Lernwiderstand auflösen
Wie wir gestern schon besprochen haben, versuchen wir, ein Gefühl der Offenheit dafür zu entwickeln, andern von Nutzen sein zu können – anderen geradewegs ohne Mauern und Schutzwälle gegenüberzutreten. Schutzwälle müssen nicht nur Menschen gegenüber fallen gelassen werden, sondern auch gegenüber Lernsituationen. Dabei geht es um einen ganz ähnlichen Prozess. Sie müssen wegfallen, damit wir offen und imstande sind, etwas auf uns persönlich zu beziehen, statt eine Mauer um uns zu errichten, die aus intellektuellen Manövern besteht. Anders ausgedrückt: Es kann sein, dass wir Barrikaden errichten, um ein vermeintlich festes „Ich“ in uns zu schützen, und denken: „Ich werde zuhören und es lediglich als eine Art intellektuelle Übung betrachten, um seltsame oder interessante Informationen zu erhalten. Denn etwas zutiefst in mir berühren zu lassen, ist ein bisschen zu bedrohlich, deswegen werde ich lieber Abstand halten und eine gewisse Schutzwand errichten.“ Auch solche Mauern gilt es, fallen zu lassen.
So versuchen wir, offen für Lernprozesse zu sein und eine Art Umwandlung unserer selbst zu erleben, sodass wir wiederum anderen dazu verhelfen können, denen gegenüber wir auf persönlicher Ebene offen sind. Ähnlich dem, was wir gestern beschrieben haben, können wir dieses von Herzen kommende Gefühl entwickeln, indem wir zuerst andere um uns herum anschauen, seien es die Menschen in diesem Raum oder die Bilder von Buddhas, die an der Wand hängen, und dann, nachdem wir die Schutzwälle niedergelassen haben, die Motivation spüren, offen zu sein für die Umwandlung einer tieferen Ebene unserer selbst und unserer Beziehungen zu anderen.
Lasst uns das für einen Augenblick tun. Und tut es bitte mit der Absicht, aufmerksam zu sein und euch zu konzentrieren. Der Sinn des Ganzen besteht nicht darin, dass wir einfach nur dasitzen und unseren Geist auf alles Mögliche abschweifen lassen wollen.
[Pause zum Üben]
Buddhistische „Praxis“ als Schutzwall benutzen
Wenn wir uns näher mit dem Buddhismus befassen, arbeiten wir im Grunde zu einem gewissen Grad darauf hin, uns selbst zu ändern. Eine Veränderung unserer selbst ist etwas, das beängstigend sein kann. Wir haben gestern ein wenig über Ängste gesprochen. Um zu vermeiden, dass wir uns ändern müssen, errichten wir Abwehrmauern. Mit diesen errichteten Schutzwällen nähern wir uns dann dem Buddhismus als einer Art von Zeitvertreib, wie einem Hobby oder einem Sport. Wir betrachten die buddhistische Praxis als etwas, das wenig Bezug zu unserem Leben hat.
Es ist recht interessant, Menschen die sich seit einiger Zeit mit Buddhismus beschäftigen, zu fragen: „Was praktizierst du?“ Oft antworten sie dann, dass ihre Praxis sei, jeden Tag irgendein Ritual durchzuführen, weil sie eine tantrische Initiation erhalten haben, die beinhaltet, dass sie jeden Tag etwas rezitieren müssen, und das ist dann ihre „Praxis“. Vielleicht betrachten sie es sogar mit einer Art christlichen Einstellung: „Ich muss jeden Tag meine Gebete verrichten“. Und tatsächlich nennen viele Menschen diese Ritualtexte ihre „Gebete“. Da wir dieses Wochenende die Metapher verwendet haben, dass wir ein Gemälde malen, können wir nun dem Teil des Gemäldes einige Pinselstriche hinzufügen, in dem es um das Gefühl von „Sollen“ geht - „Ich sollte meine Gebete rezitieren, weil ich ein guter Mensch sein möchte, und weil ich es versprochen habe …“ – und da kommt eine bestimmte Vorstellung von Gott oder dem Guru ins Spiel.
Nun fangen wir an, kleine Pinselstriche auf viele Teile des Gemäldes zu setzen. Auch wenn wir keine solchen tantrischen Rituale durchführen, machen wir vielleicht bestimmte Übungen auf diese Weise, z.B. Niederwerfungen oder Ähnliches. Wie gesagt kann man so etwas ziemlich leicht als Sport oder Hobby betreiben – als etwas, das von unserer inneren Wirklichkeit weitgehend getrennt ist. Mit anderen Worten: Wir sagen, dass wir unsere „Praxis“ entweder als Pflicht ausüben – „etwas das ich tun sollte, weil ich es versprochen habe“ – oder als eine Art von Sport oder Hobby, das eigentlich nichts mit unserem übrigen Leben zu tun hat – „und das ist meine „Praxis“.
Das ist ein großer Fehler im Umgang mit Buddhismus. Manche Menschen beschäftigen sich schon viele, viele Jahre lang auf solche Art mit Buddhismus und haben aufgrund dieser falschen Betrachtungsweise nur einen minimalen Nutzen daraus gezogen. Natürlich kann auch auf diese Weise ein wenig Nutzen entstehen, das will ich nicht leugnen. Aber er nicht so groß, wie er sein könnte. Wenn jemand sagt: „Meine Praxis ist Mitgefühl, Leerheit, Vergänglichkeit usw.“, reagieren manche Leute ziemlich befremdlich. Wenn wir unsere Praxis in Form von Ritualen ausüben und jemand sagt uns so etwas, denken wir vielleicht, dass er anmaßend und überheblich sei, uns quasi abwertet und kritisiert, dass wir eine Ritualpraxis durchführen. In gewisser Weise empfinden wir das fast bedrohend.
Auch das ist wieder auf die falsche Vorstellung von einem festen „Ich“ zurückzuführen, das sich innerhalb von Schutzmauern befindet und all diese Ritualtexte rezitiert – fast so, als würde das die Schutzwälle verstärken. Wir tun das, damit wir uns dadurch, dass wir innerhalb dieser Mauern bleiben, nicht mit uns selbst und unserem Leben auseinandersetzen müssen. Wir sind äußerst beschäftigt mit diesen Ritualen, um nicht tatsächlich mit anderen Menschen oder mit uns selbst zu tun haben zu müssen. Ihr kennt bestimmt Menschen, die morgens sofort nach dem Aufwachen das Radio oder irgendeine Musik anschalten müssen und das dann den ganzen Tag über laufen lassen oder sogar den ganzen Tag den Fernseher anhaben. Heutzutage laufen viele Leute den ganzen Tag mit Kopfhörern herum und lassen sich per Walkman mit Musik beschallen. Auch wenn es ihnen nicht bewusst ist, besteht die Wirkung darin, dass sie nie wirklich nachdenken oder mit sich allein sein müssen. Es ist eine verdrehte Art, mit Einsamkeit umzugehen, aber als Menschen mit westlichem Lebensstil wissen wir trotzdem, was das heißt. Tatsächlich lenken uns solche Gewohnheiten davon ab, jemals wirklich einen ernsthaften Blick auf unseren Geist und unser Leben zu werfen.
Man kann leicht derselben Art von Verhaltensmuster auch in unserer buddhistischen Praxis folgen. Wir führen ein Ritual durch oder murmeln den ganzen Tag ein Mantra; das ist dann dem ganztägigen Hören von Musik sehr ähnlich. Es berührt uns eigentlich nicht tief im Innern. Mit anderen Worten: Wir benutzen die Praxis als eine weitere Art von Schutzmauer, es wird zu einer weitere Schicht der dicken Mauern um uns herum. Selbst wenn wir unsere Praxis auf einem ziemlich anspruchsvollen Niveau üben – sagen wir, wir visualisieren den ganzen Tag alles Mögliche im Zusammenhang mit Mandalas und Gottheiten und dergleichen – kann man das sehr als zusätzliche Schutzmauer benutzen, um sich nicht wirklich auf das Leben einzulassen. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, als Grundstruktur unserer Praxis nicht irgendeine aufgesetzte Extra-Aktivität zu haben, die wir jeden Tag für eine Stunde oder wie lange auch immer abgesondert vom Leben durchführen. Es kommt darauf an, dass unser Leben die Praxis ist.
Die erste edle Wahrheit — wahre Leiden
Um unser Leben zu unserer Praxis zu machen, müssen wir auf die Grundstruktur von Buddhas Lehren zurückkommen, nämlich die vier edlen Wahrheiten, die vier Tatsachen des Lebens. Es ist wichtig, sie wirklich ernst zu nehmen. Die erste dieser Wahrheiten ist, wie wir es gestern Abend formuliert haben: „Das Leben ist hart“. Du kannst sagen: „Alles ist Leiden“, aber das ist eine sehr ungemütliche Art, diese Wahrheit zu formulieren. Es ist zutreffender zu sagen: „Das Leben ist schwierig“.
Worauf es ankommt, ist, dieser Tatsache ins Auge zu sehen und zu akzeptieren, dass das Leben schwierig ist. Manchmal befinden wir uns in einem Zustand, in dem wir diese Tatsache leugnen. Oder wir ziehen unsere Wände hoch und sagen mit theoretischen Worten: „Ja, es gibt all dieses Leiden“, beziehen das aber nicht tatsächlich auf uns selbst und sehen nicht, dass das für unser eigenes Leben gilt. Wir sind zu sehr damit beschäftigt, Glück zu suchen. Wir werden heute oder morgen noch über diese ganze Thematik von Glück sprechen und darüber, ob es als buddhistisch Praktizierender überhaupt angemessen ist, glücklich zu sein. Das ist für viele Praktizierende im Westen auch ein vertrackter Punkt, weil sie es schwierig finden, das unter einen Hut zu bringen. Aber lassen wir das im Augenblick noch beiseite.
Viele Menschen, insbesondere Frauen, aber nicht nur diese, befinden sich in schwierigen Lebenslagen, müssen sich zum Beispiel um ihre Kinder und um den Haushalt kümmern und außerdem noch arbeiten. Manchmal gibt es große Probleme mit dem Ehepartner oder Lebensgefährten, weil er nicht mithilft oder die Schwierigkeit der Situation nicht versteht. Häufig fällt es dem Mann schwer, die Situation der Frau nachzuempfinden, denn eine typisch männliche Reaktion ist zu sagen: „Sag mir, wo liegt das Problem?“, und dann will er es reparieren wie eine gebrochene Rohrleitung. Das ist aber nicht das, was die Frau in dieser Situation erwartet. Oft möchte sie lediglich die Anerkennung der Schwierigkeiten und etwas Zuspruch, nicht in der Art von: „Ach du armes Ding“, sondern Sympathie im Sinne von emotionaler Unterstützung und Verständnis. Das ist wirkliche Übung von Großzügigkeit, der ersten Paramita, d.h. der ersten weitreichenden Geisteshaltung.
Ein anderer Punkt, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, wird von dem indischen Meister Shantideva erwähnt. Er sagt (sinngemäß): „Man kann sich in keiner Angelegenheit wirklich auf gewöhnliche Wesen verlassen, denn sie sind kindisch und unreif und werden dich immer enttäuschen.“ Danke, Shantideva. Das ist für viele häusliche Situationen von Bedeutung, in denen der Partner nicht die Unterstützung geben kann, welche sich die Partnerin wünscht. Es ist auch für unsere Erläuterung der ersten edlen Wahrheit wichtig; denn die Situation einer Frau, die Haus und Kinder zu versorgen hat, ist nur ein Beispiel für den Kernsatz: „Das Leben ist hart“. Auch für Männer ist das Leben schwierig: Sie spüren die Last der Verantwortung, unternehmen alles möglich, um die finanzielle Sicherheit für die Familie zu gewährleisten, und jedes Familienmitglied und alles, was zum Haushalt gehört, irgendwie zu beschützen. Das ist auch schwierig.
Wie können wir so über die erste edle Wahrheit sprechen, dass wir nicht in eine Abwehrhaltung geraten, sondern erkennen, dass sie wirklich auf uns zutrifft? Ich denke, was wir brauchen, ist, irgendwie diesen drängenden Wunsch zu erfüllen, mit dem wir uns nach emotionaler Unterstützung und Verständnis für die Tatsache sehnen, dass unser Leben schwierig ist und dass das Leben im Allgemeinen schwer ist.
Sich zwecks Unterstützung den drei Juwelen zuwenden
Die Frage ist, an wen wir uns wenden können, um dieses mitfühlende Verständnis und emotionale Unterstützung zu erhalten? Wenn wir uns an gewöhnliche Wesen wenden, sind sie häufig so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass es schwer ist, von ihnen Unterstützung zu erhalten. Das bringt uns zum Thema „Zuflucht“. Mir gefällt der Begriff „Zuflucht“ eigentlich nicht, denn ich finde ihn zu passiv. Ich meine, dass es sich um einen sehr aktiven Vorgang handelt, nämlich in seinem Leben eine sichere und positive Richtung einzuschlagen. Wenn wir uns in eine Richtung wenden wollen, wo uns wirklich mitfühlende Unterstützung zu teil werden kann, wenden wir uns als Buddhist in Hinsicht auf Zuflucht an die drei Juwelen, d.h. an die Buddhas, ihre Lehre und Errungenschaften, also den Dharma, und an die Gemeinschaft des Sangha.
Im Westen hat man begonnen, das Wort „Sangha“ auf völlig unbuddhistische Weise zu verwenden, nämlich so, als wäre es gleichbedeutend mit einer Art Kirchengemeinde. Es wird verwendet, um die Leute zu bezeichnen, die in ein buddhistisches Zentrum gehen. Das entspricht nicht der eigentlichen Bedeutung des Begriffs. Nichtsdestotrotz können wir, obwohl die anderen Mitglieder unserer buddhistischen Gemeinschaft keine Zuflucht sein können, ein gewisses Maß an Kameradschaft und Anerkennung im Hinblick darauf erfahren, dass „das Leben schwierig ist“ – dass mein Leben schwierig ist, und nicht nur das Leben im Allgemeinen.
Auch die zweite, dritte und vierte Wahrheit scheinen einer typisch männlichen Vorgehensweise zu entsprechen, Probleme zu lösen: „Wir werden die Ursache herausfinden und dann das Problem lösen“, so als gelte es, eine schadhafte Rohrleitung zu reparieren. Doch es ist notwendig, die Problemlösung in Verbindung mit einem eher weiblichen Ansatz anzugehen, nämlich in Anerkennung und der Tatsache, dass das Leben schwierig ist, und entsprechender Unterstützung. Das Leben ist schwierig. Ganz gleich, ob wir Mann oder Frau sind, wir brauchen eine Kombination beider Ansätze. Es ist nicht so, dass durch das Geschlecht ausschließlich nur ein Gesichtspunkt festgelegt ist.
Wie erhalten wir solche Unterstützung? Sich an andere Mitglieder unserer buddhistischen Gemeinschaft zu wenden, scheint einerseits eine feine Sache zu sein. Allerdings müssen wir häufig feststellen, dass die Mitglieder unserer Gemeinschaft nicht gerade ausgereifte Persönlichkeiten sind, und daher neigen wir dazu, Vorbehalte zu haben und reserviert zu bleiben; wir neigen dazu, uns voreinander zu verschließen. In vielen buddhistischen Gemeinschaften in den westlichen Ländern haben die Menschen dicke Schutzmauern um sich aufgebaut, weil sie meinen, sie müssten das Bild vermitteln, dass sie besonders heilig und spirituell fortgeschritten seien. Oft kommen Mitglieder einer solchen Gemeinschaft zusammen, um einen Vortrag anzuhören oder ein Ritual durchzuführen oder gemeinsam zu meditieren, und dann geht jeder wieder seines Weges, und das halten wir für die Bedeutung von Gruppenpraxis – bloß zusammen dazusitzen oder ein Mantra zu rezitieren – ganz ähnlich der Vorstellung von der jeweiligen individuellen Praxis. Tatsächlich aber liegt der eigentliche Schwerpunkt für die Praxis in einer buddhistischen Gruppe darin, dass man freundlichen Umgang miteinander pflegt, dass man einander hilft, dass man verständnisvoll, offenherzig und liebevoll miteinander umgeht. Wenn wir das zum wesentlichen Punkt unserer Gruppenpraxis machen, dann können wir eine gewisse emotionale Unterstützung voneinander erfahren im Hinblick auf die Tatsache, dass das Leben schwierig ist, und dass wir alle unter den Bedingungen dieser Wahrheit an uns arbeiten. Doch wir sind noch gewöhnliche Wesen und manchmal ist es sehr schwer, anderen wirklich dieses Ausmaß an emotionaler Unterstützung bieten zu können.
Wenn wir die eigentliche Zuflucht betrachten, die Sangha im ursprünglichen Sinne bedeutet, so bezieht sich der Begriff auf die Arya-Wesen, d.h. auf diejenigen, die unbegriffliche Erkenntnis der Leerheit erlangt haben. Das macht einen ziemlichen Unterschied aus, nicht wahr? Auch wenn solche Menschen sich noch nicht vom Leiden befreit haben, befinden sie sich doch weniger auf einem Egotrip, sodass es ihnen leichter fällt, uns emotionale Unterstützung zu geben. Es gibt allerdings nicht allzu viele Aryas in unserem Umfeld, oder?
Dann können wir uns vielleicht an Buddha als Zuflucht wenden, damit er uns diese Art von emotionaler Unterstützung gewährt. Wir haben das Gefühl: „Der Buddha versteht mich, er versteht die Schwierigkeiten, die ich im Leben habe.“ Das gibt uns sicher einen gewissen Trost. Es erinnert an die Aussage im Christentum, die eine ähnliche Funktion hat: „Jesus liebt mich“. Wenn Jesus mich liebt, kann ich nicht so schrecklich sein. Je mehr wir wirklich glauben, dass Jesus uns liebt, umso mehr erfahren wir eine gewisse Bestärkung unseres Wertes als menschliches Wesen, die uns dann Kraft gibt, mit unserem Leben zurechtzukommen. Irgendwie scheint es nicht auszureichen, dass mein Hund mich liebt!
Wir können diese Art christlicher Haltung auch gegenüber dem Buddha einnehmen. „Buddha liebt mich, Buddha versteht mich.“ Das gibt uns eine Art Trost und Halt. Jetzt können wir dem Teil des Gemäldes, der unseren spirituellen Lehrer repräsentiert – wie gesagt, einen echten spirituellen Lehrer, nicht bloß irgendjemanden - einen weiteren Pinselstrich hinzufügen. Ich erinnere mich sehr gut an meinen eigenen maßgeblichen Lehrer, Serkong Rinpoche. Eine seiner herausragenden Eigenschaften war, dass er jeden ernst nahm. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, wie absurd das Anliegen war, mit dem jemand an ihn herantrat – z.B. als ein wirklich seltsamer Hippie von der Straße hereinkam und sagte: „Lehre mich die sechs Yogas von Naropa“, nahm er ihn durchaus ernst. Er sagte: „Oh, das ist großartig! Du hast wirklich Interesse an dieser wunderbaren Unterweisung, und wenn du dieses Yoga wirklich erlernen möchtest, gut, dann musst du damit beginnen, dich innerlich vorzubereiten.“ Dann lehrte er solche Menschen etwas, das ihrem jeweiligen Niveau entsprach. Das hatte für die betreffenden Personen eine sehr gute Wirkung, denn wenn der Lehrer sie mit ihrem Anliegen ernst nimmt, können sie sich allmählich auch selbst ernst nehmen.
Wir können erkennen, dass die Überzeugung „mein Lehrer versteht mich und liebt mich“ auf ähnliche Weise wirken kann wie „der Buddha versteht mich und liebt mich“. Aber nicht immer haben wir einen engen persönlichen Kontakt zu einem Lehrer – genauso, wie das auch im Hinblick auf den Buddha der Fall ist. Außerdem sind die Lehrer, mit denen wir Kontakt haben, manchmal nicht bestens qualifiziert. Dennoch wenden wir uns an sie, da es uns beinahe ein wenig zu theoretisch und entfernt scheint zu sagen: „Der Buddha versteht mich“ oder „der Buddha liebt mich“.
Somit müssen wir uns an eine andere Ebene der Zuflucht wenden. Wir können nicht nur bei Buddha, Dharma und Sangha als Inspirationsquelle Zuflucht nehmen, die uns veranlasst, auf dem spirituellen Pfad fortzuschreiten. Wir können Zuflucht und eine sichere Richtung auch von der resultierenden Stufe erhalten, die wir selbst erreichen werden, wenn wir diesem Pfad folgen. Das heißt, dass wir letztlich diesen Trost und dieses Verständnis durch uns selbst gewinnen, denn wir alle haben im Zusammenhang mit unserer eigenen Buddha-Natur das vollständige Potenzial und die Fähigkeiten dazu, diesen befreiten und erleuchteten Zustand von Buddha, Dharma und Sangha zu erreichen. Wir haben auch das Potenzial, dieses Verständnis und die emotionale Unterstützung nicht nur anderen zuteilwerden zu lassen, sondern auch uns selbst. Ich denke, dass das wirklich ein sehr wichtiger Punkt ist. Ich fand das für meine eigene Entwicklung sehr wichtig.
Shantideva sagte – und meine Mutter sagte das auch –: „Wenn man möchte, dass etwas richtig gemacht wird, dann mache man es selbst. Wenn man jemand anderen darum bittet, wird er es nicht so machen, wie man es gern hätte.“ Dasselbe gilt auch in Bezug darauf, sich Verständnis, Anerkennung und Trost zu verschaffen, die wir benötigen, um uns angesichts der Tatsache, dass das Leben schwierig ist, zu unterstützen. Am verlässlichsten ist es, uns diese Unterstützung selbst zu geben, indem wir uns verstehen, unsere eigene Lebenssituation anerkennen und angesichts dieser Bedingungen freundlich und gütig mit uns umgehen und während dieses ganzen Prozesses nicht abwertend über uns selbst urteilen.
Sich selbst nicht auf urteilende Weise betrachten
Wenn wir uns auf urteilende Weise betrachten, dann fügen wir bloß dem Bild namens „Ich sollte dies tun und ich sollte jenes nicht tun und ich will gut sein, ich will nicht böse sein“ weitere Pinselstriche hinzu. Mit einer solchen Einstellung sagen wir im Grunde: „Mein Leben ist schwierig. Das kommt daher, dass ich ein schlechter Mensch bin. Mit mir stimmt etwas nicht.“ Wenn wir unser Leben auf diese urteilende Weise betrachten und immer meinen, wir müssten gut sein und dürften nicht schlecht sein, dann verurteilen wir uns selbst für unser Leben: „Mein Leben ist schwierig. Ich muss etwas falsch machen. Ich bin schlecht.“ Statt uns irgendeine Art von emotionaler Unterstützung zu geben, beschimpfen wir uns selbst, zeigen mit dem Finger auf uns und geben uns selbst die Schuld. Das hilft uns nicht, es bewirkt nur, dass es uns noch schlechter geht.
Uns selbst gegenüber Sympathie zu zeigen heißt jedoch nicht, dass wir uns wie ein Baby behandeln und nichts tun, um die Situation zu ändern. Wenn jemand sich von seinem Partner Verständnis und Einfühlungsvermögen wünscht, ist das natürlich nicht alles. Es wäre auch schön, wenn er mal den Abwasch machen würde! Wir möchten vielleicht manchmal, dass uns jemand den Kopf tätschelt wie einem Hund, aber wir wollen auch echte Hilfe. Dasselbe gilt für unsere Anliegen an uns selbst. Zum einen ist es wichtig, dass wir uns selbst gegenüber verständnisvoll und warmherzig sind, aber es ist auch nötig, die defekte Rohrleitung zu reparieren und etwas zu unternehmen, um unsere tieferen Bedürfnisse zu erfüllen.
Der ganze Vorgang ist ziemlich komplex. Es handelt sich um eine ziemlich heikle Angelegenheit - ich denke da z.B. an Menschen, die keine sehr angenehme Kindheit oder keine verständnisvollen Eltern hatten. Solche Menschen halten oft nach Ersatzeltern Ausschau, sei es nun eine Mutter oder ein Vater. Sie lassen sich auf eine Partnerschaft ein und projizieren dann unbewusst die Mutter oder den Vater auf die andere Person und fordern, dass sie ihnen die Art von Verständnis zukommen lässt, die ihnen als Kind fehlte.
Wie gehen wir mit jemanden um, der ein solches Problem hat? Es handelt sich hier um ziemlich neurotische Beziehungsstrukturen. Wir könnten dem anderen sagen: „Versuche, das unbewusste Verhaltensmuster zu erkennen, sieh doch, wie dumm das ist und wie viele Probleme du dir damit schaffst und hör endlich auf damit!“ Das wäre so, als hätte ein Hund sein Geschäft auf dem Fußboden verrichtet und sein Herrchen drückt ihm dann die Nase hinein und sagt: „Schau, was du da für einen Dreck gemacht hast. Hör ja auf damit!“ Diese Methode wirkt aber nicht besonders gut. Vielleicht wirkt sie beim Hund, aber bei uns selbst wirkt sie nicht so gut, weil sie nur das Gefühl verstärkt, dass wir ein schlechter Mensch sind, Schuldgefühle erzeugt und die Sehnsucht anfacht: „Ich möchte doch ein braves Mädchen sein“ bzw. „Ich möchte ein lieber Bub sein.“ All diese urteilenden Haltungen kreisen um die Vorstellung von einem festen „Ich“.
Unsere Berechtigung anerkennen
Fortschrittliche psychologische Methoden zeigen, dass es sehr hilfreich ist anzuerkennen, dass diese Person durchaus berechtigt war, liebevolle und verständnisvolle Eltern zu haben. Jeder hat ein Anrecht darauf und es war wirklich ein hartes Los, dass diese Person keine solchen Eltern hatte. Der Psychologe erkennt das an, sodass die betreffende Person selbst es auch anerkennen und annehmen kann. Eine Parallele zu dieser Methode besteht in unserem Kontext darin, dass wir innerlich für uns selbst die Tatsache anerkennen, dass das Leben schwierig ist, im Speziellen: dass unser Leben schwierig ist, und dass wir ein Anrecht darauf haben, glücklich zu sein. Und wir sind dazu berechtigt, ein Buddha zu werden, weil wir Buddha-Natur besitzen.
Was dann beruhend auf dieser Anerkennung geschieht, ist normalerweise, dass sich das Bedürfnis, liebevolle Eltern gehabt zu haben, umwandelt. Es findet dadurch Erfüllung, dass wir selbst für jemanden ein guter Elternteil sind. Ich habe es selbst erlebt, dass diese Methode tatsächlich funktioniert. Indem wir anerkennen, dass unser Leben schwierig ist, geben wir uns quasi selbst emotionale Unterstützung, und was dann in diesem ganzen Prozess des Umgangs mit den Schwierigkeiten in unserem Leben am heilsamsten ist, ist, diese Anerkennung und dieses Verständnis an andere weiterzugeben. Je mehr wir anderen dies ganz aufrichtig zukommen lassen, desto mehr sind wir imstande, mit den Schwierigkeiten in unserem eigenen Leben fertigzuwerden, und werden dann in der Tat feststellen, dass ihre Intensität abnimmt. Dieses Vorgehen ist nicht das eines Sozialarbeiters, der zwanghaft darauf aus ist, Gutes zu tun, und sich dabei stets nach außen wendet und versucht, Dinge für andere zu erledigen, aber nie den Blick auf das eigene Leben richtet. Oft ist es in solchen Fällen so, dass das persönliche Leben alles andere als in Ordnung ist. Letztlich kommt es bei all dem darauf an, wie wir uns selbst Zuflucht geben können.
Lasst uns ein paar Augenblicke damit verbringen, uns selbst gegenüber die Schwierigkeiten in unserem Leben anzuerkennen – und nicht darüber zu urteilen. Versucht, sie einfach anzuerkennen. Sie anzuerkennen heißt natürlich, ihnen sozusagen ins Gesicht zu blicken. Ohne aufgerichtete Schutzmauern. Nicht mit irgendeiner dafür unerheblichen Praxis, die wir als unseren Buddhismus bezeichnen. Es heißt auch, diesen Gegebenheiten in unserem Leben nicht so gegenüberzutreten, dass wir uns nur bemitleiden. Ebenso wie eine überforderte Mutter nicht möchte, dass ihr Ehemann bloß sagt: „Ach du armes Ding, ts ts ts“ und sie bemitleidet, wollen wir auch nicht so mit uns selbst umgehen.
Die Art von Anerkennen, um die es hier geht, ist etwas sehr Sanftes. Es ist mehr wie „einfach da sein“ – wenn wir mit dieser seltsamen Ausdrucksweise etwas anfangen können – einfach nur für uns selbst „da sein“. Wenn wir krank sind, wollen wir nicht, dass jemand kommt und sagt: „Oh du armes Ding“ und sich gönnerhaft gibt. Was uns wirklich hilft, ist ein Mensch, den unsere Krankheit nicht abschreckt und der fähig ist, einfach nur bei uns zu sitzen, vielleicht unsere Hand zu halten und uns Gesellschaft zu leisten. Obwohl die Ausdrucksweise eher gegenteilig zum Verständnis der Leerheit zu sein scheint, ist das, was es auf emotionaler Ebene zu tun gilt, quasi unsere eigene Hand zu halten, ohne uns zu ängstigen und das Gefühl zu haben, wir müssten aus unserem Einfühlungsvermögen oder unserem Selbstmitleid eine dramatische Show machen. Lasst uns diese Umgehensweise mit uns selbst versuchen.
[Pause zum Üben]
Den Dämonen füttern
Vielleicht finden wir es ein bisschen schwierig, diese Übung auf abstrakte Weise durchzuführen, wie wir es gerade gemacht haben. Dann können wir sie auch auf eine Art und Weise tun, die als „den Dämon füttern“ bezeichnet wird. Wir können bestimmte Probleme, die wir haben, als eine Art von Dämon in uns betrachten. Wir können versuchen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie dieser Dämon aussieht und was er für Eigenschaften hat – dieser Dämon möchte, dass man ihn spürt und wünscht sich eine gewisse Sympathie, etwa: „Ich habe es so schwer. Ich trage so viel Verantwortung. Ich habe so viel zu tun. Ich habe nicht genug Zeit. Ich habe nicht genug Energie. Ich bekomme nicht genug Unterstützung.“
Zuerst fragen wir uns, wie dieser Dämon aussieht. Wenn wir eine gewisse Vorstellung davon haben, wie er aussieht, holen wir ihn aus unserem Inneren heraus und lassen ihn vor uns auf einem Kissen Platz nehmen. Dann fragen wir den Dämon: „Was willst du?“ Wir können uns dann auf sein Kissen setzen und die Frage aus seiner Sicht beantworten oder das nur in unserer Vorstellung tun. Der Dämon wird vielleicht sagen: „Ich will verstanden werden. Ich brauche Unterstützung. Ich sehne mich danach, dass jemand die Schwierigkeiten anerkennt, die ich im Leben habe.“ Dann stellen wir uns vor, dass wir von unserem Platz aus den Dämon füttern. Wir geben ihm Unterstützung, wir geben ihm Verständnis, wir geben dem Dämon urteilsfreie Anerkennung seiner Probleme – wir geben ihm, was er will.
Wenn wir das tun, finden wir möglicherweise, dass das eine erheblich wirkungsvollere Methode ist, uns selbst Unterstützung zukommen zu lassen, als wenn wir nur dasitzen und das auf abstrakte Weise versuchen. Den Dämon zu füttern ist auch in der Hinsicht sehr hilfreich, dass wir dadurch beginnen zu üben, auch anderen dieses Verständnis zukommen zu lassen. Langsam können wir anfangen zu verstehen, dass anderen Verständnis und Heilung zukommen zu lassen, für jemanden eine gute Mutter oder ein Vater zu sein, auch für uns selbst ein Heilungsprozess sein kann. Es wirkt auf die gleiche Weise. So wie es uns selbst Heilung bringt, dem Dämon Verständnis zu schenken, so beinhaltet auch die Unterstützung, die wir anderen geben, einen Heilungsprozess für uns selbst.
Lasst uns ein paar Augenblicke dem Dämonen dieses Verständnis und diese Anerkennung geben – Anerkennen, dass dieses Leben auch für ihn hart ist, und dass es das ist, was von innen an uns zehrt. Geht diesen Prozess durch, beginnt am Anfang, indem ihr dieses innere Bedürfnis erkennt, es euch dann äußerlich vorstellt und es füttert. Geben wir dem Dämon in uns was er braucht und was er gerne haben möchte.
[Pause zum Üben]
Betrachtet jetzt einige Menschen in eurem Leben und gebt ihnen dasselbe Verständnis und dieselbe Anerkennung der Schwierigkeiten, die diese Menschen in ihrem Leben haben. Ob sie nun krank oder alt sind oder zu viel arbeiten müssen - was auch immer es ist, erkennt es an und lasst ihnen die Unterstützung zukommen, die sie brauchen. Bezieht auch Menschen mit ein, die emotionale Probleme haben – vielleicht jemanden, der dauernd ärgerlich ist, oder jemanden, der sich immer schrecklich aufführt, wenn er mit anderen Menschen zusammen ist. Erkennt an, dass auch das Leben dieser Menschen schwierig ist. Nährt die betreffende Person mit eurem Verständnis und Einfühlungsvermögen, wie wir es beim Füttern der Dämonen gemacht haben. Stellt euch vor, dass wir einen unerschöpflichen Vorrat von dem haben, was die jeweilige Person möchte, genauso wie wir einen unerschöpflichen Vorrat von dem haben, was der Dämon möchte.
Indem wir einfach einen unerschöpflichen Fluss von Verständnis und Anerkennung durch uns hindurchströmen und zu der anderen Person hinausströmen lassen, können wir erfahren wie es ist, auf nicht störende Weise großzügig zu sein. Wenn wir verstört sind, haben wir das Gefühl: „Oh, ich muss etwas gegen die problematische Situation unternehmen, aber ich kann eigentlich nichts tun. Ich bin machtlos. Ich bin verzweifelt. Wie schrecklich diese ganze Situation doch ist...“ und dann sind wir emotional ganz verstört von all dem. Stattdessen lassen wir nun Großzügigkeit durch uns hindurchfließen wie einen endlosen Strom erfrischenden Wassers.
Das gibt uns einen kleinen Eindruck davon, was in Visualisierungen durch die Vorstellung symbolisiert wird, dass Nektar von den Buddhas zu uns fließt. Was wir hier beschrieben haben, ist etwas ganz Ähnliches, allerdings auf einer einfacheren Ebene. Wir können diesen Strom von Großzügigkeit so viel wie es uns nötig erscheint aussenden. Es besteht keinerlei Problem, dass der Strom austrocknen könnte; er strömt einfach auf sehr erfrischende und ermutigende Weise zu anderen hin. Es ist mühelos, er fließt einfach. Wie bringen wir ihn zum Fließen? Wir lassen die Mauern fallen! Es gibt nichts zu befürchten und nichts zu verlieren.