Einleitung
An diesem Wochenende werden wir über Methoden des Integrierens unseres Lebens sprechen und diese üben. Im Grunde kann man sie weder in den buddhistischen Lehren noch sonst irgendwo finden, denn sie sind eine Erweiterung des Ausbildungsprogramms „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“, das von mir stammt und in einem Buch veröffentlicht wurde, sowie auf meiner Webseite verfügbar ist. Es handelt sich dabei um eine Reihe von zwanzig Übungen, die sich alle auf die buddhistischen Lehren stützen. Ich habe hier eine Vielzahl von buddhistischen Meditationsmethoden und Lehren in etwas veränderter Form zusammengestellt. Sie sollen uns helfen Probleme zu überwinden, bei denen es darum geht, entweder unsensibel oder überempfindlich zu sein. Oft sind wir in Bezug auf die Situationen anderer oder in Bezug auf uns selbst entweder zu unsensibel oder überempfindlich, und auch was die Auswirkungen unseres Verhaltens auf andere oder auf uns selbst betrifft sind wir ebenfalls entweder unsensibel oder überempfindlich. Ich wollte also einen buddhistischen Ansatz schaffen, sich diesen Dingen zu stellen.
Reden wir von der wahren Ursache unserer Probleme im Leben, geht es um das mangelnde Gewahrsein, und insbesondere um das mangelnde Gewahrsein hinsichtlich Ursache und Wirkung in Bezug auf unser Verhalten und mangelndes Gewahrsein in Bezug auf die Realität von Situationen von uns und anderen. Obwohl das Ausbildungsprogramm und dessen zwanzig Übungen auf einer buddhistischen Reihe von Methoden aufbaut, kann man es in keinem buddhistischen Kontext oder einem buddhistischen Fachausdruck finden. Es erfordert keinen buddhistischen Hintergrund und dauert drei Jahre, wenn man es vollständig ausführt, mit einer Sitzung pro Woche.
Nachdem ich es einige Male in vollständiger Form und ein paar Mal in abgekürzter Form unterrichtet habe, fiel mir auf, dass man auch verschiedene Aspekte hinzufügen könnte. Was mich motiviert hat, dieses Programm zu erschaffen, war die Tatsache, dass es viele Menschen gab, die den Buddhismus seit langem praktizierten, aber dann eine Ebene in ihrer Praxis erreichten, von der sie nicht weiterkamen. Das Problem war, dass sie keine klare Vorstellung davon hatten, wie sie die buddhistischen Lehren in ihrem eigenen Leben und auf ihre emotionalen und psychologischen Probleme anwenden konnten. Das war etwas, was ich in umfassendem Maße beobachten konnte und durch das Analysieren der Situation erkannte ich, dass das begriffliche Bezugssystem, mit dem wir die Art unserer psychologischen Probleme erfassen, völlig verschieden von dem der buddhistischen Lehren ist.
Wir denken über Probleme nach und erfahren sie so, wie wir sie begrifflich erfassen. Wir sagen: „ich bin unsicher“ oder „ich bin unsensibel oder überempfindlich“ und erleben dann eine Entfremdung. Wir sagen: „ich habe keinen Bezug zu meinen Gefühlen, zu meinem Körper oder sogar zu mir selbst“, oder beispielsweise: „meine Gefühle sind wie blockiert“ und Ähnliches. Das Problem ist, dass nichts davon einfach so ins Tibetische übersetzt werden könnte. Die Schwierigkeit besteht hier darin, wie man eine Brücke bauen kann: zwischen dem tibetisch-buddhistischen begrifflichen Bezugssystem und dem, wie wir unsere Probleme tatsächlich begrifflich erfassen und daraufhin erfahren.
Natürlich denken wir dann, dass die buddhistischen Methoden für diese Art von Problemen, wie wir sie normalerweise im Westen erleben, nicht wirklich effektiv sind. Aber wenn wir tatsächlich Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha nehmen, bedeutet das zuversichtlich zu sein, dass die buddhistischen Methoden und Unterweisungen, die Buddha gab, alle Probleme beseitigen werden, auch jene, die wir als Westler erleben. Mit dem überzeugten Glauben, dass der Dharma weitreichend genug ist, um auch diese Art von Problemen zu umfassen, bestand die einzige Herausforderung darin, die Art von Symptomen, die wir erfahren, zu dekonstruieren, sodass wir herausfinden können, wie die verschiedenen Dharma-Methoden auf sie anzuwenden sind, wenn wir sie zerlegen und deren verschiedene Komponenten sehen.
Ich habe also dieses Programm für den Umgang mit Sensibilität entwickelt und für jene, die es durchgegangen sind, scheint es ziemlich effektiv zu sein. Man könnte jedoch auch noch mehr hinzufügen und ein Aspekt, der in dem Programm nicht vollständig behandelt wurde, ist das Gefühl, kein „Ganzes“ zu sein. Anders ausgedrückt, ist unser Leben nicht richtig integriert. Wir erfahren unser Leben als ziemlich fragmentiert und das kann natürlich zu jeder Menge Schwierigkeiten führen. Wir können unser Berufsleben nicht mit unserem Familienleben vereinbaren; und keines von beiden mit unserem Sport, unseren Hobbys, dem Urlaub und so weiter. Alles ist sehr fragmentiert und passt nicht als Ganzes zusammen. Wir können uns hier einem theoretischen buddhistischen Bezugssystem zuwenden, um eine Methode zu finden, die meiner Meinung nach sehr hilfreich sein kann.
Das konventionelle „Ich“
Der entscheidende Punkt ist die buddhistische Erklärung des konventionellen „Ichs“ oder des konventionellen „Selbst“. Sprechen wir vom konventionellen „Ich“, geht es, fachlich ausgedrückt, um ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage eines individuellen Kontinuums von Aggregat-Faktoren. Ein Zuschreibungsphänomen ist etwas, das nicht getrennt von einer Grundlage existieren oder wahrgenommen werden kann. Wörtlich ist es etwas, das untrennbar an eine Grundlage „gebunden“ ist. Sprechen wir nun von den fünf Aggregaten, besteht hier die allgemeine Vorstellung darin, dass jeder Augenblick unserer Erfahrung aus vielen Teilen besteht und sich jedes von einem Augenblick zum nächsten ändert. Jeder Augenblick ist anders; er gleicht nicht dem vorangegangenen Augenblick, noch ist er völlig verschieden und unabhängig davon. Es gibt hier also ein Kontinuum, in dem ein Augenblick auf den nächsten folgt. Wir würden sagen, dass jeder Augenblick abhängig von dem vorangegangenen entsteht.
Es ist wie mit den einzelnen Bildern in einem Film; aber wir sollten diese Analogie nicht allzu wörtlich nehmen, denn natürlich könnte jedes einzelne Bild herausgeschnitten werden und für sich stehen. Es geht also nicht um diese Bildsequenz, sondern um den eigentlichen Film, der auf der Grundlage der aneinandergereihten Bildsequenzen abgespielt wird. Auch diesen könnte man allerdings editieren und so sollte man auch diese Analogie nicht ganz so wörtlich nehmen. In einem Augenblick können wir unsere Erfahrung in viele Komponenten zerlegen, obwohl sie uns wie eine solide Entität erscheinen mag. Wir haben unseren Körper, der ständig in Bewegung ist und sich mit dem Alter ändern wird. Wir verfügen auch über eine Art von Bewusstsein, also entweder über visuelles Bewusstsein, oder jenes in Bezug auf das Riechen, Schmecken, das Wahrnehmen einer körperliche Empfindung oder geistiges Bewusstsein. Normalerweise findet alles gleichzeitig statt; es hängt nur davon ab, wie viel Aufmerksamkeit wir jedem schenken. Sind wir mit jemandem zusammen, sehen wir diese Person und hören zur gleichen Zeit, was sie sagt. Aber gleichzeitig können wir auch die Temperatur des Raumes fühlen, ob es heiß oder kalt ist, und wir können die Kleidung auf unserem Körper wahrnehmen. Wenn wir darauf achten, merken wir, ob es durch unsere Zunge und den Speichel einen Geschmack in unserem Mund gibt, und ob die Luft nach irgendetwas riecht. Und vielleicht denken wir dabei noch an etwas anderes. All das geschieht zeitgleich. Jede dieser Bewusstseinsarten hat ein Objekt, das wahrgenommen wird, und hier können wir entweder von dem äußeren Objekt oder dem wahrgenommenen Objekt sprechen, das wir als die Erscheinung bezeichnen und das wie ein geistiges Hologramm ist, welches in unserer Wahrnehmung entsteht.
Über die diesbezüglichen feinen Einzelheiten gibt es von den verschiedenen buddhistischen Philosophen ganz unterschiedliche Interpretationen; ich erkläre es hier ganz allgemein. Wir haben auch verschiedenartige Emotionen, sowohl positive als auch negative, die jeden Augenblick begleiten. In jedem Moment empfinden wir immer irgendetwas auf dem Spektrum von glücklich bis unglücklich. Benutzen wir im Buddhismus das Wort „fühlen“, bezieht sich das genau genommen auf dieses Spektrum von glücklich oder unglücklich. Und wir haben auch diverse Geistesfaktoren, die uns helfen, zu einem Objekt Verbindung aufzunehmen, wie beispielsweise unsere verschiedenen Ebenen der Konzentration, die verschiedenen Ebenen des Interesses und so weiter. Dann gibt es all die verschiedenen Faktoren, die etwas mit diesem allgemeinen Wort „verstehen“ zu tun haben. Wie verstehen wir die Laute, die wir zum Beispiel in Bezug auf eine Sprache hören? Das ist natürlich ein äußerst komplexer Vorgang.
Kurzum haben wir ein Kontinuum von Augenblicken der Erfahrung, und jeder Augenblick besteht aus all diesen verschiedenen Komponenten, die sich alle unterschiedlich schnell ändern. Fragen wir uns, wo in dieser Komplexität von Dingen, die sich ständig ändern, das „Ich“ ist, nun, dazu gibt es im Buddhismus eine Menge zu sagen.
Wie wir das „Ich“ identifizieren
Tatsächlich sagt man im Buddhismus, dass unsere Unwissenheit in Bezug auf dieses „Ich“ – wie ich existiere und was oder wer ich bin – eine der grundlegendsten Ursachen unserer Probleme ist. Wir wissen nicht, wie wir existieren oder wer wir sind und meinen: „Ich muss mich selbst finden“ – was, würde man es wörtlich ins Tibetische übersetzen, wie ein Meditationsprozess der Analyse klingt. Wenn jedoch Menschen nach Indien gehen, um sich selbst zu finden, ist das etwas ganz anderes, nicht wahr? Die meisten von uns wissen nicht, wie wir existieren oder haben ein völlig falsches Verständnis davon.
Hier gibt es zwei Aspekte, bei denen es darum geht, dass wir dazu neigen, in eines von zwei Extremen zu fallen. Das erste Extrem ist, dazu zu neigen, das „Ich“ mit einem Aspekt unserer Erfahrung zu identifizieren. Das könnte beispielsweise unsere Rolle als eine Mutter oder ein Vater sein. Es könnte sich auch um unsere Nationalität handeln, unser Geschlecht: „ich bin eine Frau“ oder: „ich bin ein Mann“; oder wir denken, wir seien jemand, der schlechte Laune hat, oder eine Krankheit. Vielleicht identifizieren wir uns aber auch mit der Religion, der wir folgen. Wir neigen also dazu, uns mit einer Sache – oder bestenfalls mit ein paar Dingen – zu identifizieren, aber fast immer identifizieren wir uns mit etwas.
Entweder identifizieren wir uns fortwährend mit einer Sache als unserer dominanten Identität, oder wir identifizieren uns in verschiedenen Situationen mit einer ganz bestimmten Sache. Das kann zu einer sehr desintegrierten Art von Gefühl in unserem Leben führen und dann denken wir: „in meinem Beruf bin ich eines, zu Hause etwas ganz anderes und im Sportverein wieder eine ganz andere Person“. Wir können uns also mit verschiedenen Dingen in unterschiedlichen Aspekten unseres Lebens identifizieren.
Und dieses Extrem des Identifizierens mit einem oder mehreren Aspekten unseres Lebens oder unserer Erfahrung kann zu vielen Problemen führen, da wir dann ganz und gar nicht flexibel sind. Wir könnten ziemlich defensiv wegen unserer Identität werden oder uns deswegen schuldig fühlen. Außerdem könnten wir recht stolz oder arrogant sein, wenn wir uns mit unserem schönen Äußeren, unserer hohen Intelligenz oder den tollen Errungenschaften identifizieren. Das ist also das erste Extrem.
Das andere Extreme besteht darin sich vorzustellen, dieses „Ich“ würde von all den diversen Aspekten unserer Existenz völlig getrennt existieren. Betrachten wir uns selbst auf diese Weise, ist das Problem, das dabei entsteht, ein Gefühl der Entfremdung. Wir fühlen uns entfremdet von unseren Gefühlen, von unserem Körper und von uns selbst, als gäbe es da ein „Ich“, das getrennt von all dem ist und sich entfremdet fühlt.
Ich erkläre hier ein überaus wichtiges Prinzip, das ich nicht genug betonen kann, da es essenziell für das Studium des Buddhismus ist. Lernen wir all diese philosophischen Positionen, die Dinge, die widerlegt werden und ähnliches, sollten wir sie nicht nur als interessante Informationen betrachten, sondern stattdessen denken: „Wie wäre es, wenn ich so denken würde und welche Problemen würden daraus für mich entstehen?“ Dann erkennen wir den Grund, warum Buddha auf die Fehler dieser Sichtweisen hingewiesen hat, denn sonst wird es nur zu einer intellektuellen Übung. Wie mein eigener Lehrer Serkong Rinpoche zu bedenken gab, ist es ausgesprochen arrogant zu denken, nur Dumme hätten diese Denkweise des philosophischen Systems, das in den buddhistischen Schriften widerlegt wird.
Doktrinär bedingte störende Emotionen
Es gibt einen Punkt, der in den Lehren auftaucht und über den ich gern sprechen würde, denn normalerweise wird nicht viel darüber gesagt. Sprechen wir von störenden Emotionen, so gibt es jene, die doktrinär bedingt sind und jene, die automatisch auftauchen. Die doktrinär bedingten störenden Emotionen entstehen durch das Lernen eines nicht-buddhistischen indischen doktrinären Systems. Die wesentliche Konsequenz des Erlernens und Akzeptierens eines solchen Systems besteht darin, sich selbst auf eine Weise zu sehen, wie sie in diesem System beschrieben wird und daraufhin störende Emotionen zu entwickeln. Zusätzlich entwickeln wir Anhaftung an das System selbst und denken: „das ist mein System“, und werden wütend auf alle, die nicht damit einverstanden sind. Wir meinen, die anderen hätten die falsche Sichtweise und bezeichnen sie als „Häretiker“ oder was auch immer. Wir werden überheblich und meinen so toll zu sein, weil wir diesem System folgen und nichts anderes in Betracht ziehen. Wir werden eifersüchtig auf die Mitglieder einer anderen Glaubensgruppe, die mehr Geld verdienen oder meinen mit ihnen konkurrieren zu müssen, um Mitglieder zu bekommen. Hier gibt es also eine ganze Reihe störender Emotionen, die entstehen, weil wir ein bestimmtes System gelernt und angenommen haben, und uns mit ihm identifizieren.
Entwickeln wir dann ein nicht-konzeptuelles Verständnis der Leerheit und gelangen zu der Überzeugung, dass die Lehren über die Realität, die von anderen Systemen angeboten werden, falsch sind, akzeptieren wir dieses dogmatische System natürlich nicht mehr. Dann lösen wir uns von unserer Anhaftung und werden nicht mehr defensiv und wütend, wenn jemand eine widersprüchliche Meinung hat. Auf diese Weise werden wir zunächst frei von diesen doktrinär bedingten störenden Emotionen. Entwickeln wir dann einen Pfadgeist des Sehens – man nennt ihn auch Pfad des Sehens – und „sehen“ und verstehen die vier edlen Wahrheiten nicht-konzeptuell, wird der Geist für immer von den doktrinär bedingten störenden Emotionen frei.
Daraufhin entsteht ganz natürlich die Frage: „Da ich nie irgendeines dieser nicht-buddhistischen indischen Systeme gelernt habe, wovon löse ich mich dann, wenn ich einen Pfadgeist des Sehens erlange?“ Das ist eine sehr wichtige und relevante Frage, besonders für die Mehrheit von uns Westlern, die ganz gewiss nie diese indischen Systeme studiert haben. Die „Dharma-light-Version“ dazu wäre: „Nun, doktrinär bedingt könnte sich auf jedes Propaganda-System beziehen“. Es könnte also um das Lernen, die Lehren oder die Propaganda, wobei Propaganda ein recht hartes Wort ist, irgendeines nicht-buddhistischen Systems gehen, entweder einer westlichen Religion, einer kommunistischen Philosophie oder ähnliches. Das ist die „Dharma-light-Version“ und die Version des „echten Dharma“ wäre: „Es geht ganz spezifisch nur um die nicht-buddhistischen indischen Systeme“.
Vom Standpunkt des Prasangika und gemäß dem Gelugpa umfasst „doktrinär bedingt“ auch all die niedrigeren buddhistischen Lehrsysteme. Sprechen wir von den Wünschen, die bedingt durch die Propaganda der Werbung im Fernsehen entstehen, müssten wir sagen, dass dies scheinbar doktrinär bedingt ist, aber tatsächlich ist es das nicht wirklich. Tsongkhapa geht auf diese Frage ein, denn auch die meisten Tibeter haben diese indischen Systeme ebenfalls nicht erlernt. Wie viele von uns hier im Westen, haben nicht einmal von ihnen gehört? Laut Tsongkhapa hat ein jeder doktrinär bedingte störende Emotionen, ob sie das System in diesem Leben nun gelernt haben oder nicht. Denn so, wie die Lehren des Buddha und auch all unsere geistigen Kontinua keinen Anfang haben, so sind auch all diese anderen indischen Systeme anfangslos. Mit dieser Logik hat jeder diese Systeme irgendwann in der Vergangenheit schon einmal studiert und hat somit die diesbezüglichen Prägungen oder Tendenzen aus vergangenen Leben, auch wenn er keins von ihnen in diesem Leben erlernt hat. Das ist es, wovon wir uns mit einem Pfadgeist des Sehens lösen. Das ist eine wirklich interessante Antwort.
Doktrinär bedingte Systeme widerlegen
Nun mag man dies lesen und versuchen zu ergründen, was um alles in der Welt das mit einem selbst zu tun hat? Wenn es da eine Tendenz gibt, die so unbewusst ist, und wir uns davon lösen, welchen Unterschied soll das machen, wenn wir nicht einmal wissen, dass wir diese Tendenz haben? Diese Tendenzen manifestieren sich ganz gewiss nicht in diesem Leben. Ich glaube nicht, dass es viele von uns gibt, die herumgehen und sagen: „Die Samkhya-Philosophie ist die beste und jeder, der anders denkt, liegt falsch“, denn die meisten von uns haben noch nicht einmal etwas von Samkhya gehört! Und es ist erst recht nichts, mit dem wir uns, wie mit unserem Fußballteam, identifizieren könnten.
Es muss sich auf eine Denkweise beziehen, die von dieser Schule geformt wurde und wegen der wir gewisse Tendenzen in diesem Leben haben, die auch zu Problemen führen würden. Wenn ich also über das Widerlegen lehre, das es im Buddhismus in Bezug auf diese verschiedenen indischen Systeme gibt, gilt es viel Zeit zu investieren, wenn wir versuchen die Tendenzen in uns selbst zu finden, die wir durch diese Denkweise haben. Oder anders ausgedrückt: Was würde es denn tatsächlich im echten Leben bedeuten, so zu denken oder so zu empfinden? Welche Emotion würde es hervorrufen? Welches emotionale Problem würde Buddha dazu bringen, die entsprechende Glaubensvorstellung als eine Quelle von Leid zu identifizieren? Nehmen wir wirklich Zuflucht, ist es erforderlich so zu analysieren, denn warum würde Buddha sonst darauf hinweisen?
Was würde die Widerlegung in Bezug auf das „Selbst“ bedeuten, wie sie durch eines der nicht-buddhistischen indischen Lehrsysteme definiert wird? Wenn wir uns mit etwas in unserem Leben identifizieren und uns vorstellen, auf eine Weise zu existieren, wie es in diesen Systemen behauptet wird, sind wir ziemlich unflexibel. Oder wenn wir uns mit vielen verschiedenen Aspekten in unserem Leben identifizieren, können wir unser Leben überhaupt nicht integrieren. Meinen wir auf der anderen Seite, das „Ich“ wäre völlig verschieden von allem in unserem Leben, erfahren wir eine Entfremdung. Das sind also die Probleme.
Die Quelle unserer emotionalen Probleme identifizieren
Das Problem ist nicht nur, dass die konzeptuellen Glaubensvorstellungen, die wir haben, unlogisch sind. Laut Buddha sollte jeder logisch denken, und so scheint die Quelle unserer Probleme zu sein, dass wir unlogisch sind. Buddha konzentrierte sich auf die emotionalen Probleme, die aus unseren fehlerhaften Denkweisen entstehen. Solange wir nicht fähig sind, einen Bezug zu den unlogischen Denkweisen herzustellen und uns nicht klar darüber sind, welche emotionalen Probleme sie hervorrufen, werden wir nicht in der Lage sein, die Lehren zu uns selbst und unserem Leben in Beziehung zu setzen, noch werden wir erkennen, wie wir sie zum Überwinden unserer psychologischen und emotionalen Probleme nutzen können.
Wenn wir uns den buddhistischen Lehren zuwenden, die darauf abzielen, uns beim Überwinden unserer Probleme zu helfen, besteht der erste Schritt darin, herauszufinden, um welche emotionalen Probleme es gerade geht, und dann zu versuchen zu erkennen, welche falschen Vorstellungen dahinterstecken. Diese falschen Vorstellungen gilt es dann zu widerlegen.
Auf dieser Stufe der Entwicklung des westlichen Buddhismus versuchen wir dann die emotionalen Probleme zu identifizieren, die von unseren doktrinär bedingten Missverständnissen stammen. Können wir das verstehen – auch wenn wir uns nicht der dogmatischen Basis bewusst sind – ist dies ein guter Ausgangspunkt, da Buddha Methoden zum Überwinden von Missverständnissen lehrte. Auf diese Weise bekommen wir eine Methode, mit der wir uns damit befassen, auf welche Weise wir unsere Probleme erleben. Daher werden die Dharma-Lehren auch als eine „wunscherfüllende Kuh“ bezeichnet, da wir jede Menge nahrhafter Milch daraus melken können. Der entscheidende Punkt ist, so viel Milch wie möglich aus diesen Lehren zu melken, wenn wir sie hören und lesen; und wir, hier im Westen, haben noch nicht genug gemolken.
Das „Selbst“ identifizieren
Kommen wir zurück zu unserer Thematik, in der es darum geht, dass das „Selbst“ weder eins mit irgendeinem unserer verschiedenen Aspekte noch verschieden von ihnen ist. Im Buddhismus wird gesagt, das „Selbst“ oder das „Ich“ sei eine Zuschreibungsphänomen, das auf der Grundlage des Kontinuums dieser sich ständig ändernden Aggregate existiert und gültig erkennbar ist. Die Aggregate ändern sich jeden Augenblick und sie ändern sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Das ist die Grundlage des Zuschreibungsphänomens „Ich“. Wie begründet man jedoch, dass es so ein gültig erkennbares Ding wie ein „Ich“ gibt? Die einzige Weise, wie man begründen kann, dass es ein „Ich“ gibt, besteht im geistigen Bezeichnen. Es gibt das konventionelle Wort, die geistige Bezeichnung und das Konzept „Ich“. Was ist das eigentliche „Ich“? Das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass das „Ich“ das ist, worauf sich die Bezeichnung „Ich“ in Bezug auf diese Grundlage, die Aggregate, bezieht. Das Konzept und das Wort „Ich“ bezieht sich auf mich. Es ist nicht so, dass das „Ich“ durch die geistige Bezeichnung erschaffen wird, und man nicht existiert, wenn man nicht „Ich“ denkt oder das Wort ausspricht; das ist absurd. Das „Ich“ ist jedoch lediglich das, worauf sich das Wort oder Konzept „Ich“ auf der Grundlage all der sich ändernden Momente bezieht, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen. Es gibt nichts auf Seiten dieser Grundlage, das sich einfach dort befindet und sagt: nenne mich „Ich“. So etwas gibt es nicht; da ist nichts auf Seiten der Grundlage, das unseren Fokus aufrechterhält oder stützt, wenn wir uns auf das „Ich“ konzentrieren.
Oft versuche ich es an dem Beispiel eines Films zu veranschaulichen, wie dem Klassiker „Vom Winde verweht“. Der Film läuft ab, wir haben eine Szene nach der anderen und in jedem Augenblick ändert sich etwas, nicht wahr? Das ist das Kontinuum und die Grundlage für die Bezeichnung des Films. All die Figuren ändern sich und tun unterschiedlich schnell verschiedene Dinge. Die Geschichte ich ziemlich gut, es gibt also eine Kontinuität. Wie begründen wir nun, das es so etwas wie den Film „Vom Winde verweht“ gibt? „Vom Winde verweht“ ist nur der Titel, ein Name, aber der Film selbst ist nicht nur der Titel. Was ist nun aber dieser Film „Vom Winde verweht“? Es ist das, worauf sich der Titel auf der Grundlage dieses Kontinuums eines jeden Augenblicks, einer jeden Szene, bezieht. „Vom Winde verweht“ ist nicht nur eine Szene oder ein Charakter in einem Moment einer Szene, noch ist der Film etwas völlig Verschiedenes von dem Kontinuum all dieser Szenen. Außerdem läuft der gesamte Film nicht auf einmal und es gibt nichts auf Seiten eines jeden Augenblicks einer Szene, mit einem kleinen Schild oder Stempel, auf dem steht: „Vom Winde verweht“, wodurch wir es dann als diesen Film identifizieren können. Was ist also „Vom Winde verweht“? Es ist das, worauf sich der Titel auf der Grundlage dieses Kontinuums bezieht.
Das gleiche trifft auf das „Ich“ zu. Wer bin ich? Was ist dieses „Ich“? Was begründet ein „Ich“? Es ist lediglich das, worauf sich das Wort „Ich“ auf der Grundlage dieses ganzen Kontinuums bezieht. Das Problem ist, dass wir das „Ich“ mit einem Aspekt des Kontinuums oder einigen Aspekten unserer Erfahrung identifizieren. Es kann auch sein, dass wir das „Ich“ mit gar nichts identifizieren. Das „Ich“ ist aber ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des gesamten Kontinuums der Aggregate; das ist eine Tatsache. Bei dem Problem geht es darum, wie viel dieser Grundlage wir geistig dem Konzept und Wort „Ich“ zuschreiben und dann als das wahre „Ich“ oder keinesfalls als „Ich“ identifizieren.
Wir müssen also wirklich untersuchen, wie viel dieser Grundlage wir begrifflich als „Ich“ bezeichnen. Oft neigen wir dazu, nur einige Aspekte und nicht alle dem „Ich“ zuzuschreiben und somit bestimmte Teile unseres Lebens auszulassen. Dann sagen wir: „Das war nicht ich; ich war nicht ich selbst“, und leugnen manche Aspekte von uns. Wir lassen einen Teil der Grundlage für die Bezeichnung weg. Hier identifizieren wir uns selbst als eins mit bestimmten Aspekten, sowie als völlig verschieden von anderen Aspekten unserer Erfahrung.
„Ich“ ist ein Zuschreibungsphänomen aller Aspekte unseres Lebens
Das gesamte System von Übungen, bei denen es um dieses Problem geht, haben alle etwas damit zu tun, sich der vollständigen Grundlage der Zuschreibung des „Ichs“ bewusst zu werden – und dazu gibt es einige Übungen in dem Programm „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“. Mit diesem erweiterten Gewahrsein lernen wir dann, die gesamte Grundlage begrifflich mit als „Ich“ zu bezeichnen, und uns nicht nur mit einigen Aspekten zu identifizieren und andere zu ignorieren. So geht es uns beispielsweise darum, uns nicht nur mit dem gegenwärtigen Augenblick zu identifizieren, sondern zu erkennen, dass das „Ich“ als eine Person ein Zuschreibungsphänomen des gesamten Kontinuums unseres Lebens sowie dessen ist, worauf sich die Bezeichnung „Ich“ auf dieser gesamten Grundlage, und nicht nur eines kleinen Teils, bezieht.
Sehen wir zum Beispiel einen alten Menschen in einem Pflegeheim, der altersschwach ist und an Demenz leidet, sollten wir uns daran erinnern, dass er nicht nur das ist, was wir gerade vor uns sehen, denn diese Erscheinung ist trügerisch. Diese Person hatte ein ganzes Leben, eine Kindheit, ein Erwachsenenalter, wahrscheinlich eine Familie, einen Beruf und so weiter. Und die Person ist das, worauf sich die Bezeichnung ihres Names auf der Grundlage dieses gesamten Kontinuums bezieht, nicht nur auf das, was wir gerade mit unseren Augen sehen. Das Problem besteht darin, eine zu kleine Grundlage für die Bezeichnung zu haben, was dazu führt, sich nicht wohl in der Gemeinschaft mit dieser alten Person zu fühlen und nicht wirklich Respekt für sie zu haben.
Wir können diese Analyse auch auf uns selbst anwenden, da sie sowohl für andere wie auch für uns selbst gültig ist. Wir sind nicht nur das, was wir im Spiegel sehen. Das ist nicht die Gesamtheit auf der Grundlage der Bezeichnung „Ich“. Wir sind auch nicht nur dieser kleine Aspekt des „Ichs“, mit dem wir uns in diesem einen Moment unserer Vorstellung identifizieren, als wir beispielsweise etwas wirklich Peinliches gesagt haben und denken, jeder würde sich noch immer daran erinnern. Das führt natürlich zu einer Vielzahl von Problemen.
In ähnlicher Weise gilt es, die Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ in Bezug auf Teile, wie den Körper, die Atome usw., zu erweitern. Dieser alte Mensch ist nicht nur diese faltige äußere Erscheinung, sondern auch all die andere Dinge. Genauso verhält es sich mit dem „Ich“. Ebenso können wir es auf all die verschiedenen Ursachen ausweiten, warum wir oder andere auf bestimmte Weise handeln. Wir sagen nicht einfach: „du führst dich gerade furchtbar auf“, sondern denken: „vielleicht fühlt er oder sie sich nicht wohl, wurde gerade von einem Freund angeschrien, hat den Bus verpasst oder ist im Stau steckengeblieben“. Bei alldem geht es um die Grundlage für die Bezeichnung und das Verstehen der Situation mit der anderen Person, oder, in Bezug auf uns selbst, warum wir uns so fühlen. Ich sage nicht, der Stau wäre die Grundlage für die Bezeichnung „Ich“. Vielmehr ist es die Auswirkung des Staus auf meine Stimmung: sie ist ein Teil der Grundlage für die Bezeichnung „Ich“. Es ist notwendig die ursächlichen Faktoren zu verstehen, die einen Einfluss darauf haben, was wir gerade erleben.
Um unser Verständnis hinsichtlich der Grundlage für die Bezeichnung weiter zu dekonstruieren und auszuweiten, gilt es, die Auswirkung auf die andere Person oder die Wirkung aller Menschen, denen wir im Leben begegnet sind, in Betracht zu ziehen: wie uns unsere Eltern erzogen haben, die Auswirkungen unserer Lehrer, Freunde und so weiter. Und das erstreckt sich auch auf frühere Generationen, wie unsere Großeltern unsere Eltern erzogen und sie beeinflusst haben, die dann diesen Einfluss an uns weitergaben. Betrachten und verstehen wir die Zusammenhänge vergangener Leben, geht es auch um die Erfahrungen, die wir dort sammelten und die einen Einfluss auf die verschiedenen Tendenzen und Interessen haben, die wir seit der Kindheit hatten und die nicht auf den familiären Hintergrund zurückzuführen sind.
In unserer Analyse kombinieren wir somit mehrere Aspekte der buddhistischen Lehren. Bei dem einen Aspekt geht es um ein sehr ausgeweitetes Verständnis des abhängigen Entstehens: jeder Augenblick unserer Erfahrung entsteht abhängig von einer unzähligen Nummer von Faktoren – worüber wir in den letzten paar Minuten gesprochen haben – sowie um die Analyse des geistigen Bezeichnens. Und bei dem anderen Aspekt geht es darum, dass das „Ich“ ein Zuschreibungsphänomen eines jeden Augenblicks unserer Erfahrung ist, und dass jeder Augenblick der Erfahrung im Kontinuum unseres gesamten Lebens in Abhängigkeit von Millionen anderer Faktoren entstanden ist. Wir weiten unser gesamtes Verständnis also in einem Prozess des Dekonstruierens der Festigkeit von Dingen aus, mit denen wir uns selbst oder andere identifizieren.
Schlussfolgerung
Wir streben an, unsere Probleme zu überwinden, die darauf zurückzuführen sind, gegenüber bestimmten Aspekten unseres Lebens und unserer Erfahrung unsensibel und gegenüber anderen überempfindlich zu sein. Das ist der Rahmen, aus dem das Integrieren des eigenen Lebens – diese neue Übung, die ich entwickelt habe – stammt. Dabei handelt es sich um einen weiteren Schritt, der auf dieser Art des Prozesses der ausgewogenen Sensibilität beruht. Wenn jeder Augenblick unserer Erfahrung, in jedem Aspekt unserer Persönlichkeit und Erfahrung, durch so viele verschiedene Faktoren beeinflusst wurde, wie integriere ich all das, um in ausgewogener Weise das Gefühl eines „Ichs“ zu haben, das ein Zuschreibungsphänomen all dessen ist, ohne etwas auszulassen, hinzuzufügen, sich entfremdet zu fühlen usw.? Das ist der nächste Schritt in diesem Vorgang.
Im nächsten Teil werden wir mit diesem Vorgang arbeiten und somit Zeit damit verbringen, die Übung tatsächlich auszuführen. Es gibt nicht vielmehr dazu zu sagen und ich habe das Gefühl, dass diese Übung funktionieren wird, auch wenn ihr das Sensibilitätstraining noch nicht durchgegangen seid, denn sie steht für sich. Um euch aber Zuversicht zu geben und damit ihr nicht denkt, das wäre einfach nur etwas Verrücktes, was ich mir ausgedacht habe, wollte ich euch den buddhistischen Hintergrund erklären, aus dem es hervorgegangen ist. Und indem ich euch die eigentliche Methode verständlich mache, werde ich auch die buddhistischen Lehren darlegen, aus denen jeder dieser Schritte stammt.
Wir sollten uns auch klar darüber sein, dass diese Arbeit und die Übungen zum „Dharma-light“ gehören und nicht zum „echten Dharma“. Beim „echten Dharma“ geht es darum, zukünftige Leben zu verbessern, die Wiedergeburt in allen zukünftigen Leben zu überwinden und allen zu helfen, die Wiedergeburt zu besiegen. Darum geht es also nicht, sondern um „Dharma-light“, also wie wir die Dharma-Lehren in diesem Leben anwenden können.
„Dharma-light“ kann auf zweierlei Weise praktiziert werden. Man kann es einfach als „Dharma-light“ in Bezug auf dieses Leben praktizieren, oder als eine buddhistische Methode, die ein vorbereitender Schritt auf dem Weg zu den anderen Stufen des Verbesserns zukünftiger Leben und der Hilfe aller Wesen ist, wie ich sie gerade erwähnt habe. Dem „Dharma-light“ zu folgen ist völlig in Ordnung, solange wir uns klar darüber sind, was wir tun.