Umgang mit Schädlichem

Verse 12 bis 16

Umgang mit Schädlichem 

Wir wollen Buddhaschaft erlangen, damit wir allen fühlenden Wesen nützen können. Das ist nicht gerade leicht zu verdauen. Wir lesen gerade den Text von Gyalse Togme Zangpo „37 Übungen der Bodhisattvas“ und sind bis zum 12. Vers gekommen. Obwohl wir in der letzten Sitzung schon einiges dazu gesagt haben, würde ich heute noch gern mit Vers 12 weitermachen.  

(12) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand unter dem Einfluss großer Begierde unsere Reichtümer stiehlt oder andere dazu veranlasst, ihm dennoch unseren Körper, unsere Ressourcen und unsere konstruktiven Handlungen aus allen drei Zeiten zu widmen.

Wie gesagt, mögen das ja schöne Worte sein, doch sie sind auch ziemlich schwer in die Praxis umzusetzen. Die Frage, die sich automatisch stellt, ist: „Warum um alles in der Welt sollte ich meinen Körper, meinen Status und meine Verdienste anderen geben?“ Wir mögen vielleicht denken, es wäre in Ordnung, diese Dinge unserer Familie oder jemandem zu geben, den wir sehr mögen, doch Fremden, die wir gar nicht kennen? Warum sollten wir das tun? Die Frage werden wir uns sicherlich stellen und das ist völlig normal. Für Bodhisattvas ist es allerdings so, dass es für sie merkwürdig wäre, nicht alles wegzugeben. Sie sind das genaue Gegenteil von uns. Für sie ist es normal, ihren Körper und ihre Verdienste wegzugeben, doch für uns nicht. 

Es handelt sich um eine andere Denkweise und in beiden gibt es eine gewisse Logik. Wenn man jemanden wirklich liebt, bedauert man es nicht, den eigenen Körper oder Reichtum ohne weitere Fragen zu verschenken. Das ist normal. Bodhisattvas praktizieren dies allerdings gleichermaßen mit allen, sogar mit ihren Feinden und auch mit völlig Fremden. Durch ihre Praxis erkennen sie den immensen Nutzen, ihren Körper, ihre Verdienste und ihren Besitz zu verschenken. Es macht sie so froh und glücklich, und es verleiht ihnen so viel Energie. Ein lebendiges Beispiel dafür ist Seine Heiligkeit der Dalai Lama. Er ist sogar im Alter von 85 Jahren viel auf Reisen und hat noch immer die Kraft dafür. Seine Ärzte raten ihm immer nicht so viel zu reisen, doch für ihn ist es ganz normal. Laut ihm ist es zwar ziemlich ermüdend, doch am Ende des Tages macht es ihn glücklich. Es lohnt sich, Energie in diese Praxis zu stecken. 

Können wir also wie er sein? Die Antwort lautet: wenn wir über Bodhichitta verfügen. Im Moment erforschen wir Bodhichitta und wir tun es nicht einfach, weil der Buddha oder Seine Heiligkeit der Dalai Lama gesagt haben, es wäre äußerst wichtig. Wir sind hier, um Bodhichitta zu erforschen, weil wir daran interessiert sind, diese Denkweise in uns zu entwickeln. Bis jetzt haben wir uns nur auf uns selbst, unsere Familie und unsere Freunde gerichtet. Alle anderen haben wir auf Distanz gehalten. Wir haben uns nicht um Feinde und Fremde gekümmert. All das ist allerdings Unwissenheit. Wenn ein Feind uns beleidigt, sind wir bereit, gegen ihn anzugehen, doch wenn unsere Familie das tut, versuchen wir sie zu verstehen. Für Bodhisattvas sind alle fühlenden Wesen ihre Familie. 

Was immer fühlende Wesen sagen, wird von Bodhisattvas akzeptiert. Wenn fühlende Wesen Bodhisattvas schlagen wollen, akzeptieren sie es. Doch sie sind keineswegs dumm. Will jemand sie schlagen, lassen sie es wirklich zu. Vielleicht denken wir, das wäre ziemlich dumm, doch Bodhisattvas sehen das anders. Sie versuchen es, wenn möglich, zu vermeiden, doch wenn es unvermeidlich ist, akzeptieren Bodhisattvas die Schläge und bringen so viel Geduld wie möglich hervor.

Mahatma Gandhi war ein ziemlich guter Hindu. Er schrieb in seinem Buch über Geduld Folgendes: Wenn andere dich schlagen wollen, versuchst du sie aufzuhalten, doch wenn sie wirklich entschlossen sind, lässt du sie gewähren. Das ähnelt dem, was Jesus in der Bibel sagt: wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, bietest du ihm auch die linke. Ist das fühlende Wesen dann zufrieden, wird es keine Wangen mehr geben, die man noch schlagen kann. Das ist nur ein Beispiel. Ich sage nicht, wir sollten andere animieren, uns zu schlagen. Doch wenn uns so etwas widerfährt, gibt es da eine andere Denkweise, die wir entwickeln können. 

Anderen Liebe zeigen 

Können wir für andere nicht ein hohes Maß an Liebe entwickeln, ist diese Praxis unmöglich. Sind wir erst einmal in der Lage, alle fühlenden Wesen als unsere Familie zu betrachten, werden wir nicht mit Gewalt antworten, auch wenn sie uns verletzen, andere dazu ermutigen, uns etwas wegzunehmen oder andere negative Handlungen ausüben. Wir werden verstehen, dass diese Person so viel negatives karmisches Potenzial ansammelt und wenn wir nicht negativ darauf reagieren, bekommen sie ganz automatisch eine Art Ermäßigung. Ist das nicht lustig? Dieses Wesen hat so eine Abneigung gegenüber uns und sagt so viele schlechte Dinge über uns, doch wir nehmen es nicht ernst. Wir empfinden einfach nur Liebe. Es gibt weder Gewinn noch Verlust. Gehen wir gegen sie vor und wehren uns, würden wir zusammen viel negatives karmisches Potenzial ansammeln. Wir gehen also nicht darauf ein und leisten somit einen Beitrag, dass die andere Person weniger negatives karmisches Potenzial ansammelt. Das ist eine große Sache, die wir anderen schenken können. 

Die Frage stellt sich nun, wie wir ihnen bestmöglich unsere Liebe zeigen können. Liebe bedeutet ja, sich zu wünschen, dass andere glücklich sind. Was ist Glück? Bedeutet es Reichtum? Stellt euch vor, ihr wärt der reichste Mensch der Welt, ihr hättet eine Maschine zum Gelddrucken und könntet jeden Tag Geld verschenken. Jeder würde reich werden und wir hätten so viele Milliardäre mit unglaublich viel Geld. Man würde denken, jeder wäre dann glücklich, aber sie alle haben weiterhin Probleme. Da geht es um das Ansehen, die Erwartungen anderer und die fortwährende innere Unzufriedenheit. Geld und Ansehen allein sind wirklich nicht alles. Das können wir ganz leicht von Prominenten lernen. Wir folgen ihnen gern und so sollten wir zumindest etwas von ihnen lernen. Wir glauben, reich und berühmt zu sein, wird uns glücklich machen, doch dann hören wir von Fällen, in denen Prominente sogar Selbstmord begehen. Ansehen und Ruhm reichen also nicht aus, um uns glücklich zu machen. 

Was ist nun echtes Glück? Buddha lehrte, wie man wahres Glück erlangen kann. Er lehrte die vier edlen Wahrheiten und sagte, dass er das beste und andauernde Glück gefunden hatte. Laut ihm gibt es einen Pfad, den man folgen kann, um zu diesem Glück zu gelangen. Zunächst muss man Leiden und seine Ursachen verstehen, und dann die Möglichkeit einer Beendigung der Leiden und wie man dem Pfad folgen kann, der dem Leiden ein Ende setzt. 

Leiden erkennen und verstehen 

Eigentlich ist es eines der schwierigsten Dinge, Leiden zu erkennen. Natürlich wissen wir alle, dass Kopfschmerzen und Bauchschmerzen Leiden sind. Sogar Tiere wissen das. Doch sogar für gebildete Leute ist es schwer zu erkennen, dass darüber hinaus die Veränderung echtes Leiden bedeutet. Für uns Menschen ist es die Veränderung, die Leid bedeutet. Wir sind glücklich, doch dann wird das Glück ganz langsam zu Leid. 

Wir Menschen sind jedoch schlau genug, diesen Schritten eines Pfades zu folgen. Dieser Pfad ist etwas, das wir eine Religion nennen. Und es gibt zahlreiche Religionen. All diese Religionen sind entstanden, weil es in der Welt Leiden und Traurigkeit gibt. Die Religion gibt uns hingegen Hoffnung. Wir müssen uns keine Sorgen machen, denn Gott hat diese Welt erschaffen. Wenn wir Gutes tun, werden wir in den Himmel kommen, und wenn wir Schlechtes tun, werden wir in der Hölle landen. All diese Vorstellungen und Konzepte sind entstanden, weil es Leiden in der Welt gibt. Doch sogar jenseits des Leids von Kopfschmerzen und des Leids der Veränderung, richtet sich der Buddhismus noch auf eine weitere dritte Art des Leids. In anderen Religionen wird nicht darüber gesprochen. Es geht um das alles umfassende Leiden. Alles umfassendes Leiden ist die Grundlage der anderen zwei Arten des Leidens, dem Leid des Leidens und dem Leid der Veränderung. 

Egal ob wir in den niederen oder höheren Bereichen geboren werden, wir bewegen uns einfach immer im Kreis und wo auch immer wir hingehen, wir müssen wieder „zurück nach Hause“ kommen. Dieses Zuhause ist tatsächlich unser wahres Leiden. Wo immer wir uns in Samsara befinden, sogar auf der höchsten Ebene ist es immer noch leidvoll. Im Hinduismus reden sie auch über diese Ebenen und die höheren Bereiche. Bei ihnen gibt es im höchsten Bereich kein Leid, er befindet sich nicht in dieser Welt, was es bei den Christen und Muslimen jedoch nicht gibt. 

In diesem höchsten Bereich von Samsara ist der Geist äußerst subtil. Es gibt kein Greifen, nur den Geist, wie in einer kleinen Meditation, in der völlige Stille herrscht. Das verstehen sie als den Gipfel von Samsara und darüber hinaus gibt es nichts. Doch sogar wenn wir diese Ebene erreichen, müssen wir wieder zurückkommen. Sogar auf dieser Ebene sterben wir irgendwann und werden wiedergeboren. Manchmal ist es nicht leicht, das Leiden im Himmel mit all den männlichen und weiblichen Gottheiten zu erkennen, denn während ihres Lebens scheint es unbegrenzte Mengen an Glück und Freuden zu geben. Doch am Ende ihres Lebens, wenn sie sterben müssen, nehmen sie plötzlich den Geruch von welken Blumen wahr und fühlen sich schwach. Durch ihre Hellsichtigkeit wissen sie, wo sie wiedergeboren werden und das ist das Schlimmste, denn sie haben im Götterbereich so viel positives Potenzial aufgebraucht, dass sie ihre Wiedergeburt in den niederen Bereichen sehen und nichts dagegen tun können. Vielleicht ist es für uns Menschen besser, weil wir nicht wissen, wo wir wiedergeboren werden. 

Große Praktizierende und Meister beten, nicht in den himmlischen Bereichen wiedergeboren zu werden, denn sie sind sich darüber bewusst, dass es in ihrem Leben dort zu großen Genuss geben wird und sie keinen Dharma praktizieren und somit keine Vorbereitungen für das nächste Leben treffen werden. Unser menschliches Leben ist wahrhaft ein kostbares menschliches Leben, weil wir praktizieren können. Es ist gleichzeitig süß und bitter, was uns hilft, den Dharma zu praktizieren. 

Es gibt also eine Methode, um der Ursache unseres Leidens, dem unwissenden Geist, den wir haben, ein Ende zu setzen. Ihn können wir beseitigen. Doch was ist diese Unwissenheit? Wenn von Unwissenheit die Rede ist, geht es um dieses mangelnde Gewahrsein darüber, wie wir und wie alles existiert. Wir fühlen uns wie ein solides „Ich“, das der oder die Wichtigste im Universum ist. Das ist genau genommen eine verblendete Denkweise. Es ist wie im „Herzsutra“, wo es darum geht zu untersuchen, wo sich das „Ich“ befindet. Wenn man über den Kopf, die Nase, das Ohr oder die Zunge meditiert, kann man kein „Ich“ finden. Man kann das „Ich“ auch nicht im physischen Körper oder im Geist finden. Buddhas Erwiderung darauf ist, dass es so etwas wie ein solides „Ich“ nicht gibt. Aber dennoch empfinden, reden, laufen und essen wir. Das ist die relative Wahrheit der Existenz. Doch sie ist lediglich wie eine Erscheinung. Sie ist wie ein hübscher Regenbogen mit wunderschönen Farben. Doch sogar wenn wir ihn klar sehen können, sind wir nicht in der Lage, einen Regenbogen zu greifen, denn es gibt nichts, an dem wir festhalten können. Wir müssen alles, was wir fühlen, sehen und genießen, wie diesen Regenbogen sehen. Wir sollten es genießen wie eine Illusion. Das ist die Lehre Buddhas. 

Manchmal werden wir wütend und nachdem sich unser Geist beruhigt hat und wir uns fragen, warum wir wütend waren, können wir es nicht mit Sicherheit sagen. Der große Feind, den es zu geben schien, als wir uns ärgerten, scheint nicht so zu sein, wie wir ursprünglich dachten. Wir erkennen, wie dumm wir waren. Ich sage nicht, dass es keine Feinde gibt, doch es gibt nichts was wir hassen müssen.

Lernen wir die Leerheit, die letztendliche Wahrheit, kennen, praktizieren sie und sehen, dass sie Wut und Anhaftung in unserem Leben vermindert, werden wir merken, dass wir eine beachtliche Medizin gefunden haben. Sie kann uns von all unseren Problemen und Leiden heilen. Sie kann auch alle anderen fühlenden Wesen heilen. Die nächste Frage stellt sich also, warum wir diese kostbare Medizin, die wir haben, anderen geben sollten. Das ist es, was Bodhisattvas tun. Andere fühlende Wesen waren so gütig zu uns und daher müssen wir uns für ihr Wohl bemühen. Ihr Leid und unser Leid sind dasselbe. Bodhisattvas glauben, dass alle fühlenden Wesen ihre Familie sind. Bis zur Erleuchtung gibt es keine Trennung. Bodhisattvas kümmert es nicht, ob sie in den niederen oder höheren Bereichen wiedergeboren werden. Sie wollen da wiedergeboren werden, wo sie fühlenden Wesen helfen können. Dazu haben sie sich selbst, mit ihrem Geist, ihrem Körper und ihrer Zeit, verpflichtet. 

Warum können wir das nicht auch tun? Das ist ganz einfach. Nehmen wir einmal an, wir haben gerade ein neues iPhone gekauft. Wir pflegen es sorgfältig und zeigen es unserer Familie, weil wir diesen Menschen vertrauen, aber passen auf, dass sie es nicht fallenlassen. Würde ein Bettler kommen und sagen: „gib es mal her“, würden wir das niemals tun. Wir können anderen nicht alles geben, nicht einmal im Geiste, was zu sprechen von der physischen Ebene. 

Bodhisattvas kümmern sich nicht darum. Sogar wenn sie das neuste Telefon haben, würden sie es jedem geben, der es haben möchte. Wenn es jemand fallenlässt, haben sie kein Problem damit. Auch wenn wir das nicht praktizieren können, sollten wir zumindest geistig offen dafür sein. Die physische Ebene lassen wir erst einmal beiseite, denn wir hängen zu sehr an den Dingen. Wir sollten hier auch unsere Feinde mit einbeziehen. Seine Heiligkeit schließt all die chinesischen Beamten in seine Gebete mit ein. Wäre Mao Zedong noch am Leben und würde auf Seine Heiligkeit treffen, wäre Mao viel nervöser und angespannter, denn er würde denken, der Dalai Lama sei ein Separatist, und daher müsse er überaus vorsichtig sein. Doch Seine Heiligkeit wäre völlig entspannt, denn er würde einfach denken, dass er nur ein weiteres menschliches Wesen trifft. Mao würde nicht diese Methode benutzen. Mit Bodhichitta schließt Seine Heiligkeit Mao in seine Praxis mit ein. Das ist ausgesprochen gesund und gut für Körper und Geist. 

Leiden als Teil des Bodhisattva-Pfades auf sich nehmen 

(13) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand uns den Kopf abschlägt, obwohl wir überhaupt nichts falsch gemacht haben, dennoch die schlimmen Folgen seiner Handlung mit der Kraft des Mitgefühls auf uns zu nehmen.

Ich würde ganz sicher niemandem erlauben, meinen Kopf abzuschlagen! Ich habe den anderen nichts getan und daher werde ich sie verklagen! So praktizieren wir momentan, doch Bodhisattva sind da anders. 

Bodhisattvas geht es um die lange Sicht und nicht nur um dieses Leben. Sie praktizieren, bis sie volle Erleuchtung erlangt haben. Was ist ihre Aufgabe bis zur Erleuchtung? Anderen zu nutzen. Den Kopf abzuschlagen ist nur eine kleine Sache. Wir sind schockiert und zornig, doch Bodhisattvas denken: „Wenn es ihnen Freude bereitet, können sie ruhig meinen Kopf abschlagen.“

Da gibt es eine schöne Geschichte aus Buddhas früherem Leben über einen König namens Sanjaya und seinen Sohn, Prinz Vishvantara. Dieser Prinz war Buddha Shakyamuni in einem früheren Leben und er war ein großer Praktizierender. König Sanjaya gab diesem Kind all seinen Besitz und sogar das Königreich. Prinz Vishvantara selbst war äußerst großzügig und wenn irgendjemand etwas brauchte, gab er es gern. Aber da gab es eine Sache, einen überaus kostbaren Edelstein, der für gute Ernten, Regen und Stabilität im Königreich sorgte. König Sanjaya gab seinem Sohn diesen Edelstein nicht, weil er wusste, dass er ihn wegen seiner mitfühlenden Natur verschenken würde. 

Doch dann gab es im Nachbarland Kalinga eine Dürre und der König und die Minister dieses Landes heckten einen Plan aus, um an den Edelstein zu kommen und sich das Mitgefühl des Prinzen dabei zunutze zu machen. Sie schickten einen armen Bettler zum Prinzen, der jammerte: „ich brauche Geld, Obdach und Kleidung.“ Der Prinz gab diesem Bettler Geld, ein Haus und etwas Schönes zum Anziehen, doch der Bettler blieb und sagte: „das ist nicht genug!“ Der Prinz fragte ihn daraufhin, was er wolle, worauf der Bettler antwortete, er bräuchte den kostbaren Stein. Der Prinz sagte dem Bettler, dass er nicht die Befugnis habe, diesen kostbaren Edelstein zu verschenken, doch der Bettler weinte und weinte und übte so einen Einfluss auf ihn aus. 

Das Mitgefühl des Prinzen wurde immer größer und er dachte sich: „Was ist der Nutzen von diesem Edelstein, wenn ich ihn behalte? Diese Person braucht ihn wirklich. Sein Leben ist wichtiger als dieser Reichtum. Ich könnte ihn diesem Bettler geben, auch wenn mich mein Vater dafür bestraft.“ Er empfand solch ein Mitgefühl für diesen Bettler, dass er ging, um den Edelstein vom Vater zu stehlen und ihn dem Bettler zu geben. Er hatte eine wirklich gute Motivation und dachte an das Glück aller fühlenden Wesen. Er betete: „Möge ich mit dieser Opfergabe die Praxis der Großzügigkeit vollenden und volle Erleuchtung erlangen.“ Damit gab er den kostbaren Stein fort. Bald darauf fand sein Vater heraus, dass er den kostbaren Edelstein an das benachbarte Königreich verschenkt hatte. All die Minister forderten, dass dem Prinzen der Thron entzogen und er zusammen mit Frau und Kindern vom Königreich verbannt wurde. 

Der Prinz gab das Königreich bereitwillig an seinen Vater zurück und bevor er ging, überließ er ihm auch all seinen Reichtum. Als Bestrafung wollten sie ihm sogar die Augen ausstechen und auf seiner Ebene der Praxis bedauerte oder zögerte Vishvantara nicht, sich die Augen ausstechen zu lassen. Die Geschichte geht weiter und schließlich kommen Vater und Sohn wieder zusammen, als der König erkennt, dass Reichtum nichts Besonderes ist. Tatsächlich ist der König sehr berührt von der Praxis seines Sohnes und sagt: „Du bis kein gewöhnlicher Mensch. Bitte mach, dass deine Augen wieder nachwachsen, das würde mich am glücklichsten machen. Auf diese Weise wachsen die Augen des Prinzen wieder nach, was schwer zu glauben ist, aber die Moral der Geschichte ist, dass wir ohne irgendwelche Erwartungen geben sollten. 

All das ist nichts Erstaunliches. Wenn wir jemanden wirklich lieben, würden wir unser Leben für den anderen geben. Solche Geschichten kennen wir auch aus den Nachrichten. Die Franzosen waren bereit, in der Revolution ihr Leben für ihr Land zu geben. Bodhisattvas sind bereit, ihr Leben sogar jenen zu geben, die sie verletzt und gequält haben. Das ist ein Zeichen dafür, wie sehr Bodhisattvas fühlende Wesen lieben. Sie denken: „Sogar wenn sie meinen Kopf abschlagen, werde ich sie gleichermaßen lieben und ihre Güte erwidern, die sie mir in früheren Leben zukommen lassen haben.“

Umgang mit Geschwätz und Hass 

(14) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand in tausend, Millionen, Milliarden von Welten vielerlei Unrühmliches über uns verbreitet, als Erwiderung liebevoll von seinen guten Eigenschaften zu sprechen.

Das ist eine gute Praxis, wenn andere über uns lästern und wir uns darüber ärgern. Wenn Menschen schlechte Dinge über uns sagen, macht uns das für gewöhnlich ziemlich traurig. In solchen Situationen erwidern Bodhisattvas ausschließlich mit Liebe. Sie loben die Person, die schlecht über sie redet. Das erfordert viel Geduld, doch es ändert alles. 

Lasst uns über Devadatta, Buddhas Cousin, sprechen, der ständig gegen Buddha ankämpfte. Mehrere Male versuchte er sogar den Buddha zu töten. Im Grunde war er ziemlich intelligent und in den Sutras wird oft über seine Qualitäten gesprochen. Devadatta konnte alles auswendig lernen und war in vielerlei Hinsicht begabt. Buddha war es ebenfalls und Devadatta versuchte fortwährend mit ihm zu wetteifern, doch der Buddha gewann immer. 

Einmal nahm der Buddha eine Medizin und als Devadatta das hörte, dachte er: „ich kann noch mehr Medizin einnehmen als der Buddha!“ Er nahm die Medizin, doch wurde daraufhin sehr krank und starb fast. Devadatta bat den Buddha, ihn zu heilen. Der Buddha sah Devadatta, diese Person, die so viele Male versucht hatte, ihm Schaden zuzufügen, mit großem Mitgefühl an. Er legte seine Hand auf Devadattas Stirn und sagte: „Meine Liebe und mein Mitgefühl gegenüber Rahula (dem Sohn Buddhas) und gegenüber Devadatta sind ebenbürtig. Mögest du durch diese Wahrheit geheilt werden.“ Nachdem er dies gesagt hatte, erholte sich Devadatta wieder. 

Was andere uns auch antun, wir können immer unseren Fokus darauf richten, ihnen Liebe und Mitgefühl zu schenken. Die Tibeter sind nicht frei, doch seht nur, was Seine Heiligkeit dem Rest der Welt geben konnte. Man kann sagen, all das ist dank der chinesischen Invasion Tibets geschehen. Entweder die Tibeter haben ihr eigenes Land oder Seine Heiligkeit erobert die Herzen der gesamten Welt. Es gibt so viele Chinesen, die Schüler Seiner Heiligkeit sind und möchten, dass er nach China kommt. Auch wenn China Tibet erobert hat, wer ist denn der eigentliche Gewinner? Mao Zedong oder Seine Heiligkeit der Dalai Lama? Es braucht Zeit, das zu erkennen, doch am Ende siegt zweifelsohne der Bodhisattva. 

Das sollte nicht nur die Praxis der Bodhisattvas, sondern die aller Menschen sein. Durch unsere Rede schaffen wir mehr Feinde, als durch den Körper, soviel ist sicher. Von außen kann man nicht viel erkennen und was im Geist los ist, kann auch niemand wirklich verstehen. Erst wenn wir sprechen, findet wirklich etwas statt. Von den zehn destruktiven Handlungen gibt es vier, die sich auf die Rede beziehen. Atisha und die großen Kadampa-Meister sagen, dass man auf seinen Mund achten sollte, wenn man mit Menschen zusammen ist, und auf den Geist, wenn man allein ist. Wir sollten also darauf achten, welche Worte wir benutzen und wie wir das tun.

Unsere Feinde als unsere Lehrer sehen 

(15) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn uns jemand öffentlich bloßstellt und schlecht über uns redet, uns voller Achtung vor ihm zu verneigen und unterscheidend festzustellen, dass die Person unser spiritueller Lehrer ist. 

In diesem Vers geht es um Geduld. Die anderen Menschen können ruhig schlechte Dinge über uns sagen; sollen sie doch! Wenn wir davon reden, Geduld zu entwickeln, ist es das, was wir brauchen. Wir können nicht Geduld mit Menschen üben, die immer nett und freundlich zu uns sind. Wir können nur Geduld mit Menschen üben, die uns in den Wahnsinn treiben. Daher sollten wir der Quelle unserer Geduld dankbar sein. Wer ist die Quelle? Es sind unsere Feinde. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf jemanden zu reagieren, der uns etwas antut, das wir nicht mögen. Entweder wir kämpfen gegen die Person oder wir kämpfen gegen die Handlung. Normalerweise kämpfen wir gern gegen die Person. Bodhisattvas lieben die Person, aber gehen gegen die Handlung an. Wenn sie verletzt werden, sind Bodhisattvas dankbar für die Lektion in ihrer Praxis, die Praxis der Geduld. 

Es ist schon komisch, unseren Feind als unseren Guru zu bezeichnen. Als Atisha aus Indien nach Tibet kam, brachte er einen Schüler mit, der ständig mit ihm stritt. Er war ziemlich dumm, doch Atisha nahm ihn überallhin mit und zollte ihm großen Respekt. Die Tibeter fragten ihn: „Ist das Euer Schüler? Er ist so dumm, streitet ständig und hat kein Respekt gegenüber Euch! Ihr hättet viel bessere Schüler mitnehmen können. In Nalanda habt Ihr abertausende Schüler, warum habt Ihr ihn mitgenommen?“ Mit gefalteten Händen sagte Atisha: „Sagt das nicht. Er ist so gütig zu mir. Ohne ihn würde meine Praxis abnehmen, doch mit ihm, wird sie besser und besser.“

Jeden Tag treffen wir auf Menschen. Schließen wir uns drinnen ein, macht das kein Spaß. Wir müssen rausgehen, etwas machen und uns ständig mit Menschen konfrontieren. Wir müssen lernen und in uns eine starke Praxis aufbauen, damit wir bereit sind, allem mit Geduld zu begegnen. 

Alle Wesen als unser einziges Kind sehen 

(16) Die Übung der Bodhisattvas ist: selbst wenn jemand, um den wir uns gekümmert und den wir geschätzt haben wie unser eigenes Kind, uns nun feindselig gegenübertritt, ihm besondere Zuneigung zu schenken, wie eine Mutter ihrem Kind, wenn es von Krankheit heimgesucht wird.

Wenn Bodhisattvas auf Probleme stoßen, tun sie es mit Gleichmut. Beschuldigt uns jedoch jemand, etwas falsch gemacht zu haben, ist das ziemlich schmerzhaft für uns, und um so mehr, wenn die Person jemand ist, zu der wir immer freundlich waren. Eltern schenken ihren Kindern so viel Liebe und Aufmerksamkeit, und sind ständig besorgt, ob es ihnen gut geht oder nicht. Dann wird das Kind älter und sagt: „Ihr habt es nicht richtig gemacht und jetzt habe ich dieses Problem. Es ist alles eure Schuld.“ Ich habe von Kindern gehört, die ihre Eltern verklagt haben. Das muss ziemlich schwer sein. 

Das Schlimmste ist, wenn man sich fragt: „Wie können sie mir das antun?“ Das Gefühl kommt ganz von selbst, jedoch nicht bei Bodhisattvas. Bodhisattva werden andere immer lieben, was auch immer sie ihnen antun. Versucht jemand einem Bodhisattva zu schaden, wir er die Person wie sein eigenes krankes Kind behandeln. 

Wenn wir ein Kind haben, das krank ist oder mentale Probleme hat, werden wir unser Bestes geben und versuchen, es zu verstehen. Wir nehmen es nicht persönlich, wenn es uns anschreit und beleidigt, und akzeptieren es, weil wir wissen, dass es krank ist. Genauso stehen fühlende Wesen, die uns angreifen, unter dem Einfluss ihres unwissenden Geistes. Sie sind verblendet. 

Eltern schenken ihren Kindern so viel Liebe, ohne etwas dafür zu erwarten. Nun, eigentlich haben die Eltern jede Menge Erwartungen und die Kinder auch. Heutzutage erwarten die Eltern viel von ihren Kindern. In Indien werden die Kinder von ihren Eltern beschimpft, wenn sie in der Schule schlechte Noten haben. Viele Kinder begehen sogar Selbstmord, weil sie keine guten Noten bekommen, in China auch; da gibt es diesen Erwartungsdruck. 

Im Westen habe ich bemerkt, dass die Leute ihren Talenten nachgehen. Man macht das, wozu man Lust hat und was einem gefällt. In Indien gibt es jedoch diesen Druck, gute Noten zu bekommen. Und hier geht es nicht um die Liebe der Eltern zu ihrem Kind, sondern um ihr Ansehen. Mit weniger Erwartungen gibt es keine großen Probleme. Haben wir jedoch keine Erwartungen, denken wir gleich, dass wir den Bezug zu der Person verlieren und dass uns alles egal ist. Bodhisattvas verlieren jedoch nicht den Bezug. Er ist da, weil echtes Mitgefühl da ist. Die Quelle von Bodhichitta ist Mitgefühl. 

Widmung 

Lasst uns all das positive Potenzial, das wir zusammen aufgebaut haben, widmen. 

Wenn ihr ein Problem in eurem Leben habt, denkt daran, dass es in eurer Macht liegt, dieses Problem zu nutzen, um so viele erstaunliche Qualitäten zu entfalten. Betrachten wir es auf diese Weise, werden wir erkennen, dass sich die Bemühung lohnt, sich darin zu schulen. Gehen wir in ein Geschäft und fangen an zu handeln, fragen wir uns vielleicht, warum wir es tun und warum die andere Person so viel Geld von uns haben will. An sich macht es Spaß, die Situationen zu analysieren, in denen wir uns wiederfinden. Und in Indien gibt es viele Möglichkeiten, sich in Geduld zu üben, angefangen mit dem Taxifahrer, wenn man am Flughafen ankommt! Im Westen sind alle ziemlich höflich. 

Einer meiner Freunde erzählte mir, dass er einmal in Amerika auf einem Campingplatz im Wald war. Dort gab es einen Waschraum, vor dem es eine lange Schlange gab. Er stellte sich an und es waren vielleicht zehn Leute vor ihm. Er fragte, warum sie warteten und sie sagten, jemand wäre drinnen, der noch nicht rausgekommen sei. Dann wurden sie wütend. Es gab ein Schild, auf dem stand: „Warten Sie, bis Sie dran sind.“ Die Tür war verschlossen, aber tatsächlich war niemand drinnen! Sie haben sich praktisch von den Vorschriften blenden lassen. Praktiziert also so gut ihr könnt, sowohl im täglichen Leben als auch wenn ihr auf Probleme stoßt.

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