Die zweite weit reichende Geisteshaltung ist ethische Selbstdisziplin. Wir sprechen hier nicht von der Disziplin, die man braucht, um ein musikalisches Instrument zu spielen oder einen Ball umherzuschießen, sondern sie hat etwas mit unserem ethischen Verhalten zu tun. Und es ist nicht so, dass wir wie ein Ordnungshüter jemand anderen zu disziplinieren versuchen, so wie man einen Hund trainiert oder Leute beim Militär, sondern es geht um unsere eigene Disziplin.
Die ethische Selbstdisziplin, sich von destruktiven Handlungen zurückzuhalten
Es gibt drei Arten ethischer Selbstdisziplin. Die erste davon ist die ethische Selbstdisziplin, die darin besteht, sich von destruktiven Handlungen zurückzuhalten. Das bezieht sich darauf, wie wir uns verhalten, sprechen und denken. Im Zusammenhang mit dem Einhalten der verschiedenen Gelübde, die wir abgelegt haben, bedeutet das, bestimmte Arten von destruktivem Verhalten zu vermeiden. Auch wenn wir keine Gelübde abgelegt haben, beinhaltet die ethische Selbstdisziplin ganz allgemein, sich von den zehn zerstörerischen Handlungen zurückzuhalten: davon, zu töten, zu stehlen, zu lügen usw.
Wenn es darum geht, was es zu vermeiden gilt, ist von destruktiven Handlungen die Rede, die von ihrer Natur aus destruktiv sind, wie etwa Töten und Stehlen, und von solchen, die nicht unbedingt von sich aus schädlich sind, von denen aber der Buddha sagte, dass sie von bestimmten Menschen oder zu bestimmten Zeiten vermieden werden sollen. Mönche und Nonnen zum Beispiel sollen vermeiden, abends zu Essen. Das gilt nicht für jeden, aber wenn wir abends einen klaren Geist haben möchten, damit wir meditieren können, sowie auch morgens einen klaren Geist zu haben, dann ist es besser, abends nichts zu essen. Für diese speziellen Menschen empfahl Buddha, das zu vermeiden. Oder dass Mönche oder Nonnen sich den Kopf scheren sollen – das muss natürlich nicht jeder tun. Auch diese Richtlinien gehören zu der ethischen Disziplin, sich von bestimmten Dingen zurückzuhalten.
Die ethische Selbstdisziplin, konstruktive Handlungen auszuüben
Die zweite Art der ethischen Selbstdisziplin besteht darin, positive, konstruktive Handlungen auszuüben, die positive Kraft aufbauen, um Erleuchtung zu erreichen. Das bezieht sich auf die ethische Disziplin, die man braucht, um zu studieren, über die Lehren nachzudenken, zu meditieren, Ngondro (tib. sngon-’gro, vorbereitende Übungen) durchzuführen – d.h. Niederwerfungen und Darbringungen zu machen usw. -, zu Unterweisungen zu gehen und dergleichen mehr. Es geht also um die Disziplin, die daran beteiligt ist, so etwas zu tun.
Auch hier wird wieder deutlich, dass die ethische Selbstdisziplin ein Geisteszustand ist. Sie besteht nicht in dem eigentlichen Verhalten. Sie besteht in der Geisteshaltung, sich davon zurückzuhalten, etwas Unangemessenes zu tun, etwa eine destruktive Verhaltensweise anzunehmen, die in den Gelübden genannt wird, aber auch im Zusammenhang mit positiven Handlungen, indem wir davon Abstand nehmen, sie nicht zu tun. Das ist also die Disziplin. Ausgehend von unserem Geist, formt sie in gewisser Weise die Art, wie wir uns verhalten. Sie ist also ein Geisteszustand. Ohne sie geraten wir außer Kontrolle und unter den Einfluss der störenden Emotionen, die uns suggerieren: „ Ich mag das nicht tun. Ich habe keine Lust dazu“ usw.
Die ethische Selbstdisziplin beruht auf Unterscheidung und unterscheidendem Gewahrsein. Mit der ethischen Selbstdisziplin, uns von destruktiven Handlungen zurückzuhalten, sehen wir die Nachteile destruktiven Verhaltens. Wir sehen ganz entschieden, was die Nachteile davon sind, und deshalb halten wir uns davon zurück. Mit der zweiten Art der Selbstdisziplin (positive Handlungen auszuüben) sehen wir die Vorteile davon, zu meditieren, den Nutzen der vorbereitenden Übungen usw., und deswegen üben wir diese Handlungen aus.
Die ethische Selbstdisziplin, zum Wohle anderer zu arbeiten
Die dritte Art der ethischen Selbstdisziplin besteht darin, anderen tatsächlich aktiv zu nutzen bzw. ihnen tatsächlich zu helfen. Dabei spielt das unterscheidende Erkennen der Vorteile eine Rolle, die sich daraus ergeben, wenn man anderen hilft. Und wir nehmen davon Abstand, ihnen nicht zu helfen – etwa weil wir keine Lust dazu haben oder jemanden nicht mögen und ihn deshalb nicht unterstützen wollen.
Die vier Arten, Schüler zu sammeln
Es gibt viele Aspekte von Handlungen, die dazu dienen, anderen zu helfen. Im Allgemeinen ist von einer Disziplin die Rede, die wörtlich „die vier Arten, Schüler zu sammeln“ heißt. Mit anderen Worten, sich anderen gegenüber so verhalten, dass sie aufnahmebereit werden und man sie weitere, tiefer gehende Dinge lehren kann.
Großzügig sein
Die erste dieser vier Arten ist, ihnen gegenüber großzügig zu sein. Zum Beispiel: Jemand kommt uns besuchen und wir bieten ihm eine Tasse Tee ein – ganz einfache Dinge.
Auf angenehme Weise sprechen
Die zweite Art besteht darin, auf sehr freundliche und angenehme Weise mit anderen zu sprechen. Natürlich erfordert es Disziplin, das zu tun. Es bedeutet auch, so mit ihnen zu sprechen, dass sie etwas verstehen können, eine Sprechweise zu verwenden, die sie kennen, und ihre Interessen anzusprechen – nicht auf belanglose Weise, sondern so, dass es ihnen hilft. Und sie auf entsprechende Weise zu lehren. Wenn jemand z.B. an Fußball interessiert ist, sagen wir nicht einfach: „Ach, das ist doch blöd. Was für eine Zeitverschwendung!“ Wir können auf eine Art und Weise sprechen, die es anderen erleichtert, sich in unserer Gegenwart wohlzufühlen und entspannt zu sein. Das ist sehr wichtig, denn sonst werden sie nicht empfänglich sein, sondern denken, dass wir sie von oben herab behandeln. Wir müssen nicht allzu sehr in die Einzelheiten gehen, doch wir können z.B. sagen: „Oh, wer hat denn das Spiel heute gewonnen?“ Eigentlich ist es uns egal, wer gewonnen hat, aber die Frage trägt dazu bei, dass die andere Person sich akzeptiert fühlt.
Wenn wir anstreben, ein Bodhisattva zu sein, ist es wichtig, sich für jeden zu interessieren sowie auch dafür, woran er oder sie Interesse hat, und von so vielen Interessensgebieten wie möglich zumindest ein bisschen zu wissen, damit wir tatsächlich eine Beziehung zu anderen herstellen können. Freundlich und auf angenehme Weise zu sprechen beinhaltet auch, humorvoll zu sein, wenn es angemessen ist.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama besuchte einmal eine sehr prestigeträchtige Universität in den Vereinigten Staaten, und jemand – ich weiß noch, wer es war – ließ in seinem Zimmer eine Maske des amerikanischen Komödianten Groucho Marx liegen, mit dicken, buschigen Augenbrauen, Brille, riesiger Nase und einem großen Schnurrbart. Später kamen die berühmten Professoren usw., lauter sich wichtig gebende Leute, ins Hotelzimmer Seiner Heiligkeit, um hochintellektuelle Gespräche mit ihm zu führen. Sie saßen da in ihren Anzügen und sahen sehr korrekt und ernsthaft aus, und dann kam Seine Heiligkeit ins Zimmer und hatte diese Groucho-Marx-Maske auf. Das war großartig, denn diese Leute waren so verkrampft und ernst, und plötzlich konnten sie nicht anders als über die Absurdität des Ganzen zu lachen, und Seine Heiligkeit wollte sich ausschütten vor Lachen. Danach konnten sie dann sehr viel entspannter miteinander reden; vorher waren sie so angespannt, dass es eine Tortur für sie gewesen wäre. So etwas ist einfach wunderbar bei jemandem wie Seiner Heiligkeit. Man kann sich schwer vorstellen, dass irgendein Präsident eines Landes sich so verhalten würde. Seine Heiligkeit macht sich keine Sorgen darüber, was jemand über ihn denkt oder so etwas, doch er sah, dass dies ein wirksames Mittel war, damit die Leute sich wohlfühlen und entspannen konnten.
Sich sinnvoll verhalten
Die dritte Art besteht darin, sich auf sinnvolle Weise zu verhalten. Auf sinnvolle Weise heißt, nicht bloß Zeit zu verschwenden, sondern zu versuchen, andere zu ermutigen … Seine Heiligkeit machte nicht bloß einen Witz, um zu zeigen, wie pfiffig er war, sondern verhalf den Anwesenden auf sinnvolle Weise dazu, sich zu entspannen und sich nicht so schrecklich ernst zu nehmen. Es geht nicht darum, dass man in jeder Minute tiefsinnig und bedeutungsschwer ist: „Lassen Sie uns tiefgründige, gewichtige Gespräche führen.“ Das ist zu überfrachtet.
In Übereinstimmung mit dem leben, was man lehrt
Die vierte Art ist, ein entsprechendes Leben zu führen. Mit anderen Worten, wenn wir lehren wollen, ist die Disziplin von Bedeutung, selbst ein gutes Beispiel dafür zu sein – nicht bloß etwas zu lehren und sich dann aber gegenteilig zu verhalten. Sich selbst den Lehren entsprechend zu verhalten ist die Art und Weise, durch die Menschen empfänglich dafür werden, etwas von uns zu lernen, sodass wir imstande sind, ihnen auf einer tieferen Ebene zu helfen. Es erfordert Disziplin, sich so zu verhalten. Nicht die ganze Zeit herumzualbern oder mit den Leuten die Zeit totzuschlagen.
Die elf Arten von Menschen, denen es zu helfen gilt
Die ethische Selbstdisziplin, anderen zu helfen, beinhaltet auch die Disziplin, zum Nutzen derjenigen tätig zu werden, die in den Lehren über die sechs weit reichenden Geisteshaltungen immer wieder genannt werden: Da wird eine Liste mit elf Arten von Personen angeführt, denen wir besonders zu helfen und zu nutzen versuchen müssen.
Diejenigen, die leiden
Die ersten sind diejenigen, die leiden, die Schmerzen haben. (Dies ist übrigens eine sehr nützliche Liste. Wir sollten sie nicht als bloße Aufzählung betrachten, sondern sie gibt den Hinweis, insbesondere diese Arten von Menschen nicht zu ignorieren, wenn wir ihnen begegnen.)
Diejenigen, die im Unklaren darüber sind, wie sie sich helfen können
Die zweiten sind Menschen, die sich im Unklaren darüber sind, mit welchen Mitteln sie sich helfen können. Sie wissen nicht recht, was sie tun sollen, sie wissen sich nicht zu helfen oder wie sie mit schwierigen Situationen umgehen sollen. Diese Menschen brauchen Hilfe. Sie brauchen Rat, oder, wenn wir keinen Rat wissen, zumindest Verständnis – jemanden, der ihnen zuhört.
Diejenigen, die uns geholfen haben
Das nächste ist: daran zu arbeiten, denjenigen zu helfen, die früher uns geholfen haben. Es ist wichtig, die Güte anzuerkennen, die andere uns erwiesen haben, und z.B. unsere Eltern oder irgendjemand anderen, der gütig zu uns war, nicht einfach zu vernachlässigen. Und zwar nicht bloß aufgrund von Pflichtgefühl, sondern indem man ein Gefühl der Wertschätzung entwickelt.
Diejenigen, die voller Furcht sind
Des Weiteren gilt es denjenigen, die voller Furcht sind, dabei zu helfen, ihre Furcht zu überwinden, und ihnen Zuspruch zu geben.
Diejenigen, die vom Kummer überwältigt sind
Hier geht es darum, denjenigen zu helfen, die vom Kummer erschüttert sind. Etwa wenn jemand einen geliebten Menschen verloren hat – sei es, dass er gestorben ist, oder dass jemand eine Scheidung zu verkraften hat oder so etwas in der Art – und total niedergeschlagen ist.
Diejenigen, die arm und bedürftig sind
Auch denjenigen zu helfen, die sehr arm und bedürftig sind, erfordert manchmal Disziplin, insbesondere, wenn die Menschen schmutzig sind, nicht sonderlich anziehend aussehen oder wir uns eigentlich nicht gerne in ihrer Gegenwart aufhalten oder nicht dorthin gehen mögen, wo sie sich aufhalten. Dann brauchen wir die Disziplin, uns nicht zurückzuziehen sondern ihnen tatsächlich zu helfen.
Diejenigen, die an uns hängen
Das bedeutet, denjenigen zu helfen, die an uns hängen und die ganze Zeit mit uns zusammensein wollen. Wir wollen sie nicht von uns abhängig machen, aber wenn sie eine derart starke Verbindung zu uns empfinden und so an uns hängen – nun, dann versuchen wir ihnen zu helfen, indem wir ihnen Dharma lehren oder so etwas in der Art, wenn sie daran interessiert sind. Mit anderen Worten, die Verbindung zu einer sinnvollen machen. Das muss nicht auf gewichtige, missionarische Weise geschehen, sondern kann einfach ganz allgemein stattfinden. Offensichtlich gibt es irgendein Karma, das uns zusammengebracht hat.
Anderen im Einklang mit ihren Wünschen helfen
Zudem ist es von Belang, diesen Personengruppen in Übereinstimmung mit ihren Vorlieben und Wünschen zu helfen. Wenn z.B. jemand um bestimmte Unterweisungen bittet … Falls wir Lehrer sind, Dharma studiert haben, und uns jemand bittet, ihn eine bestimmte Praxis zu lehren, kommen wir diesem Wunsch nach, auch wenn es vielleicht nicht unsere bevorzugte Praxis ist – aber sofern es etwas ist, das für ihn ganz gut geeignet sein könnte, erfüllen wir ihm den Wunsch. Ähnlich wie wir beim Bestellen einer Mahlzeit mit Freunden im Restaurant nicht darauf bestehen, immer das zu nehmen, was wir mögen, sondern uns danach richten, was unsere Begleiter möchten. In einer Beziehung zu anderen Menschen ist es natürlich erforderlich, Kompromisse zu finden und nicht immer nur die Wünsche des anderen zu erfüllen, aber es ist wichtig, nicht darauf zu bestehen, dass es immer nach einem selbst geht.
Diejenigen, die ein aufrechtes Leben führen
Des Weiteren soll man sich bemühen, diejenigen zu unterstützen, die ein aufrechtes Leben führen - so lautet der Ausdruck -, d.h. diejenigen, die einen wirklich positiven Weg eingeschlagen haben und ihre Sache gut machen. Wir helfen ihnen, indem wir sie ermutigen, Lob aussprechen usw. Doch auch hier gilt: Nur dann, wenn es angemessen und hilfreich ist; wenn es nur ihren Stolz und ihre Selbstgefälligkeit vergrößert, ist es besser, das bleibenzulassen.
Ich selbst war z.B. in jungen Jahren ziemlich hochmütig und arrogant. Dann arbeitete ich neun Jahre lang für meinen Lehrer Serkong Rinpoche, half ihm, wo ich konnte, tat ziemlich viel für ihn - ich übersetzte für ihn, ich organisierte all seine Reisen, erledigte seine Korrespondenz, besorgte die Visa und lauter solche Dinge. In den ganzen neun Jahren hat er mir nur zweimal gedankt und gesagt „Das hast du gut gemacht.“ Und in meinem Fall war das durchaus angemessen. Für andere Menschen, die, sagen wir, ein sehr niedriges Selbstwertgefühl haben, wäre das höchst unangemessen. Aber für jemanden, der sehr selbstgefällig ist, ist das äußerst hilfreich. Und das war es auch. Während andere meiner Lehrer – Geshe Ngawang Dhargye – sagten: „Was tust du denn da? Stehst herum wie ein Hund und wartest, dass man dir den Kopf tätschelt, wenn du etwas gut gemacht hast, und dann wedelst du mit dem Schwanz, oder was?“
Serkong Rinpoche hat mir tatsächlich sehr geholfen. Ich habe sehr positive Dinge getan, und er half mir, indem er mir nicht dafür dankte – das war die Art, wie er mir Nutzen erwies -, sodass ich einfach deswegen half, weil ich anderen Menschen helfen wollte, von seinen Lehren und seinen Reisen zu profitieren. Es schien, als würde er mich privat nie etwas lehren, bis ganz zum Ende unserer gemeinsamen Zeit. Er lehrte mich nie etwas für mich allein; ich musste es immer für jemand anderen übersetzen. Er lehrte mich nur, wenn ich es für andere übersetzte. Das war überaus hilfreich.
Er half mir auch, indem er – obwohl ich eine Menge Positives tat – es nie versäumte, mich einen Blödmann zu nennen, wenn ich mich wie einer benahm. Auch das war sehr hilfreich. Für andere wäre es das vielleicht nicht. Er war ziemlich streng mit mir.
Als Lehrer oder überhaupt, wenn man anderen hilft, ist das sehr schwierig durchzuhalten. Es erfordert eine enorme Disziplin. Warum? Weil wir in dieser Rolle möchten, dass die andere Person uns mag. Wir möchten es ihr nicht so schwer machen, denn das wird ihr vielleicht nicht gefallen und sie geht dann möglicherweise weg. Es erfordert also wirklich ein hohes Maß an Disziplin, sich so zu verhalten, dass es der anderen Person tatsächlich nützt, und nicht bloß so, wie wir es für uns als nützlich erachten.
Manchmal möchten wir unsere Kinder gar nicht bestrafen, wenn sie etwas Falsches tun, sich schlecht benehmen usw., aber wir brauchen die Disziplin, ihnen gegenüber konsequent zu sein, weil das zu ihrem Nutzen ist. „Ich werde dir nicht alles kaufen. Du musst selbst arbeiten und das Geld dafür verdienen, damit du es auch wertschätzen lernst.“ Das erfordert eine Menge Disziplin auf Seiten der Eltern, insbesondere wenn sie die Mittel haben, dem Kind alles zu kaufen.
Diejenigen, die ein destruktives Leben führen
Als nächstes wird aufgezählt: sich bemühen, denjenigen zu nutzen, die einen sehr destruktiven und negativen Lebensstil haben. Mit anderen Worten: Wir geben sie nicht einfach auf und lehnen sie ab oder verurteilen sie oder so etwas, sondern wenn es eine Möglichkeit gibt, ihnen zu helfen, diese Verhaltensweisen abzulegen, versuchen wir, das zu tun. Es gibt einige Dharma-Lehrer, die z.B. in Gefängnisse gehen und dort lehren oder Menschen helfen, die heroinsüchtig sind. Natürlich müssen sie aufgeschlossen für sie sein und sie nicht ablehnen und denken: „Ach, ein Junkie. So ein schlechter Mensch.“
Unsere außerphysischen Kräfte benutzen, um anderen zu helfen
Der letzte Punkt ist: sich bemühen, anderen zu nutzen, indem wir etwaige außerphysische Kräfte oder übersinnlichen Fähigkeiten anwenden, falls wir solche haben. Anderen helfen, indem wir diese einsetzen, wenn alle anderen Mittel fehlschlagen – jedoch nur, wenn es unbedingt notwendig ist.
Mein Lehrer Serkong Rinpoche hatte eindeutig übersinnliche Fähigkeiten. Ich habe das mehrmals beobachtet. Einmal war ich mit ihm in einem Jeep unterwegs. Wir fuhren hinauf zum Meditationszentrum Tushita in Dharamsala. Wir waren schon fast da, als Serkong Rinpoche sagte: „ Beeil dich, fahr schneller, los, schnell. Im Tempel bricht ein Feuer aus, im Schreinraum.“ Wir kamen an und liefen hin, und tatsächlich war eine Kerze umgefallen und hatte einen Vorhang in Brand gesetzt. Das war eine Situation, in der er sich nicht scheute oder genierte, seine übersinnlichen Fähigkeiten einzusetzen, sie nicht aus Bescheidenheit verbarg, sondern sie zum Nutzen anderer anwandte. Er war sehr eindrucksvoll. Er war jemand, von dem die meisten anderen Lamas sagten: „Wenn ihr einen echten Meister sehen wollt, nicht bloß jemandem mit einem Namen, dann ist er das richtige Beispiel dafür.“ Und so war es auch.
Shantideva über ethische Selbstdisziplin
Nur noch ein paar wenige Dinge über ethische Selbstdisziplin, bevor wir eine Pause machen. Shantideva erörtert sie in zwei Kapiteln seines Textes „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“. Das erste Kapitel heißt „Die sich kümmernde Einstellung“, und das ist die Grundlage für ethische Selbstdisziplin. Mit anderen Worten: Wir achten darauf, welche Wirkung unser Verhalten hat, und wir nehmen das ernst. Wir passen auf, dass wir nicht unter den Einfluss unserer störenden Emotionen geraten. Wir achten darauf und nehmen es ernst, dass die Anderen menschliche Wesen sind und Gefühle haben, und wir wissen, dass es sie verletzt, wenn wir uns destruktiv verhalten. Und wir achten auch auf die Folgen unseres Verhaltens für uns selbst in der Zukunft. Wir nehmen sie ernst. Das ist die Grundlage für Selbstdisziplin. Wenn wir uns nicht darum kümmern – „Das ist mir gleichgültig. Ist mir doch egal, was daraus wird. Was kümmert es mich, wenn du dich durch mein Zuspätkommen verletzt fühlst“ – dann handeln wir nicht auf irgendeine Art ethisch.
In vielen Sprachen ist es sehr schwierig, den Ausdruck „sich kümmernde Einstellung“ (tib. bag-yod, Skt. apramada) zu übersetzen. Im Deutschen oder Spanischen z.B. ist das recht schwierig. Im Russischen auch? Es bedeutet – nun, achtgeben ist ein Teil davon, aber das heißt nicht, bekümmert zu sein oder lediglich achtzugeben. Es bedeutet, die Wirkungen unseres Verhaltens ernst zu nehmen.
Das zweite Kapitel, das Shantideva diesem Thema widmet, handelt von Vergegenwärtigung (tib. dran-pa, Skt. smrti) und Wachsamkeit (tib. shes-bzhin, Skt. samprajanya). Vergegenwärtigung bedeutet, die Disziplin im Sinn zu behalten, die Verhaltensweise nicht aus dem Sinn zu lassen, und nicht unter den Einfluss einer störenden Emotion zu geraten. Vergegenwärtigung wirkt wie geistiger Klebstoff, sie bewirkt, dass man dabei bleibt. Zum Beispiel, wenn wir eine Diät machen, dann an der Bäckerei vorbeikommen, wo wir im Fenster diesen köstlichen Kuchen sehen, unseren Lieblingskuchen, und trotzdem dabei bleiben, unsere Diät einzuhalten, nicht davon abzulassen „Ich werde da nicht reingehen und dieses Stück Kuchen kaufen; ich werde meiner Gier und Anhaftung nicht nachgeben.“ Das ist für ethische Disziplin sehr wichtig. Und die Wachsamkeit, mit der wir aufpassen, wann wir anfangen, ins Wanken zu kommen, und sagen: „ Naja, vielleicht nur ein ganz kleines Stück“ oder so etwas in der Art. So wie meine Schwester, wenn sie auf Diät ist: Sie wird sich kein Stück Kuchen nehmen, aber die Krümel, die zählen nicht. Die Krümel, die kleinen Stückchen, die auf dem Teller liegen geblieben sind – das zählt nicht, das kann man sich nehmen. Auf so etwas müssen wir aufpassen. Vergegenwärtigung und Wachsamkeit sind die Geistesfaktoren, die die ethische Disziplin unterstützen, die Werkzeuge, die uns helfen, unsere Disziplin einhalten zu können, und später können wir diese Geistesfaktoren auch für unsere Konzentration gebrauchen.
Schließlich zeigt Shantideva noch drei Faktoren auf, die uns helfen, Vergegenwärtigung zu entwickeln und aufrechtzuerhalten.
- Der erste, so schreibt er, ist, in der Gegenwart unserer spirituellen Lehrer zu bleiben oder uns immer vorzustellen, dass wir uns in ihrer Gegenwart befinden. Wenn wir in ihrer Gegenwart wären, würden wir uns aus Respekt vor ihnen nicht blödsinnig und destruktiv verhalten. Dieser Gedanke ist sehr hilfreich. „Würde ich mich so verhalten oder so rede, wenn mein Lehrer anwesend wäre?“ Und wenn wir es in dem Fall nicht tun würden, dann, so rät Shantideva: „Verharrt wie ein Stück Holz“ – und tut es nicht. Das hilft uns, die Vergegenwärtigung aufrechtzuerhalten. Mich mit lauter Kuchen vollstopfen oder jemanden anschreien – das würde ich natürlich nicht tun, wenn ich mit meinem Lehrer zu Abend essen würde.
- Der zweite Faktor ist, den Anweisungen und dem Rat unseres Lehrers zu folgen und sich daran zu erinnern, was er gesagt hat. Das lässt uns bei der Vergegenwärtigung bleiben.
- Der dritte ist das Zurückschrecken vor den Folgen, die sich ergeben, wenn wir keine Vergegenwärtigung üben. Das bedeutet nicht Furcht, sondern „Ich scheue wirklich davor zurück … Ich will nicht erleben, was dabei herauskommt, wenn mir die Vergegenwärtig abhanden kommt.“ Diese Haltung beruht auf einem Gefühl für die eigene Würde, auf einer Art Selbstwertgefühl. Ich habe genügend Selbstachtung, dass ich nicht möchte, dass es mit mir immer weiter bergab geht, indem ich dauernd meinem Ärger, meiner Gier usw. nachgebe.
Das ist verbunden, so sagt Shantideva, mit einer Art Ehrfurcht vor unseren spirituellen Lehrern. „Ehrfurcht“ ist auch wieder so ein schwieriges Wort. Sie bedeutet nicht, dass ich meine spirituellen Lehrer fürchte, etwa dass ich Angst habe, sie würden mich ausschimpfen oder so etwas, sondern Ehrfurcht bedeutet, dass ich gegenüber meinen spirituellen Lehrern und dem Buddhismus so viel Respekt empfinde, dass es mir schrecklich peinlich wäre, wenn andere durch mein negatives Verhalten ein schlechtes Bild davon bekämen. Dass sie denken könnten: „So verhalten sich also die Schüler von dem und dem Lehrer?“ Oder dass sie einen schlechten Eindruck vom Buddhismus und von spiritueller Schulung bekämen und denken würden: „Und das soll ein Buddhist sein? Der hört einfach nicht auf, sich zu besaufen und zu zerstören, wird dermaßen wütend usw. …“ Es beruht also auf einer Art Ehrfurcht und Respekt, dass wir unsere Vergegenwärtigung und die ethische Disziplin aufrechterhalten.