Nichtoffenbarende Formen physischen und verbalen Karmas

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Rückblick auf die offenbarenden Formen physischen und verbalen Karmas

Wir haben gesehen, dass ein Aspekt der karmischen Impulse für körperliche und verbale Handlungen ihre offenbarende Form ist. Was einen karmischen Impuls für eine Handlung des Körpers betrifft, ist die offenbarende Form laut Vasubandhu die Gestalt des Körpers während des Ausführens einer Methode zur Durchführung einer Handlung. Nagarjuna und die indischen Prasangika-Meister nach ihm machten klar, dass sich „Gestalt“ auf die Bewegung des Körpers bezieht, während dieser eine Methode zur Ausführung der körperlichen Handlung anwendet. Das bedeutet nicht nur jeder einzelne Moment der Gestalt für sich genommen, sondern vielmehr das Kontinuum der Bewegung des Körpers während der gesamten Ausführung der Handlung. 

Im Falle eines karmischen Impulses für eine verbale Handlung vertritt Vasubandhu, dass die offenbarende Form der Klang der Stimme ist, während sie eine Methode zur Durchführung einer Handlung anwendet. Vasubandhu erklärt, dass die offenbarende Form einer körperlichen Handlung aus dem Körperbewusstsein (Tib. lus-kyi rnam-shes) und einem begleitenden geistigen Drang entsteht, der auf den Körper bezogen ist, während die offenbarende Form einer verbalen Handlung aus dem Hörbewusstsein (Tib. rna-ba’i rnam-shes) und einem begleitenden geistigen Drang hervorgeht, der sich auf Sprachlaute bezieht. Daher ist die offenbarende Form einer verbalen Handlung nicht die Bewegung der Lippen und der Zunge.   

Nagarjuna und dessen Anhänger stellen klar, dass die offenbarende Form einer Handlung der Rede die Äußerung der Wortlaute während der Ausführung einer Methode zur Durchführung der Handlung ist. Auch hier bezieht sich dies auf das Kontinuum der Lautäußerungen während der gesamten Dauer der Handlung und nicht nur während jedes einzelnen Momentes der Laute. Wie ich zuvor erklärt habe, zeigt die offenbarende Form sowohl bei Handlungen des Körpers als auch der Rede, dass es einen destruktiven oder konstruktiven geistigen Drang gegeben hat, der die offenbarende Form hervorgebracht und diese destruktiv oder konstruktiv gemacht hat. 

Dabei gilt es zu bedenken, dass hier nicht die Rede von einem Maschinengeräusch ist. Und selbst wenn wir hier nur die Äußerung der Wortlaute betrachten, während wir sprechen,, entstehen diese nicht nur durch die mechanische Bewegung des Mundes, der Zunge und der Luft, die durch die Lunge und die Stimmbänder strömt. Keines dieser Dinge existiert eigenständig, nicht wahr? Die Äußerungen unserer Sprache können lediglich angetrieben von einem Bewusstsein in Erscheinung treten, das von dem Drang zu sprechen, einer Absicht, einer Wortwahl und einer motivierenden Emotion begleitet wird. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich sehr von Geräuschen, die von einem mechanischen Gerät stammen.

Diese hörbaren Äußerungen zeigen, dass es einen geistigen Drang gegeben hat, der sie entstehen ließ. Wenn die Äußerungen destruktiv sind, offenbaren sie, dass sie von einem destruktiven Drang hervorgebracht wurden. Sind sie konstruktiv, so war auch deren hervorbringender Drang konstruktiv.

Die offenbarende Form einer physischen oder verbalen Handlung endet, wenn die Bewegung des Körpers bzw. Äußerung der Wortlaute zu einem Ende kommen. Wenn keine Bewegung mehr zu sehen bzw. Laute zu hören sind, gibt es auch keine offenbarende Form der Handlung mehr. Höre ich damit auf, den Hund zu streicheln oder gemeine bzw. nette Dinge zu sagen, ist die offenbarende Form dieser Handlung beendet.

Definition und Eigenschaften einer nichtoffenbarenden Form

Bei einigen karmischen Handlungen von Körper und Rede gibt es neben der offenbarenden Form der Handlung auch eine nichtoffenbarende Form. Eine nichtoffenbarende Form ist die subtile Form eines physischen Phänomens, und sie tritt gleichzeitig mit der offenbarenden Form auf, begleitet von einer starken störenden oder positiven Emotion; deswegen ist sie dementsprechend immer konstruktiv oder destruktiv und, im Gegensatz zu einer offenbarenden Form, niemals unspezifisch. Im Gegensatz zur offenbarenden Form, mit der sie entsteht, lässt sie nicht darauf schließen, ob sie durch einen destruktiven oder konstruktiven geistigen Drang hervorgerufen wurde. 

Die nichtoffenbarende Form einer körperlichen oder verbalen Handlung setzt sich als Teil des Kontinuums der Aggregate fort, nachdem die offenbarende Form nicht mehr vorhanden ist, kann aber als Teil dieses Kontinuums wahrgenommen werden. Sie besteht nicht aus Teilchen und ist daher, da sie keine Farbe oder Form hat, für das Sehbewusstsein nicht erkennbar – sie kann nur Objekt des geistigen Bewusstseins sein und kann auch nichts Materielles behindern. Sie degeneriert oder erschöpft sich nicht von einem Augenblick zum nächsten, sondern wird gestärkt, während sie weiterhin die Funktion erfüllt, unser Verhalten zu beeinflussen oder von dem, was wir getan haben, selbst beeinflusst zu werden. Sie wird jedoch nicht von Natur aus schwächer, wie die Batterie von einem Handy. Dies sind die Eigenschaften nichtoffenbarender Formen. 

Arten nichtoffenbarender Formen laut Nagarjuna

Nagarjuna erwähnt vier Arten von nichtoffenbarenden Formen: (1) die bekennende Zurückhaltung, eine Reihe von destruktiven Handlungen aufgegeben zu haben, (2) die bekennende Zurückhaltung, eine Reihe von destruktiven Handlungen nicht aufgegeben zu haben und (3 & 4) positive und negative nichtoffenbarende Formen, die damit verbunden sind, dass andere davon Gebrauch machen, was wir ihnen gegeben oder für sie gemacht haben. 

Die bekennende Zurückhaltung, eine Reihe von destruktiven Handlungen aufgegeben zu haben, bezieht sich auf die Gelübde. Diese entstehen gemeinsam mit den offenbarenden Formen unseres Körpers und unserer Rede, während wir die Gelübde ablegen: Wir knien nieder und wiederholen bestimmte Verse. Die nichtoffenbarenden Formen, die in diesen Gelübden bestehen, erfüllen weiterhin ihre andauernde Funktion, uns davon abzuhalten, bestimmte destruktive Handlungen gegenüber anderen zu begehen, solange wir diese Gelübde nicht aufgeben. Im Falle der Pratimoksha-Gelübde verlieren wir sie mit dem Tod, wohingegen die Bodhisattva-Gelübde und tantrischen Gelübde bis zum Erreichen der Erleuchtung fortbestehen, sofern wir sie nicht vorher aufgeben.

Die bekennende Zurückhaltung, bestimmte destruktive Handlungen nicht aufgegeben zu haben, bezieht sich auf negative Gelübde. Diese treten gemeinsam mit den offenbarenden Formen des Körpers und der Rede auf, während wir ein solches negatives Gelübde ablegen, wenn wir zum Beispiel der Armee beitreten und geloben, unsere Feinde zu töten. Alternativ können sie auch bei der Geburt in einer bestimmten indischen Kaste, wie beispielsweise in der Kaste der Fischer, in Erscheinung treten. Ähnlich wie bei den Gelübden erfüllen nichtoffenbarende Formen, die in solchen negativen Gelübden bestehen, weiterhin ihre andauernde Funktion, uns nicht davon zurückzuhalten, bestimmte destruktive Handlungen auszuführen, solange wir sie nicht aufgeben. Je länger Gelübde bzw. negative Gelübde in unserem geistigen Kontinuum fortbestehen und weiterhin ihre Funktion erfüllen, desto stärker wird die positive bzw. negative Kraft, die sie ausüben. 

Die positiven und negativen nichtoffenbarenden Formen, die damit verbunden sind, dass andere etwas nutzen, das wir ihnen gegeben oder für sie gemacht haben, entstehen aus den offenbarenden Formen anderer, die diese Dinge wiederholt mit einer starken motivierenden Emotion nutzen und somit in ihrem eigenen geistigen Kontinuum positive oder negative karmische Kraft aufbauen. Beispiele dafür wären die nichtoffenbarenden Formen, die beispielsweise dadurch entstehen, dass man für andere einen Stupa baut oder jemandem Material zum Dharma-Studium zur Verfügung stellt, oder aber dadurch, dass man ein Schlachthaus zur Tötung von Vieh baut und andere dann Gebrauch davon machen. Je mehr andere von dem Gebrauch machen, was wir gemacht haben oder ihnen gegeben haben, um Nutzen bzw. Schaden zu bringen, desto stärker wird die positive bzw. negative Kraft dieser nichtoffenbarenden Formen in unserem geistigen Kontinuum. Die nichtoffenbarenden Formen setzen sich in unserem geistigen Kontinuum so lange fort, wie andere von diesen Objekten Gebrauch machen – selbst nach unserem Tod. 

Arten nichtoffenbarender Formen laut Vasubandhu

Vasubandhu beschreibt drei Arten nichtoffenbarender Formen. Die ersten beiden sind dieselben wir bei Nagarjuna, nämlich bekennende Zurückhaltung und bekennendes Nicht-Zurückhalten – mit anderen Worten, positive und negative Gelübde. Die dritte Art sind die sogenannten „dazwischen liegenden nichtoffenbarenden Formen“; d.h., nichtoffenbarende Formen, die weder positive noch negative Gelübde sind. Davon gibt es wiederum drei Arten: (1) solche, die aus ihrem „Feld“ entstehen, (2) solche, die in deren Empfangen entstehen, und (3) solche, die aus einer hingebungsvollen Handlung entstehen.

„Feld” bezieht sich entweder auf etwas, das hergestellt oder jemandem gegeben wird, wie z.B. ein Tempel zur Verehrung oder ein Schlachthaus zum Töten von Tieren, oder auf die Personen, denen diese Dinge gegeben werden, wie beispielsweise eine Klostergemeinschaft oder eine Gemeinschaft von Schlachtern. Dies ist Nagarjunas Kategorie der nichtoffenbarenden Formen, die damit verbunden sind, dass andere davon Gebrauch machen, was ihnen gegeben oder für sie gefertigt wurde. Solche nichtoffenbarenden Formen werden zunächst durch die offenbarenden Formen des wiederholten Gebrauchs des Gegebenen durch den Empfänger verursacht und anschließend dadurch auch verstärkt. Vasubandhu erwähnt ebenso die nichtoffenbarenden Formen in dem geistigen Kontinuum von jemandem, der anderen etwas befiehlt und sie dazu zwingt, destruktive Handlungen zu begehen, wie z.B. Soldaten zu befehlen, in die Schlacht zu ziehen und den Feind zu töten. Die nichtoffenbarende Form des Tötens entsteht dann in dem geistigen Kontinuum des Befehlenden und wird durch die offenbarenden Formen der Soldaten, die diesen Befehl ausführen und andere wiederholt töten, verstärkt.

Der zweite Weg, eine nichtoffenbarende Form zu haben, die von Nagarjuna nicht erwähnt wurde, ist, diese zu empfangen, wie bei einem Schwur. Ein Beispiel hierfür wäre das Versprechen, sich vor der Mahlzeit dreimal niederzuwerfen oder nur tagsüber und nichts nachts zu jagen, und dann wiederholt in Übereinstimmung mit diesem Versprechen zu handeln. Positive und negative Gelübde werden für die Dauer des gesamten Lebens abgelegt und gelten ununterbrochen 24 Stunden am Tag. Diese sogenannten „dazwischen liegenden Gelübde“ werden nur für eine bestimmte Zeit abgelegt und sind auch nur auf bestimmte Gelegenheiten während des Tages bzw. des Jahres begrenzt.

Der dritte Weg ist durch das wiederholte Ausführen einer Handlung mit hingebungsvollem Respekt und Vertrauen oder einer starken störenden Emotion, wie z.B. tausende Niederwerfungen zu machen oder sich einer Bande von Hooligans anzuschließen und Leute zu verprügeln.

Spekulation bezüglich nichtoffenbarender Formen

Nun gilt es sich hinzusetzen und herauszufinden, worauf in aller Welt sich diese nichtoffenbarende Form bezieht. Das ist nicht so einfach, nicht wahr? Wir haben diese Liste deren Charakterstika und Arten, und das ist alles ziemlich komplex. Es muss sich auf eine Sache beziehen, sowie auch auf etwas, von dem wir uns lösen wollen, und es gilt nun herauszufinden, was das eigentlich ist. Wir müssen das Objekt der Widerlegung oder, um es fachlicher auszudrücken, das Objekt, von dem wir uns lösen wollen, identifizieren. Solange wir es nicht korrekt identifiziert haben, können wir uns nicht von ihm befreien, sondern beseitigen lediglich etwas anderes. 

Aus eigener Analyse ist das meine beste Vermutung, worauf sich, aus unserer westlichen Perspektive, nichtoffenbarende Formen beziehen. Ich habe nie eine Erklärung dazu bekommen, die über die Definition hinausgehen würde. Diese Analyse ergibt, meiner Meinung nach, einen Sinn und wir können damit arbeiten. Vor fünf Jahren hätte ich es als eine Art unsichtbare Schwingung beschrieben, wie es beispielsweise gute und schlechte Schwingungen gibt. Heute im Jahr 2016 habe ich vielleicht ein ausgefeilteres Verständnis, und in fünf Jahren wird sich das, was ich jetzt erkläre, vielleicht so simpel anhören, wie die Schwingung. Diese Analyse ist dementsprechend nur vorläufig. [In der Tat werde ich heute im Jahr 2021, da ich diesen Text ediere, auf Probleme in dieser Analyse hinweisen. Der Punkt ist, dass wir immer so genau wie möglich analysieren müssen.]

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass nur ein Buddha in der Lage ist, Karma bzw. hier die nichtoffenbarenden Formen völlig fehlerfrei zu verstehen. Jedes Verständnis, das wir haben, bevor wir ein Buddha sind, ist vorübergehend, und das gibt viel Hoffnung, denn wir können es immer weiter verfeinern. Auf diese Weise entwickeln wir keine große Anhaftung an unser Verständnis und unsere Einsichten. Wir erkennen, dass es nie völlig fehlerfrei sein wird und vermeiden es so, uns etwas darauf einzubilden und zu meinen, wir müssten nichts mehr lernen. So zu denken ist Teil des Bodhisattva-Gelübdes. Wir können uns in unserem Verständnis immer weiter entwickeln, bis wir ein Buddha sind.

Mein aktuelles, vorläufiges Verständnis im Jahr 2016 ist, dass diese nichtoffenbarende Form wie eine unsichtbare Form eines neuronalen Pfades ist, der durch die offenbarende Form der Bewegung des Körpers während einer physischen Handlung bzw. der Lautäußerungen während einer verbalen Handlung  geformt wird und mit diesen übereinstimmt. Sie tritt gleichzeitig und in Abhängigkeit mit der offenbarenden Form auf und begleitet sie. Außerdem wird sie anschließend fortgesetzt. Ich bediene mich hier der Art des Verstehens, das ein Laie in Bezug auf die Hirnforschung hat. Ich bin kein Arzt, und daher ist es nicht wirklich korrekt. 

Das Problem bei dieser Hypothese ist, dass ein neuronaler Pfad trotzdem etwas ist, das vom Sehbewusstsein erfasst werden und selbst materielle Dinge behindern kann. Die Hypothese muss deswegen modifiziert und präzisiert werden, um klarzustellen, dass die nichtoffenbarende Form von körperlichen und verbalen Handlungen sich nicht auf die stofflichen Neuronen des Pfades beziehen kann. Den neuronalen Pfad als Fluss von Energie zu betrachten ist ebenfalls etwas problematisch. Nichtoffenbarende Formen können nur vom geistigen Bewusstsein erfasst werden, während Energie mechanisch messbar ist.

Asanga zum Beispiel akzeptiert die Arten von nichtoffenbarenden Formen, die empfangen werden, nämlich die positiven und negativen Gelübde, betrachtet sie aber nicht als karmische Impulse. Er zählt sie zu den fünf Arten von Formen physischer Phänomene, die nur vom geistigen Bewusstsein wahrgenommen werden können, zusammen mit den Formen, die uns in unseren Träumen oder in unserer Fantasie erscheinen. Obwohl diese nicht Teil Vasubandhus System sind, finden wir diese fünf Arten von Formen physischer Phänomene bei Tsongkhapa, der sie in seine Prasangika-Darstellung einbindet.

Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken. Wenn wir auf eine bestimmte Weise handeln, gibt es einen gewissen neuronalen Pfad einer Form des Verhaltens, der mit einer Bewegung des Körpers bzw. einer Art des Sprechens auftritt. Gewissermaßen ist er fast wie im Gehirn eingeprägt. Der Pfad ist nach wie vor da, aber die Handlung endet. Er ist praktisch eingetreten, und umso mehr wir die Handlung oder die Art des Sprechens wiederholen, desto präsenter ist der Pfad. Er veranschaulicht die Zwanghaftigkeit, mit der wir handeln und sprechen. Ob es sich dabei jedoch um nichtoffenbarende Formen handelt, können wir nicht mit Sicherheit sagen. 

Unzulängichkeiten dieser Hypothese der neuronalen Pfade

Lasst uns weiter analysieren. Wenn wir von karmischen Impulsen sprechen, sind jene Impulse, die den Geistesfaktor eines Dranges darstellen, in dem Sinne zwanghaft, dass sie sowohl geistige als auch körperliche und verbale Handlungen erzwingen. Die offenbarenden und nichtoffenbarenden Formen von Handlungen des Körpers und der Rede werden von ihnen erzwungen, ohne dass man Kontrolle darüber hat. Dies ist der Fall, egal ob die karmischen Impulse destruktiv oder befleckt-konstruktiv sind (Letzteres bedeutet, dass sie mit Unwissenheit bezüglich unserer Existenzweise vermischt sind). Nichtoffenbarende Formen entstehen gemeinsam mit offenbarenden.    

Diese Erklärung von nichtoffenbarenden Formen in Bezug auf neuronale Pfade macht jedoch nur im Fall von nichtoffenbarenden Formen Sinn, die aus den offenbarenden Formen in unserem geistigen Kontinuum entstehen. Dies schließt jene nichtoffenbarende Formen ein, die sich mit dem Ablegen von Gelübden, negativen Gelübden, oder dazwischen liegenden Gelübden ergeben, oder aus der Verpflichtung, etwas aus starkem Glauben oder einer intensiven störenden Emotion heraus wiederholt zu tun oder zu rezitieren. Es ist deutlich schwieriger zu erklären, wie neuronale Pfade in unseren geistigen Kontinua aus den offenbarenden Formen in den Kontinua anderer entstehen können, wie wenn jemand etwas gebraucht, was wir gebaut haben (wie z.B. einen Stupa) oder jemandem gegeben haben, oder im Fall von anderen, die eine destruktive Handlung ausführen, die wir ihnen befohlen oder aufgezwungen haben. Vielleicht besteht in diesen Fällen eine Art Verflochtenheit zwischen unserem eigenen Geisteskontinuum und denen der anderen. Wie das jedoch genau funktioniert, ist schwer zu erklären. 

Im Gegensatz zu den karmischen Potenzialen, die die Folge karmischer Impulse sind und durch ihr Heranreifen zukünftig Resultate hervorbringen, sind die nichtoffenbarenden Formen auch jetzt gerade aktiv. Sie werden also nicht nur von zwanghaften karmischen Impulsen erzwungen, sondern sind auch selbst zwingend in Bezug auf unser Verhalten. Im Falle von positiven und negativen Gelübden halten uns die nichtoffenbarenden Formen in jedem Moment entweder davon ab, bestimmte Handlungen zu begehen, oder eben nicht. Die nichtoffenbarenden Formen von dazwischen liegenden Gelübden und jene nichtoffenbarenden Formen, die aus einer hingebungsvollen Handlung resultieren, drängen uns ebenfalls aktiv dazu, bestimmte körperliche oder verbale Handlungen zu bestimmten Zeiten zu begehen. Die nichtoffenbarenden Formen, die sich daraus ergeben, dass andere etwas nutzen, das wir für sie gemacht oder ihnen gegeben haben, oder die man dadurch erhält, dass man anderen befiehlt schädlich zu handeln, stellen aktiv die Umstände dafür bereit, dass andere gelegentlich bestimmte physische bzw. verbale Handlungen ausführen. Wir müssen uns also eine bessere Hypothese als die der neuronalen Pfade einfallen lassen, um nichtoffenbarende Formen aus unserer westlichen Sichtweise zu erklären. 

Die Zwanghaftigkeit karmischer Impulse

Die Tatsache, dass wir zwingende karmische Dränge haben, die zu offenbarenden und nichtoffenbarenden Formen unserer Handlungen von Körper und Rede führen, kann man – wie bereits erklärt – auch so zusammenfassen, dass unser Verhalten zwanghaft ist. Grund dafür ist, dass es, ob schädlich oder konstruktiv, von Unwissenheit oder Ignoranz begleitet wird. Ist unser Verhalten schädlich, geht mit der Unwissenheit bezüglich dessen leidvoller Konsequenzen einher – mit anderen Worten handelt es sich hierbei um Unwissenheit über verhaltensbezogene Ursache und Wirkung. Wenn unsere Handlung befleckt-konstruktiv oder destruktiv ist, wird sie von Unwissenheit darüber, wie wir existieren, hervorgerufen und begleitet: die Unwissenheit, an uns selbst festzuklammern, indem wir denken, dass wir als in sich selbst begründete Entitäten existieren. Ein solches Greifen kann konstruktive Handlungen, wie z.B. das Einhalten von Gelübden, zu einer Handlung machen, die aus einem Gefühl der Verpflichtung oder Schuld heraus getan wird, anstatt von Bodhichitta motiviert zu sein; oder es kann das Einhalten von Gelübden rein mechanisch machen. 

Warum beschreiben wir unsere karmische Situation als zwanghaft? Das liegt daran, dass erstens unsere schädlichen und befleckt-konstruktiven Handlungen von Körper, Rede und Geist durch einen Geistesfaktor, der ein zwingender karmischer Drang ist, hervorgerufen werden. Sobald ein solcher zwingender Drang auftaucht, treibt er das Bewusstsein zusammen mit den begleitenden Geistesfaktoren wie eine Lokomotive, die ihre Waggons mit sich zieht, dazu an, im darauffolgenden Moment eine beabsichtigte Handlung mit einem beabsichtigten Objekt bzw. auf ein solches gerichtet durchzuführen. In diesem Sinne sind karmische Dränge zwingend und außerhalb unserer Kontrolle.  

Die offenbarenden Formen, welche die karmischen Impulse für unsere körperlichen und verbalen Handlungen sind, werden durch die zwingenden karmischen Dränge auf zwanghafte Weise angetrieben. Mit anderen Worten: Die Bewegungen unseres Körpers werden durch einen karmischen Drang angetrieben, eine Art der physischen Handlung auszuführen, wie beispielsweise ein Messer in die Hand zu nehmen und jemanden zu erstechen und zu töten. In ähnlicher Weise werden die Äußerungen unserer Rede durch einen karmischen Drang dazu gebracht, eine Art der verbalen Handlung auszuführen, wie z.B. mit harschen Worten zu jemandem zu sprechen. 

Unsere Körperbewegungen und Lautäußerungen werden durch die nichtoffenbarenden Formen unserer positiven oder negativen Gelübde dazu gedrängt, bestimmte schädlich Handlungen zu unterlassen bzw. nicht zu unterlassen. In ähnlicher Weise werden sie durch die nichtoffenbarenden Formen unserer dazwischenliegenden Gelübde oder hingebungsvoller Handlungen dazu gezwungen, bestimmte Handlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen. 

Die nichtoffenbarenden Formen, die dadurch entstehen, dass andere etwas nutzen, das wir gemacht oder ihnen gegeben haben, oder dass andere unseren Befehlen folgen, zwingen uns dazu, immer mehr positive bzw. negative karmische Kraft aufzubauen, je mehr die anderen von dem nutzen, was wir ihnen gegeben haben oder unseren Befehlen folgen. Dies ist der Fall, ob wir wollen, dass sie dies tun oder nicht. Noch einmal: Wir haben keine Kontrolle über das, was sie tun. Wie ich bereits sagte, sind mein Verständnis und meine Analyse dieser Art von nichtoffenbarenden Formen jedoch nur vorläufig und nicht völlig zufriedenstellend.  

Wie dem auch sei, wir erleben unser Verhalten als zwanghaft, da wir keine Kontrolle darüber haben. Deshalb denke ich, dass es recht anschaulich und hilfreich ist, von Karma im Sinne von Zwanghaftigkeit zu sprechen. 

Sich von Karma lösen

Was die Strategie betrifft, gilt es daran zu arbeiten, die Zwanghaftigkeit der karmischen Dränge, die uns in Richtung einer Handlung treiben, und unserer Körperbewegungen und Lautäußerungen sowie der nichtoffenbarenden Formen, die unser Verhalten prägen, irgendwie zu beenden. Diese unbewusste Zwanghaftigkeit ist immer präsent und am Werk, und unser Ziel ist es, sie auf die eine oder andere Weise loszuwerden. Damit dies gelingt, ist es wichtig, mit all den involvierten Komponenten, besonders mit unserer Unwissenheit und den störenden Emotionen bzw. Geisteshaltungen, zu arbeiten und zu verstehen, wie sie funktionieren, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und wie sie entstehen. Außerdem ist es notwendig, die weitere Komplexität des gesamten Systems karmischer Ursache und Wirkung zu erfassen, das sich am besten mit den zwölf Gliedern des abhängigen Entstehens erklären lässt. Darin bezieht sich das zweite Glied, die beeinflussenden Variablen (tib. ’du-byed), auf das Karma, und es entsteht aus dem ersten Glied, der Unwissenheit.  

Wir müssen Abstand nehmen, unser Verhalten analysieren und uns mit der Tatsache konfrontieren, ein Problem zu haben. Zum Beispiel bin ich selbst ziemlich zwanghaft. Ich rede ständig auf zwanghafte Weise, und wenn mich jemand etwas fragt, fällt meine Antwort viel zu lang aus. Das ist Zwanghaftigkeit. Seine Heiligkeit der Dalai Lama antwortet immer in ein oder zwei Sätzen, damit jeder eine Gelegenheit hat, Fragen zu stellen. Ich gebe jedoch zwanghaft zu jeder gestellten Frage eine ganze Vorlesung. Das ist zwanghaft und ich habe keine wirkliche Kontrolle darüber. Es stellt ein Problem dar, denn nicht jeder kann seine Fragen stellen. Wie erlebe ich es selbst? Es ist zwanghaft und ich kann mich nicht kontrollieren – es passiert einfach. 

Um dieses zwanghafte Problem loszuwerden, müssen wir zunächst das konventionelle Ich – ein Zuschreibungsphänomen auf Grundlage der an diesem „Syndrom“ der Zwanghaftigkeit beteiligten Aggregate – richtig identifizieren. Objektiv gesehen können die Zuhörer mich auf gültige Weise hören, wenn ich beim Beantworten zwanghaft spreche; sie hören das konventionelle Ich sprechen. Wenn ich die zwanghaft sprechende Person begrifflich als „Ich” bezeichne, ist das konventionell korrekt, da ja nicht jemand anders spricht. Wenn ich jedoch das konventionelle Ich begrifflich mit der Kategorie „Ich“ mit den definierenden Charakteristika eines Atman aus dem Hinduismus – einem Selbst, das statisch, monolithisch, und unabhängig von den Aggregaten existiert – bezeichne und mich mit einem solchen unmöglichen Ich identifiziere, dann führt das zu Problemen aufgrund der Unwissenheit, mich selbst so wahrzunehmen und danach zu greifen, dass ich auf diese unmögliche Weise existiere. Es wird sehr schwierig, aus diesem zwanghaften karmischen Syndrom herauszukommen, wenn ich mich nicht von der Unwissenheit, auf diese unmögliche Weise zu existieren, befreie.  

Wenn man mich beschreiben müsste, habe ich, konventionell gesehen, diesen Zwang, wenn es darum geht Fragen zu beantworten. Dies ist konventionell korrekt. Welche Art von „Ich“ schreiben wir dem begrifflich in diesem Fall zu und welche Art von „Ich“ ist die Grundlage dieser Zuschreibung? Das ist eine wichtige Frage. Ich schreibe weder das Konzept eines falschen Selbst noch das eines konventionellen Ichs einem falschen und unmöglichen Ich als die Person, die zwanghaft ist, zu. Um Karma zu überwinden und uns von seiner Zwanghaftigkeit zu befreien, ist es wichtig, unsere Analyse auf ein Verständnis davon zu stützen, was in der buddhistischen Fachsprache als das „bloße Ich“ bezeichnet wird. Ich schreibe ihm das „bloße Ich“ zu. Das bloße Ich ist das „Ich“, das in der Tat existiert, aber nur als ein abhängig entstehendes Phänomen und nicht als etwas, das auf unmögliche Weise existiert.

Was ist nun die gültige Grundlage dafür, das konventionell existierende bloße Ich in dieser Hinsicht als zwanghaft zu bezeichnen? Was ist dieses karmische Syndrom? Zuerst einmal stellt mir jemand eine Frage, und unter diesem Umstand treibt mich der zwanghafte Drang dann dazu an, zwanghaft mit verschieden Wortlauten zu antworten. Diese Äußerungen sind insofern offenbarende Formen, als sie offenbaren, dass sie von dem konstruktiven, zwingenden Drang, jemandem Nutzen zu bringen, angetrieben wurden. Dieser Drang war jedoch mit dem Greifen nach einem Selbst behaftet – dem Wunsch, perfekt sein zu müssen, immer in vollem Umfang zu antworten, ohne Rücksicht darauf, was dem Verständnisniveau des Fragenden angemessen wäre. Die endlosen Äußerungen, die aus meinem Mund kommen, verraten diese Zwanghaftigkeit, nicht wahr? Ich kann mich selbst nicht zurückhalten, mit langen Erläuterungen zu antworten.

Da ich mich hingebungsvoll bemüht habe, die Fragen basierend auf meinem tieferen Verständnis so vollständig wie möglich zu beantworten, gibt es da auch eine erzwungene nichtoffenbarende Form in diesem karmischen Syndrom. Angetrieben durch den ursprünglichen karmischen Drang, mit dem es entstanden ist, zwingt mich diese nichtoffenbarende Form aktiv dazu, immer mit unnötig langen Erklärungen zu antworten, wenn mir eine Frage gestellt wird. Deswegen, sogar wenn ich meine Ausführungen beende und mir schließlich klar wird, dass ich endlich den Mund halten sollte, da andere Leute auch etwas fragen wollen, gibt es da immer noch einen unbewussten Zwang, der diese zwingende nichtoffenbarende Form ist. Wenn dann jemand die nächste Frage stellt, werde ich zwanghaft eine weitere lange und komplizierte Antwort geben. Der Zwang, dieser unbewusste Zwang, setzt sich weiter fort. 

Auf dieser Grundlage kann ich mich richtigerweise in Bezug auf das Beantworten von Dharma-Fragen als zwanghaften Menschen bezeichnen. Möchte ich ein effektiverer Lehrer wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama werden, muss ich den Zwang überwinden, der meinen Weg des Beantwortens von Dharma-Fragen formt. Es gibt eine Menge Leute, die Fragen haben, aber meine Fähigkeit, auf alle Fragen einzugehen, ist aufgrund meiner Zwanghaftigkeit begrenzt. Daher ist es notwendig, dass ich mich von diesem ganzen zwanghaften Syndrom befreie. Damit das gelingen kann, muss ich mich davon befreien, mich konventionell mit dem Konzept eines falschen Ichs – eines, das immer perfekt und gründlich sein muss, egal unter welchen Umständen – zu bezeichnen und mich damit zu identifizieren. 

Hier geht es noch nicht um das ganze karmische Syndrom, das beinhaltet, wie aus karmischen Impulsen Resultate folgen. Das ist eine andere Sache. Das zwanghafte Syndrom selbst beinhaltet den zwingenden Drang, eine lange Antwort zu geben, sowie die zwanghafte Rede, die in der Äußerung von Worten besteht, während ich mit meinen Erklärungen immer weiter fortfahre, und die sowohl erzwungene als auch zwingende unbewusste nichtoffenbarende Form, die ständig da ist und nur darauf wartet, durch etwas ausgelöst zu werden. Keiner dieser Komponente bzw. Eigenschaften ist jedoch etwas, das man in mir finden und worauf man deuten könnte. Dieses Schema ist lediglich ein begriffliches Bezugssystem, mit dem man beschreiben kann, was vor sich geht.

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