Das Kloster Ogyen Mindröl-Ling (tib. U-rgyan sMin-grol-ling dGon-pa, Mindroling Kloster) ist das wichtigste Nyingma-Kloster der südlichen Schatztext-Tradition (tib. lho-gter). Terdag Lingpa Gyurme-Dorje (tib. gTer-bdag gLing-pa ‘Gyur-med rdo-rje), der auch als Terchen Chökyi-Gyalpo (tib. gTer-chen Chos-kyi rgyal-po) (1646-1719) bekannt ist, gründete Mindröl-Ling im Jahre 1676 südlich von Lhasa. Terdag Lingpa war einer der großen Schatztext-Entdecker der Nyingma-Tradition und er war gleichzeitig ein Lehrer und ein Schüler des Fünften Dalai Lama, Ngawang-Losang-Gyatso (tib. rGyal-dbang lnga-pa chen-po Ngag-dbang blo-bzang rgya-mtsho) (1617-1682). Der Fünfte Dalai Lama hatte ihn mit der Befugnis und allen notwendigen Ressourcen ausgestattet, um dieses Kloster auf der Grundlage mehrerer älterer Klöster zu gründen. Ab dieser Zeit hatte Mindröl-Ling die Verantwortung dafür, Rituale für die tibetische Regierung auszuführen. Der Zweig des Klosters, der im indischen Exil neugegründet wurde, führt diese Funktion weiter aus.
Mindröl-Ling wurde 1718 von den Dzungar Mongolen aus Ost-Turkistan zerstört. Neuerbaut wurde es in der Amtszeit des Siebten Dalai Lamas Kelsang-Gyatso (tib. rGyal-ba bdun-pa sKal-bzang rgya-mtsho, rGyal-dbang sKal-bzang) (1708-1757) wobei Dungse Rinchen-Namgyal (tib. gDung-sras Rin-chen rnam-rgyal) und Jetsün Migyur-Peldrön (tib. rJe-btsun Mi-‘gyur dpal-sgron), der Sohn und die Tochter von Terdag Lingpa, die Aufsicht über die Arbeiten hatten. Während der Verfolgung der Nyingmas unter den Dzungar-Mongolen war der Sohn nach Kham und die Tochter nach Sikkim geflohen. Der Wiederaufbau des Klosters und die Neubelebung seiner Linien erfolgte unter der Schirmherrschaft des Regenten von Tibet, Pholhane (tib. Pho-lha-nas bSod-nams stobs-rgyal), der 1720 die Dzungaren aus Tibet vertrieben hatte, bevor die Armee der Mandschu hier eintraf.
1959 lebten etwa 300 Mönche in Mindröl-Ling. Später wurde das Kloster von den Chinesen erneut zerstört. Gegenwärtig wird es in Tibet langsam wiedererbaut.
Das Amt des Thronhalters von Mindröl-Ling (tib. sMin-gling Khri-can) wurde ab Terdag Lingpa neun Generationen lang von Vater zu Sohn weitergereicht. Der Zehnte Thronhalter von Mindröl-Ling, Kunga-Tendzin (tib. Kun-dga’ bstan-‘dzin), war die Tulku-Reinkarnation von Terdag Lingpa. Er war ein Nachkomme des Schatztext-Finders Tertön Rangrig-Dorje Rinpoche (tib. gTer-ston Rang-rig rdo-rje Rin-po-che).
Der Elfte Thronhalter von Mindröl-Ling, Döndrub-Wanggyal (tib. Don-grub dbang-rgyal), war der Sohn von Kunga-Tendzin. Der Dreizehnte Dalai Lama, Tubten-Gyatso (tib. rGyal-ba Thub-bstan rgya-mtsho) (1876-1933), fand einige Aspekte des Verhaltens von Döndrub-Wanggyal unpassend und schickte ihn ins ständige Retreat. An seiner Stelle ernannte er einen Thronhalter-Regenten, Dordzin Namdröl-Gyatso (tib. rDo-‘dzin rNam-grol rgya-mtsho). Als Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama Tendzin-Gyatso (tib. rGyal-ba bsTan-‘dzin rgya-mtsho) (geb. 1935), noch minderjährig war, ernannte der Regent von Tibet, Radreng Rinpoche (tib. Rva-sgreng Rin-po-che) Döndrub-Wanggyals Bruder Ngawang-Chödrag (tib. Ngag-dbang chos-grags), zum nächsten Thronhalter-Regenten von Mindröl-Ling. Nach seiner Amtszeit wurde der Sohn von Döndrub-Wanggyal, Künsang-Wanggyal (tib. Kun-bzang dbang-rgyal) zum Zwölften Thronhalter von Mindröl-Ling. Heute lebt er im indischen Exil.
Der erste Abt von Mindröl-Ling war Gyelse Tenpay-nyima (tib. rGyal-sras bsTan-pa’i nyi-ma), der Bruder von Terdag Lingpa. Acht Generationen lang wurde dieses Amt von Vater zu Sohn weitergereicht. So waren fast zwei Jahrhunderte lang alle Thronhalter und Äbte des Klosters Mindröl-Ling Familiennachkommen von Terdag Lingpa.
In der Nyingma-Tradition werden drei Klassen von Lehren vermittelt: die „ entfernte Linie“ der erleuchtenden Worte Buddhas (tib. bka’-ma ring-brgyud), die „nahe Linie“ der Schatztexte (tib. gter-ma nye-brgyud) und die „tiefgründige Linie“ der Reinen Visionen (tib. dag-snang zab-brgyud). Das Studien- und Praxis-Programm in Mindröl-Ling kombinierte Lehren aus den ersten beiden Klassen von Lehren.
Die Mönche studieren Dzogchen (tib. rdzogs-chen, die Große Vollkommenheit) auf der Grundlage der Anleitungen, die aus Indien gebracht, in Tibet und Bhutan vergraben und dann als die Südliche Schatztext-Tradition wiederentdeckt worden waren. Zusätzlich war Mindröl-Ling ein Zentrum für das Studium und die Praxis der traditionellen buddhistischen Wissensfelder der Medizin, der Astrologie und der Grammatik. Zahlreiche Gelehrte aus der zentraltibetischen Provinzen U (tib. dBus) und aus den östlichen Provinzen von Kham (tib. Khams) und Amdo (tib. A-mdo) erhielten hier ihre Ausbildung.
Im Kontext des Studiums und der Praxis der großen Texte hat man in Mindröl-Ling immer den Schwerpunkt auf die Praxis gelegt. Jedes Jahr führte das Kloster die vollständigen Riten von acht tantrischen Mandala-Systemen (tib. sgrub-pa bka’-brgyad) aus. Zusätzlich studierten die Mönche traditionell dreizehn größere Sutra- und Tantra-Texte, von denen viele eine Kommentarlinie (tib. bshad-brgyud) hatten, die auf Terdag Lingpa zurückging. Gegenwärtig wurde das Mindröl-Ling-Kloster im indischen Clement Town (Uttar Pradesh) neugegründet.