Das Selbst und Karma: Schuld versus Verantwortung

Das Selbst in Bezug auf unsere Diskussion über Karma 

Das Selbst oder „Ich“ definieren

Nun können wir unsere Diskussion über das Selbst, das „Ich“, beginnen und darüber reden, wie es mit dem, worüber wir bereits gesprochen haben, in Verbindung steht. Wir haben gesehen, dass all die verschiedenen Komponenten karmischer Ursache und Wirkung während einer Handlung, nach der Handlung und während der Zeit des Resultats den fünf Aggregaten zugeordnet werden können. Ein Aggregat ist eine Kombination zahlreicher Faktoren und diese machen jeden Moment unserer Erfahrung aus. Die fünf Aggregate umfassen alle nichtstatischen Phänomene. Statische Phänomene, wie Kategorien und Leerheit, gehören nicht zum Schema der fünf Aggregate.

Das Selbst oder „Ich“, das nichtstatisch ist, ist Teil der fünf Aggregate und wird dem Aggregat der anderen beeinflussenden Variablen zugeordnet. Es ist nicht getrennt von den fünf Aggregaten, sondern Teil dieser fünf. Es ist ein nichtstatisches Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage all der anderen Komponenten aller fünf Aggregate. Als solches ist es weder die Form eines physischen Phänomens, noch eine Weise, sich etwas gewahr zu sein.

Wir haben gesehen, dass es viele Arten nichtstatischer Zuschreibungsphänomene gibt, die weder Formen physischer Phänomene, noch Weisen, sich etwas gewahr zu sein, sind und sich von einem Augenblick zum nächsten ändern. Andere Beispiele neben einer Person oder einem „Ich“ sind das Alter, die Zeit und die Geschwindigkeit. Aus der Sautrantika-Sicht, wie sie in den Gelug-Traditionen erklärt wird, sind diese Zuschreibungsphänomene objektive Entitäten und können nicht-konzeptuell wahrgenommen werden. Wir können zum Beispiel eine Person sehen. Wir sehen nicht nur Pixel, farbige Formen und einen Körper, sondern sehen auch eine Person. 

Zuschreiben, Benennen und geistiges Bezeichnen

Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem so genannten Zuschreiben, Benennen und geistigen Bezeichnen, obwohl es sich dabei im Tibetischen um das gleiche Wort handelt. Daher benutze ich für alle drei als allgemeinen Begriff das Wort „Zuschreibungsphänomen“. Da es verwirrend sein kann, wenn wir sie nicht unterscheiden, werde ich es kurz erklären. 

Für Zuschreibungsphänomene, die nichtstatisch sind, benutze ich das Wort Zuschreiben. Dabei handelt es sich um objektive Entitäten, die nicht-konzeptuell erkannt werden können. Obwohl einige Zuschreibungsphänomene Formen physischer Phänomene sein können, wie ein ganzes Objekt, und manche Weisen, sich etwas gewahr zu sein, wie eine Stimmung, sind andere, wie eine Person, weder die Form eines physischen Phänomens, noch eine Weise, sich etwas gewahr zu sein. Beschränken wir also unsere Diskussion nur auf diese. 

Wir können eine Person sehen oder ein sich bewegendes Objekt, das eine bestimmte Geschwindigkeit hat. Wir können einen Satz hören. Denken wir jemals darüber nach? Wir hören immer nur die winzig kleine Silbe eines Klangs und nicht den ganzen Satz auf einmal; dennoch wäre es komisch zu sagen, dass wir den Satz nicht hören oder verstehen, was Menschen sagen. Ein Satz ist eine objektive Entität und kann nicht-konzeptuell durch Hören erkannt werden. 

Ob jemand einen Satz hört oder nicht, spielt keine Rolle. Wir sagen trotzdem einen Satz, wenn wir sprechen. Ob jemand denkt, dass sich hier eine Person befindet oder nicht, wir sind trotz allem eine Person. Das sind objektive Entitäten und es ist egal, ob andere sie sehen oder erkennen. Das ist objektive Realität.

Ist die Rede von geistigem Bezeichnen, hat das etwas mit statischen Kategorien zu tun. Beim Benennen geht es um Worte, die Kategorien zugeschrieben werden. Kategorien können nur konzeptuell und nicht nicht-konzeptuell erkannt werden. Ob jemand uns sieht oder an uns denkt, spielt keine Rolle. Wir sind trotz allem eine Person. Ein Konzept oder eine Kategorie erscheint jedoch nur, wenn jemand daran denkt. Genauso verhält es sich mit dem Namen oder Wort für etwas. Es tritt nur auf, wenn wir tatsächlich an ein Element denken, das zu einer Kategorie mit diesem Namen passt. Sowohl Kategorien als auch deren Namen oder Bezeichnungen sind ausschließlich mit konzeptueller Wahrnehmung verbunden. Hier geht es nicht darum, zu hören, wie jemand ein Wort sagt – das Hören ist nicht-konzeptuell.

Konzeptuelle Wahrnehmung geschieht durch das Nutzen einer Kategorie, während nicht-konzeptuelle Wahrnehmung ohne Kategorien auskommt. Eine Kategorie ist wie eine geistige Schublade. Wir haben beispielsweise die Kategorie „Hund“ und daher nehmen wir alle Tiere mit bestimmten Eigenschaften als Wesen wahr, die in diese Kategorie eines Hundes passen. Wir müssen das Wort „Hund“ nicht mit ihnen in Verbindung bringen. Hunde haben keine Worte dafür, die mit dieser Kategorie in Verbindung gebracht werden, doch als Menschen haben wir ein Wort, das wir damit verbinden. Im Englischen bezeichnen wir sie „dog“, im Deutschen als „Hund“ und im Russischen gibt es ein anderes Wort dafür. Das sind konzeptuelle Prozesse, die etwas damit zu tun haben, welcher Kategorie ein Tier zuzuordnen ist. Objektiv handelt es sich um einen Hund; es ist keine Katze. Das Erkennen oder Wahrnehmen dieses Tieres als ein Hund findet jedoch statt, indem wir es der Kategorie „Hund“ zuordnen. 

Wenn wir dieses Ding dort drüben mit vier Beinen sehen, ist es nicht nichts. Es ist kein Stuhl, sondern ein Hund. Wir sehen einen Hund und ob wir wissen, dass es ein Hund ist oder nicht, spielt keine Rolle. Es ist trotzdem ein Hund und kein Stuhl, und es ist auch kein Nichts. Das ist konventionelle oder allgemein verständliche Realität. Ihn also als einen Hund zu erkennen und ihn einer Kategorie zuzuordnen, ist geistiges Bezeichnen, und zu wissen, wie man ihn nennt, ist das Benennen mit einem Wort. 

Es gibt Objekt-Kategorien, wie ein Hund, und es gibt auch so genannte Hörkategorien. Wenn jemand das Wort „Hund“ ausspricht, egal wie laut, mit welcher Stimme oder Aussprache, können wir verstehen, dass es in die Hörkategorie des Klanges dieses Wortes passt. Ansonsten würden wir nicht in der Lage sein, verschiedene Menschen zu verstehen, die eine Sprache sprechen. 

Es gibt auch eine bedeutungsbezogene Kategorie, die wir mit der Hörkategorie verbinden. So funktioniert die Sprache. Es ist konzeptuell und genauso verhält es sich mit dem Lesen eines geschriebenen Wortes. Wie ist das möglich? Nehmen wir zum Beispiel das geschriebene Wort „Hund“. Unabhängig von dem Font, der Größe, der Farbe oder Schreibschrift, in der das Wort erscheint, ordnen wir es der Kategorie des Wortes „Hund“ zu und verbinden es mit einer bedeutungsbezogenen Kategorie. 

Dasselbe gilt für das Selbst, das „Ich“. Ein Selbst ist eine nichtstatische Zuschreibung. Wir müssen die objektive Zuschreibung „Ich“ von der konzeptuellen geistigen Bezeichnung „Ich“ und dem konzeptuellen Wort „Ich“ oder unserem eigenen Namen unterscheiden. Es sind ganz andere Arten von Phänomenen.

Ein Experiment zur Analyse des Selbst als eine Zuschreibung 

Ein wirklich interessantes Experiment besteht darin, eine Reihe von Fotos vor uns hinzulegen, die uns selbst in den verschiedenen Phasen unseres Lebens zeigen, vom Säugling bis hin zu dem, was wir jetzt sind. Wen zeigen diese Fotos? Sie alle zeigen „mich“ als eine Zuschreibung dieser Fotos. Objektiv bin ich es und nicht ein anderer. 

Wie wissen wir, dass sie alle mich zeigen, denn sie sehen doch alle ziemlich anders aus? Wir haben eine konzeptuelle Kategorie des „Ichs“ und ordnen all diese Fotos dieser Kategorie zu. Sie alle zeigen „mich“ und passen in diese Schublade „Ich“ und nicht in die Schublade „Du“. Wir kennen unseren Namen und können der Kategorie „Ich“ einen Namen geben und ihn dann auf all die Fotos anwenden. Gibt es jedoch eine Reihe von Fotos einer anderen Person, können wir vielleicht erkennen, dass es sich dabei um Fotos derselben Person handelt und sie in die Kategorie einer individuellen Person gehören, aber kennen vielleicht nicht ihren Namen. Die Kategorie zu benennen ist optional.

Es ist äußerst wichtig und fundamental, den Unterschied zwischen diesen drei Begriffen zu verstehen. Alle drei beziehen sich auf das gleiche Wort im Tibetischen, weil sie alle eine bestimmte Eigenschaft miteinander teilen. Sie können alle nur auf der Basis einer Grundlage der Zuschreibung existieren und können nicht getrennt davon erkannt werden, zunächst auch diese Grundlage und dann die Grundlage zusammen mit ihnen wahrzunehmen. Es ist nicht einfach, das zu verstehen, doch ungeachtet dessen sind das Zuschreiben, geistige Bezeichnen und Benennen ganz unterschiedliche Dinge.

Der Unterschied zwischen dem konventionellen Selbst und dem falschen Selbst

Wenn wir uns dieser Unterschiede bewusst sind, beginnen wir, die Eigenschaften des Selbst zu untersuchen. Es gibt das konventionelle Selbst, welches das nicht zu widerlegende Selbst ist, und es gibt das falsche Selbst, welches widerlegt wird. Dieses falsche Selbst halten wir für eine festgelegte Entität, getrennt von allen und allem anderen, doch im Grunde entspricht dies nichts Realem. Es gibt eine völlige Abwesenheit von etwas, das ihm entspricht. Diese Abwesenheit nennt man Leerheit, eine völlige Abwesenheit – es existiert nicht, hat nie existiert und wird nie existieren.

Zur Weihnachtszeit gibt es in Moskau Menschen, die sie als Weihnachtsmann verkleiden und das ist ein gutes Beispiel. Es gibt eine Person, die sich als Weihnachtsmann verkleidet. Sie sieht aus wie der Weihnachtsmann, aber sie ist nicht wirklich der Weihnachtsmann, weil es so etwas wie den Weihnachtsmann nicht gibt. Dennoch ist sie trotz allem eine Person, eine Person, die wie etwas aussieht, dass es nicht gibt: den Weihnachtsmann. Er entspricht nicht der Realität. Das ist der Unterschied zwischen dem konventionellen Selbst, der Person, die wie der Weihnachtsmann aussieht, und dem falschen Selbst, das tatsächlich der Weihnachtsmann ist. 

Dies ist im Grunde das Svatantrika-Madhyamaka-Verständnis, aber es ist ein guter Beginn, die Leerheit zu verstehen. Das Prasangika-Beispiel wäre eine Karikatur des Weihnachtsmanns. Die Karikatur sieht wie der Weihnachtsmann aus, aber sie ist nicht der Weihnachtsmann, weil es so eine Person nicht gibt. Hören wir jedoch auf, den Weihnachtsmann zu untersuchen, gibt es dennoch Personen. Bleiben wir aber beim Svatantrika-Beispiel, da es leichter zu verstehen ist.

Das Selbst, das Karma erlebt, im Gegensatz zum falschen Selbst

Es gibt das konventionelle „Ich“, das Karma erlebt, was der Person entspricht, die sich als Weihnachtsmann verkleidet. Und dann gibt es das falsche „Ich“, welches ein furchtbarer Mensch ist, der schuldig ist und an allem, was er erfährt, die Schuld trägt. Diese furchtbare Person entspricht dem Weihnachtsmann selbst. Das konventionelle „Ich“ ist derjenige, der verantwortlich ist und sich mit dem auseinandersetzen muss, was geschieht und wie er darauf reagiert. Das falsche „Ich“, der Weihnachtsmann, ist derjenige, der schuldig ist und für alles, was er erfährt, die Schuld trägt. Doch tatsächlich gibt es niemanden, der schuldig ist, weil derjenige, den wir uns als Schuldigen vorstellen, nicht der Realität entspricht. Es gibt niemanden, der die Ursache von allem ist, das ihm widerfährt oder das er erlebt, die einzige Ursache, wie in dem Beispiel der Person, die dachte: „mein Team hat das Fußballspiel verloren, weil ich dort war.“

Eigenschaften der fünf Aggregate: Die Grundlage der Zuschreibung des Selbst

Schließlich ist es notwendig zu verstehen, was das Selbst, das „Ich“, ist. Das Selbst ist eine Zuschreibung des Kontinuums der fünf Aggregate. Die fünf Aggregate kennt man als die Grundlage der Zuschreibung. Ihre Eigenschaften bestehen darin, dass sie nichtstatisch sind – sie ändern sich von einem Augenblick zum nächsten – und dass sie nicht-monolithisch sind. Sie bestehen aus vielen Teilen, die sich alle unterschiedlich schnell ändern. Ein Körper, sogar ein toter Körper, existiert nicht getrennt und unabhängig davon, der Körper einer Person zu sein. Dasselbe gilt auch für die anderen Aggregate. Ein Geist, Wut, Glücklichsein und so weiter können nicht getrennt und unabhängig davon existieren, der Geist, die Wut oder das Glück einer Person zu sein.

Das Selbst ist eine Zuschreibung der Aggregate, welche diese Eigenschaften haben, genau wie auch deren Grundlage die gleichen Eigenschaften hat. Wie die Aggregate, die nichtstatisch sind und sich ständig ändern, ändert sich auch das Selbst fortwährend. Würde es sich nicht ständig ändern, könnte es von nichts beeinflusst werden, das ihm widerfährt und wäre nicht in der Lage, irgendetwas in Erwiderung zu tun. Es könnte nicht der Ausführende karmischer Impulse sein, könnte keine karmische Hinterlassenschaft aufbauen und könnte nichts als dessen Resultat erfahren, wenn es sich nicht von einem Augenblick zum nächsten ändern würde. 

Wie die Aggregate ist das Selbst nicht monolithisch oder teilelos, denn wenn es teilelos wäre, könnte es nicht die zwei unterschiedlichen Aspekte des „Ichs“ haben, das die Handlung ausführt, und des „Ichs“, das die Resultate erfährt. Es sind Teile, die sich auf einen Zeitraum erstrecken. 

Wäre ein Selbst unabhängig und könnte getrennt und unabhängig von einem Körper und einem Geist existieren, würde es in der Lage sein, Dinge ohne einen Körper zu tun. Es könnte ohne einen Geist über Dinge nachdenken. Und der Körper könnte selbst Dinge ohne irgendeine Absicht tun, aber dem ist nicht so. Des Weiteren wäre das Selbst, das „Ich“, in der Lage, destruktive Dinge zu tun und würde nicht die Resultate seiner Handlungen erfahren.

Daher gibt es kein statisches, teileloses und unabhängiges Selbst, das getrennt von den fünf Aggregaten ist – ein Selbst, das innerhalb von Körper und Geist lebt und diese bedient, als wären sie sein Besitz. So ein Selbst ist das, was ich als solides „Ich“ oder falsches „Ich“ bezeichne. Es gibt eine einfache Weise, solch ein Selbst zu beschreiben: es ist ein solides, festgelegtes „Ich“, das sich nie ändert und keine Teile hat. Es ist ein solides, monolithisches Ding, das unabhängig ist. Es geht in den Körper und den Geist ein und bedient diese wie eine Maschine, um Dinge zu tun. Auf diese Weise begeht es karmische Handlungen, ohne dafür verantwortlich zu sein, die Konsequenzen zu erfahren. Das ist Unsinn und entspricht nicht der Realität. Es fühlt sich jedoch so an. Es fühlt sich so an, als gäbe es da ein „Ich“, ein Ding in unseren Köpfen, das redet und die Stimme in unserem Geist ist, die sagt: „Das sollte mir nicht passieren. Das ist nicht fair. Ich bin nicht gut genug.“ Diese Stimme lamentiert und sagt all diese Dinge. 

Grobe Selbstlosigkeit: Die grobe Leerheit einer Person

Die völlige Nichtexistenz und Abwesenheit von allem, das diesem falschen konzeptuellen Konstrukt eines statischen, teilelosen, unabhängigen Selbst entspricht, ist das, was man als die grobe Selbstlosigkeit oder Identitätslosigkeit einer Person kennt – quasi die grobe Leerheit einer Person.

Der Prozess, um die grobe Leerheit von uns selbst als einer Person im Kontext von Karma zu verstehen, besteht darin, dass wir zunächst all die Komponenten des Karmas, dessen Hinterlassenschaft und Resultate kennen sollten. Dann dekonstruieren wir die Momente unserer Erfahrung in die fünf Aggregate und ordnen diese Aspekte des Karma ihnen zu. Dann untersuchen wir das „Ich“, das eine Zuschreibung auf der Grundlage der fünf Aggregate ist, die all diese Aspekte des Karma beinhalten. Wir versuchen zu erkennen, dass genau wie die fünf Aggregate, die als die Grundlage für das Selbst nichtstatisch sind, Teile haben und nicht unabhängig von einem Selbst existieren können, auch das Selbst oder „Ich“ als eine Zuschreibung auf der Grundlage von ihnen allen in jedem Augenblick auch nichtstatisch ist, Teile hat und nicht unabhängig und getrennt von diesen Aggregaten existieren kann. Ein Selbst, eine Person, kann nicht getrennt von einem Körper, einem Geist, Emotionen und so weiter existieren. Das ist die Art des Selbst, das Karma erfährt.

Das ist die erste Ebene, die gröbste Ebene des Verständnisses der Leerheit des konventionellen „Ichs“ als eine Zuschreibung, sowie dessen, was es wirklich als eine nichtstatische Zuschreibung einer vielteiligen, sich ständig ändernden Grundlage bedeutet. Das ist der erste Schritt, das falsche „Ich“ zu dekonstruieren.

Die nächste Ebene, die wir dekonstruieren müssen, ist die, dass es sich so anfühlt, als könne das Selbst ganz für sich erkannt werden. Es scheint eigenständig erkennbar zu sein und es fühlt sich so an, als könnten wir es wahrnehmen und kennen, ohne zunächst einige der Aggregate zu kennen, welche die Grundlage der Zuschreibung in einem bestimmten Moment sind, und dann gleichzeitig die Grundlage und das Selbst. Wenn eine Person, wie zum Beispiel das „Ich“, nur für sich erkannt werden könnte, und ich hätte jemanden verletzt, könnte ich getrennt von dem, was ich getan habe, leben und erkannt werden. Ich könnte mich selbst als jemanden sehen, der nie etwas falsch gemacht hat und ich hätte Recht. Doch damit würde ich mir selbst etwas vormachen, nicht realistisch sein und nicht die Verantwortung für meine Handlungen übernehmen. Die Abwesenheit eines eigenständig erkennbaren „Ichs“ ist die subtile Selbstlosigkeit einer Person oder die subtile Identitätslosigkeit einer Person.

Die dritte Ebene, die es zu dekonstruieren gilt, ist das Missverständnis, das Selbst oder „Ich“ hätte eine selbst-begründete, so genannte „inhärente“ Existenz und eine selbst-begründete Identität als „der Schuldige, der beschuldigt werden muss.“ Wie begründen wir, dass es da ein Selbst gibt und dass wir existieren? Wir untersuchen unsere Aggregate – unseren Körper, unseren Geist, unsere Emotionen usw., doch wir können in keinem von ihnen etwas finden, das uns zu einem „Ich“ macht. Auch wenn wir unsere einzigartigen Gene untersuchen: Gibt es da etwas, was wir in irgendeinem der Chromosomen unserer DNA finden können, das uns zu diesem „Ich“ macht? Nein. Das Selbst ist lediglich das, worauf sich das Konzept und das Wort „Ich“ beziehen, wenn sie die vielteiligen, sich ständig ändernden Aggregate bezeichnen. 

Zerlegen wir dieses ganze konzeptuelle Konstrukt dieser furchtbaren, schuldigen Person, erkennen wir, dass sich dieser Glaube auf nichts Reales bezieht. Es ist nicht so, dass uns irgendjemand, der uns sieht, weiß, dass wir schlecht und schuldig sind, ohne überhaupt zu wissen, was wir getan haben. Das ist ganz klar absurd.

Das Dekonstruieren des Selbst im täglichen Leben anwenden 

Lasst uns diese Analyse an einem praktischen Beispiel anwenden. Vielleicht habe ich viele Fliegen auf der hinteren Veranda neben dem Schuppen getötet, als ich jung war. Ich habe das tatsächlich als Kleinkind getan. Ich bin jedoch kein statisches, festgelegtes Phänomen, sondern kann mein Verhalten ändern. Wäre ich statisch, könnte ich nie mein Verhalten ändern und würde von dem, was ich tat, unbeeinflusst bleiben. Ich bin jedoch nicht unbeeinflusst, sondern bereue, was ich getan habe.

Ich bin auch nicht teilelos. Es ist nicht so, dass das Töten von Fliegen das Einzige ist, was ich jemals getan habe. Ich habe viele andere Dinge getan, von denen auch einige gut waren. Ich bin nicht nur diese eine Sache, ein teileloser Töter von Fliegen. Es ist auch nicht so, als hätte es ein „Ich“ gegeben, das als eine unabhängig Entität in meinen Körper kam und ihn dann als eine Fliegenklatsche benutzt hat, um Fliegen zu töten. Das ist auch albern. Außerdem könnte ich auch keine Fliegen als eine Entität töten, die unabhängig von einem Körper existiert, und meint, der Körper töte die Fliegen. Das zeigt, dass das Selbst nicht unabhängig vom Körper existiert. Es geht nicht in den Körper ein und nutzt den Arm als eine Fliegenklatsche.

Ich kann mich selbst nicht unabhängig von dem, was ich getan habe – also Fliegen zu töten – als eine schuldige, furchtbare Person sehen. Diese ganze Vorstellung, dass ich für mich eigenständig erkannt werden kann, unabhängig davon, irgendetwas anderes zu kennen, und diese Eigenschaft der Schuld habe, funktioniert nicht. Und wäre diese Schuld meine wahre Identität, die in mir begründet ist, würde jeder, der mich trifft, mich sofort als einen furchtbaren und schlechten Menschen sehen.

Schuld versus Verantwortung für karmische Handlungen 

„Schuldiger Mensch“ als eine Kategorie

Auf der nächsten Ebene beginnen wir zu untersuchen, was ein schuldiger Mensch ist. Ein schuldiger Mensch ist eine Kategorie, die mit den Worten „schuldiger Mensch“ benannt wird. Wir können nur jemanden durch diese Kategorie, dieses Konzept, das Wort und die geistige Bezeichnung als schuldigen Menschen begründen. Es gibt da eine Person – das ist objektiv – und die Person ändert sich ständig von einem Augenblick zum nächsten, und zwar alle Teile; es gibt auch karmische Ursachen, karmische Hinterlassenschaften und karmische Resultate. 

Wir sind verantwortlich und müssen uns damit auseinandersetzen, was wir getan haben und versuchen, uns zu ändern. Wir sind nichtstatisch und daher können wir uns ändern. Wir können bedauern und unser Verhalten ändern. Dennoch gibt es diese Kategorie eines „schuldigen Menschen“, diese Konvention, und es gibt Worte, die damit verbunden sind. Wir werden mit Hinblick darauf als ein schuldiger, schlechter Mensch begründet, worauf sich das Konzept und das Wort auf der Grundlage eines bestimmten Verhaltens beziehen.

Es gibt ein Übereinkommen, als was man in der Gesellschaft einen „schuldigen Menschen“ sieht, doch was ist ein Schuldiger? Es ist jemand, auf den sich der Begriff aufgrund eines bestimmten Verhaltens bezieht. Es gibt nichts, was jemanden wahrhaft als einen schuldigen Menschen unabhängig von diesem Konzept eines Schuldigen begründet. Wären wir von uns aus als ein schuldiger Mensch begründet, würde jeder, der uns sieht, einschließlich ein Hund oder jemand in der Gesellschaft, der das Töten von Fliegen für großartig hält, einen Schuldigen sehen. Jeder würde uns so sehen; wir sind jedoch nur ein Schuldiger in Bezug auf das Konzept und worauf es sich bezieht. 

Ein weiteres Beispiel für ein Zuschreibungsphänomen

Andere Beispiele sind vielleicht hilfreich, um es etwas einfacher zu machen. Ich habe erwähnt, dass ich gestern Abend beim Bolschoi-Ballett war. Es gab dort viele Menschen in außergewöhnlichen Kleidern, die auf der Bühne herumsprangen und sich im Kreis drehten. Das ist es, was ich gesehen habe. Was begründet das nun als ein Ballett? Ich habe ein Konzept von einem Ballett und kenne das Wort „Ballett“, das damit verbunden ist. Was ich gesehen habe, war ein Ballett; ansonsten wären es nur Menschen, die auf einer Bühne herumgesprungen sind – wie schön. Warum springen sie?

Konventionell handelt es sich um ein Ballett. Jeder, der aus einer Gesellschaft stammt, in der so etwas wie ein Ballett anerkannt wird, würde dem zustimmen. Es ist ein Ballett und kein Fußballspiel. Wir können jedoch nur in Bezug zu der Kategorie „Ballett“ und dem Benennen mit dem Wort „Ballett“ begründen, beweisen oder aufzeigen, dass es sich dabei um ein Ballett handelt. 

Das Ballett ist ein Zuschreibungsphänomen, eine Synthese der ganzen Sache. Was ist ein Leben? Es ist eine Synthese all dieser Momente. Ob wir es als ein Leben bezeichnen oder nicht, ist konzeptuell. Nichtsdestotrotz handelt es sich konventionell um ein Leben oder ein Ballett. 

Das Selbst als eine Synthese konzeptuell isolierbarer Komponenten

Was wir daher verstehen, ist, dass jeder Moment wie eine solide Sache erscheint. Er besteht jedoch aus all diesen verschiedenen Teilen, die wir in Bezug auf die fünf Aggregate klassifizieren können. Innerhalb der fünf Aggregate befinden sich die karmischen Faktoren, und das „Ich“ ist Teil der gesamten Sache. Keiner von ihnen existiert wie eine Ansammlung von Tischtennisbällen, voneinander getrennt, individuell und solide. Das ist es nicht, was jeden Moment ausmacht. So verhält es sich nicht.

Konzeptuell können wir jeden dieser Teile isolieren. Wir können die Absicht, die Emotion, den Drang und das „Ich“ konzeptuell isolieren. Und was sind diese Dinge? Sie sind das, worauf sich die Konzepte beziehen. Wir erfahren sie jedoch als ein Ganzes. Obwohl wir all diese Dinge konzeptuell isolieren können, um in der Lage zu sein, sie zu verstehen, zu analysieren und das Problem zu untersuchen, bedeutet das nicht, dass jedes von ihnen isoliert von dem anderen existiert. Es gibt ein ganzes Netzwerk, wie alles aufeinander einwirkt. Konventionell treten sie auf, doch um mit ihnen zu arbeiten, werden sie begründet, indem sie konzeptuell isoliert werden. 

Wer trägt die Schuld? 

Es besteht somit ein großer Unterschied zwischen diesem falschen, soliden „Ich“ – einem Tischtennisball, der unabhängig von allem, was wir getan haben, schuldig ist – und dem konventionellen „Ich“ mit der Fähigkeit, sich zu ändern. Das solide „Ich“ ist falsch. Es entspricht nicht der Realität.

Wer trägt nun also die Schuld? Niemand hat Schuld, weil das ganze Konzept eines „Ichs“, das beschuldigt werden könnte, und das Konzept der Schuld falsch sind. Dennoch ist das konventionelle „Ich“ verantwortlich. Das konventionelle „Ich“, als eine Zuschreibung, ist derjenige, der all die verschiedenen Dinge erlebt, die wir als der Ausführende getan haben, der die Resultate erfährt und dafür verantwortlich ist, sich zu ändern.

Verantwortung beruht auf dem konventionellen „Ich“, mit dem Verständnis, wie es existiert  und all die Dinge, dessen Zuschreibung es ist; das „Ich“, welches schuldig ist und die Schuld trägt, beruht hingegen auf dem falschen „Ich“. 

Je mehr wir uns daher mit diesem ganzen Prozess des Dekonstruierens vertraut machen und je häufiger wir ihn wiederholen, um uns an ihn zu gewöhnen, desto mehr werden wir in der Lage sein, ihn anzuwenden, wenn wir beginnen uns schuldig zu fühlen oder denken: „Warum passiert das immer nur mir?“ Wir werden diese ganze unglückliche Gedankenkette durchschauen und wissen, dass sie auf Unsinn beruht. Wir werden verstehen, dass wir zwar als „der schuldige, furchtbare Mensch“ bezeichnet werden können, es aber nicht als unsere beständige Identität betrachten und daran hängen müssen. Wir können uns auch genauso als jemanden bezeichnen, „der verantwortlich für seine Handlungen ist“ und auf dieser Grundlage Schritte unternehmen, jegliche destruktive Handlungen zu vermeiden, die wir begangen haben, und das negative Potenzial bereinigen, das wir aufgebaut haben.

Je mehr wir uns auf diese Weise auf die Tatsache fokussieren können, dass unsere eigene Herabwürdigung Unsinn ist und nicht der Realität entspricht, desto eher werden wir die Trägheit dieser negativen Denkweise durchbrechen können. Sogar wenn wir beginnen, wieder so negativ zu denken, werden die Energie und der Drang hinter dieser Denkweise schwächer sein, langsam immer mehr an Kraft verlieren und schließlich werden wir uns davon befreien.

Widmung 

Wir enden mit einer Widmung. Wir denken: „Möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die aus dieser Diskussion entstanden sind, sich immer weiter vertiefen und als Ursache dafür wirken, zum Wohle von uns allen die erleuchtete Ebene eines Buddhas zu erlangen.“

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