Eine Bodhichitta-Ausrichtung erzeugen
Folgendes haben wir bereits gesehen: Wenn echte, reine Entsagung in unserem Geisteskontinuum hervorgebracht wurde, ist dies der Punkt, an dem wir uns wahrhaft auf dem Dharma-Pfad befinden. Es ist der Beginn des Pfades. Wir haben vielleicht über die Pfade des Mahayana und Hinayana gehört und sind eventuell etwas verwirrt. Wird es aus dem ursprünglichen Sanskrit übersetzt, bedeutet Mahayana großes Fahrzeug und Hinayana kleines Fahrzeug. Wir sollten sie jedoch nicht in dem Sinne als klein oder groß betrachten, indem wir eines herabsetzen. Es handelt sich bei beiden um vortreffliche Pfade. Sie unterscheiden sich in Bezug auf die Verpflichtung, die der Praktizierende eingeht. Hinayana-Praktizierende streben ihre eigene Befreiung an, während Mahayana-Praktizierende nicht nur die Verpflichtung für ihre eigene Erleuchtung, sondern die eines jeden fühlenden Wesens im Universums übernehmen. Wenn jemand Bodhichitta hervorbringt, ist jede Handlung von Körper, Rede und Geist auf das Wohl aller fühlenden Wesen gerichtet. Diese Person befindet sich auf dem Mahayana-Pfad.
Der sechste Vers wirft einen Blick auf das Erzeugen einer Bodhichitta-Ausrichtung.
(6) Doch da sogar diese Entsagung nicht zur Ursache für die Fülle und Glückseligkeit eines einzigartig gereinigten Zustands (der Erleuchtung) werden wird, wenn sie nicht von der Entwicklung einer reinen Bodhichitta-Ausrichtung durchdrungen ist, bringen jene mit Verstand eine höchste Bodhichitta-Ausrichtung hervor.
Wir mögen zwar Entsagung in unserem Geist hervorgebracht haben, doch wenn wir auf dem Pfad weiter fortschreiten wollen, muss diese Entsagung auch mit Bodhichitta durchdrungen sein. Lama Tsongkhapa erwähnt, dass jene, die Entsagung zum Erlangen der eigenen Befreiung hervorbringen, nichts Besonders sind, da diese Art des Erlangens nur ihnen selbst nützt. Für andere fühlende Wesen ist es keine große Hilfe und kein großer Beitrag. Daher sollten wir, wenn wir nach dem höchsten Glück streben, nicht nur an uns selbst denken, sondern auch an das Glück aller anderen Wesen.
Wir mögen zwar selbst glücklich sein, aber können wir es wirklich, wenn andere um uns herum unglücklich sind? Ich glaube, das ist unmöglich. Und nicht nur das. Geht es uns nur um unser eigenes Glück, können wir nicht das letztendliche Ziel der vollen Erleuchtung erlangen. Sind wir andererseits in der Lage uns zu wünschen, ein weitreichendes Ziel zu haben, anstatt nur nach der eigenen Befreiung zu trachten, wird das zu letztendlichem Glück führen, nicht nur für uns selbst, sondern für alle fühlenden Wesen. Diesen Pfad beschreiten wir, indem wir ungekünsteltes Bodhichitta erzeugen.
Doch sehen wir davon einmal ab, so geht es zunächst darum, daran zu denken gütig zu sein. Tatsächlich ist es gar nicht so leicht, so gütig zu sein, wie wir es gern wären. Das ist jedoch die Basis von allem. Sind wir nicht einmal gütig, wie können wir dann darauf hoffen, gleichermaßen Mitgefühl für alle Wesen hervorzubringen?
Die siebenteilige Praxis zum Hervorbringen von Bodhichitta
Es gibt zwei verschiedene Arten Bodhichitta zu erzeugen. Eine nennt sich die siebenteilige Praxis und ist vermeintlich die einfachere der zwei Methoden. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Methode des Austauschens von uns selbst und anderen zu nutzen, die als komplizierter gilt.
Sehen wir uns die siebenteilige Praxis an, in der es sieben Schritte gibt. Es beginnt mit dem Verständnis, dass alle fühlenden Wesen in früheren Leben unsere Mütter gewesen sind, sowie damit, sich an ihre Güte zu erinnern. Die nächste Stufe ist dann, ihre Güte zu erwidern. Hier können wir zunächst unsere Familie in diesem Leben in Betracht ziehen. Im Allgemeinen denken wir daran, wir gütig unsere Mutter und unser Vater waren und wie gut sie sich um uns gekümmert haben. Wenn wir das tun, ist es leicht ihre Güte zu erkennen. Glauben wir an die Reinkarnation und verstehen, dass Zeit anfangslos ist, werden wir die Möglichkeit erkennen, dass jedes einzelne fühlende Wesen in der Vergangenheit irgendwann schon einmal unsere Mutter gewesen ist. Führen wir uns vor Augen, wie gütig unsere gegenwärtigen Eltern sind, verstehen wir, dass alle anderen fühlenden Wesen ebenfalls gütig zu uns waren. Und es gibt keinen Unterschied zwischen der Güte, die wir in diesem Leben, und jener, die wir in vergangenen Leben empfangen haben. Der nächste Schritt besteht dann also in dem Wunsch, ihre Güte zu erwidern. Doch wie können wir das tun? Besonders in der heutigen Zeit ist dieser Punkt tatsächlich einer der schwierigsten.
Viele von uns arbeiten hart, um ihren eigenen Eltern zu helfen und es ist nicht immer leicht, besonders wenn sie älter werden und gesundheitliche Probleme haben. Oft höre ich Leute im Westen sagen, dass die Situation schwieriger ist, weil man meist nicht in der Nähe der Eltern lebt. Aber ich denke, es ist in Europa dasselbe wie tibetischen und indischen Kulturkreisen. Es ist wirklich schwierig, sich um die eigenen Eltern zu kümmern und ihre Güte zu erwidern.
Ich hatte in Kanada einen Englischlehrer, der allerdings kein Buddhist war. Er sagte immer, es gäbe so viele Probleme in der Welt und er hätte genug eigene Probleme, um die er sich kümmern müsse und nicht noch an die Probleme der anderen denken könne, da er bereits frustriert mit seinen eigenen war. Wenn er nur daran dachte, wie viele Leiden andere durchgehen, würde ihn das nur noch mehr aufwühlen.
Das ist wahr. Es ist schwierig, an alle fühlenden Wesen und ihre Probleme und Leiden zu denken. Doch wir können damit anfangen, an unsere eigenen Eltern zu denken. Es ist wirklich wertvoll und hilfreich, darüber nachzudenken. Wir können erkennen, wie gütig unsere Eltern unser ganzes Leben lang zu uns waren, wie sehr sie uns lieben und sich um uns kümmern. Bei fast jedem Wesen ist es so, dass die Mutter und der Vater gegenüber dem neugeborenen Kind ganz automatisch das Gefühl haben: „Dieses neue fühlende Wesen ist mein eigenes.“ Sie fühlen ganz von selbst, dass ihr neues Baby überaus kostbar ist. Man kann darüber streiten, ob es eine biologische, chemische oder andere Sache ist, aber dieser Liebe ist so stark, dass sie unsere Eltern dazu bringt, sich um uns zu kümmern, bis wir 19 oder 20 Jahre alt sind und sogar noch lange danach. Auch wenn unsere Eltern bereits alt sind, kümmern sie sich weiter um uns, wie sie es in unserer Kindheit getan haben. Das ist etwas, an das wir denken sollten. An die Güte unserer Eltern zu denken ist so wertvoll.
Alle fühlenden Wesen waren bereits unsere Mutter
Wir denken also an die Güte unserer Eltern und betrachten dann die Natur des Bewusstseins. Die Natur des Bewusstseins zu verstehen, wird uns helfen die Güte zu erkennen, die alle fühlenden Wesen uns zukommen lassen haben. Das Bewusstsein, das zum Zeitpunkt der Empfängnis in den Mutterleib eingeht, hat keinen Anfang und kein Ende. Das Bewusstsein, das wir in diesem Moment haben, wird irgendwann erleuchtet werden. In diesem Raum besitzen alle fühlenden Wesen einen Geist, der anfangslos und unbegrenzt ist. Ohne jeden Zweifel haben wir Verbindungen aus früheren Leben und natürlich könnte jeder von euch hier meine Mutter gewesen sein. Daher sehe ich euch alle wie meine echten Eltern. Ich frage mich: „Wer wird sich um euch kümmern? Wer wird euch helfen, euren Weg aus Samsara zu finden?“ Ich übernehme die Verantwortung, euch alle aus Samsara herauszuführen.
Der Wunsch, die Güte fühlender Wesen zu erwidern
Wir gelangen also an einen Punkt, an dem wir darüber nachgedacht haben, dass jedes fühlende Wesen unsere Mutter gewesen ist und vergegenwärtigen uns ihre Güte. Darüber hinaus wünschen wir uns, die Güte unserer Mütter zu erwidern und übernehmen die Verantwortung es zu tun. Doch wie können wir allen fühlenden Wesen, unseren Müttern, tatsächlich helfen? Dazu ist es notwendig darüber nachzudenken, welche Methoden es gibt, um alle fühlenden Wesen von Leiden zu befreien.
Oft tun wir gute Dinge und haben gute Absichten, doch ehrlich gesagt sind die Methoden, die wir anwenden, nur eine vorübergehende Erleichterung. Wenn wir beginnen, sehen wir vielleicht ein paar Insekten und wollen ihnen helfen, indem wir ihnen etwas Nahrung geben. Wir können sie füttern, doch sie werden immer wieder Hunger haben. Nichts in Bezug auf unsere Hilfe können wir als echtes Glück betrachten. Wir müssen also nach Befreiung und Erleuchtung streben, weil wir erkennen, dass Erleuchtung das einzig echte Glück in dieser Welt ist, und dann können wir anderen helfen, ebenfalls erleuchtet zu werden. Auf diese Weise erzeugen wir einen altruistischen Geist, indem wir andere zur Befreiung führen wollen, dem Zustand des Glücklichseins, der niemals abnimmt. Das ist die altruistische Absicht, die wir erzeugen müssen. Durch solch eine altruistische Absicht entsteht großes Mitgefühl. Haben wir in unserem Geisteskontinuum großes Mitgefühl hervorgebracht, betreten wir den Mahayana-Pfad. Als wir vorher über Entsagung sprachen, ging es darum, dass sie ungekünstelt sein sollte. Dasselbe trifft auch auf Bodhichitta zu. Ungekünsteltes Bodhichitta wird durch großes Mitgefühl bedingt.
Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Zunächst müssen wir die Situation verstehen, in der sich alle fühlenden Wesen befinden und erkennen, wie sie leiden. Dann stellen wir uns vor, wie sie alle zuvor unsere Mutter gewesen sind, erinnern uns an ihre Liebenswürdigkeit und wünschen uns, ihre Güte zu erwidern. Damit erzeugen wir die altruistische Absicht, selbst die Verpflichtung einzugehen, sie zu einem Zustand der Befreiung von Samsara und zur vollen Erleuchtung zu führen.
Mit diesem Geist nehmen wir die Bodhisattva-Gelübde und versuchen sie rein zu halten. Was die Gelübde betrifft, so haben wir keine Angst davor sie zu brechen, weil der Buddha oder jemand anders sagte, es wäre schlecht sie zu übertreten. Vielmehr haben wir das starke Gefühl, dass das Leben keinen Sinn ergibt, ohne die Gelübde zum Wohle aller fühlenden Wesen zu nehmen und einzuhalten. Verstehen wir, wie sinnvoll das Leben ist, wenn wir zum Wohle aller fühlenden Wesen arbeiten, ist es leicht, die Gelübde einzuhalten. Es fühlt sich keineswegs wie eine Last an.
Alle fühlenden Wesen gehen furchtbare Leiden durch
(7) Von der Strömung der vier reißenden Flüsse davongetragen, gebunden durch die engen Fesseln schwer abwendbaren Karmas, geworfen in ein eisernes Netz des Greifens nach wahren Identitäten, völlig eingehüllt in die bedrückende Finsternis der Unwissenheit,
(8) unerbittlich geplagt von den drei Arten des Leidens, Leben für Leben in grenzenlosen zwanghaften Existenzen – indem du über den Zustand deiner Mütter nachgedacht hast, die sich in solchen Umständen wiederfinden, entwickle die höchste Bodhichitta-Ausrichtung.
Üben wir uns in großem Mitgefühl und bringen es hervor, erkennen wir, dass all die Schwierigkeiten und Probleme, die wir durchmachen, auch von allen anderen Wesen erfahren werden. Und es gibt so viele fühlende Wesen, die zahllos sind. Nur in den Ozeanen dieses Planeten allein gibt es so viele fühlenden Wesen, dass wir es uns nicht einmal vorstellen können. Wie ist es möglich, über all diese fühlenden Wesen und ihre Leiden nachzudenken?
Im Tibetischen ist das Wort für Bodhichitta „sem-kye“. Sem bedeutet Geist und kye heißt geboren werden oder erzeugen. Im Tibetischen bezieht sich der Begriff also darauf, einen Geist zu erzeugen oder den Geist zu erweitern. Anstatt uns nur mit unseren eigenen Problemen zu befassen, versuchen wir, an die Probleme anderer Wesen zu denken, indem wir erkennen, dass wir nicht allein in dieser Welt sind und dass andere fühlende Wesen die gleichen Probleme haben wie wir. Allmählich erweitert sich unser Geist und wir haben ganz natürlich den Drang, anderen zu helfen. In dem Moment wird die altruistische Absicht geboren und wir denken automatisch: „Ich werde mich um die fühlenden Wesen kümmern und es selbst tun, auch wenn ich ganz allein dabei bin“.
Es gibt so viele Arten von Leiden, die wir selbst sehen können: die Leiden der Kindheit, die Leiden alter Menschen, und nicht nur jener, die 80 oder 90 Jahre alt sind, sondern auch die der Zwanzig- oder Dreißigjährigen. Der Schmerz des Alterns und Sterbens wird nicht nur empfunden, wenn wir uns auf der Schwelle des Todes befinden. Die Endung „ing“ in den englischen Worten „aging and dying“ zeigt die Kontinuität des Vorgangs. Zu sagen, dass wir sterben, muss nicht unbedingt bedeuten, sich in einem Krankenhaus zu befinden und dem Tod nahe zu sein. Der Vorgang des Alterns und Sterbens findet bei allen von uns in jedem einzelnen Augenblick statt. Wir alle altern und sterben ständig. Diese Art des Leidens ist nicht nur für alte Menschen relevant, sondern für jeden einzelnen von uns. Das ist etwas, woran wir denken sollten. Die Probleme des Alterns, Sterbens, der Geburt und der Krankheit sind gängige Probleme für alle fühlenden Wesen in dieser Welt. Diese Probleme werden sich auch im nächsten Leben und in dem Leben danach ohne Ende fortsetzen, wenn wir nicht die Ursache des Leidens, das Greifen nach einem Selbst, beseitigen.
Die zwei Arten des Greifens nach einem Selbst
Es gibt zwei Arten, nach einem Selbst zu greifen. Zunächst haben wir die Art des Greifens nach einem Selbst, die natürlich und automatisch entsteht. Das ist ein Greifen nach einem Selbst, mit dem wir ganz natürlich das Gefühl haben, die fünf Aggregate wären das eigentliche „Ich“. Das ist das Ichgefühl, das jedes einzelne fühlende Wesen hat. Die zweite Art des Greifens nach einem Selbst ist das, was wir uns später durch Konditionierung aneignen. Diese zwei Arten des Greifens nach einem Selbst werden in Vers 7 präsentiert. Geworfen in ein eisernes Netz des Greifens nach wahren Identitäten bezieht sich auf die zweite Art des Greifens nach einem Selbst, welches wir uns durch Konditionierung aneignen. Völlig eingehüllt in die bedrückende Finsternis der Unwissenheit bezieht sich auf die erste Art, das automatische Entstehen des Greifens nach einem Selbst, das uns innewohnende Ichgefühl.
Jetzt haben wir uns den zweiten Hauptaspekt, Bodhichitta, angesehen, mit dem wir nach Erleuchtung streben, mit der Motivation allen fühlenden Wesen zu helfen, frei von Leiden zu sein.
Unterscheidendes Gewahrsein ist der Schlüssel zur Befreiung
Um ungekünstelt zu sein und die volle Leistung zu haben, müssen die ersten zwei der drei Aspekte, über die wir gesprochen haben, Entsagung und Bodhichitta, letztendlich mit dem dritten Aspekt, der Weisheit oder dem unterscheidenden Gewahrsein, mit dem Leerheit verwirklicht wird, durchdrungen sein. Ohne unterscheidendes Gewahrsein ist es nicht möglich, aus Samsara befreit zu werden und Erleuchtung zu erlangen. Wir mögen über große Entsagung und Bodhichitta verfügen, doch ohne unterscheidendes Gewahrsein werden wir nicht frei von störenden Emotionen und Schleiern werden und somit wird Erleuchtung unerreichbar bleiben. Wir benötigen ein gründliches Verständnis und ein wahre Verwirklichung der Leerheit. Ohne sie können wir uns selbst nicht helfen, Befreiung aus Samsara zu erlangen und wir werden auch nicht in der Lage sein, anderen fühlenden Wesen zu helfen, befreit zu werden und Erleuchtung zu erlangen. Daher sind die Qualitäten, die wir hervorbringen müssen, nicht nur Entsagung und Bodhichitta, sondern vor allem das unterscheidende Gewahrsein, mit dem Leerheit auf korrekte Weise verwirklicht wird.
(9) Hast du zwar Entsagung und eine Bodhichitta-Ausrichtung als Gewohnheiten entwickelt, jedoch nicht das unterscheidende Gewahrsein der Verwirklichung der andauernden Natur der Wirklichkeit, wirst du nicht in der Lage sein, die Wurzel der zwanghaften Existenz zu durchtrennen. Bemühe dich daher um die Methoden des Erkennens, wie alles in Abhängigkeit entsteht.
Es ist ein spezifisches Merkmal dieses Textes von Lama Tsongkhapa, dass der Begriff „abhängiges Entstehen“ ganz nah mit der „Leerheit“ verbunden und fast ein Synonym für sie ist. In Vers 9 ist nicht die Rede davon, „Leerheit verwirklichen“ zu müssen. Lama Tsongkhapa sagt vielmehr: bemühe dich daher um die Methoden des Erkennens, wie alles in Abhängigkeit entsteht.
Leerheit als Nichts missverstehen
Im Allgemeinen ist es so, dass Leerheit ein Nichts zu sein scheint, wenn man sie nicht zuvor studiert hat. Wenn wir hören, dass es überhaupt kein „Ich“ oder Selbst gibt, kann dies schnell zu einer nihilistischen Sichtweise werden. Das ist jedoch ein Missverständnis oder eine so genannte „falsche Ansicht“. Zu denken, es würde rein gar nichts existieren, ist tatsächlich genauso falsch, wie zu meinen, alles würde fest und unabhängig existieren, was die generelle Denkweise von den meisten von uns ist. Das sind die zwei Sichtweisen, die man aufgeben sollte: die nihilistische Sicht, dass es nichts gibt und das Gegenteil davon, die absolutistische Sicht von einem festen und unveränderlichen „Ich“. Daher sollte man Leerheit nicht als Nichts missverstehen.
Für gewöhnlich haben wir in unserem Leben, und besonders wenn Probleme hochkommen, dieses starke, innewohnende Ichgefühl. Unsere Aufgabe ist zu prüfen, was dieses „Ich“ ist. Wir müssen erkennen, wo dieses „Ich“ ist und was es genau ist. Wenn wir sagen: „ich bin krank, ich bin unglücklich“, besteht unsere Aufgabe darin, dieses „Ich“ zu finden, das Krankheit, Unglücklichsein und so weiter erfährt. Im „Herzsutra“ gibt es eine Zeile, in der es heißt, es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, kein Gefühl, kein Bewusstsein usw. Hier sollten wir nicht denken, die Bedeutung davon wäre, dass absolut nichts existiert, und dann in dieses Extrem fallen. Wenn wir nach diesem „Ich“ suchen, geht es vielmehr darum, dass es nichts gibt, worauf man zeigen könnte. Wir haben dieses Gefühl eines innewohnenden „Ichs“, doch es gibt nichts, auf das wir als das „Ich“ zeigen könnten. Doch man kann auch nicht sagen, dass da nichts ist, denn zuweilen werden wir krank und unglücklich. Somit kann man nicht sagen, dass da nichts ist, aber man kann auch nicht behaupten, es gäbe ein solides „Ich“. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Wir sollten in keines der zwei Extreme fallen und können damit anfangen, einfach über diese Tatsache zu meditieren, dass wir nicht in der Lage sind, dieses „Ich“ innerhalb der fünf Aggregate zu finden. Das ist die eigentliche Meditation, die wir machen sollten, wenn wir über Leerheit nachdenken. Gehen wir jedes der Aggregate durch, merken wir, dass wir dort nichts finden können. Man kann nicht sagen, dass es da nichts gibt, und man kann auch nicht sagen, es gäbe etwas. Wir müssen uns zwischen diese zwei Extreme begeben und einfach über die Tatsache meditieren, nichts finden zu können.
Seit anfangsloser Zeit haben wir die Gewohnheiten des Greifens nach einem inhärent existierenden selbst-begründeten „Ich“. Doch dieses „Ich“ existiert nicht so, wie wir meinen. Wir müssen also darüber meditieren, dieses „Ich“ nicht finden zu können. Wir sollten unser Bestes geben diese Meditation auszuführen und so lange wie möglich in diesem meditativen Zustand bleiben, in dem das „Ich“ innerhalb der fünf Aggregate für uns nicht auffindbar ist. Das ist die eigentliche Praxis der Meditation über Leerheit.
Die zwei extremen Sichtweisen des Nihilismus und des Absolutismus
Das wichtigste ist also, darauf zu achten, nicht in die extremen Sichtweisen des Nichts oder der Solidität abzurutschen. Man kann nicht sagen, Leerheit wäre ein Nichts. Hier können wir das Beispiel des Raumes betrachten. Raum ist kein Nichts. Raum ist etwas, doch gleichzeitig kann man nicht sagen, dass er keine Leere ist. Das ist eine Sache, über die man nachdenken kann. Wenn wir über die Leerheit des Selbst meditieren, können wir sehen, das es innerhalb der fünf Aggregate einer Person nichts Solides oder Festes gibt, auf das wir als das eigentliche „Ich“ zeigen könnten.
Es ist wirklich gut, diese Art der Analyse durchzuführen, wenn wir intensive Gefühle des Glücks oder Leids spüren. In diesen Momenten entsteht ein starkes Ichgefühl und kann als Stütze für uns dienen, um herauszufinden, wo denn genau dieses „Ich“ ist, das dieses Glück oder Leid empfindet. Haben wir gründlich untersucht, wo dieses „Ich“ sein könnte, kommen wir zu dem Schluss, dass so ein „Ich“ nur eine Illusion ist.
Das zu überprüfen ist natürlich nicht einfach, sondern etwas schwierig und aus diesem Grund ist es notwendig, unsere Handlungen immer wieder zu analysieren, und zu ergründen, wie unsere Handlungen entstehen und wie die Dinge, die aus diesen Handlungen resultieren, hervorgebracht werden. Wir können erkennen, dass Phänomene nicht von sich aus existieren und sehen, dass sie in Abhängigkeit von bestimmten Aktionen, Ursachen und Bedingungen entstehen. Nehmen wir das einfache Beispiel eines Autos. Was ist denn das Auto? Da gibt es den Rumpf des Autos, die Räder, den Motor usw. und wir nennen diese Ansammlung ein „Auto“. Kann eine Sache als Auto bezeichnet werden, wenn es keinen Motor hat? Das ist etwas, worüber man streiten kann. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass Phänomene in Abhängigkeit solch einer Ansammlung von Einzelheiten entstehen. In ähnlicher Weise entstehen das Selbst und das „Ich“ in Abhängigkeit der fünf Aggregate, doch es ist in keinem von ihnen zu finden. Das „Ich“ existiert vielmehr in Abhängigkeit von ihnen.
Die Lehren über die Leerheit studieren
Wir haben jetzt über Leerheit gesprochen, doch wir müssen vorsichtig mit dieser Thematik sein. Um sie korrekt zu verstehen, ist es notwendig über sie zu diskutieren und sie richtig zu studieren. Sein Heiligkeit der Dalai Lama hat viel getan, um dieses Thema den Westlern zu präsentieren. Die Sicht der Leerheit ist außerordentlich wichtig und man sollte die verschiedenen Lehrsysteme studieren, um die verschiedenen Sichtweisen dieser vier Schulen zu verstehen. Man sollte selbst herausfinden, was korrekt ist und was nicht.
Wenn wir basierend auf unseren eigenen Erfahrungen über Leerheit reden, kann das schwierig sein, weil unsere Erfahrung vielleicht nicht unbedingt im Einklang mit der Realität steht. Nehmen wir unsere Studien und unsere Meditation über Leerheit ernst, bedeutet dies, dass wir buddhistische Praktiken ausführen müssen. Haben wir keinen Lehrer, der ein Verständnis der Leerheit hat und stützen wir uns nicht auf den echten Dharma, der die Leerheit beschreibt und der Methoden und Mittel bietet, um die Leerheit aus verschiedenen Winkeln zu beleuchten, damit wir ein einsgerichtetes Verständnis davon bekommen, was sie ist, besteht die Gefahr, fehlerhafte Sichtweisen anzunehmen.
Der Buddha war äußerst geschickt und hatte großes Mitgefühl. Daher präsentierte er den Dharma auf wirklich bedachte Weise. Er sprach über die Selbstlosigkeit von Personen und Phänomenen, sowohl auf groben und subtilen Ebenen. Die Leerheit hat zwei Ebenen, eine subtile und eine grobe. Von den vier Lehrsystemen wird das höchste, Madhyamaka, in Svatantrika und Prasangika unterteilt. Indische Gelehrte, wie Buddhapalita, haben große Anstrengungen unternommen und mittels Debattieren alles gründlich geprüft, um zu erkennen, dass die Sichtweisen des Madhyamaka-Svatantrika nicht die letztendlichen sind. Die Sicht des Madhyamaka-Prasangika ist die korrekteste.
Gehen wir solch eine gründliche Analyse nicht selbst durch, besteht die Gefahr falsche Sichtweisen anzunehmen, was uns erheblich schaden kann. Wir sollten in unserem Studium daher sehr sorgfältig sein. Es reicht jedoch nicht aus, sich Erklärung über Leerheit anzuhören und über sie zu meditieren. Sogar wenn wir aufmerksam einem Lehrer zuhören, der keine Zweifel in Bezug auf die Leerheit hat, brauchen wir dennoch unsere eigene Erfahrung und Verwirklichung, denn andernfalls wird es keine Gewissheit darüber geben.
Eine Verwirklichung der Leerheit entsteht durch das Studium mit einem echten Lehrer und dadurch, ein gutes Verständnis von der Thematik zu haben. Zunächst scheint es unvorstellbar schwierig zu sein, auch nur darüber nachzudenken, wie das Selbst und wie Phänomene frei von inhärenter, selbst-begründeter Existenz sein können. Doch es ist absolut möglich, die Leerheit zu verstehen. Viele Menschen haben sie verstanden und so können auch wir zu diesem Verständnis gelangen. Wir sollten uns an die Güte der Nalanda-Meister erinnern, welche die Leerheit so gründlich erklärt haben, damit wir sie nun studieren können. Außerdem sollten wir daran denken, wie viel Glück wir haben, dass es Lehrer um uns herum gibt, die uns die Leerheit erklären können.
Leerheit in die Praxis umsetzen
Hier gebe ich nur eine kurze Darstellung der Leerheit. Wenn die Thematik neu für euch ist, wird es etwas schwierig sein, sie zu verstehen und wie man sie in die Praxis umsetzen kann. Manche von euch haben bereits etwas über Leerheit gelernt, vielleicht habt ihr über Leerheit meditiert, Sutras und Gebete rezitiert und viel über sie nachgedacht. Bekanntermaßen heißt es für gewöhnlich, dass wir viele Verdienste, also positives Potenzial aufbauen müssen, um ein echtes Leerheitsverständnis zu bekommen.
Wir bauen diese positive Kraft nicht auf, wenn wir in unserem weltlichen Leben danach streben, all unsere Wünsche zu erfüllen, sondern vielmehr, wenn wir über die Leerheit meditieren und uns in konstruktiven Handlungen üben, während wir gleichzeitig über Leerheit meditieren. So können wir wirklich dieses positive Potenzial, dieses Verdienst, aufbauen. Gehen wir herum und tun konstruktive Dinge, sollten wir gleichzeitig analysieren, wie alle Phänomene erscheinen, aber nicht so existieren, wie sie erscheinen. Das ist die Methode, in unserem täglichen Leben über die Leerheit nachzudenken.
Üben wir uns in den vorbereitenden Übungen, wie dem Ausführen von Niederwerfungen oder dem Darbringen von 100.000 Mandala-Opferungen, besteht das eigentliche Ziel all dieser Praktiken darin, positives Potenzial durch das unterscheidende Gewahrsein aufzubauen, das Leerheit verwirklicht. Es wirkt zusammen mit unseren Handlungen. Bemühen wir uns, solche Handlungen auszuführen, können wir durch die Meditation über deren Leerheit all unsere Leiden beseitigen, frei von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt sein und Buddhaschaft erlangen.
Leerheit und abhängiges Entstehen sind untrennbar
(10) Wer erkennt, dass (die Gesetzmäßigkeit von) verhaltensbedingter Ursache und Wirkung hinsichtlich aller Phänomene von Samsara und Nirvana nie irreführend ist, und wem jegliche stützenden Bezugspunkte für eine (Wahrnehmung), die (in sich selbst begründete Existenz) zum Ziel hat, zerfallen sind, der befindet sich auf dem Weg, der die Buddhas mit Freude erfüllt.
(11) Erscheinungen sind nicht-irreführendes abhängiges Entstehen und Leerheit ist getrennt von jeglichen Behauptungen (von unmöglichen Existenzweisen). Solange einem diese beiden Erkenntnisse getrennt erscheinen, hat man noch nicht die Absicht der Fähigen verwirklicht.
Hier zeigt sich eine der besonderen Qualitäten von Lama Tsongkhapas Text. Zuerst sagt er, dass es nichts gibt, auf das man zeigen kann – wir können kein solides, selbst-begründetes Selbst von Personen oder Phänomenen finden. Er bedient sich auch der Logik des abhängigen Entstehens für die Leerheit sowie der Logik der Leerheit für das abhängige Entstehen und zeigt damit, dass diese zwei als untrennbar betrachtet werden sollten.
(12) Doch wenn nicht abwechselnd, sondern gleichzeitig die Gewissheit aus der bloßen Sicht des nicht-irreführenden abhängigen Entstehens alle Arten des Erfassens von Objekten (als in sich selbst begründet) zunichte macht, hat man die Erkenntnis der korrekten Sicht vollständig erreicht.
Diese zwei Verse sind die wichtigsten, denn sind wir einmal in der Lage, Leerheit und abhängiges Entstehen als eins und von gleicher Bedeutung zu sehen, werden wir verstehen können, wie alle Phänomene existieren.
Es besteht kein Zweifel darüber, ob es möglich ist, dass diese zwei Verwirklichungen im selben Geist gleichzeitig stattfinden können. Gemäß Lama Tsongkhapa ist es möglich und diese Behauptung ist eine einzigartige Eigenschaft seines Werkes. Für gewöhnlich würden wir sagen, dass nur ein Buddha die Fähigkeit hat, die zwei Wahrheiten, also die konventionelle und die tiefste Wahrheit, mit einem Geist zu erfassen. Wenn ich nicht falschliege, ist es laut Lama Tsongkhapa möglich, diese zwei Verwirklichungen in einem Geist zu haben: Leerheit als abhängiges Entstehen und abhängiges Entstehen als Leerheit zu verstehen. Wir sollten selbst überprüfen, ob es wahr ist oder nicht. Dazu kann man Tsongkhapas Lam-rim Chen-mo, „Eine große Darstellung des Stufenpfades“, lesen.
(13) Wenn man überdies weiß, inwiefern die Erscheinung das Extrem der Existenz und die Leerheit das Extrem der Nicht-Existenz beseitigt und versteht, dass Leerheit als Ursache und Wirkung erscheint, wird man nicht von Sichtweisen hingerissen, die nach Extremen greifen.
Darüber haben wir bereits gesprochen. Wir sollten nicht denken, Leerheit würde sich auf ein Nichts beziehen oder Phänomene würden feststehend existieren.
Im letzten Vers dieses Textes heißt es:
(14) Wenn du die Kernpunkte dieser drei Hauptaspekte des Pfades so verstanden hast, wie sie sind, begib dich an einen abgelegenen Ort, mein Sohn, bringe die Kraft der Ausdauer auf und verwirkliche rasch dein seit unvordenklichen Zeiten bestehendes Ziel.
Schlussfolgerung
Nachdem wir nun den gesamten Text gelesen und gehört haben, welche Qualitäten wir in unserem Geist hervorbringen müssen, sollten wir über den Text meditieren.
Hier spricht Lama Tsongkhapa davon, sich an einen abgelegenen Ort zu begeben. Es gibt natürlich manche Menschen, die ihre Heimat verlassen und in die Berge gehen, um sich zurückzuziehen und über die Leerheit zu meditieren. Die Betonung liegt hier allerdings darauf, die eigenen störenden Emotionen abzulegen, um den Geist zu weiten und in der Lage zu sein, ohne Hindernisse über die Leerheit zu meditieren. Es ist nicht notwendig, über einen physischen Rückzug zu reden, sondern vielmehr über eine Art geistigen Rückzug von unseren störenden Emotionen.
Lama Tsongkhapa spricht davon, die Kraft der Ausdauer aufzubringen und rasch das seit unvordenklichen Zeiten bestehende Ziel zu verwirklichen. Es ist wie ein Geschenk, das Lama Tsongkhapa seinen Schülern gegeben hat, die er als seine eigenen Kinder betrachtet. Dieser Text wurde von Lama Tsongkhapa mit dem Gedanken verfasst, allen fühlenden Wesen zu nützen. Er sagt mein Sohn oder man könnte auch sagen „mein Kind“, und wir sollten es so sehen, dass er auch uns damit anspricht, denn wir gehören zu den Kindern Lama Tsongkhapas, da wir diejenigen sind, die Befreiung erlangen wollen. Diesen ganzen Text können wir als eine direkte Anweisung für uns betrachten.
Abschließende Worte
Hiermit sind wir zum Ende gekommen. Ich habe eine kurze Erklärung zu „Die drei Hauptaspekte des Pfades“ gegeben. Vielleicht habe ich einige Punkte nicht ganz richtig erklärt. Es besteht immer die Möglichkeit, dass ich in meinen Erklärungen falsch liege, und das ist ausschließlich mein Fehler, für den ich verantwortlich bin und der mir leid tut. Gab es etwas Nützliches und Hilfreiches in meinen Worten, so liegt das einzig und allein an den Verdiensten meiner Lehrer. Nur durch ihre Güte war ich in der Lage, euch ein wenig beizubringen.
Ich glaube, dass wir zusammen positives Potenzial aufgebaut haben, indem wir uns hier versammelt und uns mit dem Dharma beschäftigt haben. Dieses Verdienst gilt es den wunderbaren Lamas wie Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama zu widmen, damit sie lange leben mögen. Wir wollten es auch zum Wohle aller fühlenden Wesen und der Umwelt widmen. Vielen Dank.
Hier kann man den Originaltext “Die drei Hauptaspekte des Pfades“ von Tsongkhapa lesen.