Wir haben über die fünf Arten des tiefen Gewahrseins in Bezug auf die fünf Skandhas oder Aggregat-Faktoren gesprochen, die unsere Erfahrung ausmachen, sowie in Bezug auf die fünf Arten von störenden Emotionen. Es gibt zahlreiche andere Systeme, mit denen wir diese Struktur der fünf Arten des tiefen Gewahrseins in Zusammenhang bringen können, aber das sind Themen, die es in der Zukunft zu erforschen gilt. Wenn wir den Dharma studieren ist es oft so, dass wir verschiedene Puzzleteile bekommen, die dann nicht nur auf eine, sondern auf unterschiedliche Weise zusammenpassen. Im Laufe unseres Studiums sind wir dann in der Lage Zusammenhänge zu finden und immer mehr Teile zusammenzufügen, wodurch wir unser Studium immer weiter vertiefen.
Lasst uns weiter die grundlegende Ebene unserer fünf Arten des tiefen Gewahrseins erforschen, um ihre Grenzen zu erkennen, sowie das, woran wir arbeiten müssen, um zur Buddhaschaft zu gelangen.
Was das spiegelgleiche tiefe Gewahrsein offenbaren kann
Mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein gehen all die Information ein und den meisten davon schenken wir keine große Beachtung; tatsächlich bemerken wir oft nicht einmal, was sich direkt vor uns befindet. Dieses spiegelgleiche tiefe Gewahrsein kann aber immer weiter entwickelt werden, besonders wenn wir es mit dem tiefen Gewahrsein der Realität verbinden.
Sehen wir beispielsweise eine Person, steht uns jede Menge an Information zu Verfügung, die uns hilft sie zu vergleichen, herauszuheben und mit ihr umzugehen. Wenn wir die Person sehen, bekommen wir zunächst Informationen in Bezug darauf, wie sie aussieht. Ist sie müde, glücklich oder langweilt sie sich gerade? Mit dem tiefen Gewahrsein der Realität können wir die Arten der groben Emotion von jemandem durch den Gesichtsausdruck identifizieren. Des Weiteren können wir erkennen, ob die Muskeln einer Person angespannt oder gelöst sind, indem wir die Bereiche ihrer Stirn, der Augen und des Mundes betrachten.
Die Körpersprache ist ebenfalls sehr interessant. Zieht sie zum Beispiel ihre Schultern nach oben, wenn sie aufmerksam ist, oder sind sie entspannt. Sind ihre Hände zu Fäusten geballt oder offen? All diese Faktoren sagen im Grunde eine Menge aus. Sitzt sie still oder zappelt sie ständig herum? Es gibt Menschen, die zum Beispiel am Tisch nie stillsitzen können und ständig mit ihren Fingern auf dem Tisch herumtrommeln. Eine Bekannte von mir schlägt beispielsweise mit jedem Punkt, den sie macht, auf den Tisch. Das mag ziemlich nervend sein, aber es sagt auch eine Menge über sie aus. Mit diesen Bewegungen fügt sie ihren Sätzen einen Punkt hinzu.
Auch sagt es zum Beispiel viel über eine Frau aus, ob sie sich viel schminkt oder gar nicht. Schenkt sie ihren Haaren eine große Beachtung, indem sie ständig zum Friseur geht oder ist sie etwas entspannter in dieser Hinsicht? Färbt sie ihre Haare oder nicht? Trägt sie eine Menge Schmuck oder gar keinen? Auch sagt es viel über eine Person aus, wie sie sich anzieht. Ist sie äußerst reinlich oder nicht eher nicht? Und was Männer betrifft: rasiert er sich jeden Tag oder nicht? All diese Faktoren sagen viel über eine Person aus.
Mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein nehmen wir diese Informationen auf und können eine Person in einer Gruppe beobachten. Sitzt sie für sich allein oder ist sie mit anderen zusammen und unterhält sich? All diese Informationen sind da und durch das spiegelgleiche Gewahrsein nehmen wir sie auf.
Es ist interessant, dass es einige Arten von Körperhaltungen gibt, die ausdrücklich von Shantideva, dem großen indischen Meister, der den „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ verfasste, hervorgehoben wurden. Er wies darauf hin, dass es unangemessen ist, die Hände vor dem Körper zu verschränken, wenn man den Dharma hört, da dies auf einen voreingenommenen oder verschlossenen Geisteszustand hindeutet, so als würden wir uns vor dem, was wir hören, schützen wollen. Unsere Arme sollten sich entspannt neben dem Körper befinden und somit einen offenen Geisteszustand widerspiegeln.
Und wenn wir noch etwas weitergehen, ist es doch auch ziemlich unangenehm, wenn wir mit jemandem reden, dessen Arme vor dem Körper verschränkt sind, oder? Es fühlt sich dann so an, als wäre die andere Person nicht wirklich offen. Wir können sehen, ob sie ihren Schutzwall hochgezogen hat oder nicht, indem wir einfach ihre Körpersprache analysieren.
Ebenso können wir, wenn jemand mit uns redet, eine Menge über ihn sagen, wenn wir wirklich zuhören. Spricht die Person besonders laut oder so leise, dass wir kaum verstehen was sie sagt? Redet sie ziemlich schnell oder ganz langsam? Ist ihre Aussprache korrekt oder macht sie sprachliche und grammatikalische Fehler? Kann man sie leicht verstehen oder will sie sich nur zeigen, indem sie hochtragende Worte benutzt? Natürlich kann man auch durch die Art des Sprechens eine Menge über den emotionalen Zustand der Person sagen. Der Klang ihrer Stimme sagt beispielsweise aus, ob die Person betrübt und traurig oder aufgeregt und glücklich ist. All diese Aspekte können nur durch den Klang der Stimme einer Person ausgemacht werden.
Im Wesen würden wir sagen, dass man einfach mehr Feingefühl entwickeln muss. Wir wollen feinfühliger gegenüber dem sein, was wir sehen und hören, insbesondere dann, wenn wir mit jemandem Austausch haben. Diese Feinfühligkeit spielt auch eine Rolle, wenn wir uns mit unserer Umgebung auseinandersetzen und sehen, was in unserem Umfeld los ist.
Obwohl wir über das spiegelgleiche tiefe Gewahrsein verfügen, welches die grundlegende Wirkungsweise darstellt, sich über all dies bewusst zu sein, besteht das Problem doch darin, dass wir momentan begrenzt und somit nicht in der Lage sind, es im vollsten Umfang zu nutzen. Nehmt euch einen Moment Zeit darüber nachzudenken.
Begrenzende Faktoren
Alle Informationen strömen mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein durch all die Sinneskanäle ein. Die begrenzenden Faktoren sind die Geistesfaktoren der Aufmerksamkeit und Interesses. Wir sind in dem Sinne begrenzt, inwieweit wir der einströmenden Information unsere Aufmerksamkeit schenken. Um aufmerksam zu sein, müssen wir Interesse haben, denn ohne Interesse ist es uns egal und wir sind nicht aufmerksam. Doch wie können wir daran arbeiten, um das zu verbessern? Wir tun dies, indem wir die Dinge identifizieren, die uns davon abhalten, uns für etwas zu interessieren und aufmerksam zu sein.
Was uns einschränkt und begrenzt, ist unser geistiges Abschweifen. Wir denken oft über etwas anderes nach und vielleicht kommentieren wir auch in unserem Kopf, sind äußerst kritisch und denken: „du siehst heute furchtbar aus“ oder „was du gerade gesagt hast, war wirklich dumm“ usw. Wir bringen alte Sachen hoch und denken: „Da geht es von Neuem los, du bist wieder wütend geworden.“ Wir verlieren uns in Wunschdenken und hoffen, die Person wird uns mehr Aufmerksamkeit schenken, uns mögen, netter uns gegenüber sein usw. In unserem Kopf laufen vielleicht sogar Filme ab, in denen wir uns vorstellen, wie die Person wohl ohne Kleidung aussehen mag. All das hindert uns daran, wirkliches Interesse zu zeigen und Aufmerksamkeit zu haben. Darüber hinaus denken wir oft über uns selbst oder über etwas völlig anderes nach, was nichts mit dem Gespräch zu tun hat. Wir zeigen also kein wirkliches Interesse. Vielmehr geht es uns darum, was in unseren Gedanken abläuft.
So haben wir alle schon eine Art des geistigen Abschweifens erlebt. Wenn wir uns zum Beispiel mit jemandem unterhalten, der sehr schnell redet, denken wir oft darüber nach, was wir dieser Person erwidern wollen und warten nur darauf, dass sie endlich einmal Luft holt, damit wir sie unterbrechen und sagen können, was uns auf dem Herzen liegt. Wir schenken dem, was sie sagt, gar keine Aufmerksamkeit, sondern denken nur: „warum hältst du nicht endlich deinen Mund, damit ich das sagen kann, was ich sagen will.“ Das haben wir mit Sicherheit alle schon erlebt und es ist wirklich nicht einfach. Dennoch gilt es daran zu arbeiten aufmerksam zu sein. Es ist notwendig, den Geist zu beruhigen und einfach mit einem ruhigen Geist aufmerksam zu sein, ohne an etwas anderes zu denken.
Die fürsorgliche Geisteshaltung
Neben der Aufmerksamkeit und dem Interesse brauchen wir eine so genannte fürsorgliche Geisteshaltung. Dieser Begriff ich nicht so leicht zu übersetzen, aber er bedeutet, die andere Person als wichtig und relevant anzusehen. Wir müssen ein Gefühl dafür haben, dass es sich um einen Menschen handelt, der genau wie wir Empfindungen hat. Mit anderen Worten nehmen wir die Person ernst und achten darauf, in welcher Stimmung sie sich befindet usw. Diese Fähigkeit ist wichtig, um mit anderen interagieren zu können. Wir nehmen auch die Weise, wie wir miteinander reden und umgehen ernst, da unser Umgang andere Menschen beeinflusst.
Eine fürsorgliche Geisteshaltung ist der Geistesfaktor, der uns erlaubt nicht destruktiv zu handeln und Disziplin zu wahren, um auf konstruktive Weise zu handeln. Sie hilft uns zu vermeiden, über etwas anderes nachzudenken oder irgendetwas Dummes zu sagen, was uns gerade in den Sinn kommt. Im Grunde haben wir durch die Entwicklung einer fürsorglichen Geisteshaltung die Möglichkeit, mit anderen einen möglichst hilfreichen und angemessenen Umgang zu pflegen. Ohne dieses Interesse am Wohlergehen anderer wäre es uns egal, was mit dem anderen geschieht, während wir, ungeachtet der Auswirkungen, einfach sagen und tun was wir wollen.
Wir können die Abwesenheit oder die Anwesenheit dieser Geistesfaktoren identifizieren, wenn wir mit jemandem telefonieren. Zum Beispiel haben wir vielleicht alle schon die Erfahrung gemacht mit jemandem zu telefonieren, der nur über sich selbst spricht und nie fragt, wie es uns geht. Wir haben das Gefühl, er kümmert sich einfach nicht darum. In ähnlicher Weise können wir uns fragen, ob wir nur über uns selbst reden, wenn wir mit anderen sprechen. Kümmern wir uns überhaupt um die Person? Ist es uns egal, ob die andere Person gerade beschäftigt ist oder nicht und wie ihr Tag war? Oder geht es uns nur darum ihr mitzuteilen, was wir über uns selbst zu sagen haben?
Ein Aspekt dieses Geistesfaktoren der anteilnehmenden Geisteshaltung ist das, was wir im Westen als Beachten der anderen Person bezeichnen. Das schließt das Beachten unseres eigenen Verhaltens mit ein. Wie gehen wir mit dieser Person um? Halten wir uns selbst zum Narren? Verhalten wir uns wie ein Wilder oder wie ein menschliches Wesen? Mit dieser fürsorglichen Geisteshaltung erkennen wir, dass die andere Person ein Mensch ist und genau wie wir Gefühle hat. Manchmal ist sie beschäftigt, so wie auch wir zuweilen beschäftigt sind und dann hat sie einen guten oder schlechten Tag, genau wie wir auch. Beruhend auf diesem gleichsetzenden tiefen Gewahrsein, mit dem wir die anderen und uns gleichsetzen, kümmern wir uns um sie und schenken ihnen Interesse und Aufmerksamkeit durch die Informationen, die wir mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein aufnehmen.
Ich denke es ist ausgesprochen wichtig rücksichtsvoll gegenüber anderen zu sein, besonders in unserem gegenwärtigen Zeitalter des Mobiltelefons. Was ist unsere Haltung gegenüber dem Mobiltelefon? Rufen wir ständig jeden und senden ihm Nachrichten, um ihn andauernd zu unterbrechen und erwarten eine sofortige Antwort, weil wir denken, dass das, was wir zu sagen haben, viel wichtiger als das ist, was er oder sie gerade tut? Diese Art der Geisteshaltung muss sich ändern.
Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um unsere eigene Haltung zu untersuchen. Ist es uns wirklich wichtig, ob die andere Person gerade beschäftigt ist oder nicht, oder unterbrechen wir sie einfach? Dieses Syndrom ist ein vortreffliches Beispiel für die Überbewertung des eigenen Selbst, dieses Denkens, wir wären das Zentrum des Universums, der oder die Allerwichtigste. Wenn wir so denken, meinen wir jeden mit unserem Mobiltelefon und Nachrichten jederzeit belästigen zu können, denn was wir in genau diesem Moment zu sagen haben und was wir wollen, ist die wichtigste Sache der Welt, viel wichtiger als alles, was die andere Person vielleicht gerade tut oder tun will. Das stimmt natürlich nicht, denn schließlich sind wir nur einer der Pinguine in dieser riesigen Schar von hunderttausenden Pinguinen. Keiner von uns ist so unglaublich außergewöhnlich.
Es ist wichtig daran zu denken, die Person die wir anrufen zu fragen, ob dies ein guter Zeitpunkt ist und er oder sie vielleicht einen Moment Zeit hat. Wenn die Person gerade beschäftigt ist, sollten wir flexibel sein und unseren Plan ändern. Wir können fragen: „wann würde es dir denn passen?“ Auch können wir gleichsetzendes Gewahrsein nutzen, um uns daran zu erinnern, dass die Person um diese Zeit für gewöhnlich gerade isst oder das Baby schlafen legt und es daher kein guter Zeitpunkt für einen Anruf oder eine Nachricht ist.
Um es nochmal zusammenzufassen: wir müssen den Geist beruhigen und diese fürsorgliche Geisteshaltung entstehen lassen, um das spiegelgleiche tiefe Gewahrsein, durch das all die Information aufgenommen wird, zu fördern. Auf diese Weise werden wir der Information, die auf uns einströmt, Aufmerksamkeit und Interesse schenken. Um jedoch zur Ruhe zu kommen bedarf es natürlich etwas Übung.
Der ruhige Geist
Wenn wir Informationen aufnehmen und das tiefe Gewahrsein der Realität nutzen, um zu wissen worum es geht, müssen wir dies in unserem Kopf formulieren? Sehen wir jemanden, wie unseren Freund, der schlecht oder müde aussieht, müssen wir dann in unserem Kopf sagen: „du siehst schlecht aus“ oder wissen wir es ganz einfach? Denkt einmal darüber nach. Wir müssen es nicht formulieren.
Es gibt zwei Situationen, in denen wir jemanden beobachten und gleichzeitig einen ruhigen Geist haben können. Die eine ist, einen ruhigen Geist zu haben, mit dem wir nichts verstehen und einfach nur geistesabwesend jemanden ansehen. Und die andere ist, einen ruhigen Geist zu haben, mit dem wir verstehen, was wir sehen. Vielleicht funktioniert unser Auto nicht richtig und wir öffnen die Motorhaube. Ob wir nun dort hineinschauen und nichts von dem verstehen, was wir sehen, oder ob ein Automechaniker einen Blick hineinwirft und sofort versteht, woran es liegt, ist ein gewaltiger Unterschied. Im Kopf des Mechanikers findet ganz bestimmt keine Ansprache darüber statt, was das Problem ist. In beiden Fällen ist der Geist ruhig.
Ein ruhiger Geist mit Verständnis ist das, was wir mit dem spiegelgleichen tiefen Gewahrsein und dem tiefen Gewahrsein der Realität anstreben. Allerdings erfordert das Verständnis auch gleichsetzendes und individualisierendes Gewahrsein, sowie die Flexibilität der Anpassung, falls wir an irgendeinem Punkt etwas Gesehenes falsch interpretieren. Dafür ist Interesse notwendig, um die Gültigkeit unserer Interpretation zu überprüfen. Wenn wir beispielsweise einen bestimmten Gesichtsausdruck bei jemandem bemerken, bedeutet es, dass die Person emotional aufgewühlt ist oder ein Problem mit dem Magen hat?
Nehmt euch einen Moment Zeit und dann werden wir versuchen, eine Übung zu machen.
Körperliche Einschränkungen
Wie wir bereits besprochen haben, ist unser spiegelgleiches tiefes Gewahrsein durch den Mangel an Aufmerksamkeit, dem Mangel an Interesse und sogar einem Mangel an körperlicher Hardware sehr begrenzt. Wird unser Körper zum Beispiel müde, fühlen wir uns erschöpft und dann wird es schwierig, all die Information wirklich aufzunehmen. Außerdem können wir Töne, die sich über oder unter einem bestimmten Frequenzbereich befinden, nicht hören, während ein Hund dazu in der Lage ist. Wir können nicht allzu weit sehen und leider ist es uns auch nicht möglich, gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen.
Im Internet habe ich etwas sehr Interessantes über eine neue Technologie gelesen, die auf der Grundlage des Auges eines Insektes entwickelt wird. Das Auge eines Insektes besteht aus vielen winzig kleinen Prismen, mit denen es so viel mehr als wir Menschen sehen kann. Ein Insekt ist dazu in der Lage in viele Richtungen gleichzeitig schauen. Bei dieser neu entwickelten Technologie geht es darum, winzige Kameras hinunterzuschlucken, wodurch man dann sehen kann, was in den Gedärmen vor sich geht. Beruhend auf der Physiologie eines Insektenauges wird die Kamera fähig sein, ein Bild von allen Richtungen gleichzeitig aufzunehmen. Das ist spannend, nicht wahr?
Unsere eigene Hardware – diese Maschine, unser Körper – ist eher begrenzt und das beeinflusst auch den Wirkungsbereich unseres spiegelgleichen tiefen Gewahrseins. Wären wir jedoch ein Buddha und hätten nicht diese Art von begrenztem Körper und Geist, könnten wir auf der Ergebnis-Ebene dieses spiegelgleichen tiefen Gewahrseins all die Informationen mit gleicher Aufmerksamkeit, Sorgfalt und ebenbürtigem Interesse aufnehmen.
Ich habe das an Beispielen gesehen. Mein eigener Lehrer, der alte Serkong Rinpoche, saß während den Vorlesungen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama stets neben ihm und schaute immer respektvoll nach unten. Gelegentlich hob er seinen Blick für einen kurzen Moment und schaute ins Publikum. Danach war er dann in der Lage zu sagen, wer geschlafen oder nicht wirklich aufmerksam gewesen ist. In einem ganz kurzen Augenblick nahm er all die Informationen auf und verarbeitete sie.
Ich erinnere mich, als ich mit ihm im Westen unterwegs war und wir einmal auf den Eifeltum stiegen. Unsere Gäste wollten mit uns dort hoch gehen und als wir oben waren, schaute Rinpoche für etwa ein oder zwei Sekunden nach unten und das war's. Dann fragte er: „warum steht ihr alle mit offenem Mund da und starrt die Landschaft an? Ihr habt sie doch schon gesehen.“ Er fragte sich auch was der Sinn, auf diesen Turm zu steigen, denn letztendlich muss man doch nur wieder hinunter gehen. Es ist nichts Besonderes daran, von der Spitze eines Turmes hinunter zu schauen. Es ist nichts Außergewöhnliches.
Diese Fähigkeit streben wir an, diese Art des spiegelgleichen tiefen Gewahrseins. Wir wollen all die Informationen aufnehmen können und nicht nur mit offenem Mund vor uns hinstarren, sondern sofort verstehen können, was wir sehen und dementsprechend erwidern. Wir sind dazu in der Lage, wenn wir mit unserem Auto in dichtem Verkehr unterwegs sind, und so sollten wir anstreben, dies ständig tun zu können.
Als ich das erste Mal in Indien war, lebte ich zusammen mit einem tibetischen Mönch. Das Haus befand sich an einem Berghang mit einer spektakulären Aussicht auf den Sonnenuntergang. Ich ging also immer hinaus, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Mein Freund konnte das überhaupt nicht nachvollziehen, warum ich draußen saß und den Sonnenuntergang anstarrte. In seinen Augen war es nichts Besonderes.
Erfreuen
Ein weiterer wichtiger Punkt, den es zu erforschen gilt, ist das Erfreuen. Was bedeutet es, sich an etwas zu erfreuen? Muss etwas eine lange Zeit andauern, damit man sich wirklich daran erfreuen kann? Müssen wir etwas Schönes lediglich für einen Moment oder für zehn Minuten sehen? Oder können wir es nur genießen, wenn wir es länger anschauen? Ein bildlicheres Beispiel besteht darin, wenn wir etwas Köstliches essen und genießen. Um es nun wirklich zu genießen, ist es da unbedingt notwendig, so viel davon zu essen, bis wir krank werden? Haben wir es wirklich genossen, wenn wir es nur probieren? Denkt einmal darüber nach.
Ich denke, dass ist ein gutes Beispiel für den Geistesfaktor des Klammerns. Es ist dieses Klammern, das karmische Potenziale aktiviert. Wenn wir etwas genießen, klammern wir daran, nicht von diesem Glück getrennt zu werden; und wenn wir unglücklich sind, besteht das Klammern darin, dieses Gefühl unbedingt loswerden zu wollen. Wir haben das Gefühl, etwas nur für eine Minute zu genießen, ist nicht ausreichend. Wir wollen es nicht loslassen und meinen es mindestens für eine Stunde genießen zu müssen, um uns wirklich daran zu erfreuen. Sind wir beispielsweise mit einem guten Freund zusammen, können wir es genießen, 15 Minuten mit ihm Gemeinschaft zu haben. Muss er aber danach sofort aufbrechen, klammern wir und sagen: „Geh bitte noch nicht. Bleib doch noch etwas länger.“
Shantideva drückte es sehr schön aus: Ob man eine Stunde oder hundert Jahre lang träumt, sobald man aufwacht, ist der Traum vorbei. Ob wir etwas für eine Minute oder eine Stunde genießen, wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Das ist das Gleiche. Obwohl das Klammern hier nicht unser Thema ist, prägt es uns doch enorm und ist ein wichtiger Punkt in Bezug darauf, wem wir Aufmerksamkeit schenken und was wir genießen – oder auch nicht.
Eine Übung zum spiegelgleichen tiefen Gewahrsein
Wir wollen in der Lage sein, unser spiegelgleiches tiefes Gewahrsein zu entwickeln und zu steigern. Dies können wir auf der Ebene des Pfades tun und es anhand einer kurzen Übung erleben. So eine Übung können wir überall und mit jedem machen. Wenn wir also mit jemandem zusammen sind und ihm oder ihr zuhören, können wir, wenn die Information auf uns einströmt, versuchen, dies mit einem ruhigen Geist zu tun, ohne innerlich Kommentare abzugeben oder an etwas anderes zu denken. Wir können einfach versuchen, mit Interesse und Anteilnahme aufmerksam zu sein. Uns liegt die andere Person am Herzen, denn wir wollen wissen, wie es ihr geht und was sie zu sagen hat. Wir sind nicht einfach losgelöst und haben nur ein neugieriges Interesse am Paarungsverhalten von ein paar Vögeln in den Bäumen, die wir mit Ferngläsern beobachten; hier geht es vielmehr um diese Person, die ein menschliches Wesen ist und Gefühle hat. Wir wollen uns mit ihr auf eine sinnvolle und fürsorgliche Weise auseinandersetzen.
Versuchen wir also eine Übung zu machen, die aus dem Sensibilitätstraining stammt, das ich entwickelt und über das ich geschrieben habe. In meinem Buch oder auf meiner Webseite könnt ihr mehr zu diesem Training „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“ lernen. Um diese Übung zu machen, müssen wir uns gegenseitig ansehen. Bitte setzt euch so hin, dass ihr Kreise mit so vielen Leuten bildet, wie es euch angenehm erscheint. Dreht die Stühle so, dass ihr mehrere andere Menschen ansehen könnt.
Am Anfang versuchen wir zunächst einen ruhigen Geist zu haben. Gibt es viele verbale Gedanken in unserem Kopf, versuchen wir sie möglichst mit dem Ausatmen loszulassen. Wir tun dies, indem wir uns nicht für diese Gedanken interessieren, die da ablaufen. Wir halten sie für ziemlich langweilig. Wir hängen lediglich an ihnen, wenn wir sie interessant finden. Das ist eine wichtige Richtlinie, an die wir denken können, wenn wir schlafen wollen und die Stimme in unserem Kopf nicht aufhören will. Versucht diese Stimme und dieses Zeug im Kopf als etwas Langweiliges zu betrachten und kommt zur Ruhe.
Wir sollten uns auch nicht wie Tiere im Zoo anstarren. Wenn unsere Augen sich treffen, gehen wir einfach weiter und bleiben nicht an einer Person hängen und starren sie an. Wenn man sich in dieser Übung gegenseitig ansieht, fängt man manchmal an zu lachen, aber das ist einfach nur eine Reaktion auf diese ungewohnte Handlung. Wenn eine Person im Kreis beginnt zu lachen, sollten wir versuchen, nicht wie eine Meute von Hunden zu reagieren, die anfangen zu bellen, sobald einer damit beginnt. Versucht euch auf den Atem zu konzentrieren, da dies hilfreich sein kann, um sich vom Lachen zu beruhigen.
Lasst all den verbalen Müll und die Filme los, die im Kopf ablaufen mögen. Erkennt, dass all diese Leute, die wir um uns sehen, menschliche Wesen sind und genau wie wir Gefühle haben. Wir betrachten nicht einfach nur Menschen auf einem Fernsehbildschirm. Es sind echte Menschen. Seid wie Kameras, die einfach umherschwenken, ohne zu starren, und nehmt die Information auf, ohne sie zu kommentieren. Nehmt beispielsweise die Information auf, wie die Körperhaltung einer Person, wie sie sich um sich kümmert und all diese verschiedenen Merkmale. Sieht jemand gestresst aus, müde oder energetisch? Lasst uns also versuchen, diese Übung nun zu machen.
- Wir beginnen zunächst damit, nach unten auf den Boden zu schauen, und atmen einfach ganz normal durch die Nase, um uns zu beruhigen. Wenn alle möglichen belanglosen Gedanken in unserem Kopf ablaufen, lassen wir sie einfach los. Sie sind nicht wirklich interessant. Während wir ausatmen, stellen wir uns vor, dass sie uns verlassen.
- Indem wir diesen ruhigen Geist bewahren, richten wir unseren Blick nach oben und betrachten die Menschen um uns herum. Wir schenken ihnen Aufmerksamkeit mit dem Gedanken, dass jede Person ein Mensch mit Gefühlen ist, genau wie wir.
- Sind wir dann gegenüber anderen mit einem ruhigen Geist und einer fürsorglichen Geisteshaltung aufmerksam, verhalten wir uns wie eine Kamera. Wir sehen jede Person an und nehmen einfach die Information auf, ohne sie zu kommentieren oder zu beurteilen. Versucht nicht wie jemand zu sein, der einen Blick unter die Motorhaube wirft, ohne die geringste Ahnung von Automotoren zu haben. Wenn der Geist beginnt eine Geschichte um jemanden aufzubauen, lassen wir den Gedanken einfach los und atmen ihn aus.
- Um diese Übung zu beenden, schauen wir wieder nach unten, konzentrieren uns auf den Atem und lassen die Erfahrung einwirken.
Das ist die erste Übung zum spiegelgleichen tiefen Gewahrsein. Ziemlich interessant, oder nicht? Bevor wir mit der nächsten Sitzung beginnen, lassen wir die Erläuterung und Übung weiter einwirken.