Die Art des Vorgehens
Ich möchte dieses Seminar so halten, als würde ich euch eine Probeschachtel mit Schokoladenstückchen anbieten, das heißt, ein bisschen Geschmack von dem ein oder anderen buddhistischen Thema vermitteln. Das Seminar wird also nicht rein logisch aufgebaut sein. Lasst mich euch eine Vorstellung davon verschaffen, was ich damit im Sinn habe. Die übliche Vorgehensweise ist beispielsweise, jede buddhistische Unterweisung damit zu beginnen, dass wir unsere Motivation ausrichten. Das ist aber gar nicht so einfach. Ich finde es jedenfalls nicht so einfach, denn man muss darauf achten, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen den Worten, die wir im Kopf hersagen, und dem, was wir im Herzen und im Körper tatsächlich empfinden.
Ich vermute, dass es für viele von uns sehr schwierig ist, klar zu definieren, was es eigentlich bedeutet, etwas zu empfinden, insbesondere eine Motivation. Ich meine, wir wissen wie es sich anfühlt, wenn wir traurig sind. Aber gefühlsmäßig eine Motivation zu empfinden – in Bezug darauf ist es nicht so einfach zu erkennen, was damit gemeint ist. Ich meine, es könnte interessant sein, sich an diesem Wochenende mit dieser Art von Themen zu beschäftigen. Das sind ziemlich knifflige Themen, keine einfachen. Ich denke, dass das hilfreicher sein könnte, als sich mit der Frage zu befassen: „Wie viele Kennzeichen der Erleuchtung hat ein Buddha?“, und ich euch dann die Anzahl aufzähle. Um diese Art von Fragen geht es mir hier eher nicht. Aber wie gesagt, stieß ich schon bei dem Versuch, solche Themen in eine logische Reihenfolge zu bringen, auf Schwierigkeiten. Ich habe gern eine einigermaßen geordnete Struktur für etwas, und das war in diesem Fall nicht so einfach.
Das bringt uns zu einem interessanten Punkt, der meiner Meinung nach für viele Menschen von Bedeutung sein könnte. Wir haben oft nicht nur eine allgemeine vorgefasste Meinung, wie z.B., dass alles in logischer Reihenfolge zu sein hat, sondern im tieferen Sinne möchten wir gern alles unter Kontrolle haben. Wenn wir die Kontrolle behalten und alles „in Ordnung“ ist, oder wir zumindest denken, dass wir alles im Griff haben, dann fühlen wir uns irgendwie sicherer. Wir glauben dann zu wissen, was geschehen wird. Das Leben ist aber nicht so. Wir können die Dinge nicht immer im Griff haben und die Dinge können nicht immer „in Ordnung“ sein. Die andere Seite davon ist, dass wir die Kontrolle gern an jemand anderen abgeben, damit dieser Mensch uns dann leitet oder die Situation, in der wir uns befinden, lenkt. Dabei geht es jedoch um dasselbe Thema – Kontrolle bewahren.
Aber niemand, weder wir selbst, noch sonst irgendjemand, kann die Kontrolle darüber haben, was im Leben geschieht. Was geschieht, wird von Millionen Faktoren beeinflusst, nicht nur von einer Person. Es ist daher notwendig, sich von diesem starken Greifen nach einem festen „Ich“ zu lösen, das unabhängig von allem anderen existiert und gerne alles im Griff haben möchte, ganz gleich, was um uns herum geschieht. Wir meinen, diesem vermeintlich feststehenden „Ich“ eine sichere Existenz zu verschaffen, wenn alles unter Kontrolle ist. Es ist, als würde man meinen: „Wenn ich alles im Griff habe, dann gibt es mich. Wenn ich keine Kontrolle habe, gibt es mich eigentlich nicht“. Folgen wir einem buddhistischen Pfad, so ist es in vielerlei Hinsicht notwendig, die Vorstellung aufzugeben, dass wir „alles unter Kontrolle“ hätten. Das heißt aber auch, die andere Seite dieser Vorstellung aufzugeben, nämlich jemand anderem die Kontrolle oder die Verantwortung zu übergeben, insbesondere dem spirituellen Lehrer, damit dieser dann alles unter Kontrolle hat. Das ist dasselbe Thema. Es gilt, beide Seiten davon zu überwinden.
Ich denke, dass es an diesem Wochenende sehr wichtig sein wird, von Mensch zu Mensch miteinander zu reden, da wir es mit zutiefst menschlichen Themen zu tun haben werden. Ich spreche zu euch als ein Mensch zum anderen. Ich hoffe, dass ich immer als Mensch zu anderen Menschen spreche und nicht als Autorität, die auf einem Podium steht, so als hätte ich alle Antworten parat.
Meiner Meinung nach ist es daher besser, wenn sich dieses Wochenende so entfalten kann wie es beim Malen eines Gemäldes geschieht, als zu versuchen, alles im Griff zu haben und den Kursverlauf in einer logischen Abfolge abzuspulen. Wir setzen eher hier einen kleinen Pinselstrich und da einen kleinen Pinselstrich, als dass wir versuchen, eine strikt geordnete Darstellung zu geben. Ich denke, dass das die sinnvollste Vorgehensweise ist, da sich viele der Themen, die wir an diesem Wochenende besprechen können, überschneiden werden und miteinander verbunden sind.
Motivation
Lasst uns auf die erste Praline aus unserer Musterschachtel zurückkommen. Ich bin noch nicht damit fertig, darauf herumzukauen, und viele von euch vielleicht ebenfalls nicht. Es geht um die Frage, wie man eine Motivation empfinden kann. Ich denke – da ich es in meiner eigenen Entwicklung erlebt habe –, dass wir meinen, diese Gefühle müssten dramatisch sein, sonst wären sie gar nicht vorhanden. Wenn sie dramatisch sind, zählen sie als Gefühl, sie sind vorhanden; wenn sie nicht dramatisch sind, gelten sie nicht und sind eigentlich nicht vorhanden. Vermutlich ist diese Vorstellung etwas durch Film und Fernsehen beeinflusst. Es ist kein interessanter Film, wenn die dargestellten Gefühle nur sehr subtil sind, oder? Er muss dramatisch sein, mit bewegender Musik im Hintergrund!
Manchmal lesen wir einen buddhistischen Text, in dem es heißt: „Unser Mitgefühl muss so bewegend sein, dass sich die Körperhärchen aufrichten und uns Tränen in die Augen steigen“. Aber ich nehme an, es wäre ziemlich schwer, unser Leben ständig so zu führen. Wenn wir vorhaben, eine Motivation zu entwickeln, haben wir manchmal das Gefühl: „Ich sollte etwas empfinden“ – und das ist ein Thema, auf das wir an diesem Wochenende noch oft zurückkommen werden: zu diesem Wort „sollte“ insgesamt. Wir denken: „Ich sollte etwas sehr intensiv fühlen. Ich bringe keine richtige Motivation zustande, wenn das nicht passiert.“ Aber wenn wir in unserem Geist eine Motivation hervorbringen, so ist das im Allgemeinen schwerlich ein Aufsehen erregendes Gefühl, zumindest meiner Erfahrung nach. Für gewöhnlich ist es viel subtiler, als dass wir Gänsehaut bekommen und sich Körperhärchen aufrichten. Ich denke, dass so zu euch zu sprechen vielleicht mehr von Nutzen ist – nicht vom Podium aus, sondern eher, indem ich meine Erfahrungen mit euch teile, die ich beim Ausüben solcher buddhistischen Praktiken gemacht habe, und wie ich mit den typischen Problemen umgegangen bin, die die meisten von uns Westlern haben. In dieser Weise wollen wir nun vorgehen.
Wir hören oft in den Unterweisungen, dass wir versuchen sollen, mit anderen so umzugehen, als wären sie die eigene Mutter: „Erkenne jedes Lebewesen als deine Mutter“. Viele Menschen haben aber Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihrer Mutter, und deshalb können wir diese Vorstellung auch durch das Bild unseres engsten Freundes ersetzen. Denn der wesentliche Punkt hier ist nicht unbedingt die „Mutter“, sondern jemand, zu dem wir eine starke und positive emotionale Verbindung haben.
Wenn ich z.B. heute Abend versuche, eine Motivation hervorzubringen, so versuche ich von jedem der Zuhörer so zu denken, als wäre er mein bester Freund. Wenn wir mit unserem besten Freund zusammen sind, der uns sehr nahesteht, dann sind wir aufrichtig. Wir ziehen nicht irgendeine Show ab oder verstecken uns hinter einer Maske oder Rolle. So ist es doch, nicht wahr? Und wenn wir mit unserem engsten Freund zusammen sind, empfinden wir aufrichtig etwas für diese Person. Das Gefühl ist nicht immer sonderlich dramatisch, aber es ist ein gewisses Gefühl vorhanden.
Wenn wir beginnen, solche Unterweisungen wie „Betrachte jedes Lebewesen als deine Mutter“ im Sinne von „Sieh jeden als deinen besten Freund an“ verstehen und anwenden, dann haben wir allmählich tatsächlich eine Art Motivation. Wir haben den aufrichtigen Wunsch, diesem Menschen etwas Gutes zu tun. Wir möchten, dass die Zeit, die wir mit ihm verbringen, sinnvoll und von Nutzen für ihn ist – wenn wir nicht gerade jemand sind, der sehr selbstsüchtig ist und andere bloß ausnutzt, um selbst Vorteile oder sein Vergnügen zu haben.
Warum es wichtig ist, die Augen offen zu lassen
Auch in den buddhistischen Übungen, bei denen wir die geistige Einstellung uns selbst und anderen gegenüber gleichsetzen und austauschen, erlebe ich nicht wirklich eine Bewegung im Herzen, wenn ich sie mit geschlossenen Augen in Form von Visualisierungen ausführe. Ja, ich könnte meine Augen schließen und mir meinen engsten Freund vorstellen, aber das ist eigentlich nicht dasselbe wie in Beziehung zu Menschen zu treten, die sich unmittelbar vor mir befinden, oder mich jetzt auf euch hier im Publikum zu beziehen. Ich finde diese Praktiken viel sinnvoller, wenn ich sie mit offenen Augen durchführe und andere Menschen ansehe.
Wenn wir allein üben, ist das natürlich etwas anderes. Wir können Fotos von Menschen betrachten, wenn es uns schwer fällt, sie uns vorzustellen. Ich denke, das ist völlig in Ordnung. Aber auch, wenn wir uns andere vorstellen, finde ich es wirksamer, bestimmte, individuelle Menschen zu visualisieren, statt nur abstrakt „alle fühlende Wesen“. Und ich versuche das mit offenen Augen zu tun, und nicht, mich mit geschlossenen Augen von der Welt um mich herum abzuschotten.
Wenn wir uns die Anleitungen zur Visualisierung in tantrischen Übungen ansehen – z.B. für die Erzeugungsstufe im Anuttarayoga-Tantra –, so finden wir dort den äußerst wichtigen Punkt, dass Visualisierungen mit dem mentalen Bewusstsein zu erzeugen sind. Die Visualisierungen werden nicht mittels des Sinnesbewusstseins hervorgebracht. Etwas mit dem Sinnesbewusstsein visualisieren zu können ist eine Fähigkeit, die nur während der Vollendungsstufe auftritt. Die Vollendungsstufe ist eine sehr fortgeschrittene Praxis und erfordert, dass die Energieströme unserer Sinneszellen tatsächlich auf eine Weise beeinflusst wurden, dass sie die Bilder der Visualisierung hervorbringen. Das heißt, dass wir auf der Erzeugungsstufe nicht die Art und Weise verändern, wie wir die Dinge wahrnehmen, sondern die Art, wie wir das, was wir wahrnehmen, begrifflich erfassen oder aufnehmen. Statt das, was wir sehen, als gewöhnliche Form zu betrachten, betrachten wir es beispielsweise als Gottheit oder Buddha-Gestalt.
Ich hoffe, dass ihr eine Vorstellung davon bekommt, dass wir alles, was wir seit dem Anfang gelernt haben, zusammenfügen müssen, um auf sinnvolle Weise mit dem Dharma umgehen zu können. Das heißt: Wenn wir jemanden als Gottheit visualisieren, oder, wie in unserem Beispiel, jeden als unseren besten Freund oder unsere Mutter betrachten, verändern wir nicht unsere Sinneswahrnehmung dieser Person. Wir verändern nur die Art und Weise, in welchen Begriffen wir diese Person erfassen.
Wenn wir uns aber beim Betrachten der anderen Person die Frage stellen: „Was heißt es, die Person begrifflich zu erfassen? Was ist eine begriffliche Wahrnehmung?“, ist es erforderlich, uns den Lehren über Lorig – die verschiedenen Arten der Wahrnehmung – zuzuwenden. Dort erfahren wir, dass eine begriffliche Wahrnehmung eine Wahrnehmung ist, bei der wir das Objekt vor uns – sagen wir ein körperliches Objekt – mit der Vorstellung einer bestimmten Kategorie vermischen. Lediglich an die Vorstellung der Kategorie „bester Freund“ zu denken, die wir mit einem geistigen Bild von jemandem vermischen, hat sozusagen nicht so viel Kraft, als wenn wir diese Vorstellung entwickeln, während wir gleichzeitig tatsächlich einen Menschen sehen.
Aus diesem Grund ist es sehr wirksam, wenn wir diese Meditationsübungen mit geöffneten Augen durchführen und dabei tatsächlich Menschen ansehen. Ich kann das gar nicht genug betonen! Das macht in all diesen Übungen wirklich einen großen Unterschied aus. In den tibetischen Mahayana-Lehren heißt es ganz eindeutig: „Übe die Meditation mit geöffneten Augen“. Viele Menschen nehmen diese Anweisung nicht ernst genug, denn das ist gar nicht so einfach. Für manche Menschen ist es sehr förderlich, allein mit geschlossenen Augen zu meditieren. Insbesondere wenn sie leicht abzulenken sind, wird es ihre Konzentration beeinträchtigen, wenn sich um sie herum andere Menschen befinden. Aber wenn unsere Konzentration etwas stabiler ist, werden die Übungen erheblich bedeutsamer, wenn wir sie wirklich auf Menschen in unserem Leben anwenden.
Für das Beispiel, wie man eine Motivation entwickelt, bedeutet dies, in meinem Fall, hier in diesem Raum: Ich sehe euch vor mir und betrachte euch und die Art, wie ich mich auf euch beziehe, so, als ob ihr mein bester Freund wärt. Wenn ihr wirklich mein bester Freund wärt, – mir fällt jetzt kein schönes Wort ein außer diesem umgangssprachlichen – könnte ich euch keinen Scheiß erzählen. Ich muss aufrichtig sein. Und ich habe ganz natürlicher Weise die Motivation, euch nützen zu wollen. Sicherlich kann man im Geist auch einige Worte wiederholen, etwa: „Ich hoffe wirklich, dass mein Vortrag für euch sinnvoll und hilfreich sein wird“. Doch die Worte machen uns quasi nur etwas mehr bewusst, was wir bereits dadurch fundiert haben, dass wir die Menschen um uns herum als unsere besten Freunde betrachten.
Wenn ich das tue, erlebe ich nicht, dass sich die Haare auf meinem Arm aufrichten. Das ist wahr. Es ist aber trotzdem etwas entstanden, das sich positiv auf die Beziehung zu den anderen auswirkt. Ich denke, das ist ein allgemeiner Ansatz, wie wir ein gewisses Gefühl für diese ganz einfachen Vorgänge entwickeln können, die wir für selbstverständlich halten: „Bla bla bla – ich habe meine Motivation ausgerichtet“. Für gewöhnlich rezitieren wir das einfach auf Tibetisch, und für die meisten von uns haben nicht einmal die Worte, die wir da rezitieren, irgendeine Bedeutung.
Vielleicht können wir diese Vorgehensweise ein bisschen üben. Ich möchte dieses Wochenende nicht allein damit verbringen, dass ich rede. Da wir hier nicht allzu viele sind, möchte ich vorschlagen, dass wir uns in einem Kreis hinsetzen. Wenn wir in Reihen hintereinander sitzen, besteht die Tendenz, bloß auf das Kissen oder auf den Hinterkopf des Vordermanns zu starren, und nach einer Weile ist das ziemlich misslich. Wenn wir in einem Kreis zusammensitzen, können wir die Gesichter der anderen sehen.
Nun können wir versuchen, unsere Motivation auszurichten. „Eine Motivation ausrichten“ klingt schon wieder so künstlich, nicht wahr? Aber was wir eigentlich tun, ist, anders ausgedrückt - ich bin ein Übersetzer, deshalb ändere ich gern die Worte -, in uns „eine Stimmung zu erzeugen“, und zwar eine Stimmung, die sich so anfühlt, als seien wir mit unserem besten Freund zusammen. Wie fühlt sich das an, mit unserem besten Freund zusammen zu sein? Wir fühlen uns dabei ganz entspannt. Wir sind nicht „auf der Bühne“, wir brauchen nicht vorzugeben, irgendetwas zu sein. Wir brauchen nicht irgendeine Rolle zu spielen, nicht wahr? In den westlichen Sprachen gibt es eine Ausdrucksweise dafür, die eigentlich sehr un-buddhistisch ist, nämlich: „Wir können ganz wir selbst sein“ – was auch immer das heißen mag.
Die Mauern fallen lassen
All die Mauern können wegfallen. Wenn wir mit unserem besten Freund zusammen sind, können wir all die Abwehrmechanismen weglassen. Es ist dann möglich, sich ganz offen miteinander auszutauschen und gemeinsam die Zeit zu verbringen, ohne uns an diese Person zu klammern. Wir erleben eine gewisse Freude, keine dramatische Freude, aber eine Art Freude ist vorhanden, und wir haben nicht das Gefühl, irgendetwas Bestimmtes tun zu müssen. Doch wir haben auch den aufrichtigen Wunsch, dieser Person von Nutzen zu sein. Wir mögen diese Person auf ganz aufrichtige, menschliche Weise.
Wir versuchen nun also, alle hier im Raum auf diese Weise zu betrachten. Wir bringen dabei eine Vorstellung mit einer visuellen Wahrnehmung zusammen. Macht die Übung bitte nicht mit geschlossenen Augen, denn dann besteht die Gefahr, dass in euch kein Gefühl für die anderen entsteht. Es ist wichtig, dass die Augen offen sind, wir wollen die Menschen um uns herum tatsächlich auf bestimmte Weise sehen. Das heißt nicht, dass die visuelle Wahrnehmung irgendwie verändert würde. Das Wort „Visualisierung“ verwirrt uns meist ziemlich; wir meinen dann, wir müssten irgendwie unsere visuelle Sinneswahrnehmung verändern. Das müssen wir gar nicht. Es ist eine Frage von Wahrnehmung im Allgemeinen: Welche Vorstellung haben wir bzw. in welcher Stimmung befinden wir uns, wenn wir die anderen Menschen sehen?
Ich denke, das Gefühl, das am Anfang steht, ist ein Gefühl der Entspannung und des Zur-Ruhe-Kommens. Dafür müssen die Mauern wegfallen, nicht wahr? Wenn sie wegfallen, können wir wirklich aufrichtig sein. Lasst uns versuchen, das zu üben, während wir einander ansehen.
[Pause zum Üben]
Dann fügen wir noch eine weitere Note hinzu, indem wir den Wunsch empfinden: „Möge ich von Nutzen sein“. Das ist das Gefühl, dass man bereit ist zu helfen. Das ist ein wichtiger Bestandteil. Es bedeutet nicht: „Oh, ich muss helfen, was soll ich bloß tun? Ich weiß nicht, was zu tun ist, ich bin unfähig“ oder so etwas in der Art. Vielmehr handelt es sich um eine Art Offenheit und Bereitschaft, gegebenenfalls zu helfen.
[Pause zum Üben]
Lernen, sich zu entspannen
Das ist meines Erachtens der Schlüssel dazu, wie wir beginnen können, etwas aufrichtig zu empfinden, und kann uns als eine Art Leitfaden dafür dienen. Die Orientierungshilfe ist, dass es zuerst einmal gilt, die Wände fallenzulassen. Manchmal haben wir Angst, etwas zu fühlen, weil wir nicht wissen, was dann passieren wird – so als wären wir dabei, die Kontrolle zu verlieren. Das hat mit diesem großen, feststehenden „Ich“ innerhalb der Mauern zu tun. Wichtig ist, sich zu entspannen. Das ist ganz wesentlich.
Entspannung heißt nicht nur, die Muskeln zu entspannen oder die Spannung in körperlicher Hinsicht zu lösen, obwohl das natürlich auch dazugehört. Es geht jedoch eher um Entspannung im Geist, und diese entsteht dadurch, dass man, zumindest in gewissem Maße, die Lehren über die Leerheit versteht. Leerheit bedeutet die Abwesenheit einer unmöglichen Art zu existieren – im Hinblick auf uns selbst, alle anderen und alles, was um uns herum geschieht. Nichts und niemand existiert „feststehend“, von sich aus, unabhängig von allem anderen und abgetrennt von dem, was vor sich geht.
Wenn wir unsere Befangenheit, unsere Unsicherheit, unsere Ich-Bezogenheit lockern können, gibt uns das auf einfachster Ebene einen Eindruck davon, wie es sein könnte, ein gewisses Ausmaß eines solchen Verständnisses zu besitzen. Nochmals: Es ist notwendig, all die Aussagen in den Lehren zusammenzufügen. Wir können ein gewisses Gefühl für diesen Punkt hinsichtlich der Leerheit bekommen, auch wenn wir dieses Thema noch nicht eingehend studiert haben, denn wir machen diese Erfahrung zu einem gewissen Ausmaß beim Zusammensein mit unserem engsten Freund. Wenn wir uns in bestimmte Lebenssituationen begeben und auf diese Weise unsere Motivation entwickeln, dann funktioniert das.
Das heißt, dass wir ganz aufrichtig in Situationen hineingehen und keine Show abziehen. Wir versuchen nicht, uns gut zu verkaufen, als würden wir uns um eine neue Arbeitsstelle bewerben. Wir inszenieren nicht irgendeine Verhaltensweise. Wir fühlen uns einfach wohl mit anderen. Das ist im Wesentlichen deshalb der Fall, weil wir uns im Grunde mit uns selbst wohlfühlen. Das hängt natürlich alles damit zusammen, was wir unter unserem Selbst verstehen. Es steht in Verbindung mit unserem Verständnis davon, wie das Selbst existiert – mit anderen Worten, dem Verständnis der Leerheit. Das Selbst ist ohne jegliche unmögliche Existenzweise. „Ich“ bin leer von unmöglichen Arten zu existieren. Das Gleiche gilt auch für euch.
Nun könnte man den Einwand erheben: „Aber bin ich nicht ungeschützt und verletzbar, wenn ich all meine Barrikaden weglasse?“ Ich denke nicht, dass es so ist. Nehmen wir ein Beispiel aus den Kampfkünsten: Wenn wir verspannt sind, können wir nicht schnell reagieren, wenn uns jemand angreift. Sind die Barrieren unserer Befangenheit beiseite geräumt, dann gilt unsere Aufmerksamkeit vollkommen dem, was geschieht. Dann ist es möglich, blitzschnell auf alles, was passiert, zu reagieren.
Es handelt sich hier wieder um den Umgang mit dem Angstfaktor, nicht wahr? Es ist die Angst, die wir zu überwinden haben, denn sie ist es, die uns davon abhält, die Barrieren beiseite zu räumen. Wir haben Angst davor: „Wenn ich die Barrieren fallen lasse, werde ich verletzt werden“. Das beruht darauf, dass wir überhaupt erst Barrieren aufbauen, und indem wir das tun, schaden wir uns tatsächlich selbst. Aber diese Tatsachen müssen wir aus persönlicher Erfahrung lernen, und dadurch, dass wir Verständnis dieser Vorgänge entwickeln. Das bringt uns zu einem weiteren wichtigen Thema, nämlich dem Thema „Verständnis“.
Ein Gefühl beruhend auf schlussfolgerndem Verständnis entwickeln
Viele Menschen sind von einigen der Vorgehensweisen, die man im Buddhismus – insbesondere im tibetischen Buddhismus und vor allem in der Gelugpa-Tradition des tibetischen Buddhismus – findet, ziemlich abgeschreckt. Das betrifft besonders die Betonung von Logik und Schlussfolgerungen. Aber da gibt es nichts zu befürchten, denn unser Geist arbeitet eigentlich immer mit dieser Art von Verständnis. Verstehen ist nicht notwendigerweise ein intellektueller Vorgang. Wir hören morgens den Wecker und begreifen, dass es Zeit ist aufzustehen. Warum ist es Zeit aufzustehen? Weil der Wecker geklingelt hat. Es gibt eine bewusste Reihe von Gründen dafür, und auch unbewusst arbeitet das Gehirn auf diese Weise. Der Ablauf der logischen Begründung für das Verständnis ist: „Wenn der Wecker klingelt, ist es Zeit aufzustehen. Der Wecker hat geklingelt, also ist es Zeit aufzustehen.“ Wir können das in die Form eines logischen Syllogismus kleiden. [Syllogismus lt. Duden: aus zwei Prämissen gezogener logischer Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere.] Dabei muss es sich nicht um eine schwierige intellektuelle Übung handeln, die wir durchlaufen müssen, um aus einem Anzeichen – das ist genau das Wort, das im Tibetischen dafür verwendet wird – zu erkennen, dass es Zeit ist aufzustehen. Dass der Wecker klingelt, ist das Zeichen, auf das wir uns verlassen, um zu begreifen, dass es Zeit ist aufzustehen.
Ähnlich gilt: Wenn wir jemanden als unseren besten Freund ansehen, ist das ein Zeichen oder ein Hinweis, welches uns ermöglicht zu verstehen, dass es nicht nötig ist, die Barrieren der Abschottung aufrechtzuerhalten. Denn es gibt nichts zu befürchten und wir brauchen für diese Person keine Show abzuziehen. Wie erkennen wir das? Dadurch, dass wir ein Anzeichen gesehen und es daraus geschlussfolgert haben. Das Anzeichen ist, dass wir diese Person als unseren besten Freund ansehen. Wir gelangen also zu einem schlussfolgernden Verständnis, welches wir eher durch eine einfache Schlussfolgerung als durch eine Abfolge schwerer Logik erreichen.
Gefühle entwickeln zu können steht in Verbindung zu einem bestimmten Verständnis. Viele Menschen sind verwirrt in Bezug darauf, wie man von etwas, das intellektuell abläuft, zu etwas gelangen kann, dass man fühlt. Das ist ein großes Problem, das viele von uns aufgrund der westlichen Denkweise haben, die Intellekt und Gefühl als zwei getrennte Dinge voneinander abgrenzt, welche fast ohne Verbindung miteinander sind.
Der Weg, diese Schwierigkeit zu überwinden, besteht darin, dass wir zunächst einmal erkennen, dass Fühlen zwei Aspekte hat: Der eine Aspekt ist, dass man etwas als wahr empfindet – mit anderen Worten, man glaubt, dass etwas wahr ist – und hat dann ein emotionales Gefühl, das auf diesem Glauben beruht. Dieser Vorgang – etwas auf bestimmte Weise zu verstehen, indem man glaubt, dass es wahr ist, und das Fühlen einer Emotion in Bezug darauf – ist ein Geschehen, bei dem das eine aus dem anderen folgt. Dass diese beiden Aspekte nicht miteinander in Verbindung stehen, ist eine unmögliche Existenzweise.
Wir erlangen z.B. ein Verständnis von etwas, indem wir uns auf ein Anzeichen stützen. Wir können den Vorgang in einer logischen Form ausdrücken: „Wenn ich mit meinem engsten Freund zusammen bin, muss ich mich nicht verteidigen. Dieser Mensch ist mein bester Freund. Aus diesem Grund ist es nicht notwendig, eine Verteidigungshaltung einzunehmen“. Weil dieses Verständnis auf einem logischen Syllogismus beruht, können wir es vielleicht ein intellektuelles Verständnis nennen, aber das ist nicht der wesentliche Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass wir beruhend auf diesem Verständnis glauben, dass es wahr ist, dass wir uns gegenüber diesem Menschen nicht defensiv zu verhalten brauchen. Beruhend auf diesem Glauben können wir beginnen, die Mauern fallen zu lassen und uns entspannter fühlen. Wenn die Mauern nicht wegfallen und wir uns nicht entspannen, liegt der Fehler für gewöhnlich in unserem Verständnis und dem entsprechenden Glauben. Natürlich kann es auch andere, äußere Faktoren geben, die uns beeinflussen, etwa eine Anspannung aufgrund von anderen Dingen, die in unserem Leben zu dieser Zeit passieren. Aber ich nehme an, ihr versteht, was ich meine.
Was es zu erkennen gilt, ist, was es heißt, etwas zu verstehen. Wenn wir das erkennen können, dann ist es viel einfacher, eine Verbindung zwischen den beiden Bestandteilen des Vorgangs herzustellen, nämlich zwischen dem Aspekt, dass wir eine Tatsache für wahr halten, und dem Fühlen einer Emotion, die auf dem Glauben an diese Tatsache beruht. Versuchen wir ein einfaches Beispiel dafür zu finden. Nun, ein Beispiel ist der klingelnde Wecker. Wir verstehen „intellektuell“ durch einen Prozess des Folgerns, dass das heißt, es ist Zeit aufzustehen.
Versuchen Sie sich nun darauf zu konzentrieren, wie es sich anfühlt zu verstehen, dass es Zeit ist aufzustehen. Welche Eigenschaften nehmt ihr da wahr?
Ich habe irgendwie gelernt, dass ich aufstehen muss, wenn der Wecker klingelt, und habe erkannt, dass es für mich leichter ist, zur Arbeit zu gehen, wenn ich früh genug aufstehe; andernfalls werde ich zu spät dran sein.
Richtig, aber gehen wir noch tiefer. Es geht nicht nur um ein Pflichtgefühl oder so etwas. Das ist sekundär. Auf einer tieferen Ebene müssen wir uns mit zwei wesentlichen emotionalen Aspekten befassen im Zusammenhang mit dem Glauben an das, was wir verstehen, wenn wir den Wecker klingeln hören. Der erste ist, dass wir nicht bereit sind zu akzeptieren, was wir hören und was wir verstehen – nämlich dass wir wirklich aufstehen müssen. Das ist das erste wichtige Thema. Das zweite ist, die Entscheidung zu treffen, die Wahrheit anzunehmen und wirklich aus dem Bett zu kommen. Es könnte auch noch sekundäre Aspekte geben, z.B. warum wir diese Entscheidung treffen – aufgrund eines Pflichtgefühls, aufgrund eines Schuldgefühls oder warum auch immer; wir können die Entscheidung aus vielerlei Gründen treffen. Dann folgt der Punkt den du erwähnt hast.
Es ist nicht nur Pflichtgefühl, das ich empfinde. Ich weiß aus Erfahrung, dass ich, wenn ich früh genug aufstehe, Zeit habe, mich ein paar Minuten zu entspannen und so den Tag lockerer angehen kann. Daher ist das Gefühl, das ich beim Aufstehen habe, positiver.
Das ist sehr wichtig, denn was hier geschieht, ist, dass wir beruhend auf einem bestimmten Verständnis, die Logik akzeptieren, dass wir aufstehen müssen, wenn der Wecker läutet, und die Entscheidung treffen aufzustehen. Wir verstehen, dass wir, wenn wir jetzt wirklich aufstehen, etwas entspannter sind, wenn wir aus dem Haus gehen, statt in Hektik zu geraten, weil uns nur zwei Minuten bleiben, um alles auf die Reihe zu kriegen und loszurennen. Weil es gewisse Vorteile hat, ein bisschen früher aufzustehen und wir diese Vorteile begreifen, fühlt es sich für uns besser an, aufzustehen. Die Realität ist, dass wir sowieso aufstehen müssen – ob nun die Emotion, die wir im Hinblick darauf empfinden, Abneigung oder eher ein gutes Gefühl ist. Wir empfinden Abneigung, wenn wir an die Nachteile des Aufstehens denken – wir können nicht länger im warmen, kuscheligen Bett liegen. Ein eher gutes Gefühl haben wir, wenn wir an die Vorteile denken, die es hat, jetzt aufzustehen.
Sehen wir uns die Struktur der buddhistischen Belehrungen an, so zeigt sich, dass für jeden Punkt stets Vorteile angegeben sind. Es hat Vorteile, die Mauern fallen zu lassen, es hat Vorteile, jedermann als die eigene Mutter zu betrachten, sich bewusst zu machen, dass man ein kostbares menschliches Leben besitzt, sich die Vergänglichkeit klarzumachen usw. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Vorteile zu verstehen, die es hat, wenn wir etwas als wahr akzeptieren und dann auch glauben, dass es wahr ist. Wieder kommt es zuerst einmal darauf an, etwas zu verstehen. Nachdem wir etwas verstanden haben, müssen wir jedoch weiter daran arbeiten, es auch tatsächlich zu akzeptieren. Die Emotion, die wir empfinden, wird davon gefärbt sein, ob wir die Wahrheit dessen, was wir verstanden haben, auch annehmen und auf welche Weise wir sie annehmen.
Etwas akzeptieren, das wir verstanden haben
Akzeptanz ist tatsächlich eine sehr schwierige Angelegenheit. In dem Beispiel mit dem Wecker mag es vielleicht sein, dass wir Schwierigkeiten haben, zu akzeptieren, dass wir jeden Morgen aufstehen müssen. Wir kennen solche Schwierigkeiten auch aus anderen Bereichen in unserem Leben, beispielsweise, wenn es uns nach Schokolade verlangt und wir keine finden, obwohl wir überall im Haus gesucht haben. Die logische Schlussfolgerung ist, dass es keine Schokolade im Haus gibt. Es kann nur ziemlich schwierig sein, diese Tatsache zu akzeptieren.
Oder es mag sein, dass wir vor unserer verschlossenen Haustür stehen, in allen Taschen nach dem Haustürschlüssel suchen, in der Meinung, er müsste doch in einer davon zu finden sein. Wenn er aber dort nicht ist, ist das ein gültiges Anzeichen für die logische Schlussfolgerung, dass wir unseren Schlüssel verloren haben oder vergessen haben, ihn mitzunehmen. Wir sind ausgesperrt. Das ist sehr schwer zu akzeptieren, nicht wahr? Wie besessen suchen wir weiter und weiter nach dem Schlüssel. – Das sind ziemlich einfache Beispiele. Aber wenn es zu akzeptieren gilt, dass es kein feststehendes „Ich“ gibt, weil wir überall danach gesucht haben und so etwas nicht finden können, dann ist das nicht so leicht zu akzeptieren.
Diese ganze Angelegenheit, wie man vom Verständnis von etwas dazu übergeht, es tatsächlich gefühlsmäßig zu empfinden, ist sehr schwierig aufgrund der Art und Weise, wie wir den Vorgang wahrnehmen. Wir betrachten ihn, als würde man von etwas Intellektuellem zu etwas Emotionalem wechseln, und halten das für zwei getrennte Aspekte, die ohne Verbindung miteinander sind. Doch selbst wenn wir den Prozess als ein Voranschreiten von einem Verständnis – was meines Erachtens eine konstruktivere Betrachtungsweise ist – zu einem Gefühl betrachten, ist es immer noch nicht so leicht aufgrund der Problematik, das, was wir verstanden haben, auch wirklich zu akzeptieren.
Den Mut gewinnen, die Mauern fallen zu lassen
Nun stellt sich die Frage, wie wir dieses Akzeptieren lernen können. Lasst uns auf unser einfacheres Beispiel zurückkommen. Wie akzeptiert man es, die Mauern fallen zu lassen? Hat jemand dazu eine Idee?
Wenn wir verstehen, dass es von Nutzen ist, ist es einfacher zu akzeptieren. Je mehr wir verstehen, dass es hilfreich sein könnte, umso einfacher ist es zu akzeptieren.
Gut. Wir akzeptieren, die Mauern fallen zu lassen, und versuchen, das auch wirklich zu tun, wenn wir die Vorteile davon verstehen und als wahr akzeptieren. Noch jemand?
Um etwas zu akzeptieren, muss man es erfahren. Also versucht man es zunächst einfach. Vielleicht springt man ins Wasser und versinkt, aber man muss den Mut aufbringen, es zu versuchen, diese Erfahrung zu machen.
Das stimmt. Um die Mauern tatsächlich fallen zu lassen, brauchen wir eine Menge Mut. Aber schon zu wissen, dass es möglich ist, die Mauern fallen zu lassen, erfordert zunächst ein gewisses Verständnis. Dieses Verständnis rührt aus der Erfahrung, dass es unseren Beziehungen sehr geschadet hat, die ständigen Schutzwälle nicht weggelassen zu haben. Beruhend auf dieser Erfahrung und darauf, dass uns jemand erzählt hat, wie es ist, ohne diese Barrieren zu sein, und wir es an ihm sehen können, gewinnen wir den Mut, es selbst zu versuchen.
Nun können wir einen kleinen Pinselstrich auf den Teil des Bildes setzen, wo der Guru dargestellt wird, denn Inspiration gewinnen wir dadurch, dass wir das Beispiel von jemandem sehen, der ohne derartige Mauern lebt. Das könnte ein geeigneter Lehrer sein – wohlgemerkt, es gibt viele Lehrer, die keine angemessenen Lehrer sind. In einem angemessenen Lehrer sehen wir ein lebendiges Beispiel, was es heißt, die Mauern fallen gelassen zu haben. Dadurch gewinnen wir Inspiration und den Mut, es selbst zu versuchen.
Lernen, die Mauern fallen zu lasen
Als Kind hat man diese Mauern nicht, aber aufgrund schlechter Erfahrungen, weil man z.B. schlecht behandelt wurde, baut man diese Mauern auf und deshalb ist jetzt immer noch diese Angst da, wenn man die Mauern fallen lassen soll. Aber seit ich mit dem Buddhismus in Kontakt gekommen bin, versuche ich nun, diese Mauern fallen zu lassen, doch es ist immer noch die Angst da, dass jemand meine Offenheit missbrauchen könnte.
Das ist genau der Punkt, den ich zur Sprache bringen wollte. Wie lernen wir, dass es heilsam ist, die Mauern fallen zu lassen? Wie können wir lernen, das zu spüren oder zu entwickeln? Es kann aufgrund der Tatsache zustande kommen, dass wir, wenn wir die Erfahrung machen, die Mauern fallen zu lassen, unmittelbar die Vorteile davon erfahren. Auf diese Weise erkennen wir sie. Allerdings treten die Vorteile nicht immer sofort zutage. Diese Art zu lernen ist also nicht so einfach.
Die zweite Art, wie wir es lernen können, geht darauf zurück, dass wir manchmal die Mauern fallen lassen und verletzt werden. Das kann auch auf frühere Erfahrungen zurückgehen. Manchmal wurden wir verletzt; man hat uns ausgenutzt. Dann müssen wir versuchen zu verstehen, was da falsch lief. Wenn wir verstehen, was falsch gelaufen ist, können wir es korrigieren. Bestand das Problem in der betreffenden Situation darin, dass wir die Mauern fallen gelassen haben, oder darin, dass etwas unangemessen daran war, wie wir mit der Situation umgingen im Zusammenhang damit, welche Vorstellung wir von uns selbst hatten?
Lasst mich ein Beispiel anführen: Wir waren mit jemandem zusammen und dieser Mensch wurde ärgerlich auf uns. Nun hätten wir diese Situation auf zweierlei Weise angehen können, entweder, indem wir die Mauern aufrechterhielten oder indem wir sie fallenließen. Wir können denken: „Ich hatte keine Mauern um mich herum, dadurch war ich verletzlich, der andere sagte diese verärgerten Worte zu mir und so wurde ich verletzt“. Wir könnten auch denken: „Gut, wenn ich die Mauern aufrechterhalten hätte, wäre ich nicht verletzt worden“.
Darüber müssen wir uns klar werden - denn die Art, wie das gerade formuliert wurde, ist ziemlich verrückt. Wie kann es denn sein, dass wir nicht verletzt worden wären, wenn wir die Mauern aufrechterhalten hätten? Wie wäre es denn gewesen?
In Wirklichkeit wären wir auf jeden Fall verletzt worden, ganz gleich, ob wir die Mauern aufrechterhalten oder herabgelassen hätten. Wenn jemand mit einem Klumpen Dreck nach uns wirft und wir einfach dastehen und das hinnehmen und davon auf die Nase getroffen werden, dann ist das, als würden wir uns selbst auf eine sehr feststehende Weise sehen. Doch wenn wir ziemlich flexibel sind und jemand mit Dreck nach uns wirft, bewegen wir uns ein Stückchen zur Seite und sorgen dafür, dass der Dreck uns nicht auf die Nase trifft. Die wütenden Worte gehen schlichtweg an uns vorbei. Die Person war in einer üblen Stimmung, wir nehmen das nicht persönlich.
Das ist der Schlüssel: flexibel zu sein und die ärgerlichen Worte nicht persönlich zu nehmen; wir lassen nicht zu, dass sie uns direkt auf die Nase treffen. Wenn wir hingegen an dieser feststehenden Betrachtungsweise, wie wir uns selbst sehen, festhalten, dann sind wir starr, und nehmen alles sehr persönlich, und wenn wir dann die Mauern fallen lassen, sind wir sehr verletzlich und alles trifft uns direkt auf die Nase.
Doch wenn wir dieses feststehende Gefühl von „Ich“ haben und alles persönlich nehmen, können wir uns auch nicht dadurch schützen, dass wir Mauern aufbauen. Wir nehmen dann immer noch alles persönlich. Oder wir verstecken uns voller Angst und Unsicherheit hinter unseren Mauern. Dann werden wir unbewusst verletzt bzw. wir blockieren die Empfindung, verletzt zu werden, aber innerlich fühlen wir uns trotzdem verletzt. Wir befinden uns in einem Zustand des Verleugnens, aber in Wirklichkeit sind wir sehr verletzt. Dabei geht es um ein feststehendes „Ich“, das hinter den Mauern versteckt ist. Wir müssen uns also sehr klar darüber sein, was hier vor sich geht. Was ist die Ursache dafür, dass wir verletzt werden? Die Ursache dafür, dass wir verletzt werden, ist nicht, dass wir die Mauern fallen lassen. Die Ursache dafür, dass wir verletzt werden, ist unsere falsche Vorstellung von einem feststehenden „Ich“.
Intellektuell kann ich vielleicht das Problem und die buddhistischen Hinweise in Bezug auf die Leerheit des feststehenden „Ichs“ verstehen. Aber wenn die Situation auftritt, ist das Gefühl vorhanden, verletzt zu sein, und ich kann dieses Verständnis dann nicht auf das Gefühl anwenden und in meine Gefühlen mit einbeziehen. Wenn ich z.B. verletzt bin, mag es zwar sein, dass ich weiß: O.k., es gibt kein Ego, aber trotzdem fühlt es sich verletzt. Dieses Gefühl des Verletztseins löst sich also nicht auf, weil ich Gedanken im Sinne von „kein Ich“ habe.
Das ist wahr. Es gibt Stufen auf dem Weg. Schmerz und Leiden und dergleichen verschwinden nicht sofort. Selbst wenn wir direkte unbegriffliche Erkenntnis der Leerheit haben, heißt das noch nicht, dass das Leiden für uns zu Ende ist. Diese bloße Wahrnehmung der Leerheit muss uns allmählich durchdringen, sie muss über einen langen Zeitraum mithilfe von viel Erfahrung tief ins Bewusstsein dringen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Arya – jemand, der unbegriffliche Erkenntnis der Leerheit erlangt hat – und einem Arhat – jemand, der für immer vom Leiden befreit ist. Es ist wichtig, dass wir nicht mehr erwarten sollten als das, was normalerweise in dem Entwicklungsvorgang erfolgt, in dem ein Individuum Befreiung erlangt. Der Vorgang verläuft schrittweise; es handelt sich um einen allmählichen Prozess.
Hier müssen wir uns an die erste edle Wahrheit erinnern. Das Leben ist hart! Das ist die erste edle Wahrheit. Selbst wenn wir die Leerheit verstehen, hören unsere Probleme nicht gleich auf. Das Leben ist hart! Das Leiden verschwindet nicht einfach sofort. Das ist ein langwieriger, stufenweise voranschreitender Prozess. Anfangs fühlen wir uns noch verletzt, aber der Unterschied besteht darin, dass wir nicht an diesem Gefühl festhalten. Wenn wir dazu imstande sind, geht die Verletzung viel schneller vorbei. Das ist der spürbare Unterschied. Über solch ein Ergebnis können wir dann bereits froh sein, und allmählich, während wir immer vertrauter damit werden, wird die Wirkung besser. Wir brauchen nicht den Mut zu verlieren, wenn die Ergebnisse zunächst nicht mehr sind als das, sondern können uns dadurch vielmehr ermutigt fühlen.
Nein sagen
Es gibt noch einen weiteren Punkt, den ich erwähnen möchte, was das Fallenlassen der Mauern betrifft. Es handelt sich um eine Erfahrung, die viele Menschen machen: Wenn sie die Mauern fallen lassen, meinen sie, dass sie immer „ja“ sagen müssten und nicht „nein“ sagen könnten. Statt direkt von anderen Personen verletzt zu werden, kümmern sie sich nun versehentlich nicht mehr um ihre eigenen Bedürfnisse, weil sie nie „nein“ sagen. Sie werden indirekt verletzt. Kennt ihr das?
In so einer Situation müssen wir versuchen zu erkennen, dass „nein“ zu sagen und auf unsere eigenen Bedürfnisse zu achten nicht das gleich ist wie die Mauern wieder aufzubauen. Natürlich könnten wir in so einer Situation auch wieder Mauern errichten, aber das muss es nicht notwendigerweise bedeuten. Wir können trotzdem völlig offen bleiben, völlig aufgeschlossen sein, und einfach antworten: „Es tut mir leid, aber ich kann das nicht tun“ oder „Ich muss mich jetzt ausruhen“ und dennoch offen bleiben. Wenn wir aber die Vorstellung von einem feststehenden „Ich“ haben, dann tritt das „arme Ich“ auf: „Ich Armer, ich werde ausgenutzt“, und dann werden wir sehr ärgerlich. Oder wir haben das Gefühl: „Wenn ich je nein sage, wird die andere Person ‚mich‘ ablehnen, ‚mich‘ verlassen, deshalb halte ich lieber den Mund“. Und dann lenken wir all die Feindseligkeit, Schuld und Wut nach innen auf das „ich“. Auch dabei geht es um die Vorstellung von einem festen „Ich“ – das ist die falsche Vorstellung, die es aufzugeben gilt.
Auf andere reagieren, die Mauern um sich herum errichtet haben
Ich merke, dass in meinem Leben noch etwas anderes immer wieder auftritt. Ich habe Erwartungen wie: „Wenn ich meine Mauern fallen gelassen habe, dann sollten auch die anderen Leute ihre Mauern fallen lassen. Es gibt nichts zu befürchten, warum lassen sie nicht ihre Schutzwälle fallen?“ Und wenn sie sie aufrechterhalten, ärgere ich mich ziemlich.
Zwei Dinge kommen mir in den Sinn, wenn du das sagst. Das erste ist eine Unterhaltung, die ich kürzlich im Zug mit einer Frau führte. Als ich sagte, dass ich Buddhismus unterrichte und dass es dabei auch um das Thema geht, wie man Selbstsucht überwindet, sagte sie: „Was ist denn falsch daran, selbstsüchtig zu sein? Wenn jeder eigennützig ist, dann wäre es nur dumm von mir, nicht eigennützig zu sein!“ Das ist etwas parallel zu dem, was du gerade sagtest: Wenn jeder andere sich hinter seinen Mauern verschanzt und ich nicht, dann bin ich einfach nur dumm. Die Antwort, die ich jener Frau gab, war: „Nun ja, nach dieser Logik müsste man annehmen, wenn alle herumliefen und auf andere Leute schießen würden, wäre es dumm, wenn man das selbst nicht auch täte.“ Offensichtlich ist es notwendig, etwas objektiver in Hinsicht auf die Vor- und Nachteile zu sein, die damit einhergehen, wenn man Menschen erschießt oder sich hinter Mauern verschanzt.
Das zweite, das mir in den Sinn kommt, ist das Beispiel meiner Mutter. Meine Mutter ärgerte sich immer sehr, wenn sie die Nachrichten im Fernsehen sah. Sie sah die Neuigkeiten und hörte von all den Mordtaten, Diebstählen und Vergewaltigungen, die an dem jeweiligen Tag passiert waren, und wurde wütend: „Warum verhalten Menschen sich so?“
Ich denke, dass das Thema hier die Selbstgerechtigkeit ist. Man kann sehr unverblümt selbstgerecht sein. So war meine Mutter nicht. Aber man kann auch auf sehr viel subtilere Weise selbstgerecht sein. Das war wohl bei ihr der Fall - eine subtilere Form von: „Ich bin so gut und die anderen sind alle schlecht“. Auch das, so meine ich, hat mit dieser falschen Vorstellung von einem festen „Ich“ zu tun. Mit anderen Worten: Wir identifizieren uns damit, förderlich zu handeln, beispielsweise die Mauern fallen zu lassen oder nicht herumzulaufen und Menschen zu erschießen und zu berauben. Wir identifizieren damit ein festes „Ich“. Wir machen das, um unsere Identität zu stärken, in dem Versuch, dieses „Ich“ abzusichern. Dann setzen wir den Mechanismus in Gang, andere, die sich nicht so verhalten wie wir, heftig abzulehnen, und versuchen damit, dieses Bild vom „Ich“ weiter abzusichern und vor Bedrohungen zu schützen.
Mit dem folgenden Beispiel können wir vielleicht veranschaulichen, wie unterschiedlich wir reagieren können. Wir trinken Wasser aus Gläsern wie diesem hier. Unser Hund trinkt Wasser nicht so. Da es ja viele Hunde gibt und sie alle auf die Weise Wasser trinken, dass sie es mit der Zunge aus einer Schüssel am Boden aufschlecken – veranlasst uns das, uns selbstgerecht überlegen zu fühlen, weil wir auf die richtige Weise trinken und die Hunde alle schlecht sind, weil sie falsch trinken? Nein. Warum regen wir uns nicht darüber auf und ärgern uns nicht darüber?
Warum werden wir andererseits nervös und ärgern uns, wenn wir offen sind und die anderen um uns herum nicht? Was ist der Unterschied zwischen dieser Situation und derjenigen, Wasser auf andere Art zu trinken als ein Tier? Ich denke, der Unterschied hat damit zu tun, dass man ein festes „Ich“ mit einer bestimmten Einstellung identifiziert. Die Art und Weise, wie wir trinken, spielt keine Rolle, sie ist belanglos. Darum macht es uns nichts aus, wie der Hund trinkt. Aber dieses feste „Ich“ lässt nicht locker – „Ich gebe mir so viel Mühe, offen zu sein und gut zu sein …“
Nun wollen wir noch einen weiteren kleinen Pinselstrich auf einen anderen Teil des Gemäldes hier setzen im Hinblick auf den Punkt, dass es uns ärgerlich macht, wenn andere sich nicht so verhalten wie wir. Dies ist der Pinselstrich, der das ganze Thema „Sollen“ betrifft – „Ich sollte dies oder jenes tun“.
Sich nicht darum kümmern, was andere sagen oder tun
Ich denke, es gibt noch eine andere Herangehensweise. Wenn wir geachtet werden möchten und jemand sagt zu uns: „Du bist ein Idiot“, dann werden wir wütend. Wenn uns aber gar nicht daran gelegen ist, geachtet zu werden, kann jemand zehnmal „Idiot“ zu uns sagen und es macht uns nichts aus. Oder wenn jemand einem die Frau wegnehmen möchte und man möchte sie behalten, dann fängt man an zu kämpfen. Denkt man aber: „Wenn meine Frau mich verlassen will - nun ja, dann akzeptiere ich das“, dann wird man keinen Kampf beginnen, weil man nicht den Wunsch hat, sie um jeden Preis davon abzuhalten.
Wir müssen hier zwischen zwei Wahrheiten unterscheiden. Wir nennen sie die tiefste und die konventionelle Wahrheit. Vom Gesichtspunkt der tiefsten Wahrheit aus gilt: Ja, wir versuchen, nicht an etwas zu hängen, weil wir verstehen, dass nichts eine feststehende Existenz hat. Aber vom Gesichtspunkt der konventionellen Wahrheit aus betrachtet gibt es „Dinge, die zu akzeptieren sind, und Dinge, die zurückzuweisen sind“. Vom konventionellen Gesichtspunkt aus ist es hilfreicher, offen zu sein als verschlossen zu sein, und es kann hilfreicher sein, unsere Frau zu beschützen, als zuzulassen, dass jemand sie mitnimmt und verletzt. Das widerspricht nicht der tieferen Wahrheit, dass wir nicht an etwas zu hängen brauchen. Wir müssen aufpassen, dass wir diese zwei Wahrheiten nicht durcheinanderbringen.
Abschließende Übung
Es ist an der Zeit, unsere Zusammenkunft für heute Abend zum Abschluss zu bringen. Ich schlage vor, dass wir mit einer kleinen erfahrungsbezogenen Übung schließen. Lasst uns dies wiederum tun, indem wir im Kreis umherschauen und ein Gefühl der Offenheit entwickeln – nicht in dem Sinne, dass ein festes „Ich“ ohne Mauern drumherum von jedem Müll, der ihm zugeworfen wird, direkt auf die Nase getroffen wird, sondern vielmehr so, dass die Mauern wegfallen und es nichts Feststehendes gibt, um das wir uns Sorgen machen müssten, damit es nicht verletzt wird. Und doch sind wir ganz offensichtlich hier anwesend. Wir reagieren auf alles, was vor sich geht, ohne uns voller Angst verteidigen zu müssen, indem wir uns an irgendetwas klammern oder daran festhalten. Woher kommt die Angst? Die Angst entstammt unserer Einstellung, dass es ein festes „Ich“ gäbe, welches verletzt werden könnte. Und dann haben wir natürlich Angst.
Die konventionelle Wahrheit ist, dass wir, wenn jemand etwas nach uns wirft, zur Seite treten können. Wenn jemand zu viel von uns verlangt, sagen wir „nein“. In konventioneller Hinsicht gehen wir mit so etwas mit Hilfe unseres unterscheidenden Gewahrseins um bzw. mittels der Fähigkeit, objektive Unterscheidungen zu treffen, statt mit selbstgerechten Urteilen.
Wenn wir unsere Mauern fallen lassen, hat dies etwas mit Flexibilität zu tun, sodass wir bereit sind zu helfen, ganz gleich, ob wir etwas Gutes oder Schlechtes hören? Heißt das, dass wir flexibel sind, wenn wir diese Fähigkeit haben?
Genau. Nur wenn wir die Mauern fallen lassen, können wir flexibel und spontan und dergleichen sein. Wenn wir uns hinter Mauern verschanzen, können wir gar nicht frei reagieren. Wir sind dann sehr starr. Wir laufen mit einer Art Panzer herum.
Ohne Mauern zu sein bedeutet in hohem Maße flexibel zu sein. Aber das ist nicht das einzige, was es bedeutet, oder? Ohne Mauern zu sein heißt doch nicht nur, flexibel zu sein?
Richtig. Es bedeutet nicht nur, dass man flexibel ist. Es bedeutet auch, dass mit imstande ist, wirklich angemessen zu reagieren. Es bedeutet vielerlei. Alles steht in Verbindung miteinander. Wir können auch feinfühliger sein, wenn wir die Mauern fallen lassen. Wenn wir feinfühliger sind, sind wir beweglicher. Wenn wir aufrichtiger sind, fühlen sich andere in unserer Gegenwart entspannter. Das ist ein vielfältiger Prozess. Menschen stehen miteinander in Wechselwirkung. Wenn die Mauern wegfallen und wir wirklich sehen, was mit anderen Menschen vor sich geht, dann ist es viel einfacher, mit unterscheidendem Gewahrsein klar zu erkennen, was zu tun ist. Es heißt, dass klares Erkennen und wirksame Mittel auf natürliche Weise zutage treten, wenn die Mauern wegfallen.
Auch wenn wir das Gefühl, dass die Mauern wegfallen, nicht aufgrund von Verständnis der Leerheit hervorbringen können, können wir es auf der Grundlage entwickeln, dass wir jeden als unseren besten Freund betrachten. Warum ist das so? Verschiedene Reisewege können zu demselben Ziel führen; verschiedene Ursachen können zu demselben Resultat führen, das man erreichen will, z.B. auch das Fallenlassen der Mauern. Das folgt aus den Lehren über die Leerheit von Ursache und Wirkung. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, um zu einem Verständnis zu gelangen, und es gibt viele Ebenen von Verständnis, und sie alle können nützlich sein.
Lasst uns versuchen, diese Offenheit im Hinblick auf Mitgefühl zu entwickeln, indem wir jeden als unseren besten Freund betrachten. Und, wenn wir können, diese Offenheit dann auch in Anbetracht eines korrekten Verständnisses der Leerheit entwickeln – das wird sogar noch hilfreicher sein. Diese beiden Aspekte stehen immer miteinander in Verbindung – Mitgefühl und Weisheit. Erinnert ihr euch? Sie werden durch das Bild zweier Flügel dargestellt.
Verantwortung für andere übernehmen
Aber wenn man jemand als seinen besten Freund ansieht, heißt das, dass man sich auch verantwortlich für ihn fühlt, und in dieser Hinsicht fürchte ich mich davor.
Warum fürchten wir uns? Wegen eines festen „Ichs“ – „Ich werde versagen“. Wir müssen also noch einen Pinselstrich auf unser Bild malen, auch auf der Seite der Leerheit von Ursache und Wirkung. Buddha führte häufig die Analogie an, dass ein Wassereimer nicht vom ersten oder vom letzten Wassertropfen gefüllt wird, sondern von allen Wassertropfen zusammen. Wenn wir versuchen, jemandem dabei zu helfen, dass sein Leiden aufhört, hängt das Ergebnis nicht zu 100% nur davon ab, was wir tun. Das ist eine übertriebene Aufgeblasenheit des „Ichs“. Ein Ergebnis entsteht durch eine Kombination von vielen, vielen, vielen Ursachen.
Auf der einen Seite sagen wir nicht, dass einzig und allein wir dafür verantwortlich sind – in dem Sinne, dass wir schuld daran sind und versagt haben, wenn es den anderen nicht besser geht. Andererseits fallen wir auch nicht in das andere Extrem und unternehmen nichts. Wir tragen, so gut wir können, etwas bei. Doch ob es den anderen gelingt, ihr Leiden zum Aufhören zu bringen, oder nicht, hängt vor allem davon ab, was sie selbst tun.
Auch das ist ein Thema, zu dem wir kleine Pinselstriche auf das Gemälde auftragen können, das wir gestalten. Auf diese ganze Vorstellung von „Ich sollte“ werden wir morgen noch weiter und tiefer eingehen. „Ich sollte dies tun. Ich sollte ihnen helfen. Ich sollte imstande sein, für all ihre Probleme eine Lösung zu finden usw. Und wenn es nicht klappt und ich ihre Probleme nicht lösen kann, ist es meine Schuld, weil ich etwas falsch gemacht habe.“
Dieses Thema führt uns dann natürlicherweise zu einer Diskussion über Gott und darüber, woher diese ganze Denkweise des „Sollens“ kommt. Wir haben irgendwie die Vorstellung, dass wir allmächtig und imstande sein sollten, alles was wir wollen, aus eigener Kraft zu erreichen. Damit werden wir uns morgen befassen.
Lasst uns nun zum Ende kommen, indem wir ein paar Minuten offen sind, ohne Angst, und lasst uns dann den Wunsch anschließen: „Es wäre doch schön, wenn jeder ohne Angst einfach offen und aufrichtig sein könnte. Möge jeder so werden. Möge ich in der Lage sein, jedem zu helfen, offen und aufrichtig zu sein.“
Erinnert euch bitte daran, dass wir uns immer wieder fragen müssen, wovor wir eigentlich Angst haben, und natürlich, wer das ist, der sich da fürchtet.
[Pause zum Üben]