Die anfängliche Stufe der Mahamudra-Meditation

Die Definition des Geistes: allgemeine Überlegungen

Da wir die vorbereitenden Übungen nun behandelt haben, werden wir uns jetzt der tatsächlichen Praxis der Mahamudra zuwenden – der Meditation über die Natur des Geistes. Wenn wir das Thema der Natur des Geistes ansprechen, müssen wir natürlich zuerst einmal erforschen, was mit ,Geist’ gemeint ist. Das liegt daran, dass wir, wenn wir gebeten werden, uns auf die Natur des Geistes oder auf den Geist selbst zu fokussieren und darüber zu meditieren, es nicht unbedingt offensichtlich finden, was wir eigentlich tun sollen. Um dies zu untersuchen, müssen wir einen genaueren Blick auf die Definition für ,Geist’ im Buddhismus werfen.

Sobald wir uns die Standarddefinition anschauen, entdecken wir, dass sich die Bedeutung dieses Wortes im Buddhismus von der Bedeutung unserer entsprechenden westlichen Worte ziemlich unterscheidet. Selbst in westlichen Sprachen gibt es keinen Konsens über die Bedeutung von ,Geist’. Betrachten wir nur das Englische und das Deutsche, dann gibt es einen großen Unterschied zwischen dem englischen Wort ,mind’ und dem deutschen Wort ,Geist’. ,Geist’ beinhaltet auch ,Seele’, „Gesinnung“ oder ,Mut’, die in der englischen Vorstellung von ,Geist’ nicht enthalten sind. Die klassischen buddhistischen Sprachen Asiens, Sanskrit und Tibetisch, sprechen über etwas, dass sich vom Englischen wie Deutschen ziemlich unterscheidet, und der Unterschied zwischen dem, was sie mit ,Geist’ meinen und was die entsprechenden westlichen Begriffe bedeuten, ist wesentlich größer als der zwischen den entsprechenden englischen und deutschen Begriffen. Die Frage, wie man das buddhistische Konzept in ein westliches Wort übersetzen soll ist eindeutig eine große Herausforderung.

In westlichen Sprachen machen wir eine klare Unterscheidung zwischen Geist und Herz beziehungsweise Intellekt und Gefühlen. Wir verstehen die intellektuelle, rationelle Seite als ,Geist’ und die emotionale, intuitive Seite als ,Herz’, das sich vom Geist ziemlich unterscheidet. Viele Menschen im Westen würden sagen, dass ein Hund zwar Emotionen hat, aber keinen Geist. Im Buddhismus lassen wir jedoch zwischen Intellekt und Emotionen keine so große Lücke klaffen. Wir fassen die Aufgaben der beiden unter der Rubrik eines Wortes zusammen – ,chitta’ auf Sanskrit oder ,sem’ auf Tibetisch – und schließen auch alle Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören, Riechen und so weiter in ihren Aufgabenbereich mit ein. Obgleich wir also ,chitta’ oder ,sem’mit dem englischen Wort ,mind’ oder dem deutschen Wort ,Geist’ übersetzen, beinhalten die Sanskrit- und tibetischen Begriffe einen viel weiter gefassten Bedeutungsspielraum als ihre englischen oder deutschen Übersetzungen.

Das Problem ist nicht auf westliche Sprachen beschränkt. Mongolisch unterscheidet auch zwischen intellektueller und emotionaler Seite, benutzt jedoch im Unterschied zum Englischen und Deutschen den Begriff für die emotionale Seite, ,setgil’, in buddhistischen Texten. Auch die chinesischen Übersetzer wählten ein Wort, das Herz bedeutet, ,xin’, das auch die Japaner akzeptierten und benutzten. Die Frage, was Geist ist, bringt viele grundlegende kulturelle Unterschiede über die Sicht der Welt zu Tage.

Wenn wir nach einem besseren Synonym für die Indo-tibetischen Begriffe in europäischen Sprachen suchen, wäre das Äquivalent, das ihnen am nächsten kommt, vielleicht das Wort ,Erfahrung’, obgleich auch dieses Wort nicht ganz präzise ist. Wir schließen in die Bedeutung hier nicht Erfahrung im Sinne von Vertrautheit und Sachkenntnis durch Wiederholung mit ein, wie im Falle von: „Dieser Arzt hat sehr viel Erfahrung.“ Darüber hinaus legt ,eine Erfahrung mit etwas machen’ oder ,etwas erleben’ in westlichen Sprachen nahe, dass man Emotionen darüber verspürt, seien sie positiv oder negativ. Wir haben das Gefühl, dass wir etwas nicht tief gehend erfahren haben, wenn wir uns nicht bewusst auf einer emotionalen Ebene davon berührt fühlen. Das ist in der buddhistischen Bedeutung auch nicht beinhaltet. Es gibt auch keine Andeutung einer Bewertung, wie im Falle von: „Ich habe aus dieser Erfahrung viel gelernt.“ Im buddhistischen Kontext ist Erfahrung einfach das, was uns widerfährt, was immer sich ereignet.

In der buddhistischen Diskussion über den Geist sprechen wir nun nicht über ein gewisses ,Ding’ oder ein Organ, das sich in unserem Kopf befindet, wie das Gehirn; noch über einen räumlichen Begriff, wie es im westlichen Ausdruck nahe gelegt wird: „Stelle dir im Geiste dieses oder jenes vor“ – als wäre der Geist eine Bühne oder ein Raum in unserem Kopf, durch den Gedanken marschieren oder in dem Erinnerungen gespeichert werden. Stattdessen sprechen wir über eine Art Ereignis, das auf der Basis des Gehirns und des Nervensystems stattfindet.

Was geschieht, wenn wir etwas sehen, hören oder denken? Obgleich wir in der Lage sein mögen, das Geschehen biochemisch oder elektrochemisch zu erklären, können wir es auch subjektiv beschreiben. Letzteres ist es, was wir im Buddhismus mit ,Geist’ meinen. Wenn wir etwas sehen, hören, denken oder emotional fühlen, gibt es Moment für Moment eine Erfahrung. Das ist es, was geschieht. Darüber hinaus hat Erfahrung immer einen Inhalt. Eine gleiche Weise, dies auszudrücken, ist: „Der Geist hat immer ein Objekt.“ Tatsächlich wird ,Geist’ auf Sanskrit und Tibetisch auch ,das, was ein Objekt hat’ genannt.

Die Nicht-Dualität von Subjekt und Objekt

Buddha lehrte die Nicht-Dualität von dem, was ein Objekt hat, und dessen Objekt – gewöhnlich übersetzt als die ,Nicht-Dualität von Subjekt und Objekt’. Wir müssen diesen Punkt korrekt verstehen, sonst denken wir vielleicht fälschlicherweise, dass Buddha sich selbst widersprach, als er auch lehrte, dass der Geist immer ein Objekt besitzt. Wir denken vielleicht, dies bedeute, dass beides dadurch, dass es unterschiedlich ist, eine Dualität darstellt. Wenn wir uns über den Tisch ärgern, bedeutet die Nicht-Dualität von Subjekt und Objekt jedoch nicht, dass mein Ärger der Tisch ist. Nicht-Dualität lässt den Geist und seine Objekte nicht völlig identisch werden, sie macht sie nicht zu ein- und demselben.

Erfahrung hat immer einen Inhalt. Wir können keine Erfahrung machen, ohne etwas zu erfahren. Ein Gedanke existiert nicht ohne das Denken des Gedankens, und niemand kann denken, ohne einen Gedanken zu denken. Nicht-Dualität bedeutet daher, dass diese beiden Dinge – der Geist und sein Objekt oder die Erfahrung und ihr Inhalt – in jedem Moment als Entität zusammenkommen. In einer einfachen, alltäglichen Sprache könnten wir sagen, eins wird beim anderen immer mitgeliefert. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Daher bezieht sich ,Geist’ im Buddhismus immer auf Erfahrung einschließlich ihres Inhalts.

Klarheit – das Erscheinen der Inhalte einer Erfahrung

Die buddhistische Standarddefinition für Geist oder Erfahrung enthält drei Worte: ,Klarheit’, ,Gewahrsein’ und ,bloß’. Sie wird üblicherweise als ,bloße Klarheit und Gewahrsein’ übersetzt. Da jedes Wort der Definition von Bedeutung ist, müssen wir jedes sorgfältig untersuchen. Schauen wir uns erst einmal den Begriff ,Klarheit’ an.

Der wichtigste Punkt, den wir zur Kenntnis nehmen sollten, ist, dass wir dieses Wort als ein auf einem Verb beruhendes Substantiv mit einem Objekt verstehen müssen und nicht als ein quantitatives Substantiv, das sich auf etwas bezieht, das sich messen lässt. Klarheit ist nicht eine Art von Licht in unserem Kopf, das wechselnde Intensität besitzt. Es ist eher die Handlung oder das Auftreten der Handlung, dass man sich über etwas im Klaren ist oder etwas klar macht. Etwas klar zu machen bedeutet jedoch nicht, dass es sich um einen bewussten Willensakt handelt. Es geschieht einfach. Es kommt hinzu, dass das Wort ,klar’ selbst auch irreführend ist. Untersuchen wir auch dessen Bedeutung.

,Klarheit’ wird im Tibetischen mit ,aufgehend’, ,erscheinend’ oder ,aufdämmernd’ erläutert – demselben Wort, dass für das Aufgehen oder Dämmern der Sonne benutzt wird. ,Sich über etwas im Klaren sein’ oder ,etwas klar machen’ bezieht sich dann auf das ,Erscheinen’ von etwas oder das Ereignis, dass man etwas ,zum Erscheinen bringt’, wobei hier wiederum nicht von einem passiven Vorgang die Rede ist, für den man keine Verantwortung trägt, aber andererseits auch nicht von einem bewussten Willensakt. Der Ausdruck ,etwas erscheinen lassen’ reduziert das Mitschwingen dieser beiden Extreme vielleicht auf ein Minimum.

Was geschieht, wenn wir etwas erleben? Da ist das Erscheinen-Lassen von etwas. Um es einfacher auszudrücken: „Der Geist lässt etwas erscheinen“. Das ist besser als zu sagen: „Etwas taucht auf“. ,Etwas taucht auf’ legt zu große Betonung auf das, was auf Seiten des Objekts geschieht, wohingegen der Akzent mehr auf der Seite des Subjekts liegen sollte. Der Satz: „Der Geist lässt etwas erscheinen“ hat jedoch auch seine Unzulänglichkeiten. Er ist nur eine bequeme Ausdrucksweise. Der Geist ist kein ,Etwas’, kein ,Ding’, daher gibt es in Wirklichkeit keinen Handelnden, der etwas erscheinen lässt. Das Wort ,Geist’ ist einfach ein Begriff, mit dem man im Geiste das Auftreten des subjektiven Ereignisses des Erscheinen-Lassen von etwas bezeichnet.

Wenn wir etwas erleben, lässt der Geist einen Anblick, einen Klang, einen Geruch, einen Geschmack, eine haptische oder körperliche Empfindung, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Emotion oder einen Traum erscheinen. Selbst wenn wir schlafen und nicht träumen, lässt der Geist eine Dunkelheit erscheinen. Subjektiv tritt immer irgendetwas in Erscheinung. Das, was auftaucht, muss jedoch nicht unbedingt direkt erscheinen. Wenn wir hören, dass die dicke Dame tagsüber nichts isst, wissen wir, dass sie nachts essen muss, weil sie dick ist. Unser Geist zeigt uns jedoch nicht ihren Anblick, während sie nachts isst, auch wenn das Verständnis dieser Tatsache entsteht.

Der größte Nachteil am Gebrauch des Wortes ,Klarheit’ in diesem Zusammenhang besteht darin, dass ,Klarheit’ nahe legt, dass das, was klar ist, deutlich sichtbar ist, wenn es sich um etwas Visuelles handelt, oder verstanden wird, wenn es um ein Konzept geht. Doch das ist nicht unbedingt der Fall. Wenn wir unsere Brille abnehmen und jemanden anschauen, gibt der Geist etwas Verschwommenes wieder (lässt er Verschwommenes erscheinen), und wenn wir nicht verstehen, was jemand sagt, lässt er Verwirrung erscheinen. In beiden Fällen ist da das Erscheinen von etwas. Konventionell gesehen wäre es merkwürdig zu sagen, etwas Verschwommenes oder Verwirrung sei etwas Klares.

Gewahrsein – sich mit dem Inhalt einer Erfahrung befassen

Das Erscheinen, insbesondere von Abbildungen, tritt auch bei einem Spiegel, einer fotografischen Platte oder einem Computer-Bildschirm auf. Um den Geist von einem Spiegel zu unterscheiden, wird der Definition daher das nächste Wort, ,Gewahrsein’, hinzugefügt. Auch dies ist wieder ein auf einem Verb beruhendes Substantiv mit einem Objekt und nicht ein quantitatives Substantiv. Es bedeutet, ,sich einer Sache gewahr zu sein’ oder ,etwas zum Objekt des Gewahrseins zu machen’, jedoch nicht unbedingt bewusst als willentliche Handlung.

Der englische Begriff ,awareness’ (bzw. der deutsche Begriff ,Gewahrsein’ oder ,Bewusstsein’) ist jedoch auch irreführend. Der tibetische Begriff wird als ein Sichbefassen mit (engl.: ,engaging’) oder ,In-Beziehung-Treten mit einem Objekt’ erklärt. Anders als das englische Wort ,engagement’ (das auch ,Verpflichtung’ oder ,Verlobung’ bedeutet) sowie ,Beziehung’, hat das Tibetische jedoch nicht den Beigeschmack einer emotionalen Verbundenheit. Einen gewissen Abstand zu etwas zu haben ist auch eine Form, wie man auf etwas eingehen oder mit etwas in Beziehung treten kann. Das tibetische Wort, das hier als ,Sichbefassen’ oder ,Beziehung’ übersetzt wird, bedeutet wörtlich, ,sich in etwas hineinbegeben’. Es bedeutet, dass man etwas Kognitives mit einem Objekt tut, wie zum Beispiel etwas zu hören, zu denken oder zu fühlen. Das ist es, was passiert, wenn wir etwas erleben oder erfahren. Etwas taucht auf und man befasst sich damit auf kognitive Weise. Es gibt das Erscheinen eines Anblicks und ihn zu sehen, das Erscheinen eines Gedankens und ihn zu denken und so weiter. Um es uns einfacher zu machen – und mit allen zuvor erwähnten Einschränkungen – können wir sagen, dass der Geist etwas erscheinen lässt und es begreift.

Das englische Wort ,awareness’ (bzw. der deutsche Begriff ,Gewahrsein’ oder ,Bewusstsein’) ist hier in dem Sinne irreführend, dass er nahe legt, dass wir etwas verstehen und uns seiner bewusst sind. Doch das ist nicht zwangsläufig der Fall. Etwas nicht zu verstehen ist genauso eine Form, sich mit einem Objekt zu befassen, wie es zu verstehen. Wir können eine Sache erleben, ganz gleich, ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht. Wir können zum Beispiel mit jemandem reden und dabei unbewusst feindselig sein. Selbst wenn unsere Feindseligkeit unbewusst ist, existiert sie doch. Wir erleben sie und sie führt zu einer Wirkung. Die gesamte Bandbreite des buddhistischen Konzepts, das gewöhnlich als ,awareness’ beziehungsweise ,Gewahrsein’ übersetzt wird, ist viel umfangreicher als das entsprechende englische oder deutsche Wort.

In jedem Moment taucht also etwas auf und es gibt eine kognitive Beschäftigung damit. Diese beiden treten jedoch nicht einer nach dem anderen auf. Es ist nicht so, dass zunächst ein Gedanke auftaucht und wir ihn erst dann denken. Der Prozess besteht nicht darin, dass zwei Ereignisse aufeinander folgen, sondern dass zwei Funktionen gleichzeitig auftreten. Der Geist lässt einen Gedanken erscheinen und denkt ihn gleichzeitig. Das geschieht jeden Moment bei jedem Wesen, das einen Geist hat. Das ist es, was wir nicht nur im Leben sondern auch im Tod erfahren.

Bloß

Das dritte Wort der Definition, ,bloß’ oder ,lediglich’, gibt das Minimum vor, das vorhanden sein muss, damit eine Erfahrung zustande kommt. Der Geist muss lediglich etwas erscheinen lassen und sich auf irgendeine Weise kognitiv damit befassen. ,Bloß’ bedeutet daher, dass es nicht nötig ist, dass ein bedeutsames Maß an Aufmerksamkeit auf die Inhalte der Erfahrung vorhanden ist – bzw. dass man sich ihrer bewusst ist, wie man in westlichen Begriffen sagen würde. Es schließt auch die Notwendigkeit für das Vorhandensein eines bedeutenden Maßes an Verständnis, Emotion oder Bewertung aus. Eine Erfahrung ist einfach ein kognitives Ereignis.

Traumloser Tiefschlaf ist somit auch eine Erfahrung. Wir können nicht sagen, dass wir, wenn wir schlafen und nicht träumen, keinen Geist mehr haben, oder dass der Geist nicht mehr arbeitet. Wäre der Geist im Schlaf abgeschaltet, wie könnte er dann jemals den Klang des Weckers hören, um sich wieder einzuschalten? Die Erfahrung des Tiefschlafs beinhaltet also, dass der Geist eine Dunkelheit erscheinen lässt und sich in der Weise damit befasst, dass er völlig darin vertieft ist, mit nur minimaler Aufmerksamkeit auf Sinneswahrnehmungen.

Zudem schließt das Wort ,bloß’ oder ,lediglich’ auch das Vorhandensein von Folgendem aus: 1) einem soliden, konkreten ,Ich’ oder ,Geist’ in unserem Kopf, die Erfahrungen als Handelnde erleben oder kontrollieren, 2) einem soliden, konkreten Objekt als Inhalt ,da draußen’, der erfahren wird, sowie 3) einer soliden, konkreten ,Erfahrung’, die zwischen beiden auftritt. Kognitive Ereignisse geschehen lediglich. Konventionell können wir sagen, dass ,ich’ die ,Erfahrung’ von ,diesem’ oder ,jenem’ mache, und subjektiv hat es diesen Anschein, doch keines der beteiligten Dinge kann unabhängig von den anderen existieren. Mit anderen Worten, die drei Bereiche, die an einer Erfahrung beteiligt sind – ein Subjekt (entweder eine Person oder der Geist), ein Inhalt und eine Erfahrung selbst – sind alle frei von dieser unmöglichen Existenzweise. ,Bloß’ schließt jedoch nicht aus, dass Erfahrungen tatsächlich gemacht werden und immer individuell sind. Genau wie Tsongkhapa in seiner Darstellung der Leerheit betont hat, dass wir uns davor hüten müssen, zu viel oder zu wenig zu widerlegen, müssen wir auch mit dem Wort ,bloß’ vorsichtig umgehen, um weder zu viel noch zu wenig auszuschließen.

Zusammenfassung der buddhistischen Definition des Geistes

Um es zusammenzufassen: Mit ,Geist’ ist im Buddhismus eine Erfahrung gemeint, nämlich das bloße Erscheinen und Sichbefassen mit den Inhalten von Erfahrungen. Die Kontinuität der Erfahrungen nennt man Geistesstrom oder ,geistiges Kontinuum’. Sie ist immer individuell, und jeder Moment einer Erfahrung folgt aus vorangegangenen Momenten von Erfahrung, entsprechend der karmischen Gesetze verhaltensbedingter Ursache und Wirkung. Es gibt eine Ordnung im Universum, und ,meine’ Erfahrung ist nie ,deine’ Erfahrung. Wenn ich erlebe, wie ich eine Mahlzeit zu mir nehme, werde ich und nicht du als nächstes die körperliche Empfindung des Sattseins erleben. Buddhismus postuliert keinen universellen oder kollektiven Geist.

Das nie endende Ereignis des Erscheinens und sich Befassens – Moment für Moment – aus dem Erfahrung besteht, bezieht sich also auf das Erscheinen eines Anblicks und ihn lediglich zu sehen, das Erscheinen eines Klangs und ihn lediglich zu hören, das Erscheinen eines Gedankens und ihn lediglich zu denken, das Erscheinen einer Emotion und sie lediglich zu fühlen und so weiter. Das ist die konventionelle Natur des Geistes – er lässt Dinge erscheinen und begreift sie. Seine tiefste Natur ist seine Leerheit, nämlich dass er leer oder frei davon ist, auf jegliche unmögliche Weise zu existieren: sowohl frei davon, selbst eine physische Entität zu sein, bis dahin, dass er frei davon ist, ein solides, festes Subjekt, einen festen Inhalt oder eine solide Erfahrung mit sich zu bringen. Solch ein Geist, mit diesen beiden wahren Naturen – oder ,zwei Wahrheiten’ – ist das Thema der Mahamudra-Meditation.

Die Natur der Mahamudra-Meditation

Damit wir uns richtig mit der Mahamudra-Meditation über die Natur des Geistes befassen können, müssen wir nicht nur die Bedeutung des Geistes klar verstehen, sondern auch, was es bedeutet, über etwas zu meditieren (engl.: meditate on something). ,Meditieren über etwas’ ist hier nicht im örtlichen Sinne gemeint, wie dass wir über oder auf einem Kissen meditieren. Noch ist, etwas abstrakter, gemeint, dass wir auf der Grundlage von etwas meditieren. Mahamudra-Meditation wird nicht bloß auf der Grundlage der Natur des Geistes durchgeführt, sie ist Meditation, die sich auf diese Natur konzentriert. Im Deutschen besteht (im Gegensatz zum Englischen) diese Verwirrung nicht, weil es zwei Präpositionen gibt, die mit dem Verb ,meditieren’ benutzt werden können, nämlich ,über’ und ,auf’, wohingegen es im Englischen nur eine gibt, nämlich ,on’.

Im Allgemeinen bedeutet Meditation, durch mit Aufmerksamkeit gekoppelte Wiederholung einen nützlichen Geisteszustand oder eine hilfreiche Geisteshaltung aufzubauen. Das Tibetische erklärt es mit den Worten „sich mit etwas vertraut machen oder an etwas gewöhnen”, während der ursprüngliche Sanskrit-Begriff einfach ,veranlassen, dass etwas ist’ bedeutet. Es gibt zwei Hauptarten von Meditation. Wenn wir über eine Visualisation eines Buddha meditieren, fokussieren wir uns auf ein Objekt. Meditieren wir andererseits über Liebe, richten wir uns nicht auf ein Objekt aus, sondern bleiben fokussiert, während wir uns in einem bestimmten Geisteszustand befinden. Wir können entweder bewusst einen Geisteszustand erwecken, der vorher nicht da war, wie im Falle von Liebe, oder uns mit Aufmerksamkeit fokussieren, während wir uns in einem Geisteszustand befinden, der immer vorhanden ist. Meditation über die Natur des Geistes ist ein Beispiel für Letzteres.

Wenn wir über die Natur des Geistes meditieren, ist der mit einer Erfahrung verbundene, von Moment zu Moment ablaufende Prozess des bloßen Erscheinens und Sichbefassens mit den Inhalten der Erfahrung kein statisches Objekt, auf das wir uns fokussieren, wie bei einer Visualisation eines Buddhas, und nicht einmal ein bewegliches Objekt wie bei einer tantrischen Sadhana-Praxis, wo wir einen fließenden Ablauf von Bildern visualisieren, während wir einen Text oder Mantras rezitieren. Noch ist es der Fall, dass wir uns aufmerksam fokussieren, während wir uns in einem Geisteszustand wie Liebe befinden, die wir erzeugt und erweckt haben. (Erzeugt und erweckt in dem Sinne, dass wir darauf hingearbeitet haben, sie zu fühlen – indem wir uns entweder direkt oder mit Hilfe der Erinnerung auf eine Argumentationskette gestützt haben, z.B. „Alle Wesen waren in vorangegangenen Leben meine Mutter und haben mir Güte erwiesen“). Wir müssen die Natur des Geistes nicht künstlich erwecken oder herstellen. Sie ist immer vorhanden. Erfahrung geschieht ständig – wir müssen nicht veranlassen, dass sie geschieht.

Mit der Meditation über den Geist fokussieren wir uns daher aufmerksam auf etwas, das die ganze Zeit geschieht und schon immer vorhanden war. Doch das ist nicht so zu verstehen, dass man den Prozess beobachtet. Das hieße wiederum, den Geist zu einem Objekt zu machen, wie bei einer Visualisation, und würde bewusst oder unbewusst auf der falschen Vorstellung von einer Dualität zwischen einem Beobachter und dem Ereignis, das geschieht, beruhen. Stattdessen fokussieren wir uns aufmerksam, aber uns dabei übermäßig unserer selbst bewusst (und damit befangen) zu werden, darauf, uns in diesem Prozess zu befinden – wir tun es einfach ,geradewegs und von vorne bis hinten’, wie meine Mutter sagen würde.

Die Analogie einer Taschenlampe

Da es sehr schwierig ist, richtig zu verstehen, was wir mit Mahamudra-Meditation tun sollen, wollen wir sie uns anhand der Analogie einer Taschenlampe betrachten. Wenn wir etwas mit der Taschenlampe anstrahlen, gibt es drei Punkte, auf die wir unsere Aufmerksamkeit legen können: auf das, was im Licht erscheint, auf denjenigen, der die Taschenlampe hält, oder auf die Taschenlampe selbst. Uns auf das zu konzentrieren, was von dieser Taschenlampe erhellt wird, ist wie wir normalerweise durchs Leben gehen. Wir sind in den Inhalten unserer Erfahrungen gefangen. Wir betreten das Zimmer unseres Kindes und sehen, dass überall Kleider und Spielsachen herumliegen. Wir fixieren uns darauf und fangen an zu schreien. Wir werden so ärgerlich, weil wir uns im Inhalt unserer Erfahrung – dem Sehen des unaufgeräumten Zimmers – verfangen und darin stecken bleiben. Wir konzentrieren uns nur auf das, was die Taschenlampe erhellt.

Wir können das Leben auch aus der Perspektive desjenigen betrachten, der die Taschenlampe hält. Mit solch einer Sichtweise nehmen wir Abstand von der Erfahrung und sitzen im subjektiven Sinne in unserem Hinterkopf und beobachten einfach, was passiert. Das ist eine Gefahr, die auftreten kann, wenn wir den Vipassana-Stil der Vergegenwärtigungsmeditation (Achtsamkeitsmeditation) auf eine unausgewogene Weise praktizieren. Um unsere Erfahrung auseinander zu nehmen und uns der Moment für Moment stattfindenden Vergänglichkeit oder Veränderung gewahr zu werden, merken wir – manchmal sogar mit Worten im Geiste – an, dass jetzt diese Empfindung auftaucht, dass sie nun vergeht, dass jetzt eine andere auftaucht und so weiter. Lediglich anzumerken: „Jetzt sehe ich dies und jetzt sehe ich jenes“, kann jedoch leicht zu dem Extrem verkommen, dass wir lediglich beobachten, dass das Zimmer unseres Kindes schmutzig ist und ihm weder sagen, es solle es aufräumen, noch es selbst in Ordnung bringen.

Bei der Mahamudra-Meditation konzentrieren wir uns weder auf das, was die Taschenlampe anstrahlt, noch auf denjenigen, der die Taschenlampe hält. Stattdessen schauen wir vom Standpunkt der Taschenlampe selbst. In gewissem Sinne konzentrieren wir uns darauf, die Taschenlampe zu sein. Doch was heißt das, sich darauf zu konzentrieren, die Taschenlampe zu sein? Es bedeutet nicht nur, lediglich den Prozess des Erscheinen-Lassens der Erscheinung oder des Auftretens von etwas zu beobachten – es heißt, es einfach zu tun. Es ist jedoch weder ein ,Es-Tun’ auf eine aktive, willentliche Weise, noch ein bloßes passives Geschehenlassen, als könnten wir es kontrollieren, würden uns aber zurückhalten und dies nicht tun. Es gibt keinen Kontrollfaktor, nicht einmal in dem Sinne, dass der Prozess „außer Kontrolle“ wäre, was uns in Angst und Furcht versetzen könnte. Noch bedeutet es, es völlig geistlos zu tun, wie eine Kuh, die die Wand einer Scheune anschaut. Es bedeutet, es mit vollkommener Klarheit und Gewahrsein zu tun, im Sinne der gewöhnlichen Bedeutung dieser beiden Worte – mit klarem geistigen Fokus und aufmerksamem Gewahrsein. Wir versuchen, uns mit Frische, Gewahrsein, Wachheit und voller Aufmerksamkeit auf jeden Moment unserer Erfahrung, zu fokussieren, und ohne uns dabei übermäßig unserer selbst bewusst zu werden und ohne uns entweder in dem, was wir erleben oder darin, dass wir es sind, der es erlebt, zu verfangen.

Video: Mingyur Rinpoche — „Gegenmittel für das Zeitalter der Angst“
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Die anfänglichen Stufen der Mahamudra-Meditation

Auch wenn Mahamudra-Praxis einfach zu sein scheint – „Komme einfach im natürlichen Zustand des Geistes zur Ruhe“ – ist es tatsächlich äußerst schwierig, dies auf richtige Weise zu tun. Wenn es so einfach wäre, bräuchte man keine vorbereitenden Praktiken, um geistige Hindernisse zu vermindern und positive Kraft aufzubauen. Doch selbst mit einem Minimum an vorbereitenden Praktiken können wir unsere Praxis auf einer anfänglichen Stufe beginnen, wie es zum Beispiel in „Die Beseitigung der Dunkelheit der Unwissenheit durch Mahamudra“ vom neunten Karmapa erklärt wird.

Die erste Stufe der Praxis besteht darin, mit der Erfahrung des Sehens von etwas zu arbeiten. Mahamudra-Meditation wird immer mit weit offenen Augen gemacht. Wir schauen überall um uns herum, langsam, und sind einfach die Taschenlampe, wobei wir uns aufmerksam auf den kognitiven Prozess fokussieren, der mit dem bloßen Erscheinen und Sichbefassen mit einem Anblick geschieht. Auch hier sollten wir uns daran erinnern, dass ,Prozess’ hier keine Abfolge von Handlungen oder Ereignissen bezeichnet, sondern eine einzige Handlung oder ein Ereignis, die zwei gleichzeitige Aspekte beinhalten, ein Erscheinen und ein Sichbefassen, ohne eine bewusst handelnde Kraft, die will, dass sie geschehen oder die sie willentlich geschehen lässt. Es gibt eine großen Unterschied zwischen der Entscheidung, den Fokus unserer Aufmerksamkeit zu einem anderen Objekt zu wechseln, auf der einen Seite und – während wir uns auf das Objekt fokussieren – dem willentlichen Herbeiführen auf der anderen Seite, dass der Anblick des Objekts auftaucht und wir es sehen. Letzteres passiert von allein, oder?

Dann untersuchen wir vom Standpunkt der Taschenlampe aus den Unterschied zwischen dem Sehen einer Wand oder eines Fußbodens, oder etwas Blauem oder etwas Gelbem. Was ist der Unterschied, wenn wir die Vase voller Blumen auf dem Tisch sehen oder die schmutzigen Teller daneben, mit zerknüllten, fleckigen Servietten, durchweicht von den auf ihnen liegenden Essensresten? Vom Standpunkt dessen, dass es sich um ein Erscheinen und ein Sichbefassen mit dem Inhalt einer Erfahrung – einem Anblick – handelt, gibt es einen Unterschied in Hinsicht auf den kognitiven Prozess selbst?

Vom Standpunkt der Taschenlampe aus gibt es keinen Unterschied. Wenn wir uns im Inhalt verfangen, verwickeln wir uns emotional auf eine Weise, die uns aus der Ruhe bringt. Wenn wir sie jedoch aus dem Blickwinkel der Taschenlampe selbst erfahren, besteht kein Grund zur Aufregung, weder durch Anziehung und Anhaftung noch durch Ablehnung und Ärger. Wir hören auf, vom Inhalt unserer Erfahrung so besessen zu sein und konzentrieren uns stattdessen auf den Erfahrungsaspekt des Erlebten.

Wir können dasselbe Experiment an schwierigeren Beispielen ausprobieren. Was ist der Unterschied dazwischen, eine Person zu sehen oder die benachbarte Wand, eine Person zu sehen oder ein Foto einer Person, einen Mann zu sehen oder eine Frau, jemanden zu sehen, der hübsch ist, oder jemanden, der hässlich ist, ein Kind zu sehen, das schläft, oder ein Kind, das unartig ist, unseren besten Freund/unsere beste Freundin zu sehen oder unseren schlimmsten Feind, ein gedrucktes Wort zu sehen oder ein leeres Blatt Papier, etwas in einer Sprache geschrieben zu sehen, die wir kennen, oder in einer, die wir nicht kennen, etwas in einem Alphabet geschrieben zu sehen, das wir kennen, oder in einem, das wir nicht kennen, etwas im Fernsehen zu sehen oder etwas, das sich direkt neben dem Fernseher befindet, und so weiter? Wir sollten mit unserer Meditation kreativ umgehen.

Wir müssen jedoch vorsichtig sein, wenn wir dies tun. Wir wollen uns nicht ausschließlich auf den Erfahrungsaspekt, getrennt vom Inhalt, fokussieren, denn dann reagieren wir auf gar nichts mehr und gehen auf nichts mehr ein. Vom Standpunkt des kognitiven Prozesses stimmt es, dass es keinen Unterschied macht, ob wir sehen, dass ein Auto die Straße entlang kommt, oder sehen, dass nichts kommt. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass es vom Standpunkt dessen, dass wir die Straße überqueren wollen, einen sehr großen Unterschied macht. Ignorieren wir den konventionellen Blickwinkel und bleiben im Erfahrungsaspekt des Sehens stecken, kann es leicht passieren, dass wir von einem Auto überfahren werden, wenn wir versuchen, die Straße zu überqueren. Zu glauben, es würde auf allen Ebenen keinen Unterschied machen, und dann nicht auf die Unterschiede einzugehen, die tatsächlich vorhanden sind, heißt, dass man in das Extrem verfällt, sich auf den Erfahrungsaspekt eines Erlebnisses zu fixieren, als sei er von seinem Inhalt getrennt. Wir müssen daher beide Extreme vermeiden, sowohl uns zu sehr im Inhalt einer Erfahrung zu verfangen als auch uns zu sehr davon zu trennen.

Haben wir das Sehen von Anblicken untersucht, gehen wir durch eine ähnliche Prozedur mit dem Hören von Klängen. Was ist der Unterschied dazwischen, den Gesang eine Vogels oder das Geräusch von Verkehr zu hören, den Klang von Musik oder die wahllosen Trommelschläge eines Kindes, sanfte Musik oder den Bohrer eines Zahnarztes, ein Lied, das wir mögen, oder eines, das wir hassen, eine Stimme oder den Wind, die Stimme eines Menschen, den wir lieben, oder eines Menschen, den wir nicht ausstehen können, Worte, die wir verstehen können, oder Worte, die uns unverständlich sind, ein Mücke, die um unseren Kopf summt, oder eine, die sich neben unserem Ohr auf der anderen Seite des Fliegengitters befindet, und so weiter? Dann machen wir dasselbe mit einer Auswahl von Gerüchen, wie von parfümiertem Puder und den schmutzigen Windeln des Babys, dann mit Geschmack, wie dem einer Apfelsine und dem von Essig, dann mit Tastempfindungen wie zum Beispiel dem Kitzeln und starkem Kratzen unserer Handfläche. Dann wenden wir uns verschiedenen Gedanken zu, wie auf Worten beruhenden und bildhaften Gedanken, verschiedenen Gefühlen, wie Glück oder Traurigkeit, verschiedenen Emotionen, sowohl positiven als auch störenden wie Liebe und Hass, sowie verschiedenen Ebenen von konzentrierten meditativen Zuständen mit geistiger Stille. Dem folgend vergleichen wir Sinne wie Sehen und Hören, und dann den Geist, wenn er in Konzentration zur Ruhe gekommen ist und wenn er sich mit Gedanken bewegt. Zum Schluss sitzen wir einfach und gehen durch dieselbe Prozedur mit jeglicher Erfahrung, die durch irgendeinen der Sinne oder den Geist allein auftaucht. Wir bleiben aufmerksam beim Prozess des bloßen Erscheinens und Sichbefassens, ohne uns im Inhalt zu verfangen, noch ihn völlig zu ignorieren. Das ist die erste Stufe der Mahamudra-Praxis.

Nutzen der anfänglichen Stufen der Praxis

Sogar wenn wir in unserer Mahamudra-Praxis nicht weiter als bis hier kommen, ist diese anfängliche Stufe selbst äußerst nützlich und hilfreich. Wir fahren in den Urlaub an den Strand und nehmen ein Hotelzimmer. Wir kommen in das Zimmer und die Sicht aus dem Fenster ist schrecklich. Wir können nur die Seite des nächsten Gebäudes sehen und werden sehr ärgerlich. Dann machen wir diese Art der Meditation. Was ist der Unterschied dazwischen, eine schöne Aussicht zu haben oder eine hässliche? Vom Standpunkt des Sehens ist es einfach nur Sehen. So zu denken hilft uns, nicht zu sehr daran zu hängen oder wütend zu werden. In einem ruhigen Geisteszustand wenden wir dann Shantidevas Rat auf unsere Situation an: „Wenn wir unser Zimmer wechseln können, warum sollten wir uns ärgern? Lass es uns einfach wechseln. Und wenn wir unser Zimmer nicht wechseln können, warum sollten wir uns ärgern? Es wird uns nichts helfen. Außerdem, was macht es schon für einen Unterschied, welchen Ausblick wir haben. Wenn wir das Meer sehen wollen, können wir nach oben ins Dachrestaurant oder nach draußen gehen.“

Angenommen es gelingt uns, das Zimmer zu wechseln und eines zu bekommen, das Aussicht zum Strand hat. Wir betreten das Zimmer und hören den Lärm des Verkehrs auf der viel befahrenen Straße vor dem Hotel und ärgern uns von neuem. Noch einmal fokussieren wir uns darauf, welchen Unterschied es macht, ob wir den Verkehr hören oder die Wellen. Dann wenden wir können wir noch einmal Shantidevas Rat anwenden. Oder falls wir entscheiden, dass wir uns nicht die Mühe machen wollen, das Zimmer noch einmal zu wechseln, sondern einfach dieses behalten, erinnern wir uns an die erste wahre Tatsache des Lebens: Das Leben ist schwierig! Ohne wirksame Methoden anzuwenden, damit wir mit unserer Situation umgehen können, werden wir uns nur den gesamten Urlaub verderben.

Die anfängliche Stufe der Mahamudra-Praxis kann daher eine der wirksamsten Methoden sein, um mit Lärm umzugehen. Indem wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit, statt uns morbide darauf zu versteifen, vom Lärm selbst wegnehmen und auf den kognitiven Prozess richten, nämlich das bloße Erscheinen eines Klangs und das Hören dessen, erkennen wir, dass das Erscheinen des Verkehrslärms nur das Erscheinen eines weiteren Geräusches ist und das Hören dessen nur eine weitere Erfahrung des Hörens. Mehr ist es nicht. Wenn wir unsere Ausrichtung auf diese Weise ändern erleben wir dasselbe Ereignis – das Hören des Verkehrslärms – subjektiv in einer völlig anderen Qualität. Mit unserer Erfahrung des Hörens des Lärms kann nun ein neutrales Gefühl einhergehen, geistiger Frieden oder sogar ein Gefühl von Glück statt Wut, Unglücklichsein und Selbstmitleid.

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