Fragen über kollektives Karma und Kontinua

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Rückblick

Um nochmal einige Punkte klarzustellen: Der Pfad eines karmischen Impulses ist als das definiert, woran das Primärbewusstseins, mit dem der Geistesfaktor eines Dranges einhergeht, beteiligt ist. In Vasubandhus und Nagarjunas System ist der Geistesfaktor eines Dranges ein karmischer Impuls des Geistes. Vasubandhu erklärt, dass die karmischen Impulse von Körper und Rede, genauer gesagt deren offenbarende Formen, sowohl karmische Impulse als auch Pfade darstellen, da die karmischen Impulse unseres Geistes in diese involviert sind, wohingegen die karmischen Impulse des Geistes selbst nur karmische Impulse und keine Pfade eines geistigen Impulses darstellen. Buddhapalita auf der anderen Seite sagt in einem Kommentar zu Nagarjunas Darstellung, dass karmische Impulse des Körpers und der Rede nur nominell karmische Pfade sind, da die eigentlichen karmischen Pfade eine Grundlage für die Handlung, einen motivierenden Rahmen bestehend im Unterscheiden, einer Absicht, einer Emotion, die Durchführung einer Methode zur Begehung der Handlung und das Erreichen des Endzieles der Handlung beinhalten müssen.

Vasubandhus Punkt kann auch unter dem Hintergrund von Asangas System erklärt werden. In seinem System besteht der karmische Impuls für eine körperliche oder verbale Handlung in einem geistigen Drang, welcher den Pfad einer körperlichen bzw. verbalen Handlung hervorbringt. Wenn dieser karmische Impuls für eine Handlung des Körpers oder der Rede durch einen auslösenden karmischen Impuls des Geistes verursacht wird, kann dieser karmische Impuls für die körperliche oder verbale Handlung auch als ein karmischer Pfad betrachtet werden, nämlich als der Pfad des karmischen Impulses der vorangegangen geistigen Handlung. Das liegt daran, dass, wie gerade erwähnt, der Pfad eines karmischen Impulses als das definiert wird, woran das Primärbewusstseins, mit dem der Geistesfaktor eines Dranges einhergeht, beteiligt ist. Wichtig ist: Diese karmischen Impulse für physische und verbale Handlungen sind nur dem Namen nach karmische Pfade. 

Ob wir uns nun im System von Vasubandhu, Nagarjuna oder Asanga befinden – in keinem dieser Systeme ist ein karmischer Impuls eine Handlung. Wie wir in unserer vorherigen Sitzung gesehen haben, ist eine Handlung eine Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage all der Komponenten des jeweiligen karmischen Pfades; das heißt, eine Handlungsgrundlage, ein motivierender Rahmen, die Umsetzung einer Methode zur Ausführung der Handlung und das Erreichen des Endziels der Handlung.

Wenn wir uns darüber im Klaren sind, was der Unterschied zwischen Karma bzw. einem karmischen Impuls und einer Handlung ist, können wir uns auf das konzentrieren, was meiner Meinung nach der wichtigste Aspekt des Karmas ist: seine Zwanghaftigkeit. Es ist wichtig zu untersuchen und zu versuchen zu erkennen, was an den verschiedenen karmischen Ereignissen in unserem Leben in Bezug darauf, was wir tun, denken und sagen, wirklich zwanghaft ist. Das Problem ist nicht nur das, was wir denken, tun und sagen, sondern die Zwanghaftigkeit dabei. Unsere destruktiven Handlungen wiederholen sich unkontrolliert und bringen uns immer mehr Leiden und Probleme. Das ist es, wovon wir uns lösen müssen.

Fragen über kollektives Karma

Was ist der Unterschied zwischen dem Karma eines Einzelnen und dem einer Gruppe? Wie verhält es sich beispielsweise mit einem Flugzeugabsturz, bei dem viele Menschen ums Leben kommen, und welche Beziehung haben hier die Menschen zueinander? 

Der Fachausdruck ist gemeinsames Karma, was oft auch als „kollektives Karma“ bezeichnet wird. Die klassische Erklärung für so genanntes gemeinsames Karma besteht darin, dass jeder, der das Reifen dieses Karmas erlebt, vorher an einer bestimmten Handlung oder einer bestimmten Begebenheit beteiligt gewesen ist, die zum gemeinsamen Erleben dieses Resultates geführt hat. Wie das tatsächlich funktioniert ist natürlich etwas komplexer. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, es als eine Art kollektives Karma zu betrachten, an das sich jeder anschließt. Es existiert nicht irgendwo eigenständig. Außerdem hat natürlich jeder, der ein Resultat des kollektiven Karmas erlebt, auch sein eigenes individuelles Karma, das seine Erfahrung beeinflusst.

Zu der karmischen Hinterlassenschaft und dem ganzen Prozess, durch den ein Resultat aus den Nachwirkungen entsteht, werden wir später noch kommen. Aber denken wir einmal darüber nach. Nehmen wir an, wir befinden uns während des Krieges in einem Gefecht. Jeder in dieser Schlacht tut eigentlich etwas anderes und einzigartiges, nicht wahr? Das ganze Ereignis, die Schlacht, ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage all dessen. Aber was ist diese Schlacht genau genommen? Wir haben das Konzept von einer Schlacht, die dem zugeschrieben ist, was jeder getan hat. Wie stellen wir fest, dass es so etwas wie die „Schlacht“ gab, an der alle teilnahmen? Wir können lediglich sagen, dass die Schlacht das ist, worauf sich der Begriff bzw. das Konzept „Schlacht“ bezieht, wenn man es gedanklich den Teilnehmern und deren Handlungen zuschreibt. Es gibt nirgendwo eine solide existierende „Schlacht“, aus der man dann wegen der Teilnahme an diesem Ding – „der Schlacht“ – die Konsequenzen ziehen muss. Und aus dem Konzept einer Schlacht wird auch nicht die Schlacht hervorgerufen. Die Schlacht ist nicht das Konzept. Da gibt es die Kategorie einer Schlacht, die für viele verschiedenen Ereignisse gelten könnte. Es gibt ein Wort, einen inhärent bedeutungslosen Klang, und eine Gruppe von Menschen haben vereinbart, ihn dieser Kategorie zuzuordnen und alle Gegenstände damit zu benennen, die in diese Kategorie passen. Das ist das Wort „Schlacht“. Was ist diese Schlacht? Die Schlacht ist das, worauf sich diese Kategorie und das Wort beruhend darauf beziehen, was alle getan haben.

Wie erkennen oder begründen wir, dass es eine Schlacht gab? Wir haben lediglich dieses begriffliche Bezugssystem dessen, was eine Schlacht ist, aber das begriffliche Bezugssystem bringt nicht die Schlacht hervor und es ist auch nicht dasselbe, wie die Schlacht. In dieser Schlacht hat also jeder etwas anderes getan. Auch was das Resultat betrifft, ist die Erfahrung des Absturzes, um zu dem Beispiel der Frage zurückzukehren, sehr individuell. Jemand hat diese Verletzung erlitten, ein anderer jene, und manche überleben vielleicht. Man erlebt den Absturz nicht getrennt von der gesamten emotionalen Komponente dieser Erfahrung. Auch das ist ein Teil der Erfahrung eines jeden. Aber trotzdem können wir dem, was jeder erlebt, die Kategorie und das Wort „Flugzeugabsturz“ zuschreiben. 

Es ist äußerst wichtig zu verstehen, was eine Kategorie ist. Kategorien sind statische Phänomene. Sie ändern sich nicht. Man kann lediglich eine Kategorie mit einer anderen austauschen. Es geschieht mithilfe von Kategorien, dass  wir Dinge verstehen. Es sind die Kategorien, in die auch konzeptuelle Gedanken involviert sind. Sie treten durch das Medium der Kategorie in Erscheinung. Jeder hat sie und ohne Kategorien könnten wir nicht funktionieren. Sogar ein Wurm hat Kategorien, denn wie könnte er sonst Nahrung erkennen? Er hat kein Wort dafür, aber zweifellos nimmt er all diese verschiedenen Dinge durch die Kategorie der Nahrung wahr und sie haben eine Bedeutung. 

Um zu dem Punkt des kollektiven Karmas zurückzukommen, kann man sagen, dass es im Grunde ein abhängiges Entstehen dessen gibt, was jeder in dieser so genannten Schlacht tut und auch dessen, was jeder bei dem Absturz erlebt. All diese Komponenten sind miteinander verbunden und entstehen durch ein begriffliches Bezugssystem in Abhängigkeit voneinander, und dieses begriffliche Bezugssystem wird benutzt, um den Bezug untereinander verstehen zu können. Die Rede ist von gemeinsamem Karma und dem gemeinsamen Resultat des gemeinsamen Karmas. Das ist ein begriffliches Bezugssystem, nicht wahr? Wir bedienen uns eines begrifflichen Bezugssystems, um verstehen zu können, was passiert ist; denn es ist in der Tat etwas geschehen. 

Ursache und Wirkung entstehen in Abhängigkeit voneinander. Das heißt nicht, sie treten zeitgleich auf. Nichts kann eine Ursache sein, ohne eine Wirkung zu haben, und es kann auch keine Wirkung ohne eine Ursache geben. Sie sind voneinander abhängig. Die Tatsache, dass es ein gemeinsames Ereignis in Bezug auf die Ursache und ein gemeinsames Ereignis in Bezug auf die Auswirkung gab, ist auch in Abhängigkeit von der Erfahrung jedes Einzelnen zur Zeit der Ursache entstanden. Die Teilnehmer einer Schlacht zum Beispiel haben nicht alle im gleichen Augenblick, im Moment der Ursache, etwas getan oder am Ende alle gleichzeitig das Resultat erlebt. Hier gibt es ein großes Netzwerk abhängig entstehender Phänomene.

Versuchen wir zu begründen, was geschehen ist, steht uns das begriffliche Bezugssystem des gemeinsamen Karmas zur Verfügung. Die Tatsache, dass jede Person an der Schlacht beteiligt war, oder die Tatsache, dass sie tatsächlich diesen bestimmten Flug genommen hat, ist aus vielen anderen Ursachen und Bedingungen hervorgegangen. Und jeder Ursachen- und Wirkungskomplex ist für jede Person individuell. Wie ihr sehen könnt, haben wir hier ein viel breiteres, abhängig entstehendes Netzwerk. 

Es ist einfach ein geeignetes Bezugssystem, von kollektivem Karma zu sprechen, aber es ist nicht so, als würde es in dem Geist einer jeden Person eine Schachfigur geben, die durch das Ereignis dort hineingetan wurde und bei dem es sich dann um das gemeinsame Karma handelt. Es befindet sich nicht dort, getragen vom geistigen Kontinuum und kommt dann plötzlich bei dem Flugzeugabsturz zum Vorschein. Wir sollten das Ganze vielmehr auf eine komplexere und differenziertere Weise verstehen. Hier gibt es nichts Konkretes.

Fragen über Kontinua

Wenn wir ein Kontinuum von Momenten des Gewahrseins oder von Weisen, sich etwas gewahr zu sein, haben, sowie ein Kontinuum von Formen physischer Phänomene, wie kann es dann sein, dass ein geistiger Drang, der eine Weise ist, sich etwas gewahr zu sein, eine physische Form als den karmischen Impuls einer physischen oder verbalen Handlung hervorrufen kann?

Um das zu erklären, müssen wir uns mit einer enormen Komplexität von verschiedenen Ursachen und Arten von Auswirkungen befassen. Die Tatsache, dass ein Drang beispielsweise eine Form des Verhaltens herbeiführt, bedeutet nicht, dass diese Form der Handlung der nächste Augenblick in der Kontinuität dieser geistigen Aktivität ist. Die physische Handlung entsteht natürlich aus vielen anderen Ursachen. Es gibt eine bestimmte Ursache, die eine Handlung hervorbringt oder einleitet, aber da gibt es auch andere Ursachen, wie die körperliche Verfassung, die Elemente des Körpers, die früheren Gewohnheiten unserer Handlungsweise usw. Das eigentliche Entstehen der Bewegung unseres Körpers, wenn wir etwas tun, oder die Äußerung der Laute unserer Rede, wenn wir etwas sagen, folgen als Teile eines Kontinuums aus den vorherigen Bewegungen unseres Körpers und den vorherigen Äußerungen unserer Rede. Es gibt so viele innere und äußere Umstände, die ebenfalls beeinflussen, was wir tun oder sagen. Wir handeln oder sprechen nicht einfach wie in einem Vakuum. 

Es gibt viele verschiedene Arten von Kontinua, aber wir denken hier generell nicht darüber nach, was im Moment A, im Moment B und im Moment C geschieht. Die Rede ist nicht nur von einem zeitweiligen Kontinuum. Unser Körper hat, beruhend auf den Elementen des Körpers, ein bestimmtes Kontinuum. All die diversen Emotionen und Geistesfaktoren, die damit verbunden sind, haben ihr eigenes Kontinuum. Beispielsweise gibt es bei der Wut eine Tendenz, wütend zu sein, und es gab frühere Vorkommnisse der Wut. Das ist dann ein Kontinuum. Auch die Dränge selbst haben ein Kontinuum. Zum Beispiel habe ich den Drang, irgendwohin zu gehen, den Drang, etwas zu erforschen und den Drang, dieses oder jenes zu tun. All das besitzt sein eigenes Kontinuum und sie werden sich in einem bestimmten Moment gegenseitig beeinflussen. Verschiedene Elemente jedes dieser Dinge werden sich in gewisser Weise manifestieren oder in irgendeinem Augenblick gleichzeitig auftreten, jedes aus seiner eigenen Ursache heraus.

Wenn wir das verstehen wollen, können wir das begriffliches Bezugssystem der fünf Aggregate benutzen. Es ist nicht so, dass all die verschiedenen Aspekte in diesen fünf Schubladen existieren, aber es hilft uns, die diversen Elemente in jedem Augenblick unserer Erfahrung anzuordnen. Wollen wir noch ein wenig mehr Ordnung hineinbringen, können wir den Verlauf all dieser verschiedenen Komponenten in Bezug auf die fünf Aggregate zusätzlich anordnen, und zwar im Sinne deren Zuschreibungsphänomens, des „Ichs“, des konventionellen „Ichs“, für welches diese als Grundlage dienen. Es gibt da allerdings kein auffindbares „Ich“, das irgendwo in diesem immensen Komplex, der die Grundlage ist, substantiell existiert. Es gibt weder ein in sich begründetes, beständiges, noch ein vergängliches Selbst, das als Handelnder hinter unseren Handlungen steht. Darüber hinaus gibt es auf der Grundlage dieses „Ichs“ karmische Potenziale und Tendenzen, die ebenso  Zuschreibungsphänomene sind, und auf deren Grundlage wiederum spricht man von dem Noch-nicht-Stattfinden deren Resultate als ein weiteres, tiefergehendes Zuschreibungsphänomen.

All das wird lediglich im Rahmen des begrifflichen Bezugssystems des Karmas begründet, durch das wir verstehen können, was vor sich geht. Was geschieht, geschieht, und es spielt keine Rolle, ob wir dieses begriffliche Bezugssystem nutzen oder nicht. Es ist einfach hilfreich, um zu begründen bzw. zu bestätigen und zu verstehen, was stattfindet. Hier kommt nun eine Möglichkeit, dies zu verstehen, und ich möchte erneut betonen, dass wir Karma nicht wirklich verstehen können, ohne auch ein Verständnis der Leerheit zu haben.

Obwohl es um eine Sache geht, die nur in der englischen Sprache und nicht in der deutschen auftritt, werde ich kurz etwas dazu sagen, warum ich den Gebrauch des Wortes „emptiness“ ablehne, da es mir sehr wichtig ist. Das Wort „empty“ deutet auf eine existierende Basis wie ein Glas hin, in dem etwas fehlt. Das Glas ist leer. Aber das ist nicht die Bedeutung von Leerheit (engl. voidness). Sie mag in das Svatantrika-System passen, aber gewiss nicht in das Prasangika-System.

Bei dem Wort für Leerheit im Sanskrit handelt es sich um das gleiche Wort, wie jenes, das für „Null“ benutzt wird. Es ist also eine völlige Abwesenheit; etwas, das es nicht gibt. Nichts dergleichen; das ist, was es bedeudet. Es wird nicht behauptet, es gäbe einen auffindbaren Behälter, dem etwas fehlt bzw. in dem etwas nicht existiert. Es wird überhaupt nichts behauptet. Deshalb benutze ich das Wort „voidness“ und nicht „emptiness“. Durch das Wort „emptiness“ bekommt man besonders im Prasangika-System den falschen Eindruck. In vielen Sprachen ist das anders, aber im Englischen haben wir dieses Problem. Auf Seiten des Objektes gibt es nichts Auffindbares. Das gab es nie, es ist einfach nicht da. Es gibt also kein auffindbares Objekt, das irgendwie leer wäre oder dem etwas fehlen würde, das nicht auffindbar ist.

Karmische Resultate entstehen in Abhängigkeit

In Bezug auf den karmischen Pfad haben wir den Drang und den karmischen Pfad, und da gibt es Fälle, in denen wir beispielsweise einen gewissen Drang haben, jemanden zu töten. Während der karmische Pfad im Gange ist, gibt es dann äußere oder innere Bedingungen, die den Verlauf der Handlung ändern. Sind die karmischen Resultate die gleichen, wenn wir beabsichtigen jemanden zu töten, sich die Bedingungen im karmischen Pfad jedoch ändern und es nicht geschieht? Werden wir das karmische Resultat, jemanden getötet zu haben, erfahren oder nicht?

Nein, denn wir haben niemanden getötet. Der Pfad des karmischen Impulses muss vollständig sein und alle vier Faktoren umfassen, damit das Resultat des ursprünglichen Dranges eintreten kann. Zum Beispiel plane ich vielleicht, jemanden zu töten. Ich habe den Drang, es zu tun, und ziele mit dem Gewehr auf die Person mit der Absicht, sie zu töten. Dann habe ich jedoch Mitleid und ändere meine Meinung. Vielleicht klingelt auch gerade mein Telefon, jemand kommt herein oder es gibt ein Erdbeben. Irgendetwas geschieht und die Handlung wird nicht vollendet. Was tatsächlich stattgefunden hat, war einfach nur der Plan, es zu tun. Und das geht in erster Linie auf ein geistiges Ereignis zurück. Ich habe geplant, jemanden zu töten, und weil ich es in Erwägung gezogen, darüber nachgedacht und geplant habe, wird es ein Resultat hervorbringen. Auch mit der Ausführung begonnen zu haben, wird ein Resultat nach sich ziehen; aber es wird nicht das Resultat des Tötens sein, da ich die Person am Ende nicht getötet habe. Welche physische Handlung habe ich vollzogen? Ich habe den anderen bedroht und wahrscheinlich furchtbar erschreckt, und das wird eine Auswirkung haben. Es wird jedoch eine Auswirkung sein, die sich daraus ergibt, jemanden zu bedrohen und zu erschrecken und nicht jemanden zu töten, da ich niemanden getötet habe. 

Das führt wiederum zu einem sehr guten Punkt. Das, was irgendwann im Kontinuum der Situation geschieht, hat keine inhärente Identität. Es ist nicht so, dass ich die Tötung ausführe und sie als Tötung in jedem vorangegangenen Augenblick existiert, der mich mit meinen Handlungen dorthin führt. Sie hat also keine inhärente Identität. Hier entsteht unser Missverständnis, denn wir denken, sie hätte eine feste Identität in sich selbst, aber dem ist nicht so.

Eine Tötung kann nur in Abhängigkeit von all den einzelnen eingetretenen Faktoren entstehen. Es ist nicht angebracht, die Grundlage als Tötung zu bezeichnen, wenn niemand gestorben ist. Es ist also ein äußerst wichtiger Punkt, dass sie in Abhängigkeit entsteht. Die Grundlage der Bezeichnung, die geistige Bezeichnung und das, worauf sich die Bezeichnung bezieht, entstehen in Abhängigkeit. Nichts ist eine Grundlage der Bezeichnung, unabhängig von der Bezeichnung und dem, worauf sie sich bezieht. Dieser Punkt ist wirklich recht tiefgreifend. Die Bezeichnung ist eine Kategorie und ein Name, der einer Sache gegeben wurde. Eine Tötung ist nicht die Kategorie einer Tötung und es ist nicht der Klang des Wortes „Tötung“. Die Kategorie und der Begriff beziehen sich auf etwas, und das, worauf sie sich beziehen, das ist die Tötung.

Um es nochmal klarzustellen: geistiges Bezeichnen beinhaltet eine Kategorie und ein Name, der dieser zugeschrieben wird, und geistiges Bezeichnen ist dann eine die Kombination dieser beiden, die auf einer Grundlage angewendet wird. Eine Kategorie muss jedoch nicht mit einem Wort verbunden sein. Zum Beispiel versteht ein Wurm alle für ihn essbare Objekte als Nahrung durch die begriffliche Kategorie „Nahrung“; er benennt diese Kategorie jedoch nicht mit einem Wort.

Kategorien und das Worte beziehen sich auf etwas, aber worauf sie sich beziehen, ist nicht in der Grundlage auffindbar. Da gibt es nichts in der Grundlage all der Dinge, die ich getan habe, indem ich das Gewehr auf jemanden richtete usw. Das ist es, was die Tötung festlegt; aber die Grundlage der Bezeichnung einer Tötung und das, worauf sich die Kategorie Tötung bezieht, entstehen abhängig voneinander. Das Eine kann nicht ohne das Andere existieren. 

Das abhängige Entstehen ist also eine sehr tiefgründige Thematik, und es ist wirklich wichtig, all die vielen Ebenen der Bedeutung und Tragweite zu verstehen.

Der Träger des Karmas

Was trägt diese Samen des Karmas von einem Leben zum andern?

Zunächst geht es nicht um konkrete Dinge, wie Koffer, die man auf ein Förderband stellt und die sich von einem Leben zum anderen bewegen. Das ist nicht die Prasangika-Sichtweise. In der Auffassung anderer Schulen, die nicht dem Prasangika-System angehören, haben die Dinge im Allgemeinen eine selbst-begründet Existenz, wie in Plastik verpackte Entitäten. Ich will hier nicht näher auf die Unterschiede der verschiedenen Lehrsysteme eingehen, aber in diesen anderen Schulen ist von einem geistigen Kontinuum die Rede, das sich von einem Leben zum nächsten bewegt. Hier geht es um ein Sutra-System, nicht um ein Anuttarayoga Tantra oder Dzogchen-System. Wir sprechen hier nicht vom Geist des klaren Lichts oder von Rigpa, dem reinen Gewahrsein – heute bewegen wir uns im Rahmen eines Sutra-Systems.

Im Sautrantika und Svatantrika wird gesagt, das geistige Bewusstsein sorge für das Kontinuum. Im Chittamatra-System ist man der Meinung, es wäre das grundlegende Bewusstsein (Skt. ālayavijñāna). Die karmischen Tendenzen, die karmischen Potenziale und all diese Dinge sind Zuschreibungsphänomene, zugeschrieben auf der Grundlage dieser Kontinua. Auch das konventionelle „Ich“ ist ein Zuschreibungsphänomen auf Grundlage des geistigen Kontinuums. Laut diesen Systemen kann man die definierende Charakteristik eines Selbst auch innerhalb der Gruppe von definierenden Charakteristika des Kontinuums des geistigen oder grundlegenden Bewusstseins finden. Das ist die Grundlage der Zuschreibung und die Grundlage der Bezeichnung. In diesem Kontinuum kann man etwas finden, das mich zu „mir“ macht und mich von dir unterscheidet. Es ist eine ungewöhnliche definierende Charakteristik. 

Die Prasangika-Sichtweise besagt in erster Linie, dass, obwohl jedes Phänomen sein eigenes, individuelles definierendes Charakteristikum besitzt – andernfalls wäre ein Auseinanderhalten unmöglich –, man keine definierenden Charakteristika auf Seiten der Grundlage finden kann. Das definierende Charakteristikum von etwas hat nicht die Kraft, dessen Existenz zu etablieren. Die Grundlage der Bezeichnung ist das, was ihr zugeschrieben wird und auch die definierenden Charakteristika entstehen alle in Abhängigkeit. Da gibt es nichts auf Seiten des Objektes; das alles ist Teil des begrifflichen Bezugssystems. 

Wir haben beispielsweise ein begriffliches Bezugssystem der Emotionen. Was erfahren wir in Bezug auf unser emotionales Leben? Es gibt keine kleinen Ballons von Dingen, die verschiedene Emotionen sind. Wir haben ein begriffliches Bezugssystem der verschiedenen Arten von Emotionen, mit denen wir unser so genanntes emotionales Leben und das, was wir erfahren, erklären können. Es gibt das begriffliche Bezugssystem der Liebe, der Treue, der Eifersucht usw., und jedes dieser Dinge hat seine definierenden Charakteristika. Das ist ebenfalls Teil des begrifflichen Bezugssystems. 

Die Bedeutung von Treue für jemanden im Westen, für jemanden im mittelalterlichen Europa oder jemanden im traditionellen Japan, das sind ziemlich unterschiedliche Konzepte, nicht wahr? Die definierenden Charakteristika sind verschieden und sie sind Teil des begrifflichen Bezugssystems. Da gibt es nichts in sich Begründetes oder Auffindbares auf Seiten der Erfahrung von jemandem, das diese Dinge festlegen würde. Sie werden alle als Teil eines begrifflichen Bezugssystems festgelegt und entstehen in Abhängigkeit. 

Auf Seiten der Grundlage, des geistigen oder grundlegenden Bewusstseins, kann man keine definierenden Charakteristika des Bewusstseins finden. Man kann keine definierenden Charakteristika der Tendenzen finden und man kann auch keine definierenden Charakteristika eines „Ichs“ finden. Es ist egal, wie wir die Wiedergeburt begrifflich erfassen: ob wir meinen, das geistige Bewusstsein durchlaufe den Prozess des Sterbens, des Bardo und der Wiedergeburt; oder wie im Anuttarayoga Tantra, der subtilste Geist des klaren Lichts würde für die Kontinuität sorgen; oder wie im Dzogchen-System, das Rigpa, das reine Bewusstsein, wäre für diese Kontinuität verantwortlich. 

In dem Verlauf dieses Kontinuums als Ganzem gibt es keine definierenden Charakteristika, wie wir am Beispiel des Schachspiels oder der Schlacht gesehen haben. Es gibt keine definierende Eigenschaft oder auffindbare Gestalt eines Stromes, weder im geistigen Bewusstsein noch innerhalb des Körpers usw. Das spielt keine Rolle. Da gibt es ein Kontinuum vieler sich verändernder Komponenten und das „Ich“, das konventionelle „Ich“, welches ein Zuschreibungsphänomen auf dieser Grundlage ist. Dieses „Ich“, das konventionelle Agens unserer Handlugen, existiert nicht als irgendeine in sich selbst begründete Entität, die mit den Komponenten des Kontinuums identisch oder völlig getrennt von diesen ist.

Im Sutra-System gibt es zum Zeitpunkt des Todes nur das subtile geistige Bewusstsein. Im System des Anuttarayoga-Tantra gibt es das Bewusstsein des klaren Lichtes und den subtilsten Wind. Es ist egal, welche Ebene der Analyse wir nutzen. Während des Lebens gibt es einen Körper, all die Emotionen und all die Aggregate. Jeder Moment des Kontinuums dieses Komplexes hat leicht unterschiedliche Komponenten, und auf der Basis dieser verschiedenen Komplexe gibt es das Zuschreibungsphänomen „ich“. Dieses „Ich“ können wir mit dem Wort „ich“ benennen und es mit unserem Konzept von „ich“ versehen. Obwohl es keine auffindbare Charakteristik des „Ichs“ innerhalb eines der sich ständig verändernden Komponenten dieses Kontinuums gibt, haben wir trotzdem ein konventionell existierendes „Ich“ als Grundlage für die Zuschreibungsphänomene der karmischen Tendenzen und Potenziale. Das bloße „Ich“ sorgt in der Prasangika-Auffassung für die Kontinuität. Im täglichen Leben gibt es immer etwas, dem man das „Ich“ zuschreiben kann, aber es gibt keine auffindbare Charakteristik seitens der Grundlage. 

Die Frage ist: was macht mich zu dem, der ich bin? Gibt es etwas in mir, das mich ausmacht? Gibt es da etwas Auffindbares, in sich selbst Begründetes seitens der Grundlage, das mich nicht nur zu einem Individuum sondern auch zu etwas Besonderem macht? Um das analysieren zu können, müssen wir das, was das „Ich“ ausmacht, dekonstruieren. 

Die Schulen, die nicht dem Prasangika-System angehören, würden sagen, in „mir“ gäbe es etwas Auffindbares, das mich zu „mir“, dich zu „dir“ macht, und nicht „mich“ zu „dir“ macht. In der Prasangika-Schule wird das verneint. Es gibt lediglich das Kontinuum der Aggregate, beruhend auf Ursache und Wirkung, und das konventionelle „Ich“, welches existiert, ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage dieses Kontinuums. Man kann es begrifflich als individuelles „Ich“ bezeichnen, aber es ist individuell; ob es nun bezeichnet wird oder nicht. 

Das „Ich“ jeder Person ist individuell; im Prasangika wird dem nicht widersprochen. Was ist jedoch die Basis für die Individualität? Es ist das abhängige Entstehen dieses ganzen Kontinuums. Das Selbst, welches ein Zuschreibungsphänomen ist und begrifflich der Grundlage des Kontinuums zugeschrieben werden kann, ist ein in Abhängigkeit entstehendes Phänomen. Die definierende Eigenschaft eines Selbst entsteht ebenfalls in Abhängigkeit. All diese Dinge entstehen in Abhängigkeit, sowie auch die Individualität. Nichts existiert eigenständig, sondern entsteht relativ und in Abhängigkeit voneinander. 

Die vier edlen Wahrheiten durch ein begriffliches Bezugssystem verstehen

Teil dieses Kontinuums der Aggregate ist der Geistesfaktor des Empfindens verschiedener Grade von Glücklichsein. Es gibt ein mit Leid beflecktes Gefühl des Unglücklichseins, des nicht anhaltenden befleckten Glücklichseins oder eines neutralen Gefühls auf den höheren Ebenen der Existenz, wie den Bereichen der Form und den formlosen Bereichen. Aber gehen wir nicht näher auf das Thema der höheren Bereiche ein; nur soviel: es gibt ein Kontinuum und es geht einfach immer weiter. Aus diesem Grund gibt es das alles umfassende Leiden, das immer eine Basis, einen Körper und einen Geist hat, und das zwanghaft und unkontrollierbar immer wieder stattfindet. In gewisser Weise erhält es sich selbst aufrecht. Das ist das alles durchdringende Problem bzw. Leiden, von dem wir frei werden wollen und das Teil der Gestalt des Kontinuums der Aggregate ist.

Wie verstehen und deuten wir den Inhalt eines jeden Augenblicks in diesem Strom, in dem Kontinuum? Ist dort alles durcheinander oder gibt es eine gewisse nachvollziehbare Reihenfolge dessen, was in jedem Augenblick geschieht, des Inhaltes eines jeden Augenblicks? Dafür haben wir eine komplette Analyse karmischer Ursache und Wirkung, um zu erklären, was in jedem Augenblick geschieht. Das ist komplexer als das Karma selbst, denn hier gibt es all die Geistesfaktoren und auch sie haben eine Abfolge von Ursache und Wirkung. Innerhalb eines riesigen Schemas von Ursache und Wirkung, in dem einige Elemente karmisch sind und andere sich lediglich auf die verschiedenen Geistesfaktoren beziehen, können wir begründen und verstehen, wie jedes der Elemente innerhalb des Inhalts der fünf Aggregate in jedem Moment zusammen mit den anderen in einem bestimmten Augenblick abhängig entsteht. Und es ist nicht so, dass sie alle aus einem karmischen Samen stammen, wie es im Chittamatra-System dargestellt wird. Vielmehr ist jede der einzelnen Komponenten auf seine eigene Quelle zurückzuführen. 

Dieses gesamte Schema des Karmas, der karmischen Tendenzen, Potenziale, Resultate, des „Ichs“ und all dieser Dinge ist ausgesprochen hilfreich, denn es bietet uns ein begriffliches Bezugssystem, mit dem wir unsere Erfahrungen verstehen können, sowie auch die vier edlen Wahrheiten: das Leiden, dessen Ursachen, die Befreiung daraus und den Pfad, der dorthin führt. Dieses konzeptuelle Bezugssystem der vier edlen Wahrheiten sollte mit dem Verständnis einhergehen, dass keines dieser Dinge wie getrennte Schachfiguren oder Heliumballons innerhalb der Individualität und der Gestalt des Stromes eines Kontinuums existieren. 

Es besteht eine Individualität, da es ein konventionell existierendes definierendes Charakteristikum einer individuellen Person und ein logisches Schema dafür gibt, die Abfolge dessen verstehen zu können, was geschieht; und das „Ich“ ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage all dessen. Ich bin es, der erlebt, was mit den fünf Aggregaten geschieht; ich bin nicht wie ein Stein, der den Berg hinunterrollt. Aber nach wie vor gibt es nicht so etwas wie eine Plastikhülle, die irgendetwas umschließt. Es gibt nichts innerhalb der Bestandteile der fünf Aggregate, das diese Plastikhülle hervorbringt und es zu einem individuell erkennbaren Ding macht. 

Es ist wichtig, unsere falsche Sicht der Wirklichkeit zu überwinden, mit der wir alles wie in einem Kindermalbuch betrachten, in dem es farbige Formen mit schwarzen Umrandungen gibt, die ein Motiv vom anderen abgrenzen und die wir dann mit den Eigenschaften und Besonderheiten ausmalen können. Die Dinge existieren nicht wie in einem Malbuch, und genauso verhält es sich mit dem Karma, bei dem wir denken, es gäbe einen karmischen Drang und wir könnten ihn mit einer schwarzen Linie umranden und ausmalen. Wir meinen, hier wäre die Tendenz, die wir auf diese Weise ausmalen, und dort wäre das Resultat, dass wir auf jene Weise ausmalen, aber die Dinge haben keine schwarzen Umrandungen. Es gibt keine Plastikumhüllungen, obwohl es so aussieht, so scheint und sich sogar so anfühlt, was am schlimmsten von allem ist, und wir glauben es. 

Obwohl die Dinge nicht wie in Plastik eingekapselt und mit einer festgelegten Identität im Innern existieren, hat alles dennoch eine konventionelle Identität, die von einer Gruppe von Wesen akzeptiert wird, die das gleiche begriffliche Bezugssystem einer Sprache, Kultur oder was auch immer angenommen und sich angeeignet haben. Konventionell haben wir uns geeinigt, Erfahrungen auf bestimmte Weise zu benennen. Wir denken uns neue Konventionen, wie zum Beispiel das „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ aus usw. Nun haben wir eine neue Konvention und lernen die Definition dafür. Woher stammt die Definition? Sie stammt aus dem begrifflichen Bezugssystem. Eine Aufmerksamkeitsstörung haben wir früher als schlechte Konzentration bezeichnet. Seht ihr, wie alles lediglich durch geistiges Bezeichnen bedingt entsteht? 

Fragen in Bezug auf begriffliche Bezugssysteme

Warum haben wir diese konventionellen Bezugssysteme und Konventionen, wenn sie uns Probleme bereiten und uns glauben lässt, dass die Dinge wie mit schwarzen Umrandungen existieren?

Diese Konventionen sind nützlich, da wir sonst nicht miteinander kommunizieren könnten. Sie sind die Grundlage für die Sprache. Hier könnte man beginnen, die Beziehung zwischen Sprache und Realität zu analysieren, aber das ist ein ganz anderes Thema.

Was ist die Abfolge in Bezug auf Ursache und Wirkung? Wenn wir eine Aufmerksamkeitsstörung haben, wird das dann zu einer weiteren Ausprägung dieses Problems führen?

Ich glaube, hier werden einige Sachen bezüglich Ursache und Wirkung, der Grundlage der Bezeichnung mit einem Konzept oder einem Begriff und dem, was benannt wird, verwechselt. Die Grundlage der Bezeichnung ist nicht die Ursache dafür, als was sie bezeichnet wird. Diese zwei Dinge entstehen im begrifflichen Bezugssystem in Abhängigkeit voneinander. Es ist nicht so, dass in unserem geistigen Kontinuum bereits ein Heliumballon mit der Bezeichnung Aufmerksamkeitsstörung existiert hat und wir ihn erst jetzt entdeckt und ihm einen Namen gegeben haben. Die Menschen hatten schon immer Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Aber erst jetzt haben wir das begriffliche Bezugssystem der Aufmerksamkeitsstörung, um das Problem erklären, damit umzugehen und versuchen zu können, eine Möglichkeit zu finden, es zu überwinden. Jedoch hat es nicht bereits als Aufmerksamkeitsstörung in unserem Kontinuum existiert, wodurch das Konzept dann entstanden ist

Kann es nun zu weiteren Auswirkungen kommen, wenn wir uns gedanklich auf dieses begriffliche Bezugssystem beziehen? Ja. Es gibt so genannte doktrinär bedingte störende Emotionen. Beziehen wir uns auf ein doktrinäres System – und das bezieht sich auf eines der nicht-buddhistischen indischen Philosophiesysteme –, glauben wir daran, selbst als ein Atman oder Selbst zu existieren, wie es in dem jeweiligen System gelehrt wird, und entwickeln darauf beruhend störende Emotionen. Diese störenden Emotionen haben wir jedoch nicht einfach so, ganz automatisch. Sie beruhen auf dem Erlernen, dem Annehmen und Glauben an ein doktrinäres System. Wir halten uns nicht ganz automatisch für einen Atman, wie er in diesen indischen Systemen definiert wird. Wir sehen uns nicht automatisch als ein Atman, der Leiden erfährt und davon befreit werden kann. 

In ähnlicher Weise würde unser Kind keine Angst vor Geistern haben, wenn wir ihm nicht beibringen würden, dass es Geister gibt. Aber weil das Kind dieses begriffliche Bezugssystem der Geister gelernt hat und daran glaubt, wird dadurch die Wirkung erzeugt, dass das Kind Angst vor Geistern oder Monstern hat. Das Kind würde nicht automatisch an Geister und Monster denken, wenn ihm diese Dinge nicht beigebracht wurden. 

Das ähnelt einer doktrinär bedingten störenden Emotion. Wir kennen das alle: Wir suchen im Internet, in Wikipedia oder Google, nach einer Krankheit, von der wir bis jetzt noch nie etwas gehört haben und meinen, dass wir sie vielleicht auch haben könnten. Das passiert manchmal, nicht wahr? Wir hätten nie daran gedacht, so etwas zu haben, bis wir im Internet darüber erfuhren. Das begriffliche Bezugssystem zu lernen und daran zu glauben hat diese Auswirkungen, aber das begriffliche Bezugssystem selbst hat diese Auswirkungen nicht; lediglich unser Glauben hat einen solchen Effekt. Die Wirkung des Bezugssystems existiert nicht bereits irgendwo innerhalb unserer Erfahrung.

Die Notwendigkeit einer umfassenderen Sichtweise des Karmas

Wir neigen oft dazu, lediglich im Sinne eines Kontinuums der geistigen Aktivität, eines Kontinuums des Bewusstseins usw. zu denken; wir haben jedoch gelernt, dass es ein Kontinuum vieler Dinge gibt, wie das des Körpers, des Geistes, der verschiedenen Emotionen, des geistigen, physischen und verbalen Verhaltens usw. Welche Art der Strategie nutzen wir, um Leiden zu überwinden und die Befreiung von Leiden zu erlangen? Arbeiten wir gelegentlich an unserem Verhalten, daran, wie wir reden, oder arbeiten wir bisweilen an unseren Emotionen? Auf welche Weise entwickeln wir eigentlich eine Arbeitsstrategie?

Um das zu beantworten, ist eine viel komplexere Beschreibung des gesamten karmischen Prozesses von Ursache und Wirkung notwendig, um verstehen zu können, ob es hier eine Art mehrstufiger Strategie gibt. Zunächst nutzen wir Selbstbeherrschung. Aber dann gehen wir tiefer und erforschen, welche Unwissenheit und Verwirrung hinter diesem ganzen Prozess steckt und wie dieses mangelnde Gewahrsein, diese Verwirrung oder Unwissenheit in diesen Prozess eintritt. Es ist wichtig, das gesamte begriffliche Bezugssystem der Funktionsweise all dessen zu durchschauen, wofür eine ausführliche Erklärung der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens aus Sicht des Prasangika-Systems wichtig ist.

Allgemein gesprochen, wenn wir jedoch eine umfassendere Sichtweise des Karmas haben, erkennen wir, dass diese Zwanghaftigkeit nicht nur eine kleine Schachfigur des Dranges ist. Wir haben eine breitere Grundlage dafür, das Objekt der Widerlegung (das, was es zu beseitigen gilt) zu identifizieren und zu verstehen. Das hilft, um ein komplexeres Verständnis in Bezug auf Karma als Zwanghaftigkeit und die vielen Aspekte dieser Zwanghaftigkeit zu haben, von denen wir uns lösen wollen. Karma ist die Ursache des Leidens. Wir müssen verstehen, wie es die Ursache des Leidens sein kann. Was genau verursacht das Leiden? Diese Sichtweise ist viel weiter, als es nur wie eine kleine Schachfigur zu betrachten.

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