Das Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins

Rückblick 

Bis hierhin haben wir über zwei der Aggregate gesprochen, die unsere Erfahrung ausmachen: Formen physischer Phänomene und Empfindungen eines Grades an Glücklichsein. Jeder dieser Aggregate sich ändernder Phänomene setzt sich aus vielen Bestandteilen zusammen und wir erfahren eine Auswahl dieser Dinge, die miteinander verbunden sind und jeden Augenblick unserer Erfahrung bestimmen. Es ist nicht so, dass wir immer nur ein Aggregat erleben, sondern alle fünf gleichzeitig. 

In der Meditationspraxis ist es daher von Bedeutung, dass wir in der Lage sind, in jedem Augenblick all die diversen Faktoren innerhalb der verschiedenen Aggregate zu erkennen. Wir sollten jeden Moment unserer Erfahrung analysieren und in alle Komponenten zerlegen können, die miteinander verbunden sind und uns der Tatsache bewusst sein, dass sie sich alle fortwährend, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, ändern. In all dem gibt es kein solides „Ich“. Hier sollten wir bedenken, dass es uns darum geht, die Verwirrung zu beseitigen, der wir unterliegen, wenn wir uns fälschlicherweise mit etwas identifizieren. Anstatt also ständig dieser Verwirrung und diesem Missverständnis in Bezug auf unsere Erfahrung zu unterliegen, wollen wir sie widerlegen und beseitigen. Uns geht es darum zu erkennen, dass diese Verwirrung auf völligem Unsinn beruht und wollen, dass stattdessen alle Erfahrungen in jedem Augenblick von einem korrekten Verständnis des konventionellen „Ichs“ begleitet ist.

Das ist unser Ziel, wenn wir die Aggregate studieren, um sie zu verstehen. Beobachten wir nun die verschiedenen Aggregat-Faktoren, kommen wir zu einem Punkt, an dem wir uns die Frage stellen, ob es ein getrenntes „Ich“ gibt. Gibt es irgendwo in unserem Kopf ein „Ich“, das diese Aggregate beobachtet oder sie kontrolliert? Es mag sich so anfühlen, als wäre es so. Analysieren wir es jedoch und suchen danach, stellt sich die Frage, wo dieses „Ich“ denn sein soll. 

Fragen 

Gewahrsein und ständige vorübergehende Änderung

Sie haben davon gesprochen in der Lage zu sein, jeden Augenblick der Erfahrung dekonstruieren zu können. Findet dann das Dekonstruieren in der gleichen Geschwindigkeit statt, wie die Realität, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändert?

Ja, so ist es.

Wie tun wir das?

Indem wir uns darin üben. Wie sind wir in der Lage, mit einem Musikinstrument Vierundsechzigstel-Noten zu spielen? Nur mit viel Übung können wir Noten in dieser Geschwindigkeit spielen. 

Fragen wir uns, wie wir diese Veränderung beobachten und verfolgen können, sollten wir verstehen, dass die Aufmerksamkeit gegenüber dem momentanen Geschehen die fünf Aggregate eines jeden Augenblicks unserer Erfahrung begleitet. Unsere Erfahrung ändert sich sprunghaft, das ist wohl wahr. In jedem Moment aufmerksam zu sein heißt jedoch nicht, dass wir in jedem Augenblick über einen Computer-Ausdruck aller Dinge verfügen, die sich momentan ereignen und wir sie im Geiste benennen und bezeichnen. Das ist nicht notwendig.

Nehmen wir als Beispiel unser Auto. Wir mögen uns vielleicht nicht über all die beweglichen Teile bewusst sein, aus denen sich der Motor und das Auto zusammensetzt, jedoch sind wir uns bewusst, dass sie sich bewegen und jeden Moment ändern. Es reicht, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass sie sich verändern. Es geht nicht darum genau zu wissen, welches Zahnrad sich in dieser oder jener Position befindet. Wir müssen uns nicht über alle Einzelheiten bewusst sein, sondern lediglich der Tatsache, dass dies eine ziemlich komplizierte Maschine ist, die aus einer enormen Anzahl von Teilen besteht, die sich alle zur gleichen Zeit bewegen und ändern. Haben wir ein Problem mit dem Auto, würden wir in dieser Situation versuchen herauszufinden, was los ist und das fehlerhafte Teil zu finden. Um es jedoch finden zu können, ist es notwendig alle Teile zu kennen, aus denen das Auto besteht, und wie sie miteinander interagieren. Dann können wir erkennen, welches nicht richtig funktioniert. 

Hätten wir beispielsweise ein Problem mit unserem Körper, würde ein Arzt alle Systeme des Körpers untersuchen, um herauszufinden, was los ist. Er weiß, dass der Körper aus einer unglaublichen Anzahl von Teilen besteht, die sich ändern, weit mehr als beim Auto. Haben wir ein Problem oder eine Krankheit, kann ein Arzt mit der Kenntnis aller Systeme herausfinden, welches Teil nicht funktioniert und so verstehen, wie dadurch die anderen Teile des Ganzen beeinflusst werden.

Die Analyse unserer Erfahrung müssen wir auf die gleiche Weise angehen wie ein Arzt und uns bewusst darüber sein, dass unsere Erfahrung aus so vielen verschiedenen Faktoren besteht, die sich ständig ändern und aufeinander einwirken. Haben wir beispielsweise ein Problem, fühlen uns nervös, sind aufgebracht oder verärgert, analysieren wir an dem Punkt etwas eingehender, was eigentlich los ist, um herauszufinden, wo das Problem liegt.

Das kann ganz einfach sein. Vielleicht fühlen wir uns wirklich unwohl. Wir analysieren und schauen, was los ist. Es mag die körperliche Empfindung unserer Kleidung sein, die zu eng ist. Dann wissen wir, dass wir eine andere Größe dieser Kleidung kaufen müssen. Die Lösung könnte also ganz einfach sein, oder auch komplexer und tiefgründiger, als einfach nur weitere Hosen anzuziehen.

Das Spektrum der Erfahrung

Sie haben erwähnt, dass ein Buddha kein fühlendes Wesen, sondern etwas jenseits davon ist. Kann ein Buddha das gesamte Spektrum von den Informationen erfahren, die man sehen, hören, riechen usw. kann und ist er auch in der Lage, das Spektrum zwischen Glück und Leid wahrzunehmen?

Ja, aber die unterschiedlichen Ebenen von samsarischem Glück und Leid, die ein Buddha erfahren kann, wären mit dem geistigen Kontinuum anderer Menschen, anderer Wesen verbunden, nicht mit seinem. Sie sind Teil des geistigen Kontinuums eines anderen, nicht dem eines Buddhas. Ein Buddha erfährt nur nicht-samsarische glückselige Freude, mit der man frei von allen Schleiern ist. 

Du hast über die Möglichkeit der Erfahrung von Menschen im Bereich zwischen Freude und Leid, zwischen Glück und Unglück gesprochen. Unterscheidet sich dieser Bereich bei verschiedenen Menschen und kann man ihn ändern?

Dieser Bereich ist für jede Person etwas anders, aber er ist auf das menschliche Spektrum von Freude und Leid begrenzt.

Vielleicht habt ihr schon davon gehört, dass ich in meiner Arbeit zwischen Dharma-Light und dem „echten“ Dharma unterscheide, so wie es auch Coca-Cola Light und die „echte“ Coca-Cola gibt. Die Dharma-Light-Version der sechs Daseinsbereiche besagt, dass es sich bei allen um psychologische Zustände handelt, die Menschen erleben können; sie sind sozusagen metaphorisch. Diese Sichtweise ist völlig in Ordnung, aber sie ist nicht wirklich der „echte“ Dharma. Gewiss gibt es manche Menschen, die intensiveres Leid und Unglück erfahren, als andere. Wenn wir jedoch im Buddhismus von den sechs Daseinsbereichen der Wesen sprechen, geht es um verschiedene Wiedergeburtszustände jenseits der erfahrungsbezogenen Grenzen der menschlichen Beschränkungen. 

Beim echten Dharma ist es unerlässlich, über dieses Leben und diese Lebensform hinaus zu denken. Unsere geistigen Kontinua sind fähig, weit größere Schmerzen und Leiden zu erfahren, als irgendein Mensch jemals dazu in der Lage wäre, ohne bewusstlos zu werden. Wir müssen aufrichtiges Mitgefühl für die begrenzten Wesen all dieser Daseinsbereiche entwickeln. Wir nehmen es sehr ernst und wollen die Ursachen für das Erfahren dieser Art von Leiden herausfinden. Wir wollen es wirklich vermeiden, noch mehr Ursachen dafür zu schaffen. Wenn wir bereits die Ursachen dieser Leiden haben, wollen wir sie loswerden. Das ist der wesentliche Punkt. Es spielt schlicht und ergreifend keine Rolle, wie diese Höllenwesen aussehen oder wo sie leben.

Was wir als Glück erleben, kann zu Leid werden und was wir als Leid erleben, kann zu Glück werden. Sind Glück und Leid wie zwei Seiten einer Medaille?

Es ist nicht so, dass unser Erfahren von Glücklichsein selbst ein Erfahren von Unglücklichsein ist. Vielmehr könnte es sich von einem Augenblick zum nächsten ändern. Ein Augenblick des Glücklichseins kann im nächsten Moment ein Augenblick des Unglücklichseins werden. Das nennt man dann „das Leiden der Veränderung“.

Wir können auch negative Umstände in positive verwandeln, aber das ist etwas anderes. Wenn wir beispielsweise unseren Knöchel verstauchen, erfahren wir das mit körperlichen Schmerzen und Leiden. Vielleicht sind wir nicht in der Lage, die körperlichen Schmerzen zu beenden, aber wir können das unglückliche Gefühl, mit dem wir die Schmerzen erfahren, zum Stillstand bringen, indem wir es auf andere Weise betrachten. Zum Beispiel können wir darüber nachdenken, wie viel Glück wir hatten, dass wir uns nicht das Bein gebrochen, sondern nur den Knöchel verstaucht haben, und glücklich darüber sein. 

Des Weiteren ist es notwendig, aufwühlende Gefühle von nicht-aufwühlenden Gefühlen zu unterscheiden. Ist das Gefühl von Glücklichsein oder Unglücklichsein mit Verwirrung verbunden, neigen wir dazu, es hochzuspielen und eine große Sache daraus zu machen. Wir fügen der Verwirrung Begierde hinzu und dramatisieren dieses Gefühl, indem wir denken: „Ich muss diese Schmerzen beseitigen. Sie sind das Schlimmste, was es gibt“, oder „Ich muss an diesem Genuss festhalten. Er ist die wunderbarste und schönste Sache der Welt.“ Das ist ganz klar ein aufwühlendes Gefühl, mit dem wir unseren inneren Frieden verlieren. Aber wir können Glücklichsein und Unglücklichsein auch ohne Verwirrung auf nicht-aufwühlende Weise erleben. Mit anderen Worten: wir können diese verschiedenen Dinge, die wir erleben, einfach als glückliche und unglückliche Gefühlszustände betrachten. Es ist keine große Sache und daher nicht aufwühlend. Natürlich würden wir es vorziehen, nicht unglücklich zu sein, aber dieser Wunsch ist nicht von dem verzweifelten Verlangen begleitet, es beseitigen zu müssen.

Gefühle bewegen sich auf und ab; das ist die Natur von Samsara. Es geht darum, keine große Sache aus ihnen zu machen – sie sind nichts Besonderes. Vielleicht müssen wir jeden Morgen zur Arbeit gehen und manchmal erleben wir diese Pflicht mit Gefühlen des Glücklichseins, während es uns an anderen Tagen unglücklich macht. Was damit? Wir gehen trotzdem zur Arbeit. Wir machen keine große Sache daraus, wenn wir unglücklich sind, weil wir zur Arbeit gehen müssen. Wir gehen einfach und regen uns deswegen nicht auf. „Ich bin nicht begeistert, zur Arbeit gehen zu müssen; na und?“ So sollten wir es sehen, aus nichts eine große Sache machen und einfach alles als nichts Außergewöhnliches betrachten.

Freude und Leid, sowie Glück und Unglück 

Es ist wichtig, die Fachausdrücke zu präzisieren. Freude und Leid sind körperliche Empfindungen im Aggregat der Formen physischer Phänomene. Gefühle des Glücklichseins und Unglücklichseins sind entweder Geisteszustände, die eine Sinneserfahrung begleiten – nicht nur körperliche Empfindungen, sondern auch etwas zu sehen, zu hören, zu riechen und zu schmecken – oder Geisteszustände, die die Erfahrung einer geistigen Handlung, wie über etwas nachzudenken oder sich an etwas zu erinnern, begleiten.

Wir können körperliche Schmerzen mit einem Gefühl des Glücklich- oder des Unglücklichseins erfahren. Es gibt beispielsweise körperliche Behandlungen, wie Tiefenmassagen, bei denen das Motto ist: wenn es nicht wehtut, hilft es auch nicht. Schmerzt die Massage in bestimmten Problembereichen, sind wir glücklich, weil wir wissen, dass sie diese verspannten Muskeln auflockern wird. Hier geht es um die Dimension des Glücklichseins und des Unglücklichseins, das die körperliche Empfindung oder den Geisteszustand begleitet. Ich hoffe, es ist nun etwas klarer, was mit physischem und geistigen Glücklichsein und Unglücklichsein gemeint ist. Kommen wir wieder zurück zu den restlichen Aggregaten.

Das Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins 

Das dritte Aggregat ist das Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrsein. In jedem Augenblick bestimmen wir ein charakteristisches Merkmal eines Objektes, entweder der Form eines physischen Phänomens oder eines geistigen Objektes. Wir betrachten ein charakteristisches Merkmal, das etwas zu einem gültig erkennbaren Objekt macht, als verschieden von anderen Dingen in unserem Sinnesbereich.

Doch was heißt das? Betrachten wir einen Raum, sehen wir eine ganze Ansammlung von farbigen Formen. Das ist es, was wir tatsächlich sehen. Würden wir ein Foto davon machen und es auf dem Computer betrachten, würden wir eine Ansammlung farbiger Pixel sehen. Wir sehen jedoch nicht nur farbige Formen, sondern auch allgemein verständliche Objekte. Wie verbinden wir diese farbigen Formen miteinander, damit sie in unserer Wahrnehmung zu individuellen, allgemein verständlichen Objekten werden? Lasst uns untersuchen, wie wir das tun.

Wenn wir uns in einem Raum umsehen und all die verschiedenen farbigen Formen betrachten, wie können wir manche dieser farbigen Formen zu dem Objekt eines menschlichen Gesichts zusammenfügen? Wie sind wir in der Lage zu vermeiden, diese farbigen Formen mit jenen farbigen Formen der Wand daneben zu verbinden und zu versuchen, ein Objekt daraus zu machen? Es gibt keine soliden Linien, welche diese farbigen Formen umrahmen und eine bestimmte Gruppe von ihnen einem Objekt zuordnen, während eine andere Gruppe zu einem anderen Objekt gehört. Im Grunde ist es ziemlich faszinierend, wie das funktioniert. 

Wenn wir im Sinnesbereich nicht eine Art von charakteristischem Merkmal bestimmen, das uns erlaubt, ein erkennbares Objekt und ein anderes erkennbares Objekt auseinanderzuhalten, ist es hoffnungslos. Ohne das sind wir nicht in der Lage, all diese Informationen aufzunehmen und zu verstehen, was wir in dem Sinnesbereich erfahren und ohne diese Fähigkeit handelt es sich lediglich um eine unbegreifliche Ansammlung von farbigen Formen, wie in einem abstrakten Gemälde. Das ist schon erstaunlich, nicht wahr?

Dieser Geistesfaktor des auseinanderhaltenden Gewahrseins tritt in jedem einzelnen Augenblick auf und es geht darum, wie wir farbige Formen zu Objekten zusammenfügen. Wir tun es, indem wir charakteristische Eigenschaften, so genannte „definierende charakteristische Merkmale“ in ihnen bestimmen. Wir müssen das Objekt vorher nicht einmal gesehen haben oder wissen, um welches Objekt es sich handelt, welchen Namen es hat oder welches Wort wir dafür benutzen. Dennoch ist es uns möglich etwas Neues zu sehen, das wir nie zuvor gesehen haben, und es von der Wand und dem Tisch auseinanderzuhalten. Wir können auch erkennen, dass sich dort etwas auf dem Tisch befindet. Wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was es sein könnte, aber etwas ist da.

Aus diesem Grund ist eine häufige Übersetzung dieser Fähigkeit, das so genannte „Aggregat des Erkennens“ irreführend. Um etwas erkennen zu können, muss man es bereits vorher erlebt haben. Wir vergleichen das, was wir jetzt erleben, mit unseren früheren Erfahrungen und erkennen es dann. Etwas zu erkennen oder „wiederzuerkennen“ (engl. „re-cognize“) heißt, es erneut zu erkennen. Darum geht es jedoch nicht. Wir beziehen uns auf etwas viel Grundlegenderes, wozu sogar kleine Babys in der Lage sind. Sie können heiß und kalt auseinanderhalten, sowie hell und dunkel. Sie haben natürlich keinen Namen dafür, aber dennoch halten sie etwas innerhalb eines Sinnesbereiches von anderen Dingen auseinander. Wir müssen es nicht einmal als ein Objekt bestimmen, sondern können einfach diese Farbe und jene Farbe auseinanderhalten. Im Wesentlichen ist es das Gewahrsein einer charakteristischen Eigenschaft von etwas. In Bezug auf den Ort und die Daseinsweise dieser charakteristischen Merkmale gibt es eine tiefgreifende philosophische Diskussion, aber damit müssen wir uns hier nicht befassen.

All dies gilt auch für das Denken. Wenn wir irgendetwas denken, müssen wir fähig sein, das charakteristische Merkmal der Sache zu bestimmen, über die wir denken, denn wie könnten wir sonst darüber nachdenken? Wir halten sie und alles andere, über das wir nachdenken könnten, auseinander. Dieser Vorgang findet auch innerhalb all der Sinnesbereiche statt. Wir hören die Geräusche des Verkehrs und das Geräusch eines Vogels. Wir halten es nicht für ein Objekt, von dem zur gleichen Zeit das Geräusch des Verkehrs und das des Vogelgesangs kommt, sondern halten beide auseinander.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Notwendigkeit Worte auseinanderzuhalten. Wenn wir in einer Sprache die Worte und die Sprachgeräusche nicht auseinanderhalten können, hören wir einfach nur eine Aneinanderreihung von Klängen. Kennen wir die Sprache, oder wenigstens einen kleinen Teil davon, können wir anfangen, die Wörter in dieser Sprache zu bestimmen, auch wenn wir vielleicht nicht einmal wissen, was die Wörter bedeuten. Das Auseinanderhalten findet ständig statt. Es geht nicht um das Erkennen, denn wir vergleichen nicht etwas, das wir jetzt wahrnehmen, mit etwas anderem, das wir bereits aus der Vergangenheit kennen. 

Im Grunde sind wir in der Lage, Einheiten und erkennbare Objekte auseinanderzuhalten. Nehmen wir zum Beispiel die chinesische Sprache. Da gibt es Klänge im Chinesischen, die das westliche Ohr nicht einmal auseinanderhalten kann, während ein Chinese mühelos zwei völlig verschiedene Töne hört und so zwei Worte bestimmen kann. Hört euch nur so zum Spaß einmal diese Worte an: „Ma Mama ma ma ma, ma ma Ma Mama ma?“ Hierbei handelt es sich tatsächlich um den chinesischen Satz: „Hat Frau Ma das Pferd angeschrien oder hat das Pferd Frau Ma angeschrien?“ Wir sind nicht einmal ohne Weiteres in der Lage, die verschiedenen Töne auseinanderzuhalten, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Worten.

Innerhalb der verschiedenen Sinnesbereiche bestimmen wir gleichzeitig und ununterbrochen viele Dinge. Lasst uns dazu eine Übung machen, um dieses Aggregat weiter zu verdeutlichen. Seht euch in diesem Raum um und richtet euch nun einzig und allein auf den visuellen Sinnesbereich. Versucht zu erkennen, wie wir aus den farbigen Formen, die wir sehen, verschiedene Objekte bestimmen. Wenn ihr eine Brille tragt, nehmt sie ab; dann ist es tatsächlich so, als würde man ein abstraktes Gemälde betrachten. Wir können keines der Objekte bestimmen. Aber wenn wir die Brille wieder aufsetzen, ist es uns möglich. Versucht dieses Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins zu erkennen und zu sehen, dass es nichts damit zu tun hat, Dinge zu benennen oder zu wissen, um was es sich handelt. Wir halten lediglich ein Objekt und ein anderes Objekt auseinander, sowie ein Objekt und dessen Hintergrund. Das ist es, was auseinanderhaltendes Gewahrsein bedeutet.

[Pause]

Verschiedene Ebenen des Auseinanderhaltens 

Unsere Fähigkeit Dinge auseinanderzuhalten kann auch bei verschiedenen Menschen in verschiedenen Situationen unterschiedlich sein. Man kann uns beispielsweise eine bestimmte Menge an Daten zum Verhalten einer Person zur Verfügung stellen, aber dadurch sind wir entweder in der Lage, ein bestimmtes charakteristisches Merkmal dieses Verhaltens zu bestimmen, um es als erkennbares Objekt, wie Depression, Paranoia oder Ähnliches zu verstehen, oder auch nicht. Könnten wir es korrekt bestimmen, würde uns das befähigen zu wissen, wie wir mit der Person umgehen müssen. Wir müssen also in der Lage sein, ein charakteristisches Merkmal zu bestimmen und es zu einem erkennbaren Objekt zusammenzufügen.

Zum Beispiel können wir erkennen, dass etwas mit unserem Freund nicht stimmt. Was geschieht hier genau? Wir bestimmen eine Art charakteristisches Merkmal in ihrem oder seinem Verhalten, dem Blick, dem Klang der Stimme usw. Vielleicht wissen wir nicht ganz genau, was los ist, aber indem Dinge einander zuordnen, können wir es erkennen und daraus schlussfolgern, dass irgendetwas los ist. Wir sind in der Lage, ein gültig erkennbares Objekt zu bestimmen. Manchmal geschieht dies jedoch auf fälschliche Weise. Wir ordnen Dinge einander zu, die nicht zusammengehören.

Wie kommen wir zu dieser fälschlichen Art des Auseinanderhaltens? Vielleicht ordnet jemand verschiedene Aspekte unseres Verhaltens einander zu und hält sie für ein gemeinsames charakteristisches Merkmal, obwohl sie gar nichts miteinander zu tun haben. Im Falle von Paranoia mag jemand denken: „Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Person mag mich nicht. Sie hat etwas gegen mich.“ Hier gibt es einige Varianten: Wir könnten meinen, dass etwas nicht stimmt und tatsächlich gibt es ein Problem, aber wir identifizieren es auf fälschliche Weise. Oder wir könnten denken, dass irgendetwas nicht stimmt, obwohl eigentlich alles in Ordnung ist. Das sind die zwei Möglichkeiten des fälschlichen Auseinanderhaltens.

Das Auseinanderhalten ist ein ausschlaggebender Teil eines jeden Augenblicks unserer Erfahrung, ohne das unsere Erfahrung einfach zu abstrakt wäre. Nehmen wir uns noch einen Moment Zeit, um das einwirken zu lassen.

[Pause]

Auseinanderhaltendes Gewahrsein ist die Grundlage für unterscheidendes Gewahrsein 

Ich denke, dass wir als Menschen mit diesem Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins die Möglichkeit haben zu versuchen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Glück und Leid zu bewirken. Wie kommt es, dass wir im menschlichen Bereich fähig sind, die Motivation und den Wunsch für eine bessere Wiedergeburt hervorzubringen oder Samsara ganz den Rücken zuzukehren? Wie geschieht das?

Der Grund, warum Menschen sich in einer besseren Lage befinden, was das Entwickeln des Wunsches Leiden zu beseitigen und Befreiung zu erlangen betrifft, als irgendwelche andere Lebensformen, liegt an einem weiteren Geistesfaktor eines anderen Aggregates. Es geht ganz einfach um die Intelligenz und etwas fachlicher ausgedrückt um das unterscheidende Gewahrsein.

Als menschliche Wesen sind wir dazu in der Lage, zwischen dem was nützlich ist und dem was schädlich ist zu unterscheiden. Das muss sich bei den Tieren nicht immer nur auf unmittelbare Dinge beziehen. Zum Beispiel wissen die meisten Tiere, dass es schädlich wäre, ins Feuer zu laufen. Eine Motte hingegen hat dieses Unterscheidungsvermögen nicht und fliegt direkt ins Feuer. Zweifellos sind manche Tiere zu einem gewissen Grad in der Lage, korrekt zu unterscheiden, jedoch nicht in dem Umfang wie wir Menschen. Wir haben dieses Unterscheidungsvermögen und das ist Intelligenz. 

Es ist jedoch nicht dasselbe, wie das Auseinanderhalten. Zunächst gilt es beispielsweise, die verschiedenen Arten des Verhaltens zu bestimmen und erst dann können wir zwischen denen unterscheiden, welche auf lange Sicht nützlich und welche schädlich sein werden. Das Auseinanderhalten ist demzufolge die Grundlage für unterscheidendes Gewahrsein.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama betont immer wieder, dass die menschliche Intelligenz unser größtes Geschenk ist. Wir müssen unsere Intelligenz nutzen. Dieser ganze Faktor des unterscheidenden Gewahrseins ist von großem Interesse. Es ist doch erstaunlich, dass wir nicht nur in der Lage sind, zwischen dem was nützlich und dem was schädlich ist unterscheiden zu können, sondern auch Korrektes von Falschem trennen können. 

Seine Heiligkeit fragte einmal eine Gruppe von Neurowissenschaftlern, wie man aus einer rein-physiologischen, chemischen oder elektrischen Sichtweise den Unterschied zwischen den Denkweisen: „eins plus ein ist zwei“ und „eins plus eins ist drei“ erklären könnte. Die Wissenschaftler meinten, es gäbe wirklich keinen physischen Unterschied zwischen diesen zwei Denkweisen. Das ist ein Hinweis darauf, dass es da mehr als nur einen physischen Vorgang gibt. Das ist es, was wir im Buddhismus als „Geist“ bezeichnen, der in der Lage ist, unterscheidendes Gewahrsein zwischen dem was korrekt und dem was fehlerhaft ist zu haben. „Eins plus eins ist zwei“ ist korrekt, während „eins plus eins ist drei“ falsch ist. Wir können dies jedoch nicht einfach auf der Basis eines Enzephalogramms oder einer Computertomographie wissen.

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