Partner, den Mythos des perfekten Orgasmus, und das sehnsüchtige Verlangen, das von diesen Mythen hervorgerufen wird. Unser sehnsüchtiges Verlangen beruht auf der naiven, verworrenen Vorstellung, dass es irgendwo da draußen den perfekten Partner geben wird, mit dem wir den perfekten Orgasmus erleben werden. Das ist ein Mythos, eine Art Kindermärchen. Es wird nie stattfinden. Tut mir leid.
Mit dem Partner von jemand anderem Sex haben
Wir müssen mit einer realistischeren Geisteshaltung an Sexualität herangehen. In den Lehren darüber, welche Arten von Sexualverhalten destruktiv sind, findet man alle möglichen Listen. Was allerdings auf jeder dieser Listen angeführt wird, ist Sex mit dem Partner einer anderen Person. Wenn wir diese Einstufung untersuchen, müssen wir versuchen zu verstehen, wieso das destruktiv ist, warum es uns Probleme schafft. Es gibt zwei Situationen, in denen diese destruktive Handlung vorkommen kann: wenn wir bereits einen Sexualpartner haben oder wenn wir keinen haben. Betrachten wir den ersteren Fall.
Wenn es heißt, dass die Handlung destruktiv ist, weil wir dann Schwierigkeiten mit unserem Partner bekommen – es wird unseren Partner verletzen – oder es möglicherweise den Partner der anderen Person verletzt, so ist das die eine Art von Unglücklichsein, die sich daraus ergeben kann. Doch das ist ungewiss. Vielleicht haben wir eine Beziehung, in der unser Partner das akzeptieren kann. Vielleicht hat die andere Person eine Beziehung, in welcher der Partner das akzeptieren kann. Das kann möglich sein.
Aber wir müssen in Bezug darauf sehr feinfühlig sein, denn es kann sein, dass unser Partner zwar sagt: „Ach, das ist schon in Ordnung, es macht mir nichts aus“, aber das eigentlich nur deshalb sagt, weil er uns nicht verlieren will, und befürchtet, wenn er Einwände erhebt, würden wir ihn verlassen, aber sich innerlich doch sehr verletzt fühlt. Es ist äußerst wichtig, unseren Partnern gegenüber feinfühlig zu sein, damit wir merken, ob sie wirklich aufrichtig sind, wenn sie sagen, es sei in Ordnung.
Und wenn es nur einseitig in Ordnung ist - wenn es zwar für unseren Partner in Ordnung ist, dass wir mit jemand anderem Sex haben, aber wir es nicht in Ordnung finden, wenn unser Partner das Gleiche tut, dann besteht da offensichtlich ein Ungleichgewicht. Und wenn man hinsichtlich der Person, mit der man Sex hat, denkt: „Naja, solange ihr Partner das nicht herausfindet – und das wird er ja nicht –, ist das o.k.“, dann ist das sehr kurzsichtig. Der Partner der anderen Person wird unweigerlich etwas merken.
Nach Aussage der buddhistischen Texte besteht das hauptsächliche Resultat, wenn man mit dem Partner einer anderen Person Sex hat, darin, dass die eigenen Partnerbeziehungen instabil werden. Unsere eigenen Partner werden untreu sein. Auch wenn wir jetzt keinen Partner haben, kann dies in unseren zukünftigen Beziehungen geschehen. Und auch wenn es nicht notwendigerweise so ist, dass unser Partner in diesem Leben untreu wird, kann der Ehebruch, den wir begangen haben, in diesem Leben zu Scheidung führen und all die Probleme nach sich ziehen, die damit einhergehen.
Die Texte erwähnen auch, dass Sex mit dem Partner einer anderen Person zur Ursache dafür werden kann, dass wir viele weitere destruktive Handlungen begehen. Es kann dazu kommen, dass wir hinsichtlich unserer Affäre lügen müssen. Möglicherweise kommt es sogar zu Mord oder Diebstahl, wenn jemand beginnt, uns damit zu erpressen, sodass unser Partner nichts davon erfährt oder wir unseren Arbeitsplatz nicht verlieren. Wir fühlen uns gezwungen, den Erpresser loszuwerden, damit er uns nicht bloßstellt. Eine ungewollte Schwangerschaft, die sich aus der außerehelichen Affäre ergibt, kann uns dazu veranlassen, den Fötus abzutreiben. So etwas kann durchaus passieren, obwohl es natürlich nicht sicher ist, dass es dazu kommt.
In der Erörterung unangemessener Sexualpartner scheinen die klassischen buddhistischen Texte keinen Unterschied in Bezug darauf zu machen, ob man bereits einen sexuellen Partner hat oder nicht. Ich denke jedoch, dass man wohl sagen muss – insbesondere im heutigen westlichen Kontext -, dass es in beiden Fällen zu negativen Folgen wie den oben erwähnten kommt. Auch gehen die klassischen Texte nicht gesondert auf negative Konsequenzen ein, die sich ergeben, wenn wir bereits einen Partner haben und mit jemandem Sex haben, der keinen Partner hat und den weder die Eltern [weil er zu jung ist] noch Gelübde daran hindern. Aber ich denke, auch in dem Zusammenhang müssen wir sagen, dass dieselben Arten leidvoller Folgen auftreten würden.
Unzufriedenheit
Wenn wir die Sache tiefer gehend betrachten, entdecken wir, dass es Unzufriedenheit ist, die unsere sexuelle Beziehung mit dem Partner einer anderen Person destruktiv macht. Wenn wir bereits einen Partner haben, ist es eine unterschwellige Unzufriedenheit mit dem eigenen Partner, die uns dazu treibt, einen anderen zu suchen. Und wenn wir keinen Partner haben, fühlen wir uns oft dazu getrieben, mit dem Partner einer anderen Person Sex zu haben, weil wir nicht damit zufrieden sind, einen Partner unter denjenigen Menschen zu suchen, die für eine solche Beziehung angebracht wären. Vielleicht haben wir es auch gar nicht versucht.
Unzufriedenheit ist der Hauptgrund für alle Formen unangebrachten Sexualverhaltens, die in den klassischen Texten erwähnt werden – Sex im Zusammenhang mit unangebrachten Körperöffnungen, zu unangebrachten Zeiten, an unangebrachten Orten usw. Hinter all diesen Verhaltensweisen steckt Unzufriedenheit. Es mag sein, dass jemand nachts in der Privatsphäre seines Schlafzimmers Sex haben könnte, wenn niemand an die Türe klopfen kommt – aber das befriedigt ihn nicht, es ist nicht aufregend genug, und deshalb will er lieber am helllichten Tag draußen im Hinterhof Sex zu haben, wenn jemand vorbeikommen und es sehen kann, was Peinlichkeiten oder einen Skandal zur Folge hätte. Oder jemand möchte mit Vorliebe tagsüber mitten auf dem Wohnzimmerfußboden Sex haben, wenn jederzeit die Kinder hereinkommen und es sehen könnten. Für das Kind könnte das möglicherweise ein Trauma zur Folge haben.
Unzufriedenheit kann viele Formen annehmen. Im Grunde ist man unzufrieden mit dem, was man hat, und will mehr. Wir haben z.B. mit unserem Partner bestimmte Umgangsformen halten und halten uns an bestimmte Positionen, in Bezug auf die beide übereinstimmen. Das braucht nicht puritanisch strikt zu sein, etwa nach dem Motto: „Es gibt nur eine Position und damit hat sich‘s“. Doch nehmen wir einmal an, dass sich ein bestimmtes Repertoire an Stellungen eingebürgert hat.
Ein angebrachtes Repertoire ist es dann, wenn es keine Arten von Geschlechtsverkehr enthält, die konventionell destruktiv für unseren Partner oder uns selbst sind. Ein sadomasochistisches Sexualverhalten, bei dem das etablierte Repertoire darin besteht, dass man die andere Person in Ketten legt und quält, bevor oder während es zum Geschlechtsverkehr kommt, ist inakzeptabel. Ungeschützt mit jemandem Sex zu haben, bei dem man sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit anstecken könnte, ist ebenfalls destruktiv und nicht akzeptabel. Angemessene sexuelle Verhaltensweisen sind solche, die im konventionellen Sinne vernünftig und gesund sind.
Natürlich kann es sowohl individuell als auch kulturell zahlreiche Meinungen darüber geben, welche Formen von Sex vernünftig und gesund und welche hingegen destruktiv sind, doch lassen wir diese Diskussion einmal beiseite. Der Sexualakt wird destruktiv, wenn man mit gemeinsam vereinbarten, nicht destruktiven Mustern unzufrieden ist und beispielsweise nach Anleitungen für exotischen, esoterischen Sex sucht und Hunderte verschiedener Positionen ausprobiert, um das Ganze aufregender zu machen. Jemand könnte sogar auf die Idee kommen, Sex im Kopfstand zu üben, weil er nach irgendeinem optimalen Genuss sucht, den er nie finden wird – nie. Man sucht nach irgendeiner idealen sexuellen Erfahrung, aber das ist einfach bloß ein Mythos, genauso wie das Märchen vom perfekten Partner und vom perfekten Orgasmus. Keines dieser Märchen wird je Wirklichkeit werden.
Der eigentliche Unruhestifter ist die Unzufriedenheit, diese Sehnsucht nach mehr, mehr; nach etwas Besserem, immer noch Besserem. Die Unzufriedenheit beruht darauf, dass man sich an ein „Ich“ klammert: „Ich, ich brauche mehr.“ Insbesondere an Orten wie diesem hier, wo eine Gemeinschaft von Menschen in herzlicher Zuneigung eng beieinander lebt, weit entfernt von der Stadt, und wo manchmal Menschen, die bereits eine Partnerbindung haben, mit Partnern anderer Personen sexuelle Beziehungen eingehen, ist es wichtig, die Motivation für solches Verhalten zu untersuchen. Es ist wichtig, zu untersuchen, ob es auf einer Art Unzufriedenheit mit dem eigenen Partner und der Suche nach etwas beruht, das „noch besser, besser, besser“ sein könnte.
Wenn unser Sexualverhalten auf einer solchen Geisteshaltung basiert, ist es selbstzerstörerisch. Es wird uns unweigerlich Probleme und Unglück einbringen. Ob es für den neuen oder den alten Partner Glück oder Unglück hervorruft, ist ein anderes Thema. Doch es wird unausweichlich zu Leiden für uns selbst führen. Wir haben die Wahl. Wenn wir weiterhin unglücklich und frustriert sein wollen – denn diese Art Suche führt zwangsläufig zu Frustration –, können wir einfach so weitermachen. In Ordnung, das ist dann unsere Entscheidung. Wenn wir jedoch dieses Unglücklichsein, diese ständige Frustration und die ewige Suche nach etwas Besserem beenden wollen, müssen wir uns von dieser Art von Aktivität zurückhalten.
„Wunderschöner Körper“ und freie Liebe
Ein weiterer Punkt ist, dass man sich in Bezug darauf, was harmloses sexuelles Verhalten ist, etwas vormachen kann. Im Westen haben wir die Vorstellung des „wunderschönen Körpers“. Der Körperkult ist möglicherweise ein Erbe des antiken Griechenlands und der Renaissance. Sie kennen sicher die Einstellung: „Ein junger Körper ist wunderschön und vollkommen“, und man betet ihn fast an. Mit solch einer Einstellung in Bezug auf den Körper hält man dann auch den Geschlechtsverkehr für etwas Wundervolles und Schönes. Man glaubt, dass es der anderen Person und einem selbst wirklich immenses Glück verschaffen wird. Es geht hier um die typisch westliche Vorstellung der „freien Liebe“, die einige praktizieren.
Es mag z.B. sein, dass wir bereits eine sexuellen Beziehung zu einem Partner haben und auf einer Party jemanden kennenlernen, den wir attraktiv und sexy finden. Vielleicht denken wir dann: „Ich bin eigentlich nicht unzufrieden mit meinem Partner. Aber der Körper dieser Person ist so wunderschön; ich muss ihn streicheln. Wir müssen miteinander schlafen und die Schönheit unserer Körper zelebrieren. Es wird einfach wunderschön sein, Sex miteinander zu haben.“ Vielleicht halten wir Sex dann sogar für etwas Spirituelles.“ Solch ein naives Denken ist ein Fall von Selbsttäuschung. Hinter dem Glauben, dass Sex „frei“ und vollkommen unschuldig, wunderschön und sogar spirituell sei, kann sich ein großes Maß an Verlangen, Gier und Anhaftung verbergen, das durch die naive Verehrung der Schönheit des Körpers unterstützt wird.
Die meisten von uns Westlern schätzen die buddhistischen Lehren nicht sonderlich, die dazu raten, sich klarzumachen, was sich unter der Haut befindet, z.B. der Magen- und Darminhalt usw. Wenn wir aber die Realität dessen ignorieren, was sich innerhalb des Körpers befindet, können wir dem Mythos der Schönheit des Körpers zum Opfer fallen, und der Körper wird dann zu einem Objekt zwanghafter Begierde.
Im Buddhismus wird erklärt, dass sehnsüchtiges Verlangen eine störende Emotion ist, die auf einer falschen Wahrnehmung des Objekts beruht. Genauer gesagt basiert das sehnsüchtige Verlangen auf einer Übertreibung der guten Eigenschaften oder der Attraktivität des jeweiligen Objekts. In dem Fall, dass das Objekt der Körper ist, hält das sehnsüchtige Verlangen etwas, das eigentlich unappetitlich ist, für rein und wundervoll. Versuchen Sie einmal, sich im Sommer eine Woche lang nicht zu waschen oder nicht die Zähne zu putzen, und schauen Sie dann, wie rein der Körper ist. Oder das sehnsüchtige Verlangen betrachtet etwas, das grundsätzlich Probleme verursachen wird, als die Quelle letztendlichen Glücks. Oder etwas, das unbeständig ist, als beständig. Oder etwas, das keinen festen Wesenskern hat, als etwas mit einem festen Wesenskern. Wenn wir unter dem Einfluss solcher naiven Fehleinschätzungen handeln, schaffen wir uns Probleme.
Also nochmals: Wenn wir vermeiden wollen, dass unserem Sexualverhalten dazu führt, dass wir unglücklich sind, müssen wir damit aufhören, Sex zu idealisieren. Das heißt nicht, dass wir aufhören müssen, Sex zu haben. Aber idealisieren Sie ihn nicht. Mit anderen Worten, seien Sie realistisch, was den Körper der anderen Person und Ihren eigenen betrifft. Es kommt vor, Füße schwitzen und schlecht riechen. So ist es nun mal. Tun Sie also nicht so, als ob es so etwas nicht geben würde und als sei der Körper immer so schön und wundervoll, als wäre er direkt einem Hollywood-Film entstiegen – es stimmt nicht!
Und Sex wird dieser anderen Person und uns selbst nicht das letztendliche Glück verschaffen. Wenn wir denken: „Oh, ich werde mit dieser anderen Person Sex haben und das wird all ihre Probleme lösen und sie glücklich machen“ oder „Es wird all meine Probleme lösen und mich glücklich machen“, dann ist das ein Mythos. Ganz offensichtlich wird das nicht der Fall sein. Vielleicht bringt es der Person und uns eine zeitweilige Linderung unserer Spannungen – doch seien Sie diesbezüglich realistisch. Die Linderung ist nur zeitweilig. Sie ist nicht umfassend. Sie wird ganz offensichtlich nicht andauern. Wir sollten uns also in dieser Hinsicht nichts vormachen.
Und wenn wir im Liegen die die andere Person umarmen, wird der unter ihr liegende Arm nach einer Weile einschlafen. Es gibt allerlei Unbequemes, das unausweichlich eintreten wird. All das muss man als Teil der allgemeinen Probleme von Samsara in Kauf nehmen. Wir haben diese Art von Körper, der mit Verwirrung einhergeht und Probleme verursacht. Dasselbe gilt für Sex. Auch er wird unausweichlich mit Problemen behaftet sein. Wenn wir Sex romantisch verklären oder idealisieren, wird uns das viel Unglücklichsein einbringen. Es gilt realistisch zu sein.
Zuneigung zeigen
Ein letzter Punkt, bevor wir mit der Diskussionsrunde beginnen, ist die Frage, wie wir anderen Zuneigung zeigen. Sie erhebt sich ungeachtet dessen, ob wir uns in einer Beziehung befinden und einen Partner haben oder nicht. Was ist eine angemessene Weise, starke Zuneigung, die wir für jemanden empfinden, zum Ausdruck zu bringen? Einige Menschen denken vielleicht, diese Zuneigung könne man nur auf irgendeine sexuelle Weise zum Ausdruck bringen. Vielleicht nicht unbedingt durch tatsächlichen Geschlechtsverkehr bis zum Orgasmus, aber doch durch eine Interaktion, die sexuell anregend ist – sei es für uns selbst, den anderen oder beide. Allerdings würden wir natürlich nicht auf die Idee kommen, in allen Fällen so vorzugehen, in denen wir Zuneigung verspüren. Ich empfinde beispielsweise große Zuneigung für meinen Hund und bringe das oft dadurch zum Ausdruck, dass ich ihn streichle. Aber ich würde nicht auf die Idee kommen, ihn sexuell anzuregen.
Die Frage wird interessant, wenn wir den Blick darauf richten, wie die Art, Zuneigung auszudrücken, kulturell beeinflusst ist. Wenn Reisende aus dem Westen nach Indien oder in den Mittleren Osten kommen, finden sie manchmal die Zeichen der Zuneigung unter den dortigen Menschen verwirrend. Denn in Indien und weiten Teilen des Mittleren Ostens gehen zwei Freunde desselben Geschlechts oft Hand in Hand oder halten sich über lange Zeit an den Händen. In westlichen Ländern würde man dieses Verhalten anders interpretieren. In Indien und im Mittleren Osten ist damit keine sexuelle Bedeutung verbunden. Händehalten ist in diesen Kulturen eine durchaus angebrachte Art, seine Zuneigung und Freundschaft mit einer Person des gleichen Geschlechts auszudrücken. In der britischen oder amerikanischen Kultur würde man damit eine sexuelle Bedeutung verbinden und deshalb wäre es ein für Heterosexuelle unangebrachtes Verhalten.
Ein anderes Beispiel ist, dass in westeuropäischen Kulturen ein Mann eine Frau begrüßen kann, indem er sie – je nach Kultur – ein, zwei, drei, oder sogar vier Mal auf die Wange küsst. Damit ist keinerlei sexuelle Bedeutung verbunden. Eigentlich streift man dabei nur mit der Wange die des anderen und berührt das Gesicht nicht tatsächlich mit den Lippen. In Indien hingegen würde ein Mann so etwas nie tun. In den islamischen Ländern des Mittleren Ostens begrüßen sich Männer gegenseitig auf diese Weise, und auch das ohne jede sexuelle Bedeutung.
Ein weiterer Punkt ist, dass westliche Menschen anscheinend den Drang haben, zu sagen „Ich liebe dich“. Es ist, als könne der verbale Ausdruck der Liebe sie wirklicher machen, als könnten die Worte ihr wahre Existenz verleihen: Wenn du mir sagst, dass du mich liebst, macht das auch die Liebe zur Realität. Sagt man es hingegen nicht, oder nicht oft genug, dann impliziert dies, dass man den anderen nicht wirklich liebt. Unter dem Gesichtspunkt der Leerheit ist es interessant zu sehen, wie wir irrtümlicherweise die Vorstellung hegen, dass Wörter die wahre Existenz unserer Emotionen begründen oder beweisen können.
In der traditionellen indischen Gesellschaft sagen die Menschen zueinander nicht „Ich liebe dich“, nicht einmal zu ihrem Ehepartner oder den Kindern. Auf Tibetisch gibt es noch nicht einmal den Ausdruck „Ich liebe dich“. Man zeigt seine Liebe und Zuneigung durch seine Handlungen, nicht durch Worte.
Das alles steht im Zusammenhang mit der Frage: Müssen wir sexuellen Kontakt zu jemandem haben, um starke Zuneigung zu ihm auszudrücken? Wenn wir meinen, das wäre der Fall, machen wir uns möglicherweise etwas vor. Unsere Motivation ist vielleicht nicht nur durch eine gewisse Naivität bedingt, sondern auch durch eine Art sehnsuchtsvolles Verlangen. Die Naivität bestünde in diesem Fall in der Einstellung: „Ich möchte mit dir schlafen, um dir zu zeigen und zu beweisen, wie viel Zuneigung ich für dich empfinde. Das ist die einzige Möglichkeit, meine Liebe wirklich auszudrücken.“ Auch wenn wir nicht auf so extreme Weise denken, empfinden wir möglicherweise den Drang, unsere Liebe dadurch auszudrücken, dass wir die Person leidenschaftlich auf die Lippen küssen. Es ist wichtig, über dieses Thema nachzudenken. Ist es wirklich ein Ausdruck und ein Zeichen von Liebe, jemanden leidenschaftlich auf die Lippen küssen? Und ist es die einzige Möglichkeit, sie zum Ausdruck zu bringen? Dies ist ein wirklich ein interessanter Punkt, insbesondere wenn wir die Motivation für unsere sexuelle Aktivität tiefer gehend erforschen.
Vielleicht reicht das als anfängliche Darstellung. Lassen Sie nun beginnen, über einige dieser Themen zu diskutieren.
Sex, Vergnügen und Abwechslung
Was steht es mit dem Vergnügen? Sex macht auch Spaß, es ist etwas Wunderschönes für beide Menschen. Um bei der Analogie zu Nahrung und Hunger zu bleiben: ich möchte nicht jeden Tag bloß von Wasser und Brot leben. Deshalb versuche ich manchmal, ein gutes Essen zu kochen oder ab und zu zum Essen auszugehen, einfach, um die Sache interessant zu machen, indem ich etwas Abwechslung hineinbringe. Ist das nicht eine vernünftige Einstellung, um gesund und glücklich zu bleiben?
Aus Ihrer Frage gehen zwei Punkte hervor. Der erste ist, dass Sex Vergnügen ist. Ja, Sex kann Spaß machen. Problematisch wird es, wenn man Sex idealisiert und meint, Sex wäre Beste, um uns glücklich zu machen. Sex als das zu genießen, was er ist, und ihn nicht zu mehr aufzubauschen als er tatsächlich ist, verursacht in diesem Zusammenhang die wenigsten Probleme. Klar, Sex macht Spaß. Doch es handelt sich nicht um ewiges, vollkommenes Glück. Essen kann man genießen und es kann auch ein Vergnügen sein, aber nachdem wir uns gesättigt haben, sind wir ein paar Stunden später wieder hungrig. Dasselbe trifft auch auf Sex zu.
Der zweite Punkt Ihrer Frage betrifft die Analogie, dass wir es überdrüssig wären, immer bloß Brot und Wasser zu essen, und es daher ganz natürlich wäre, nach etwas Interessanterem zu suchen. Wenn man Sex auf diese Weise betrachtet, sagt das einiges über die Art der sexuellen Beziehung aus, die man mit seinem Partner hat. Wenn einem diese sexuelle Beziehung wie Wasser und Brot vorkommt, dann stimmt etwas nicht an dieser Beziehung. Wenn man exotische Formen von Sex ausprobiert – in Analogie zu einem guten Essen, das man kocht – oder zur Abwechslung mit einer anderen Person schläft – wie wenn man zum Essen ausgeht –, dann wird dies das Problem nicht lösen, sondern vermutlich eher verschlimmern.
Ich habe dieses Beispiel nur erwähnt, weil Sie eine Analogie zwischen dem Hunger nach Nahrung und sexuellem Appetit hergestellt haben. Brot und Wasser zu essen ist gut und schön, aber nicht jeden Tag, wenn man sich das Vergnügen daran erhalten will.
Dies bringt uns zu einer sehr interessanten Frage. Was ist Vergnügen? Es ist sehr schwierig, das zu definieren. Möchte irgendjemand eine Definition für „Vergnügen“ vorschlagen? Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als ich mit meinem Lehrer Serkong Rinpoche in Holland war. Wir wohnten bei sehr reichen Leuten, die eine große Yacht besaßen. Sie lag in einem kleinen holländischen See vor Anker, und eines Tages lud man uns zu einer Fahrt ein. Es war wie eine Segelfahrt in einer Badewanne. Das einzige, was wir tun konnten, war, im Kreis rund um diesen kleinen See zu segeln, wobei wir in einer langen Reihe mit etwa fünfzig anderen großen Schiffen bleiben mussten, die dasselbe taten. Serkong Rinpoche beugte sich zu mir und fragte mich auf Tibetisch: „Das ist es, was sie als Vergnügen bezeichnen?“
Was ist „Vergnügen”? Ist es ein Vergnügen, in eine Achterbahn zu steigen, von der einem schlecht werden kann und die einem Schrecken einjagt? Ist das wirklich Glück?
Unzufriedenheit und Langeweile
Wie dem auch sei, lassen Sie uns zu dem Punkt zurückkommen, in dem es um Sexualität ging und wie man sie interessanter gestaltet. Dies bringt uns zu dem umfassenden Thema, was Langeweile ist und wie sie entsteht. Mir scheint, dass Langeweile daraus herrührt, dass eine zu große Auswahl zur Verfügung steht und man deshalb Abwechslung erwartet. Heute lernt man in den westlichen Ländern schon als Kind, Abwechslungsreichtum zu erwarten. Ein westliches Kind wird ständig gefragt: „Was möchtest du? Was willst du heute anziehen? Was möchtest du heute Essen?“ Von klein an lernt ein Kind hierzulande, aus einer großen Vielfalt von Möglichkeiten eine Auswahl zu treffen. Natürlich entsteht beim Kind dadurch die Erwartung, dass ihm die Vielfalt und die Auswahlmöglichkeit immer offenstehen wird.
Schauen Sie sich zum Beispiel die Supermärkte und die Anzahl der Fernsehkanäle an. Es gibt Hunderte von Wahlmöglichkeiten. Weil man die Erwartung hat, dass innerhalb dieser Vielfalt an Wahlmöglichkeiten etwas Interessantes zu finden sei, entsteht rasch Langeweile mit allem, da wir nie zufrieden mit dem sind, was wir gerade haben oder betrachten. Wir hoffen immer, dass etwas Neues oder Anderes interessanter oder köstlicher sein wird.
Diese Erwartung von Abwechslung und die Langeweile, die oft damit einhergeht, scheint sich auf die Geisteshaltung zu übertragen, die im Westen bezüglich der Sexualität herrscht. Wir heutigen Westler scheinen Gefallen an Abwechslung in der Sexualität zu finden, da wir dazu neigen, dass uns sonst langweilig wird; immer dasselbe scheint nicht interessant genug. Die Abwechslung kann in verschiedenen Positionen bestehen, die wir mit unserem Partner ausprobieren, oder aber darin, dass wir verschiedene Partner haben. Es ist daher sinnvoll zu überlegen, welche Rolle die Langeweile in unserer Suche nach mehr Vergnügen beim Sex spielt. Wir müssen überdenken, was interessant und was nicht interessant ist, und wo die Grenzen dafür liegen und warum.
Hinsichtlich der Frage, wie wir heutzutage im Westen am besten mit der Erwartung und dem anerzogenen Bedürfnis nach Abwechslung umgehen können, kann möglicherweise ein Repertoire an Positionen mit unserem derzeitigen Partner eher eine Lösung bieten als eine sexuelle Affäre außerhalb unserer bestehenden Beziehung. Wenn die Sexualität mit dem eigenen Partner bei beiderseitiger Einwilligung nicht bloß auf eine Position beschränkt ist, sondern ein Repertoire von mehreren besteht, entsteht dadurch etwas Abwechslung. Doch was auch dann noch zu Problemen führen kann, ist der Drang, ständig nach einer neuen perfekten Art sexueller Praktiken zu suchen. Eine derartige Suche beruht auf Unzufriedenheit und dauernder Frustration, sodass wir nicht genießen, was wir erleben. Diese Geisteshaltung schafft Probleme.
Ich glaube nicht, dass man sagen kann, es sei an und für sich destruktiv, mit unserem Partner in verschiedenen Positionen Sex zu haben, und dies würde zu Unglücklichsein und Leiden heranreifen. Das Problem ist die Geisteshaltungen der Langeweile, der Unzufriedenheit und die dauernde Suche nach etwas Interessanterem, nach etwas, das mehr Vergnügen bringt. Das gilt auch, wenn wir beabsichtigen, mit einem anderen Partner etwas anderes zu probieren, in der Hoffnung, dass es uns mehr Vergnügen bringt, und sei es auch nur ab und zu, um dann zu unserer sexuellen „Gewohnheitskost“ zurückkehren.
Könnten Sie noch etwas mehr zur Unzufriedenheit sagen?
Unzufriedenheit und Erwartung sind eng miteinander verbunden. Sie entstehen daraus, dass man etwas projiziert und nach etwas greift, das nicht existiert. In diesem Fall ist das, was wir projizieren, das Bild eines idealen, perfekten Partners – die Vorstellung des perfekten Märchenprinzen oder der Märchenprinzessin, der oder die auf einem weißen Pferd angeritten kommt, und dann werden wir miteinander schlafen, während im Hintergrund die Hörner blasen und ein Feuerwerk in den Himmel steigt, und wir haben das große Los gezogen. Das ist eine totale Fantasievorstellung. Es wird nie passieren. Die Unzufriedenheit ergibt sich aus dem Glauben an den Mythos, an das Märchen, dass irgendwo dort draußen der Märchenprinz oder die Märchenprinzessin auf uns wartet, und dass es einen Orgasmus gibt, der dem Jackpot gleichkommt.
Eine schwierige Familiensituation leichter machen
Wenn man mit jemandem Sex hat, mit dem man nicht den Alltag und all die alltäglichen Probleme erlebt, und der nicht nach einem langen Tag bei der Arbeit oder mit den Kindern erschöpft ist, dann ist das viel einfacher. Es ist viel leichter, wenn man sich außerhalb der Beziehung mit seinem gewöhnlichen Partner begibt. Es gibt einen großen Unterschied in der Qualität dieser sexuellen Erfahrung mit jemand anderem.
Und was ist die Motivation dafür?
Erleichterung – die eigene Situation leichter zu machen.
Gut, auch in dem Fall denke ich, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, eine Situation zu erleichtern. Wichtig ist, Ursachen und Wirkungen in Betracht zu ziehen. Man kann joggen gehen, Sport treiben, ins Kino gehen, im Badezimmer masturbieren, mit einer Prostituierten, einem Single oder dem Partner einer anderen Person Geschlechtsverkehr haben. Welche dieser Möglichkeiten ist weniger destruktiv bei dem Bestreben, unsere Situation zu erleichtern, und welche ist destruktiver? Sind sie alle gleich?
Eine Art von mangelndem Gewahrsein bzw. Unwissenheit besteht hinsichtlich der karmischen Ursachen und Wirkungen. Vielleicht denken wir, dass unsere Handlungen keine Folgen haben, oder wir wollen einfach nicht an die Folgen denken. Doch es ist nötig, die Folgen mit einzubeziehen, die unser Verhaltens in dieser Situation haben wird – nicht nur für uns selbst, sondern auch für unseren Partner, für den Partner der anderen Person, falls er oder sie einen hat, und gegebenenfalls die Konsequenzen für Kinder, die davon betroffen werden. Wir müssen sogar die Folgen mit einbeziehen, die das Verhalten auf die Gemeinschaft als Ganzes haben wird, insbesondere, wenn man in einer so kleinen Gruppe lebt, wie es hier der Fall ist. Eine exotische Frucht zu probieren und dann zu Brot und Wasser zurückzukehren macht manchmal erst recht unglücklich.
Natürlich hängt viel von der jeweiligen individuellen Situation ab. Doch was wir wirklich im Blick behalten müssen, ist unsere Motivation und alle Betroffenen einschließlich ihrer Gefühle, und, auf einer grundlegenderen Ebene, die Beziehung zu unserem Partner. Wichtig ist, zu prüfen, welche Auswirkungen jede der Möglichkeiten, die wir haben, mit sich bringt. Das einzuschätzen ist nicht leicht. Ist es möglich, eine Erleichterung der Situation auf andere Weise zu erreichen als indem wir eine Affäre mit jemand anderem einzugehen? Oder ist das die einzige Möglichkeit? Falls man denkt, es sei die einzige Möglichkeit, ist es wichtig, sich zu fragen, warum man das meint. Ist eine sexuelle Affäre eine Art, unsere Zuneigung zu dieser anderen Person auszudrücken, weil wir ihr gegenüber tiefe liebevolle Gefühle hegen, oder werden wir einfach mit irgendjemandem ins Bett gehen, der willens und verfügbar ist? Das ist eine weitere interessante Frage.
Außerdem müssen wir überlegen, was wir mit unserer spirituellen Praxis erreichen wollen. Streben wir nach vollkommener Befreiung bzw. Erleuchtung? In dem Fall wollen wir alles vermeiden, was Leiden schafft oder unsere Fähigkeit beeinträchtigt, anderen zu helfen. Folglich würden wir von jeder außerehelichen Affäre bzw. jeder Affäre außerhalb einer festen Beziehung Abstand nehmen, da sie mit Sicherheit mehr Probleme nach sich ziehen würde, die schließlich dazu führen, dass andere kein Vertrauen zu uns haben. Oder zielen wir darauf ab, unsere Situation in Samsara zu verbessern? Dann sollten wir die Handlungsoption wählen, die am wenigsten destruktiv ist. Noch besser wäre es in diesem Fall, wenn wir versuchen, eine ethisch neutrale Lösung zu finden. Das gilt auch dann, wenn wir keinem spirituellen Pfad folgen.
Unbefriedigende Beziehungen
Wenn wir beispielsweise nach Befreiung streben, bedeutet das dann, dass wir in einer Situation ausharren müssen, in der wir uns unzufrieden oder wirklich unglücklich fühlen? Wie können wir wissen, wann es an der Zeit ist, eine Beziehung aufzugeben?
Wenn eine Beziehung sich auf beide zerstörerisch auswirkt und wir nicht dazu in der Lage waren, diesen Zustand zu beheben, dann ist es sicher an der Zeit, die Beziehung zu beenden. Nirgends in den buddhistischen Lehren wird gesagt, dass man in einer schlechten bzw. negativen Situation verharren muss. Doch es ist wichtig, ehrlich zu der anderen Person zu sein. Wenn man die Beziehung verlassen will, beendet man sie. Bleiben Sie nicht in der Beziehung, während Sie gleichzeitig ein Verhältnis mit jemand anderem haben. Das wird die Situation aller Wahrscheinlichkeit nach nur verschlimmern.
Mir scheint, einer der Hauptgründe für unbefriedigende Beziehungen und große Probleme darin ist, sich mit der Vorstellung darauf einzulassen, dass sie für immer währen wird. Wir kennen ja alle diese Vorstellung: „bis dass der Tod uns scheidet“.
Aus buddhistischer Perspektive sieht man die Dinge im Zusammenhang zahlloser vorhergehender und zukünftiger Leben. Eine enge Beziehung zu jemandem ist nicht etwas, das nur auf die Grenzen eines einzigen Lebens beschränkt ist. Wenn wir eine starke Beziehung zu jemandem haben, geht das meistens auf eine karmische Verbindung aus früheren Leben zurück. Und wenn wir eine Beziehung beenden, indem wir uns trennen, hört damit die karmische Verbindung nicht auf; die Trennung bedeutet nicht, dass man sich in zukünftigen Leben nie wieder treffen wird oder nie wieder eine Beziehung zu dieser Person haben wird. Man kann jemanden nicht auf den Müll werfen, wie man einen alten, vergammelten Kohlkopf wegwirft.
Wenn wir mit unserem Partner zu dem Entschluss kommen, dass es am besten ist, sich zu trennen, etwa durch eine Scheidung oder indem man nicht mehr zusammenlebt oder nicht mehr miteinander schläft, dann ist es am besten, die Beziehung auf positive Weise zu beenden, statt auf negative. Wenn möglich, versuchen wir, anschließend irgendeine Art freundlicher Beziehung beizubehalten, und sei es nur in unserer Einstellung gegenüber dieser Person. Dies ist besonders wichtig, wenn auch Kinder im Spiel sind. Und wenn beide Ex-Partner in derselben kleinen Gemeinschaft leben, muss man versuchen, freundlich miteinander auszukommen, wenn man sich trifft. Wenn man sich anfeindet, wird das unausweichlich eine negative Wirkung auf die anderen in unserem Umfeld haben.
Habe ich das richtig verstanden, dass die karmische Verbindung zu einer Person nicht aufhört, wenn man eine intime Beziehung mit dieser Person beendet? Die Beziehung verändert einfach ihre Ausdrucksform? Die Verbindung ändert ihre Form, und selbst wenn man ihr gemein und böse gegenübertritt, steht man weiterhin in Beziehung zu dieser Person? Und deshalb sagen Sie, dass es besser ist, auf irgendeine positive Weise mit ihr umzugehen, aber auf weniger intensive, intime Weise - damit lässt man zu, dass sich die Form verändert, und hält sich vor Augen, dass es eine ganze Reihe von Leben und eine Fortsetzung von Karmas gibt. Habe ich das richtig verstanden?
Ja, obwohl das möglicherweise nicht einfach ist, vor allem wenn es unser Partner war, der die Trennung veranlasst hat, und wir immer noch verletzt oder traurig sind. Doch irgendwie müssen wir über diese Verletztheit hinwegkommen und versuchen, eine positivere Einstellung zu gewinnen. Das wichtigste ist, unser Leben weiterzuführen, ohne in den Gedanken an die Vergangenheit steckenzubleiben. Wir haben sowieso keine Wahl. Das Leben geht weiter.
Wenn wir uns weiterhin mit der Rolle des Partners in einer unbefriedigenden oder schlechten Beziehung identifizieren, werden wir uns weiterhin verletzt fühlen und negative Gefühle in Bezug auf unseren ehemaligen Partner haben. Wenn wir dagegen ein neues Kapitel in unserem Leben beginnen und uns damit identifizieren – sei es ein Kapitel mit einem Leben als Single oder mit einer anderen Beziehung –, dann werden wir eine viel stabilere emotionale Struktur haben. Und wenn wir emotional stabiler sind und mehr Selbstbewusstsein in Bezug auf unsere Fähigkeit gewinnen, unser Leben fortzuführen, dann werden wir auch in der Lage sein, eine wie auch immer geartete positive Geisteshaltung gegenüber unserem Ex-Partner einzunehmen. Wir werden dazu in der Lage sein, uns mehr auf die positiven Eigenschaften dieser Person zu konzentrieren statt auf ihre Fehler und auf die Schwierigkeiten, die wir mit ihr gehabt haben.
Ein Gefühl der Verbundenheit mit allen ausdrücken
Sind wir nicht irgendwie mit allen verwandt und verbunden? Wir machen einfach bloß mehr aus dieser Verbindung, wenn wir uns mit einer bestimmten Person in einer Partnerbeziehung befinden.
Das bringt uns zurück zu der Frage, die ich vorhin aufgeworfen habe: Wie wollen wir diese Verbundenheit ausdrücken und ist es notwendig, dies zu tun, indem man miteinander schläft, sich an den Händen hält, oder gemeinsam isst, miteinander ausgeht oder auf welche Weise?
Die Frage, wie man seine Zuneigung ausdrücken soll, ist wirklich schwierig. Die Antwort, was im Sinne des Dharma als angemessen gilt, würde lauten, dass wir unsere Zuneigung am besten auf die Weise ausdrücken, die die andere Person am besten annehmen kann, ohne sie falsch zu verstehen. Unsere Zeichen der Zuneigung sollten genau der anderen Person entsprechen und mit ihrer Situation korrespondieren, nicht wahr?
Bei einigen Wesen ist das einfach. Meinem Hund kann ich meine Zuneigung zeigen, indem ich ihm den Kopf streichle oder ihm einen Knochen gebe. Das sind angemessene Zeichen der Zuneigung, die der Hund verstehen kann und die er schätzt. Ich komme nicht auf den Idee, meinem Hund gegenüber Zuneigung auf dieselbe Weise auszudrücken wie einem Menschen gegenüber, obwohl ich vielleicht manchmal den Impuls habe, meinen Hund zu umarmen. Aber mein Hund mag das nicht, das ist keine angebrachte Weise, einem Hund Zuneigung zu zeigen. Unter Hunden hingegen, besonders wenn sie kurz vor der Paarung stehen, ist es als Zeichen der Zuneigung üblich, dass das männliche Tier dem weiblichen in den Hals beißt. Für einen Menschen wäre es ziemlich unpassend, auf diese Weise Zuneigung zu seinem Hund oder zu anderen Menschen auszudrücken.
Auch bei Menschen sind die jeweils angebrachten und unangebrachten Arten, Zuneigung zu zeigen, unterschiedlich, je nachdem, ob man es mit Männern, Frauen, Kindern, Erwachsenen, Indern, Italienern, Deutschen, Engländern, Amerikanern, Japanern usw. zu tun hat. Die Unterschiede hängen nicht nur von der Person ab, der wir unsere Sympathie zeigen wollen, sondern auch davon, ob man selbst ein Mann oder eine Frau, ein Kind oder ein Erwachsener ist, von der Situation, in der man sich begegnet, von den anderen Menschen, die dabei anwesend sind usw. Oft haben wir allerdings die unbewusste Einstellung, dass „meine Gefühle wahrhaft und stichhaltig existieren und ich sie auf meine Art ausdrücken muss.“ Da ist ein großes „Ich Ich Ich“ vorhanden, das uns zwanghaft handeln lässt.
Das Festhalten an einem festen „Ich“ ist äußerst schwer zu überwinden. Es ist deshalb so schwer, weil wir uns täuschen, indem wir denken, wir seien eine liebevolle Person, wenn wir unsere Gefühle ausdrücken. Wir denken nicht daran, dass es der anderen Person vielleicht unangenehm sein könnte oder dass es sogar zerstörerisch sein könnte. Wir meinen, dass wir ein liebevoller Mensch sind, und wenn der andere den Ausdruck unserer Liebe nicht akzeptiert, empfinden wir das als Zurückweisung.
Und wenn wir unsere Zuneigung auf eine Weise ausdrücken würden, die die andere Person verstehen und akzeptieren kann, die aber nicht „meine Weise“ ist, sind wir unzufrieden. Wir haben dann das Gefühl, dieser Ausdruck von Zuneigung sei nicht authentisch. Nehmen wir z. B. an, „meine“ Art, Zuneigung zu zeigen, bestehe darin, Körperkontakt zu jemandem herzustellen, etwa indem ich ihn umarme, und dies sei die einzige Art, die ich selbst als „authentisch“ empfinde. Das wird große Probleme heraufbeschwören, wenn ich ein Mann bin und zu einer traditionell muslimischen Frau, mit der ich nicht verheiratet bin, Zuneigung empfinde.
Die Notwendigkeit von Meditation, um mit plötzlich aufsteigendem Verlangen umzugehen
Wie steht es mit einer Situation, in der man mit dem Verlangen unmittelbar in dem Moment umgehen muss, in dem es plötzlich auftaucht? Wenn wir z.B. jemandem begegnen, uns ihm nahe fühlen und einander sehr gut verstehen, und es dann geschieht, dass wir uns voneinander angezogen fühlen und miteinander schlafen wollen. Das ist keine ungewöhnliche Situation, ich denke, jeder kennt das. Es ist leicht, all die Überlegungen, die Sie genannt haben, zu verstehen und ihnen zuzustimmen, aber in dem Moment, in dem eine Situation auftritt, wie ich sie gerade beschrieben habe, wollen wir uns nicht damit befassen. Wir vertrauen der Emotion, die aufkommt, und meinen, dass es in Ordnung ist, sich davon mitreißen zu lassen. Wie können wir in dem Moment damit umgehen? Wie Sie schon sagten – die Sexualität selbst ist nicht das Problem; es ist die dahinterliegende Emotion, mit der wir uns beschäftigen müssen.
Wissen Sie, dieses Problem ist nicht nur auf Sexualität beschränkt. Wenn sich z.B. Kinder schlecht benehmen und wir in dem Moment wütend werden und sie anschreien, obwohl wir vom Verstand her wissen, dass das nichts nützt und nicht die beste Art ist, mit der Situation umzugehen. Aber die Unmittelbarkeit der Situation ist so stark, dass wir einfach instinktiv wütend werden und schreien. Das Gleiche gilt, wenn man mit jemanden Sex hat oder haben will. Hinsichtlich des Umgangs mit der momentanen Emotion gibt es da keinen großen Unterschied.
In beiden Fällen ist das einzige, was hilft, Erfahrung durch Meditation. Durch Meditation entwickelt man die nützliche Gewohnheit, achtsam zu sein, sich dessen gewahr zu sein, was geschieht, gegebenenfalls Methoden anzuwenden, die dem entgegenwirken usw. Wenn wir damit ausreichend vertraut sind, dann werden unsere neuen, positiven Gewohnheiten im selben Augenblick ausgelöst, in dem das Verlangen auftaucht, und wir werden dazu in der Lage sein, diese neuen Gewohnheiten einzusetzen.
Das Syndrom des „ausgehungerten Hundes“ und das Füttern des Dämonen
Es gibt noch einen weiteren Faktor, der es erschweren kann, sexuelle Begierde unter Kontrolle zu bekommen, wenn sie plötzlich aufkommt, während man mit jemandem zusammen ist. Möglicherweise gilt das nicht für alle, aber einige Menschen haben das Gefühl: „Hier besteht die Gelegenheit, mit jemanden Sex zu haben“, und unbewusst fühlen sie sich wie ein ausgehungerten Hund. Egal, ob sie schon einen sexuellen Partner haben oder nicht, denken sie: „Wenn ich diese Gelegenheit nicht nutze, wird sich keine mehr ergeben“. Auch wenn es sich nicht um die beste Wahl handelt, nehmen sie, was sie kriegen können. Eine Variante dieses Syndroms findet sich oft bei Menschen, die eine Midlife-Crisis durchmachen und das Gefühl haben, dass dies ihre letzte Chance ist, aufregenden Sex zu erleben, bevor sie zu alt und unattraktiv werden.
Wenn wir diese Art von Syndrom schon erlebt haben, kann es sehr aufschlussreich sein, zu untersuchen, warum wir uns wie ein ausgehungerter Hund fühlen. Wir müssen dieses Festhalten an einem festen „Ich“ erforschen, das dem Gefühl zugrunde liegt, ausgehungert nach Zuneigung zu sein – die Einstellung: „Ich habe Zuneigung verdient“, „Warum bekommen alle Zuneigung, bloß ich nicht“, „Niemand liebt mich“ usw.
Eine hilfreiche Methode, um dieses Syndrom zu überwinden, wurde von Tsultrim Allione entwickelt. Sie wird als „Dämonen füttern“ bezeichnet und ist eine Adaptation der buddhistischen Chöd-Praxis, bei der man das Haften am Selbst durchbricht, indem man sich vorstellt, dass man den eigenen Körper an Dämonen verfüttert.
Die Methode besteht darin, dass man vor sich ein leeres Kissen platziert, sich ihm gegenübersetzt und dann ein schwieriges emotionales Problem bestimmt, das man hat –beispielsweise, dass man ausgehungert nach Zuneigung ist. Dieses Gefühl treibt uns, umherzuwandern und zwanghaft zu versuchen, einen Partner zu finden. Wir stellen uns vor, dass das Problem in uns lauert, wie eine Art Dämon, der uns heimsucht, und versuchen, das zu spüren. Dann versuchen wir uns vorzustellen, wie der Dämon aussieht. Was für eine Form und Farbe hat er? Ist er schleimig? Hat er Tausende von Armen und Beinen, die alle nach jemandem greifen? Hat er scharfe Stacheln auf dem Rücken und spitze Zähne? Ist er groß und dick oder klein und ausgemergelt?
Dann stellen wir uns vor, dass der Dämon aus uns heraustritt und sich auf das Kissen uns gegenüber setzt. Nun fragen wir ihn: „Was willst du?“ Daraufhin stellen wir uns entweder vor, dass der Dämon antwortet, oder wir setzen uns selbst auf das andere Kissen, schauen auf den Platz, an dem wir eben gesessen haben und antworten uns selbst: „Ich will Zuneigung. Ich möchte Zuneigung bekommen können, ohne dass jemand dazwischenkommt oder sie mir wegnimmt“ – oder was immer der Dämon sonst will.
Falls wir den Sitz gewechselt hatten, kehren wir dann auf unseren ursprünglichen Platz zurück und beginnen nun in unserer Vorstellung, den Dämonen zu füttern. Wir geben ihm, was er möchte – in diesem Fall körperliche Zuneigung –, und wir lassen sie ihm von uns selbst zukommen. Wir füttern ihn mit einer unbegrenzten Menge, bis er genug hat. Das kann äußerst wirksam sein. Tsultrim Allione hat sehr großen Nutzen dieser Methode feststellen können, insbesondere bei AIDS- und Krebspatienten. Anscheinend trägt die Methode sogar dazu bei, das Immunsystem zu stärken. Bitte probieren Sie sie jetzt einmal mit denjenigen Problemen aus, die Sie haben, welche auch immer das sein mögen.
[Pause zum Üben]
Die Wirkung der Dämonenfütterung
Haben Sie irgendwelche Fragen oder Kommentare zu dieser Übung?
Die Übung hat mir das Gefühl gegeben, im Besitz von großem Reichtum zu sein. Ich habe mich wirklich in der Lage gefühlt, alles geben zu können. Normalerweise habe ich dieses Gefühl nicht. Doch während dieser Meditation, spürte ich wirklich, dass ich so viel geben kann. Ich denke, das ist eine bedeutende Nebenwirkung. Zusätzlich dazu, dass man den Dämonen füttert und das betreffende Problem bearbeitet, bekommen wir dadurch das Gefühl, dass es in uns einen großen Reichtum gibt, den wir verschenken können.
Dieses Gefühl von Reichtum gleicht dem, was aufkommt, wenn man in der Tantra-Praxis die Gaben segnet, die darbebracht werden. Zuerst reinigen wir die Gaben, z.B. Blumen, Weihrauch oder Speisen, durch unser Verständnis der Leerheit. Dann verwandeln wir sie in Nektar und in andere reine Formen. Schließlich vermehren wir sie, bis ihre Menge unendlich ist, damit wir unbegrenzt Gaben darbringen können; die Fülle ist unerschöpflich. Wenn wir dieses Vorgehen wirklich zu eigen machen, während wir Gaben darbringen, werden wir in der Übung des Dämonenfütterns spüren, dass wir eine unendliche Menge an Zuneigung oder Aufmerksamkeit zu verschenken haben oder was auch immer unser spezieller Dämon will.
Ich fand auch, dass es sich ganz natürlich anfühlt, dem Dämonen zu geben, was er will. Und wenn er es bekommen hat, dann geht er weg. Doch wie kommen wir dahin? Anfangs identifizieren wir uns so stark mit dem Dämonen in uns und wollen niemandem irgendetwas geben. Es ist wirklich merkwürdig.
Es ist in der Tat merkwürdig. Es funktioniert, weil wir dem Dämonen das geben, was wir selbst wollen und brauchen, und das ist sehr heilsam. Anderen zu geben, was wir selbst brauchen, ist hier die Lösung. Wenn wir z.B. eine schlechte Beziehung zu einem unserer Eltern oder zu beiden haben, dann besteht die beste Möglichkeit, dies wirklich zu überwinden, darin, unseren eigenen Kindern oder anderen Kindern gute Eltern zu sein. Wir geben ihnen, was wir selbst bekommen wollten – aber hoffentlich nicht auf neurotische, sondern auf positive Weise. Das kann sehr heilsam sein. Viele Menschen folgen dieser Vorgehensweise, indem sie ihren Kindern die materiellen Vorteile und Möglichkeiten verschaffen, die sie selbst als Kind nicht gehabt haben. Doch psychologisch wichtiger ist es, ihnen die Aufmerksamkeit und die Zuwendung zu schenken, die wir möglicherweise nicht bekommen haben.
Es gibt mir ein Gefühl großer Zufriedenheit, wenn ich dem Dämonen etwas gebe.
Ich denke, das liegt daran, dass wir durch diese Übung das Selbstbewusstsein gewinnen, dass wir imstande sind, etwas zu geben. Wir haben etwas, das wir anderen schenken können. Es jemandem geben zu können, der es annimmt, nämlich dem Dämonen, verleiht uns mehr Selbstwertgefühl.
Ein tieferer Grund dafür, dass diese Übung ihre Wirkung entfaltet, besteht darin, dass man dabei, wie in der Chöd-Praxis, das Gefühl eines festen „Ich“ durchbricht. Wir tun dies, indem wir das eigene Probleme als Dämon darstellen, welcher die Identität des festen „Ich“ repräsentiert. Wenn der Dämon beispielsweise geliebt werden will, wir ihm grenzenlose Liebe und grenzenloses Verständnis schenken und er dann zufriedengestellt ist und weggeht, dann ist das feste „Ich“, das mit dem Dämonen identifiziert war, nicht mehr da. Das gibt uns die Gelegenheit, ein gesundes Ich-Gefühl zu stärken. Nachdem wir uns gezeigt haben, dass wir dazu in der Lage sind, etwas zu geben, wird unser Selbstwertgefühl, das auf diesem gesunden Ich-Gefühl basiert, stärker. Das befähigt uns, anderen freigebig zukommen zu lassen, was wir selbst so verzweifelt gebraucht haben. Das ist der ganze Sinn der Chöd-Praxis: das feste „Ich“ zu durchbrechen.
In der Übung war mein Dämon das Gefühl der Angst in mir, die bewirkt, dass ich zwanghaft versuche herauszubekommen, was andere von mir erwarten. Ich habe dem Dämonen den Freiraum gegeben, er selbst zu sein, ohne dass er anderen gefallen muss. Das war sehr befreiend.
Das ist ein gutes Beispiel, das zugleich zeigt, wie man mit dem Problem umgehen kann, welches oft auch dahintersteckt, wenn wir außerhalb unserer Partnerbeziehung sexuelle Affären suchen. Wir haben möglicherweise das Gefühl, dass wir innerhalb der Beziehung immer das tun müssen, was der Partner von uns erwartet. Da man sich deshalb vollkommen eingeengt fühlt, sucht man zwanghaft nach einem Partner außerhalb der Beziehung, mit dem man sich entspannen kann. Wie zuvor jemand erwähnt hat, kann man dann Spaß haben, ohne mit all dem Druck und den Problemen konfrontiert zu sein, die man zu Hause empfindet. Wenn wir aber dem Dämonen, und somit uns selbst, den Freiraum gegeben haben, man selbst zu sein, beginnt das Gefühl des Eingeengtseins sich aufzulösen. Dann können wir sogar in schwierigen Situationen zu Hause entspannter sein. Das ermöglicht uns auch, unserem Partner Freiraum zu lassen.
Solche Meditationsübungen sind also äußerst hilfreich dabei, mit der Unzufriedenheit umzugehen, die sich in sexuellen Beziehungen einnistet und uns dazu treiben kann, zwanghaft nach immer „mehr, mehr, mehr“ zu suchen. Dieser Zwang ist ein Dämon – füttern Sie deshalb den Dämonen!
Mit der körperlichen Anziehungskraft von Schönheit umgehen
Denken Sie, dass hinter der Unzufriedenheit in Beziehungen fast immer steht, dass man sich von anderen Menschen angezogen fühlt?
Nein, nicht unbedingt. Man kann eine enorme Freude an der Schönheit anderer empfinden, ohne dass uns das in irgendeiner Weise begierig macht, solange wir die andere Person nicht besitzen wollen. Genießen Sie einfach die Schönheit. Wir brauchen nicht alles anfassen, was wir schön finden – z.B. einen wundervollen Sonnenuntergang oder ein Lagerfeuer.
Es braucht nichts Verstörendes zu sein, wenn man Schönheit sieht und genießt. Aber wenn unser Geist voller Anhaftung ist, die auf dem Gefühl eines festen „Ichs“ basiert, das vielleicht meint, ihm werde Liebe vorenthalten, dann stört das im Grunde dabei, der Schönheit in einer anderen Person zu begegnen. Es bedeutet, dass wir diese Schönheit nicht in auf reine Weise, frei von Verwirrung, genießen können.
In der Tantra-Praxis üben wir in Bezug auf die dargebrachten Gaben eine noch andere Art der Verwandlung. Wir stellen uns vor, dass wir sie in einer reinen Weise, ohne Verwirrung, genießen können. Dies als gesunde Gewohnheit zu entwickeln ist einer der Gründe dafür, dass man in tantrischen Ritualen so zahlreiche Opfergaben darbringt. Wir stellen uns vor, dass wir diese Opfergaben genießen, ohne geistigen Störfaktoren zu unterliegen, frei von Verwirrung, so, wie es ein Buddha tun würde. Und dann versuchen wir, sie tatsächlich auf diese Weise zu genießen. Mit einem ausreichenden Maß an Übung und Vertrautheit werden wir dazu in der Lage sein, die Schönheit anderer Menschen zu genießen, ohne dass wir, wenn wir sie sehen, unruhig werden. Wir haben nicht mehr das Gefühl, dass wir die andere Person berühren müssen, oder dass wir eine sexuelle Begegnung mit ihr haben müssen. Mit dieser entspannteren und offeneren Geisteshaltung gewinnen wir tatsächlich mehr Freude.
Um nachzuvollziehen, was ich damit sagen will, denken Sie daran, wie entspannt man sich fühlt, wenn man den Anblick eines wunderschönen Vogels genießt, den man auf einem Feld sieht, ohne ihn auf besitzergreifende Weise mit dem Gedanken „mein“ in Verbindung zu bringen. Wenn wir nach seiner Schönheit greifen, verspannen sich unsere Energien. Wir versuchen ihn zu fangen, und wenn es uns gelingt, stecken wir ihn in einen Käfig in unserem Haus. Der arme Vogel hockt nun in einem Gefängnis. Denken Sie, dass er sich dann besonders glücklich fühlt?
Der Drang, jemanden zu berühren
Wir haben es hier mit verschiedenen Sinnen zu tun. Man könnte das Ganze so verstehen, dass Anschauen in Ordnung ist, Berühren hingegen nicht. Wie kommt es, dass Berühren einen so großen Unterschied ausmacht, besonders, wenn man die Hand um etwas legen und dessen Form spüren kann?
Das ist eine sehr interessante und wichtige Frage. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Leerheit könnte man überlegen: Wird etwas real, wenn wir es berühren? Macht die Berührung uns real? Wir müssen das tiefgreifend untersuchen. Es gibt ja psychisch etwas gestörte Menschen, die zwanghaft meinen, sie müssten alles berühren, etwa alle ausgestellten Kleider in einem Kleiderladen.
Und was das In-der-Hand-Halten angeht: Wenn wir über das Greifen nach wahrer Existenz nachdenken, liegt nahe, dass dies eine Art ist, geistig stark an einem Objekt festzuhalten. Wenn wir zusätzlich zum geistigen Festhalten etwas physisch in der Hand halten, verstärkt das körperliche Greifen das geistige. Deshalb fühlen wir uns sicherer, wenn wir etwas festhalten, wenn wir jemanden umarmen oder wenn uns jemand umarmt. Wir fühlen uns auch sicherer, wenn wir in eine Decke eingewickelt sind. Obwohl es in der buddhistischen Wahrnehmungstheorie heißt, dass das visuelle Bewusstsein Formen ergreift, das Hörbewusstsein Töne ergreift usw., erleben wir die Wahrnehmung nicht bewusst als ein physisches Ergreifen des Objekts.
Es ist auch ein großer Unterschied, ob man ein Stück Stoff berührt und festhält oder die Hand einer Person, oder einen Teil ihres Körpers streichelt. Der Unterschied hängt mit dem biologischen und psychologischen Bedürfnis zusammen, das Menschen sowie die meisten Tiere nach Zuneigung und körperlichem Kontakt zu einem anderen Wesen haben. Ärzte haben erwiesen, dass ein Mangel an menschlichem Körperkontakt und an Zuneigung die Entwicklung eines Kindes ernsthaft behindert. Auch bei Erwachsenen, speziell bei älteren Menschen, spielen Zuneigung und Körperkontakt zu anderen Menschen eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Immunsystems und somit für die Gesundheit und ein langes Leben. Es gibt also biologische Faktoren, die zu unserem Drang beitragen, jemanden zu berühren oder im Arm zu halten.
Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen gesundem körperlichen Kontakt und der Besessenheit oder dem zwanghaften Verlangen nach Körperkontakt. Wir müssen hier weiterhin zwischen angebrachten und ungebrachten Arten körperlicher Berührung in Beziehung zu der großen Vielfalt unterschiedlicher Menschen, die wir treffen und kennen, unterscheiden.
Der Drang dazu, den Genuss des Orgasmus zu erfahren
Manchmal reicht es nicht, wenn man jemanden umarmt. Plötzlich leitet dies dazu über, dass man Sex miteinander hat. Was können wir tun, wenn wir merken, dass das Umarmen nicht ausreicht?
Es ist wichtig, den Drang, einen Orgasmus zu haben, sehr sorgfältig zu untersuchen. Wenn Männer einen Orgasmus haben, dann kündigt das das Ende ihres sexuellen Vergnügens an. Beim Orgasmus erfährt man die Wonne der Befreiung von einer Spannung, die sich vor und während des Sexualakts aufgebaut hat. Allerdings beendet er nicht nur die Spannung, sondern auch die Wonne. Wenn ein Mann also diese Erfahrung verlängern möchte, ist ein Orgasmus eigentlich kontraproduktiv. Eine Frau kann zwar mehrfache Orgasmen haben, d.h. die Seligkeit endet nicht nach dem ersten davon, aber trotzdem wird sich die glückselige Energie irgendwann nach ihrer Freisetzung erschöpfen.
Somit erhebt sich die interessante Frage: Was wollen wir tatsächlich? Wollen wir einen Orgasmus, der das ganze Ereignis beendet, oder wollen wir die Streicheleinheiten und den Körperkontakt, der davor stattfindet? Für viele Menschen ist Letzteres wichtiger als ein tatsächlicher Orgasmus, besonders wenn man älter wird. Obwohl dann nicht so ein dramatischer Höhepunkt stattfindet, ist so etwas in vielerlei Hinsicht befriedigender. Nun mögen Sie sagen, dass man ja nach dem Orgasmus beieinander liegen und weiterhin Zärtlichkeiten austauschen kann. Das mag sein. Doch die meisten Raucher haben danach eher das Bedürfnis nach einer Zigarette und im Allgemeinen schlafen die meisten Menschen danach rasch ein.
Es ist sehr interessant, einen Orgasmus mit einem Juckreiz zu vergleichen. Wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen Juckreiz konzentriert, während man Achtsamkeitsmeditation übt, entdeckt man, dass ein Juckreiz tatsächlich eine Art wonnevolle Empfindung ist. Doch sie ist zu intensiv, und deshalb haben wir den zwanghaften Drang, uns zu kratzen, um sie zu beenden. Die Empfindung ist einfach zu heftig und daher setzen wir ihr ein Ende. Was beim Orgasmus geschieht, ist dem sehr ähnlich. Der sexuelle Genuss steigert sich, während man sich dem Gipfel des Orgasmus nähert, und man wird geradezu zwanghaft dazu getrieben, den Genuss zu einem Punkt zu bringen, der ihn beendet. Tatsächlich löschen wir das glückselige Gewahrsein, wie wir einen Juckreiz beenden. Es ist sehr interessant.
Unseren zwanghaften Drang nach der Erfahrung eines Orgasmus auf diese Weise zu analysieren kann uns dabei helfen, mit angebrachteren Arten zufrieden zu sein, wie man Partnern anderer Personen gegenüber Zuneigung auszudrücken und sie von ihnen empfangen kann, oder auch allgemein gegenüber Menschen, die nicht unsere Partner sind. Jemandem seine Zuneigung zu zeigen braucht nicht zum Sexualakt und Orgasmus zu führen.
Mit sexuellen Spannungen umgehen
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass es im Körper zur Ausschüttung bestimmter süchtig machender Hormone kommt, wenn man sich verliebt und in diesem euphorischen Geisteszustand Sex hat. Das sei der Grund, weshalb wir nach diesen euphorischen Zuständen süchtig werden. In einer Beziehung, in der man nicht mehr verliebt ist und Sex nichts Aufregendes mehr ist, sondern lediglich eine Art Routine, ist die Hormonausschüttung nicht so stark. Aus diesem Grund sucht man dann nach einem neuen „High“. Das treibt uns dazu, außerhalb der Beziehung einen anderen, aufregenderen Partner zu suchen.
Denken Sie zum Beispiel an zwei Magneten. Wenn man zwei Magneten leicht auseinander hält, spürt man eine stärkere Spannung, und die energetische Anziehung fühlt sich in gewissem Sinne stärker an, als wenn sich die Magneten berühren. Wenn man die Art von Hormonrausch sucht, den die Zeitungen beschreiben, kann es weitaus wirksamer sein, sich einfach nur in der Gesellschaft einer Person zu befinden, die man attraktiv findet, die jedoch ein unangebrachter Sexualpartner wäre, als wenn man mit ihr intim ist.
Denken Sie bitte darüber nach: Wenn wir uns stark zu jemandem hingezogen fühlen und die Person anschauen, nimmt sie sehr viel von unserem Aufmerksamkeitsfeld in Anspruch. Wenn wir die Person jedoch lange umarmen, sehen wir die Wand oder das Bett und nicht die Person, oder unsere Augen sind geschlossen. Wenn die Umarmung immer weiter andauert, werden wir uns in den meisten Fällen nach einer Weile etwas langweilen. Unser Geist beginnt abzuschweifen. Es ist sehr schwer, die Aufmerksamkeit ganz bei der anderen Person zu belassen. Möglicherweise beginnt man sogar, an jemand anderen zu denken. Wenn dagegen eine gewisse Distanz zwischen uns und der anderen Person läge, wären wir sehr stark auf sie konzentriert. Dann besteht so etwas wie eine magnetische Spannung zwischen uns.
Die Kunst besteht darin, diese magnetische Spannung zu genießen, ohne den zwanghaften Drang aufkommen zu lassen, sie zu zerstören, wie wir einen wachsenden Juckreiz oder die wachsende Spannung eines nahen Orgasmus vernichten. Es ist wie das Überwinden von Kitzeligsein. Viele Menschen werden verrückt vor lauter Kitzeligkeit, doch tatsächlich hindern sie sich dadurch daran, das angenehme Gefühl, gekitzelt zu werden, zu genießen. Es geht also darum, den Entschluss zu fassen, nicht kitzelig zu sein. Wenn wir verstehen, dass alles nur eine Frage unserer Geisteshaltung ist, identifizieren wir uns nicht mehr als kitzelige Person. Durch eine Veränderung unserer Geisteshaltung können wir uns entspannen und das kitzelnde Gefühl genießen.
Ähnlich können wir mit der Spannung umgehen, die sich ergibt, wenn wir einen schönen Fremden sehen, der uns reizt, oder mit der Spannung, wenn er zu einem Freund wird und wir mit ihm zusammen sind, oder sogar die Spannung, liebevollen Kontakt zu ihm zu haben. Wir können einfach das erregende Vergnügen genießen – ob wir es nun als „Hormonausschüttung“ beschreiben oder nicht –, ohne dass wir es durch ein unangebrachtes Sexualverhalten zerstören müssen.
Mir scheint, ich habe im Yoga eine ähnliche Erfahrung gemacht, wenn wir Partnerübungen machen. Manchmal berühren wir unseren Partner und es ist eine gute Art des Berührens. Wir nennen es „leere Berührung“. Es ist eine Art des Berührens mit Gewahrsein der Hand und der Gefühle, doch ohne Druck oder Zug – ein Berühren, das nicht von Attraktion oder Anhaftung beeinträchtigt ist. Man bleibt nur beim Kontakt und bei dem Gefühl der Verbundenheit, der Wärme und des guten Willens, die in der Berührung sind. Ich kann das sehr genießen, ohne dass es zu etwas Sexuellem wird.
Das ist ein gutes Beispiel für das, wovon wir gesprochen haben. Wie Sie sehen, ist es also durchaus möglich, auch mit einem Drang zu unangebrachtem Sexualverhalten auf diese Weise umzugehen.
Zusammenfassung
Ich denke, dies sind einige der wesentlichen Punkte buddhistischer Sexualethik im Hinblick darauf, wie wir das Ausmaß an Problemen und Unglücklichsein, das wir uns durch unser Sexualverhalten schaffen, auf ein Minimum reduzieren können. Wichtig ist, ehrlich die Motivation zu prüfen, die hinter unseren sexuellen Aktivitäten steht. Das gilt sowohl für den Sex mit dem eigenen Partner als auch in Bezug auf andere Partner, wenn wir uns dazu hingezogen fühlen. Es gilt auch sorgfältig zu prüfen, als was wir Sex betrachten. Idealisieren wir ihn oder betrachten wir ihn realistisch? Wenn uns daran liegt, uns von unseren Problemen zu befreien – oder auch dann, wenn wir nicht an einem so hohen Ziel interessiert sind, sondern einfach nur unsere Situation in Samsara verbessern und weniger Probleme in diesem Leben haben wollen –, dann müssen wir versuchen, ein Sexualverhalten zu vermeiden, das durch eine störende Emotion oder irgendeine Fantasievorstellung motiviert ist. Und wir es ist natürlich nötig, unser Bestes zu tun, um der anderen Person durch unser Sexualverhalten keine Probleme zu schaffen, auch wenn es sehr schwierig ist, mit Sicherheit abzuschätzen, welche Wirkungen unsere Handlungen auf jemand anderen haben werden. Erinnern Sie sich bitte daran, das nirgends in der buddhistischen Ethik gesagt wird: „Du sollst dich so verhalten und so nicht.“ Worauf es ankommt, ist, dass man aufhören will, sich Probleme zu schaffen, und ein realistisches Verständnis von Ursachen und Wirkungen des Verhaltens hat.