Auf die Befreiung hinarbeiten
(9) Die Übung der Bodhisattvas ist, mit regem Interesse nach dem höchsten, unvergänglichen Zustand der Befreiung zu streben, denn die Annehmlichkeiten der drei Bereiche zwanghafter Existenz sind Phänomene, die nur einen kurzen Augenblick währen und dann dahinschwinden wie Tautropfen auf der Spitze von Grashalmen.
Wir hören unseren Gurus zu und lesen viele Bücher, doch auch wenn wir viel Inspiration daraus ziehen, denke ich, dass wir oft auch irgendwo ein wenig blockiert sind. Darum geht es vermutlich in diesem Vers. In gewisser Weise sind wir wie Insekten. Das ist nur ein Beispiel; ich sage nicht, wir wären Insekten! Seht nur, wie Insekten zu der Flamme einer Kerze hingezogen werden, die wir anzünden, wie sie um sie herumschwirren und dann durch ihre Anziehung zur Flamme sterben. All die Bemühungen in Samsara, alles, was wir tun und anstreben, kann man damit vergleichen. Wir fühlen uns zu Dingen hingezogen und genießen, was wir tun, doch am Ende, wenn alles getan ist, bleibt nur eine Erinnerung daran.
Stellt euch vor, euer Chef würde euch für ein Jahr freistellen und ihr könntet Urlaub machen und die Zeit so verbringen, wie ihr gerade möchtet. Ihr würdet hierhin und dorthin reisen, tolle Dinge essen und wunderbare Menschen treffen. Ihr würdet das Jahr genießen und dann zurückkommen. Jeder würde euch fragen, was ihr gemacht habt und was ihr am schönsten fandet. Ich würdet erzählen, wie ihr an diesen und jenen Orten wart, doch alles, was ihr teilt, wäre nur eine Erinnerung. Das ist alles, was uns bleibt.
Der große Meister Shantideva sagte, dass alles wie die Erfahrung in einem Traum ist und nur zu einer Erinnerung wird. Wir machen so viele Bilder von uns selbst und stellen sie online, um mehr „Likes“ zu bekommen. Doch was gibt uns das? Alles, was wir bekommen, sind ein paar „Likes“ und vielleicht den Kommentar „Wie schön!“; das ist alles.
Ich gebe meinem Hund etwas Schönes zu fressen und sehe die Blicke der anderen Hunde. Sie bewundern ihn oder sind vielleicht eifersüchtig! Mein Hund hingegen sieht mich immer an, wenn ich esse, und denkt wahrscheinlich: „Der hat es gut!“ Und ich betrachte diese Millionäre, die jeden Tag erlesene Speisen essen und einfach mühelos alles kaufen können, wann immer sie wollen. Sie bekommen viele Dinge, die wir uns wünschen und brauchen, einfach kostenlos!
Es gibt jene, die unglaublich reich sind, wie Bill Gates, doch sie haben wahrscheinlich das Gefühl, dass wir hier unten viel glücklicher sind, auch wenn wir nicht so viel Geld haben. Vermutlich fühlen sie sich durch ihren Ruhm und Reichtum ziemlich beschränkt. Alles, was sie tun, erscheint in den Zeitungen und wird öffentlich. Sogar ihre Söhne und Töchter können wegen der Paparazzi nichts ungebunden tun. Wenn wir schlechte oder gute Dinge tun, kümmert es niemanden. Wir haben mehr Freiheiten und das ist es, was reiche Leute sehen, wenn sie uns betrachten.
Erlangen große Meditierende Shamatha, ist ihr Geist so kontrolliert, ihr Geisteszustand wird so subtil, dass ihr Geist eine Stufe erreicht, auf der es keine Aufregungen und Sorgen gibt, sondern nur Frieden. Wir können diesen Gipfel erreichen und befinden wir uns auf dieser Ebene, haben wir wirklich das Gefühl, die glücklichsten Menschen zu sein. Doch da gibt es ein Ablaufdatum. Man muss zurückkehren, denn dieser Geisteszustand dauert nur so lange an, wie die Meditation.
Auf YouTube habe ich mir eine Belehrung meines früheren Lebens, des vergangenen Serkong Rinpoche, angesehen. Eine schöne Sache, die er seine Schüler fragte, war: „Wie lange werdet ihr noch in Samsara bleiben?“ Wir müssen immer wieder zurückkommen. Einmal war er in Frankreich und einige Leute luden ihn ein, auf den Eiffelturm zu steigen. Später sagte er zu seinem Übersetzer Alex Berzin: „Was ist der Sinn, dort hoch zu gehen? Ist man einmal oben, geht es nicht weiter und es bleibt einem nur übrig, wieder nach unten zu gehen. Egal wie sehr man es auch dort oben genießt, man muss irgendwann wieder gehen und hinuntersteigen.“
Das ist Samsara. Im Leben geht es auf und ab. Zuweilen müssen wir das durch andere Menschen oder durch etwas lernen, was um uns herum geschieht. Manchmal sind wir gesund, manchmal krank. Der Bodhisattva Gyalse Togme Zangpo sagt in dem Text, dass all die Erfahrungen der drei Bereiche nur für einen Moment andauern. In unserem Alter – ich bin in meinen 30igern – sind wir auf viele Probleme gestoßen. Bisweilen haben wir geweint und geschrien, doch jetzt ist es vorbei. Es war nur ein Augenblick. Das können wir alle sehen, ob wir nun Zuflucht genommen haben oder nicht, ob wir Buddhisten sind oder nicht. Alles, was wir erlebt haben, scheint jetzt nur wie ein Moment in der Vergangenheit zu sein. Und dann ist da die Zukunft, das, was noch kommt. Wir werden weiterhin in unserem Leben auf Gutes und Schlechtes stoßen. Zum Zeitpunkt des Todes werden wir sagen, dass alles nur wie ein Augenblick war, soviel ist sicher. Aus diesem Grund sagt Gyalse Togme Zangpo, dass alles Glück der drei Bereiche nur einen Moment andauert und so schnell verschwindet, wie ein paar Tautropfen im Gras.
Nun stellt sich die Frage: „Gibt es etwas Besseres als das?“ Gyalse Togme Zangpo sagt: ja, das tut es. Es ist der höchste, sich niemals verändernde Zustand der Befreiung.
Wenn wir uns an die erste Lehre Buddhas, die vier edlen Wahrheiten, erinnern, so lehrte er über das Leiden und sagte, dass wir über das Leiden Bescheid wissen sollten. Um Leiden gut zu verstehen, sollten wir die Ursachen des Leidens kennen. Dann sollten wir nicht die Hoffnung verlieren, denn die dritte edle Wahrheit ist die Beendigung. Das ist Befreiung, immerwährende Befreiung. Hat man einmal die Beendigung erreicht, wird das Leiden, egal welches, nicht mehr wiederkehren. Keine der negativen Emotionen kann zurückkommen. Wir haben diesen intelligenten Geist und wenn wir uns schon für etwas bemühen, sollten wir unsere Bemühungen darauf richten, unseren Geist zu entfalten.
Um Befreiung zu erlangen, ist es notwendig, dass wir studieren und Leerheit verwirklichen. Nur das kann uns helfen, Befreiung zu erlangen. In Bezug auf Körper und Geist würde ich sagen, dass wir 50% negativ und 50% positiv sind. Manchmal überwiegt das Negative und manchmal das Positive. Erlangen wir Befreiung und werden all das Negative los, welche Garantie haben wir, dass das negative Zeug nicht wieder zurückkommt? Das habe ich mich seit meiner Kindheit gefragt. Ich bin mir nicht sicher, welche Garantie wir dafür haben! Beseitigen wir all die negativen Emotionen und das Greifen nach einem Selbst, was garantiert uns dann, dass nicht noch ein kleiner Rest in uns bleibt und sich eines Tages wieder entfaltet?
Zum Glück gab der große Meister Dharmakirti viele Beispiele. Wenn wir einmal Selbstlosigkeit und Leerheit praktizieren und verwirklichen, dienen sie als Gegenmittel in Bezug auf all unsere negativen Emotionen und das Greifen nach einem Selbst. Es ist nicht wie mit kochendem Wasser, welches abkühlt, sobald man die Herdplatte zurückdreht. Die Leerheit hat hier keine Beschränkungen.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist eine große Inspiration für mich. Er redet viel mit Wissenschaftlern. Während einem dieser Gespräche, sprach eine Frau über Untersuchungen, die mit Kleinkindern gemacht wurden. Kleinen Kindern wurden Figuren in einer Animation gezeigt und wenn eine Figur von einer anderen umarmt wurde, bestand die natürliche Reaktion der Kinder darin, zu lächeln und die Areale im Gehirn, die mit Liebe verbunden werden, leuchteten auf. Zeigten die Wissenschaftler den Kindern jedoch, wie eine Figur einer anderen wehtat, kam es bei den Kindern automatisch zu unzufriedenen und betrübten Reaktionen. Daraus können wir verstehen, dass die innewohnende Natur kleiner Kinder „unschuldig“ ist oder sie zumindest eine unvoreingenommene Denkweise haben. Ihnen wurde noch nicht beigebracht, dass es gut ist, sich um andere zu kümmern, und schlecht, ihnen zu schaden. Ihre natürlichen Reaktionen darauf, diese Animationen zu sehen, zeigt, dass unsere Natur positiv und gut ist.
Das gibt Anlass zu großer Hoffnung. Als Seine Heiligkeit dies von den Wissenschaftlern erfuhr, hatte er das Gefühl, etwas tun zu können; es wurde zu einer Grundlage für alles. Durch die Untersuchungen dieser Wissenschaftler an Menschen ohne jeglichen Glauben in Buddhismus bekam er eine direkte Unterweisung darin, dass im Menschen von Natur aus etwas ausgesprochen Positives ist. Die Tatsache, dass die Natur fühlender Wesen positiv ist, stimmt wirklich hoffnungsvoll. Wir können dies als natürliche positive Einstellung der Buddha-Natur bezeichnen. Es ist eine großartige Lehre von den Wissenschaftlern und Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama.