Buddha-Natur und der Geist des Klaren Lichts

Die Buddha-Natur (tib. sangs-rgyas-kyi rigs) wird in einem weiteren indischen Text von Maitreya namens „Uttaratantra“ (tib. rGyud bla-ma; „Weitest gehendes immer währendes Kontinuum“) erläutert. Im Grunde handelt es sich dabei um die Faktoren, die es jedem ermöglichen, ein Buddha zu werden. Wie ist es möglich, dass wir Buddhas werden können, dass ein jeder Buddha werden kann? Es sind diese Faktoren, die die Voraussetzung dafür schaffen. Wenn von Buddha-Natur die Rede ist, geht es nicht nur um eine einzige Sache, sondern um ungemein viele verschiedene Aspekte, viele verschiedene Faktoren. Es gibt drei Arten solcher Faktoren. Die eine Art sind die so genannten „sich entwickelnden Faktoren“ (tib. rgyas-’gyur-gyi rigs). Sie sind etwas, das sich entfaltet und wächst. Eine andere Art dieser Faktoren wird „verweilende Faktoren“ (tib. rang-bzhin gnas-rigs) genannt; sie bilden die grundlegende Situation, die immerfort vorhanden ist, etwas das immer gleich bleibt. Bei der dritten Art handelt es sich um die Tatsache, dass der Geist inspiriert und emporgehoben werden kann, was uns hilft, uns zu ändern.

Wir werden nun über den Geist des Klaren Lichts sprechen. Der Geist des Klaren Lichts ist diese tiefste Ebene des Geistes. Das ist es, was sich von Augenblick zu Augenblick fortsetzt. Es handelt sich nicht um ein Ding; es gleicht vielmehr einem Film: ein Augenblick nach dem anderen spielt sich ab. Welches sind die Qualitäten davon? Der Geist des Klaren Lichts hat die Qualitäten, die wir Buddha-Natur nennen. Wodurch zeichnen sich einige dieser Qualitäten aus? Es gibt einige Qualitäten, die gleich bleiben werden, die immer verweilen. Die wesentliche dieser Qualitäten besteht z.B. darin, dass wir die Fähigkeit haben, zu verstehen, etwas zu erkennen. Das wird immer so bleiben. Weil wir etwas verstehen können, können wir ein Buddha werden. Wenn es keinen Geist gäbe, wenn es nicht diesen Aspekt gäbe, dass er etwas verstehen, etwas wissen kann, wie könnte man dann ein Buddha werden? Wie könnte man jemandem helfen?

Was ebenfalls immer gleich bleibt, was immer gleich bleibt, ist die Leerheit des Geistes. Das heißt: Er existiert nicht auf eine Art und Weise, die unmöglich ist. Leerheit bedeutet die Abwesenheit unmöglicher Arten zu existieren. Der Geist existiert nicht wie in Plastik gehüllt als etwas, das sich nie ändern wird, etwas das „mir“ gehört, „mein“ Geist des Klaren Lichts oder so etwas. Er existiert nicht auf unmögliche Weise. Weil er nicht auf unmögliche Weise existiert, während wir in Samsara sind, existiert er folglich auch nicht auf unmögliche Weise, wenn wir im Nirvana sind. Das bleibt gleich. Die Leerheit ist dieselbe. Weil diese Leerheit immer vorhanden ist, kann der Geist zum Geist eines Buddha entwickelt werden.

Und was entwickelt sich? Welches sind die sich entwickelnden Faktoren? Es gibt viele Arten, dies zu erläutern. Es gibt grundlegende Faktoren – lassen Sie uns dafür zunächst noch einmal auf das Verstehen zurückkommen. Das Verstehen kann immer weiter entwickelt werden. Wir haben die grundlegende Fähigkeit, zu verstehen, und diese Fähigkeit ist immer vorhanden, kann aber immer weiter entwickelt werden. Wir haben ein gewisses Ausmaß an positiver Kraft (tib. bsod-nams) – manchmal wird das auch als „Verdienst“ übersetzt, aber das ist ein seltsames Wort. Es handelt sich um positive Kraft, und auch die positive Kraft kann immer weiter entwickelt werden. Wir haben also die positive Kraft, die uns befähigt, tatsächlich jedem zu helfen.

Wir können die sich entwickelnden Faktoren auch im Zusammenhang mit Körper, Sprache und Geist betrachten. Mit dem Geist des Klaren Lichts geht eine bestimmte Art von Energie einher, die ihn unterstützt. Weil Energie da ist, d.h. eine physische Komponente, haben wir einen Körper. Gegenwärtig haben wir einen samsarischen Körper. Wir könnten den Körper eines Buddha haben. Das ist ein grundlegender Faktor. Es gibt also auch einen physischen Aspekt, der entwickelt werden und sich immer weiter entfalten kann. Diese Energie strahlt aus, sie hat kommunikative Funktionen. Das ist Kommunikation, Sprache, im weitesten Sinne. Weil diese Energie ausstrahlt, werden wir als Buddha imstande sein, mit jedem auf vollkommene Weise zu kommunizieren. Wir werden imstande sein, jedem auf vollkommene Weise zu helfen, denn dass der Geist des Klaren Lichts mit einer bestimmten Energie einhergeht und dass diese Energie nach außen strahlt, ist ein grundlegender Faktor.

Der Geist des Klaren Lichts hat die Fähigkeit zu verstehen, und wenn er zum Geist eines Buddha wird, kann er alles verstehen. Der Geist des Klaren Lichts ist etwas, das inspiriert und erhöht werden kann, und das trägt dazu bei, all diese Aspekte immer weiter zu entwickeln. Das ist ein wichtiger Punkt. Wie kann ein Buddha uns helfen? Wie kann ein Lehrer uns helfen? Buddha kann uns das Leiden nicht nehmen, wie man einen Dorn aus dem Fuß zieht (das ist eine klassische Zeile aus den Sutras). Er kann uns nur helfen, indem er uns den Weg zeigt und uns inspiriert. Die Inspiration durch das Beispiel eines Buddha, durch die Güte eines Buddha, gibt dem Geist Auftrieb und hilft, die Energie in Schwung zu bringen. Die Tatsache, dass unser Geist des Klaren Lichts inspiriert werden kann, ist ein Teil der Buddha-Natur. Diese Tasse hier kann nicht inspiriert werden, doch mein Geist kann inspiriert werden, er kann positiv beeinflusst werden.

All das sind Faktoren der Buddha-Natur. Im Grunde sind sie Qualitäten und Aspekte des Geistes des Klaren Lichts, denn jeder hat sie, auch jemand, der gerade das Leben eines Insekts führt. Der Geist ist in jeder Art von Wiedergeburt mit diesen grundlegenden Faktoren versehen.

Wir können in diesem Zusammenhang auch über die verschiedenen Arten sprechen, wie der Geist funktioniert. Auch das sind Aspekte der Buddha-Natur. Der Geist nimmt Informationen auf. Das gilt auch für einen Wurm. Die Tatsache, dass der Geist Informationen aufnimmt, bedeutet, dass wir uns aller Objekte gewahr sein können; wir können die Informationen des gesamten Universums aufnehmen. Der Geist ist imstande, die Gleichheit von etwas zu erkennen, mit anderen Worten, Informationen zusammenzufügen. Das ist eine der grundlegenden Arten, wie der Geist funktioniert. Wenn er nicht Informationen zusammenfügen könnte, wären wir nicht imstande zu erkennen, dass all diese Objekte hier im Raum Lebewesen sind, dass sie alle Menschen sind. Der Geist hat diese Fähigkeit: etwas zusammenzufügen, zu sehen, was die Gemeinsamkeiten sind. Auch ein Wurm hat diese Fähigkeit. Wie könnte er sonst Nahrung erkennen? Er sieht verschiedene Dinge, denen gemeinsam ist, dass sie Nahrung sind. Er weiß, dass sie alle Nahrung sind.

Der Geist ist auch imstande, die Individualität der Dinge wahrzunehmen. Die Kuh weiß: Dies ist ein ganz bestimmtes Ding: mein Stall; sie weiß: Dies ist mein Kalb. Und wir können Gleichheit, also Gemeinsamkeiten, erkennen: Jeder möchte glücklich sein; niemand möchte unglücklich sein. Als Buddha lieben wir jeden gleichermaßen. Wir erkennen das Individuelle, das Karma einer bestimmten Person, die Wirkung bestimmter Lehren auf diese Person oder auf jene Person. Wir erkennen die Besonderheiten. Wir wissen, wie wir es anstellen müssen, diese Person etwas zu lehren, um ihr zu helfen. Und wir wissen, was die Dinge sind und auf welche Weise sie existieren.

Die Tatsache, dass wir diese Aspekte haben, die ausmachen, wie der Geist funktioniert – wie der Geist des Klaren Lichts funktioniert -, ermöglicht es uns, ein Buddha zu werden, denn wir können die Qualitäten dieser Aspekte so entwickeln, dass sie auf vollkommene Weise funktionieren, so, wie es im Geist eines Buddha der Fall ist. Das ist die Buddha-Natur. Gegenwärtig sind diese Aspekte von unserer Verwirrung umwölkt und von unserer begrenzten Denkweise: ich, ich, ich. Und weil sie von Verwirrung umwölkt sind, funktionieren sie nicht auf vollkommene Weise. Doch die Verwirrung ist wie Wolken am Himmel. Man kann die Wolken vertreiben. Wolken sind nicht Teil des Himmels, sie sind vorübergehend, sie ziehen vorbei. Daran arbeiten wir mit den vier edlen Wahrheiten: um die Wolken zu vertreiben. Denn die grundlegenden Natur besitzt alle diese Qualitäten, und wenn keine Wolken da wären, würden sie auf vollkommene Weise funktionieren. Das müssen wir also unterstützen.

Frage: Weiß ein Wurm, was er zu tun hat? Das würde heißen, dass sein Geist viel klarer ist als unserer und dass er eher Erleuchtung erreichen kann als wir.

In erster Linie geht es um ein geistiges Kontinuum, das sich immer weiter fortsetzt, und in diesem speziellen Leben hat das Wesen den Körper eines Wurmes. Es wird nicht immer ein Wurm sein. Als Wurm ist es sehr begrenzt. Es hat die Faktoren der Buddha-Natur, es ist also imstande Nahrung von Gestein zu unterscheiden, es kann die Information einer farbigen Form aufnehmen und weiß, dass das Nahrung ist. Aber das heißt nicht, dass sein Geist klar ist. Es weiß, was es zu tun hat, in dem Sinne, dass es weiß, wie es Nahrung zu sich nimmt, es weiß, wie es sich fortpflanzt, und kann flüchten, wenn Gefahr droht. Das ist viel einfacher als bei uns.

Hat ein Wurm störende Emotionen? Vermutlich ja. Wir müssen wohl sagen, dass das der Fall ist. Vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen kann man wohl mit Gewissheit sagen, dass er naiv ist; er versteht mit Sicherheit nicht besonders tiefgehend, was vor sich geht. Man kann ihm nicht beibringen zu meditieren. Kennt ein Wurm Ärger? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall kennt er Angst, sonst würde er nicht fürchten, wenn Gefahr droht; z.B. wenn wir ihn aufheben wollen, rollt er sich zusammen und versucht alles Mögliche, um davonzukommen.

Vom buddhistischen Gesichtspunkt aus ist es nur auf der Grundlage eines kostbaren menschlichen Lebens möglich, Befreiung und Erleuchtung zu erreichen, denn in einem kostbaren menschlichen Leben mitsamt all seinen Qualitäten erleben wir weder zu viel Leiden noch zu wenig Leiden um uns weiter zu entwickeln. Wenn wir zu wenig Leiden hätten, würden wir nicht achtgeben, wir hätten keine Motivation – so ist es in den Götterbereichen. Wenn wir zu viel Leiden erleben, wie etwa in den Höllenbereichen oder in von Hungersnöten aufgeriebenen Kriegsgebieten, kann man gar nicht daran denken, spirituelle Übungen durchzuführen – man will einfach nur überleben. Nur ein kostbares menschliches Leben bietet diese Möglichkeiten und Fähigkeiten zu spiritueller Praxis.

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