Die Grundlage für Tantra-Praxis
Tantra ist eine fortgeschrittene Praxis des Mahayana-Buddhismus zum Erreichen von Erleuchtung. Es wird auf der festen Grundlage ausgeübt, dass es auf sämtlichen Sutra-Praktiken basiert, wie sie in den Lehren des Stufenweges, des Lam-rim, enthalten sind. Von entscheidender Bedeutung sind dabei insbesondere:
- sichere Richtung (Zuflucht)
- Entschlossenheit, von allem Leiden und ihren Ursachen frei zu sein (Entsagung)
- strikte ethische Selbstdisziplin
- eine Bodhichitta-Motivation (zum Wohle aller Wesen Erleuchtung zu erreichen)
- die sechs weitreichenden Geisteshaltungen (sechs Vollkommenheiten), vor allem:
- Konzentration
- unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit.
Nachdem ernsthaft Praktizierende all diese Punkte studiert, geübt und gefestigt haben sowie ein gewisses Ausmaß intensiver vorbereitender Übungen (ngöndro) abgeschlossen haben, um negative Potenziale zu bereinigen und positive zu schaffen, um das Gelingen zu fördern, sind sie so weit, dass sie mit der Tantra-Praxis beginnen können. Sie tun das, weil ihr Mitgefühl für andere so stark und ihre Bodhichitta-Motivation so intensiv ist, dass sie sie sich nicht mit der enormen Zeitdauer abfinden können, die sie bis zum Erreichen der Erleuchtung brauchen würden, wenn sie ausschließlich die Sutra-Methoden anwenden würden. Deshalb wenden sie sich darüber hinaus der Tantra-Praxis zu, nämlich als einer Methode, welche all ihre Sutra-Praktiken auf äußerst effiziente, ganzheitliche Weise miteinander verbindet.
Die Bedeutung des Wortes „Tantra“
Das Sanskrit-Wort „Tantra“ bedeutet „etwas, das ausgestreckt bzw. ausgedehnt ist“, und zwar ausgedehnt im zweifachen Sinne des Wortes: zum einen ausgestreckt wie die Kettfäden auf einem Webstuhl. Tantra-Praxis ist der Kettfaden, auf dem alle Sutra-Praktiken miteinander verwoben werden. Und sie ist „ausgedehnt“ auch im Sinne eines immerwährenden Kontinuums im Verlauf der Zeit, ohne Anfang und ohne Ende. Das bezieht sich im Allgemeinen auf unser Geisteskontinuum – das Kontinuum unserer individuellen, subjektiven Erfahrung des Lebens. Dieses Kontinuum beinhaltet, dass man einen Körper, Sprache (irgendein Mittel zur Kommunikation), einen Geist, Aktivität und mancherlei gute Qualitäten hat wie z.B. Verständnis, Fürsorge für sich selbst und andere (den Instinkt zur Selbsterhaltung und zur Erhaltung der Art). Wir alle besitzen diese Aspekte in jedem Leben in irgendeiner Form und in unterschiedlich entwickeltem Ausmaß). Diese verschiedenen Faktoren plus die Leerheit des Geisteskontinuums (es ist leer davon, auf unmögliche Weise zu existieren) sowie die Tatsache, dass diese Faktoren zum Wachstum angeregt werden können, werden unsere „Faktoren der Buddha-Natur“ genannt. Sie bilden ein immerwährendes Kontinuum, ein „Tantra“.
Das Tantra der Grundlagen, des Pfades und des Resultats
Jedes dieser Kontinua hat drei Phasen: die Ebene der Grundlage, die des Pfades und die des Resultats. Das Tantra der Grundlagen-Ebene ist das anfangslose Kontinuum in gewöhnlicher Gestalt in jedem unkontrolliert auftretenden (samsarischen) Leben. Diese gewöhnlichen Formen werden durch mangelndes Gewahrsein (Unwissenheit) in Bezug darauf hervorgebracht, wie wir, andere und überhaupt alles existiert, sowie durch die störenden Emotionen und zwanghaften karmischen Verhaltensweisen, die dadurch bedingt sind. Verbunden mit dieser Verwirrung setzt dieses Kontinuum sich fort, erfüllt von vielerlei Arten von Leid, und wird sich immer weiter auf diese Weise fortsetzen, wenn wir nichts unternehmen, um die Verwirrung zu beseitigen (zu bereinigen). Dieses Tantra der Ebene der Grundlage ist also dadurch gekennzeichnet, dass es nicht gereinigt ist.
Das Tantra der resultierenden Ebene ist das endlose Kontinuum der vollständig gereinigten Faktoren unserer Buddha-Natur, nun in Form des Körpers, der Sprache, des Geistes, der Aktivität und der guten Qualitäten eines vollkommen erleuchteten Buddhas.
Das Tantra der Ebene des Pfades ist das teilweise gereinigte, teilweise noch ungereinigte Kontinuum, dass die mittlere Phase bildet, durch die unser Geisteskontinuum von der Ebene der Grundlage zur resultierenden Ebene gelangt. Diesen Prozess treiben wir voran, indem wir uns unsere Faktoren der Buddha-Natur in Form einer Buddha-Gestalt (tib. yidam, tantrische Gottheit) vorstellen. Dabei sind wir uns darüber im Klaren, dass das, was wir uns vorstellen, eine Ebene ist, die noch nicht stattfindet, die aber stattfinden kann, wenn wir die Faktoren unserer Buddha-Natur vollständig gereinigt haben. Aufgrund dieser Besonderheit, dass wir uns uns selbst in Form eines Buddha vorstellen, wird Tantra das „Fahrzeug des Resultats“ genannt – wir üben uns nun auf eine Weise, die dem Resultat ähnelt, das wir erreichen werden.
Vielfache Gliedmaßen
Viele der Buddha-Gestalten, als die wir uns mittels des Tantras des Pfades visualisieren, haben mehrere Gesichter und zahlreiche Arme und Beine. Dies sind sozusagen die Kettfäden des Tantra, denn mit ihrer Hilfe weben wir ein, was diese Darstellungen jeweils repräsentieren. Jedes dieser körperlichen Merkmale repräsentiert einen bestimmten Aspekt der Sutra-Lehren des Lam-rim. Sechs Arme zu haben symbolisiert beispielsweise, dass man alle sechs weitreichenden Geisteshaltungen – Großzügigkeit, ethische Selbstdisziplin, Geduld, Ausdauer, geistige Stabilität und unterscheidendes Gewahrsein – gleichzeitig hat. Indem wir diese sechs Geisteshaltungen in bildlicher Form visualisieren, können wir sie uns viel leichter alle gleichzeitig vergegenwärtigen, als wenn wir das auf abstrakte Weise versuchen würden.
Vorbereitende Übungen
Während wir uns in solch einer Form mit zahlreichen Gliedmaßen visualisieren, führen wir – sowohl in der Meditation als auch im Alltagsleben – Aktivitäten durch, um unser Netzwerk positiver Kraft und tiefen Gewahrseins (Ansammlung von Verdienst und Weisheit) auszubauen. Wir helfen anderen mit Liebe und Mitgefühl und richten die Aufmerksamkeit auf die Leerheit all dessen, was daran beteiligt ist. Diese beiden Netzwerke sind auch Faktoren der Buddha-Natur, und ihre Stärke ist das, was unsere anderen Faktoren der Buddha-Natur veranlasst, auf der Ebene der Grundlage, des Pfades und des Resultats in Funktion zu treten. Um diesen Prozess der Stärkung unserer Netzwerke anzukurbeln, führen wir vorbereitende Übungen durch wie z.B. Beispiel Niederwerfungen und Vajrasattva-Reinigungspraktiken, bevor wir uns in der Übung von Tantra versuchen.
Ermächtigungen (Initiationen)
Um zu beginnen, uns selbst als einen Buddha in Form einer Buddha-Gestalt zu visualisieren, ist es erforderlich, eine Ermächtigung (Initiation bzw. „Einweihung“) von einem qualifizierten tantrischen Meister zu erhalten. Wir nehmen erst dann daran teil, wenn wir uns hinreichend durch vorheriges Sutra-Studium und entsprechende Übung sowie durch vorausgehende Ngöndro-Übungen darauf vorbereitet haben. Durch die Kraft der Visualisationen, die der tantrische Meister und wir selbst während des Rituals durchführen, werden unsere Faktoren der Buddha-Natur angeregt, mit der Umwandlung in die eines Buddha zu beginnen. Um sicherzustellen, dass die Transformation ohne Hindernisse verläuft, legen wir verschiedene Gelübde ab, um nicht auf eine Art und Weise zu handeln, zu sprechen oder zu denken, die unserer Praxis schaden würde. Diese Gelübde beinhalten diejenigen ethischer Selbstdisziplin, die Bodhisattva-Gelübde und in einigen Fällen auch die tantrischen Gelübde. Ohne diese Gelübde bewusst abzulegen, empfangen wir keine Ermächtigung, und ohne sie so makellos wie möglich einzuhalten, gibt es keine wirkliche Tantra-Praxis.
Zusammenfassung
Tantra hat durchaus nichts mit sexuellen Aktivitäten oder mysteriösen Ritualen zu tun, sondern bietet ein höchst fortgeschrittenes und komplexes System zur Erweckung unseres vollständigen Potenzials. Tantrische Praxis darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden; wenn wir aktiv an dem Ritual teilnehmen, verpflichten wir uns, die damit verbundenen Gelübde für den Rest unseres Lebens einzuhalten. Aus eben diesem Grund sollten wir mit der Praxis von Tantra erst beginnen, wenn wir eine solide Grundlage in den Lehrinhalten des Buddhismus gewonnen haben und diese vor allem durch allumfassende Liebe und Mitgefühl für alle Wesen und ein gutes Verständnis der Leerheit gefestigt ist.