Unsere Mutter werden versus ein Buddha werden

Einleitung 

Heute werden wir ein äußerst wichtiges Thema besprechen: Wie entwickeln wir erstmalig Bodhichitta? Ist es freier Wille, Determinismus oder etwas anderes? Besteht unsere Motivation darin, allen Wesen zu helfen und müssen wir, um das tun zu können, Befreiung und Erleuchtung erlangen, ist die Frage: Wie passiert das? Ist es nur eine Frage des freien Willens – wir können uns einfach entscheiden, es zu tun? Ist es bereits festgelegt – hat Buddha es prophezeit, ergibt es sich aus unserem Karma oder ist es auf eine andere mechanistische Erklärung zurückzuführen? 

Ich habe eine ganze Vorlesung dazu verfasst und auch zwei Seminare zu der Frage des freien Willens versus Determinismus gegeben. Was ich in der heutigen Sitzung gern tun würde, ist, euch an eine analytische Meditation darüber heranzuführen.

[Siehe: Warum sind wir nicht alle schon erleuchtet? Siehe auch: Freier Wille im Vergleich zum Determinismus, und Karma: Weder freier Wille noch Determinismus]

Was ich geschrieben habe, ist ziemlich lang und ich glaube nicht, dass es so hilfreich wäre, es euch einfach vorzulesen. Vielmehr würde ich vorschlagen, es langsam durchzugehen, denn ich halte es für einen wesentlichen Aspekt, Übung darin zu bekommen, wie man solch schwierige Probleme analysiert, denn man kann es nicht einfach in irgendeinem Buch nachschlagen (in den traditionellen Behandlungen des tibetischen Buddhismus werden solche Sachen nicht wirklich durchgenommen). Wir werden also so weit machen wie wir kommen und hoffentlich habt ihr bis dahin ein paar Werkzeuge bei der Hand, damit ihr selbst weitermachen könnt, wenn ihr wollt. Schließlich liegt der Sinn und Zweck des Herkommens darin, etwas zu lernen. Auf dem buddhistischen Pfad übt man sich, indem man die Werkzeuge bekommt und dann lernt, wie man sie benutzt, denn der Pfad der spirituellen Entwicklung ist ein Pfad der Selbstentfaltung. Wir lernen selbst zu analysieren und zu arbeiten, um Erleuchtung zu erlangen. Auf diese Weise, durch unsere Bemühung und Inspiration (Anweisungen durch unsere Lehrer), können wir uns bis hin zur Erleuchtung entwickeln. 

Was das Analysieren betrifft, so benötigen wir eine große Anzahl an Werkzeugen, und das bedeutet, dass wir jede Menge Grundlageninformationen der buddhistischen Lehren zur Verfügung haben müssen. Daher ist das Studium so wichtig. Beispielsweise können wir den Lam-rim (den Stufenpfad) studieren, doch das ist ein einmaliger Vorgang. Man lernt Dinge und dann nimmt man alles vom gesamten Lam-rim, kehrt zurück zum Anfang und versucht, all die Dinge, die später kommen, mit den Punkten zu verbinden, sowie mit all den Madhyamaka-Studien und allen anderen Dingen, die man gelernt hat. 

Die Weise, wie wir den Dharma studieren, ist, als würden wir Teile eines Puzzles bekommen. Wir haben also all diese winzigen Teilchen und müssen lernen, sie zusammenzufügen. Allerdings lassen sie sich nicht nur auf eine, sondern auf vielfältige Weise miteinander verbinden. Aus diesem Grund benutze ich oft den Begriff „Netzwerk“, weil all diese Dinge miteinander verbunden sind und sich gegenseitig auf so multidimensionale Weise verstärken. Je mehr Dinge wir in dieses Netzwerk einbringen, desto tiefer werden unser Verständnis und unsere Einsicht sein, bis wir schließlich den allwissenden Geist eines Buddhas entwickeln, in dem alles Wissen und alles Verständnis im allwissenden Gewahrsein eines Buddhas miteinander verbunden sind. Es ist also ein Abenteuer. Betrachtet man es als ein Abenteuer anstatt einer schwierigen Aufgabe, kann man freudige Ausdauer entwickeln. Man erfreut sich daran, damit zu arbeiten. Lasst uns also unser Abenteuer heute beginnen. 

Weder freier Wille noch Determinismus 

Samsara bezieht sich auf unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt, die keinen Anfang hat, doch wenn wir eine Bodhichitta-Ausrichtung entwickeln, kann es ein erstes Mal geben. Das sind zwei Dinge, die recht schwer miteinander zu verbinden sind: es gibt keinen Anfang des Geisteskontinuums und doch gibt es einen Anfang, wenn wir das erste Mal Bodhichitta entwickeln. In der Übersetzung wird die Formulierung „anfangslose Zeit“ benutzt. Die Zeit wird dann zu einer ganz anderen Sache und ich möchte hier nicht allzu sehr darauf eingehen, denn auf meiner Webseite gibt es allerhand Material zum buddhistischen Konzept der Zeit. Die Vorstellung unterscheidet sich jedoch sehr von unserem konventionellen westlichen Konzept der Zeit, denn wir betrachten die Zeit nicht wie einen Behälter, in dem Dinge geschehen und der keinen Anfang hat. Das ist gewiss nicht die buddhistische Betrachtungsweise von Dingen und auch in der modernen Wissenschaft betrachtet man sie nicht auf diese Weise. Wir reden hier von Kontinua – geistige Kontinua, Kontinua von Universen, Materie, Energie usw. – und diese Kontinua haben keinen Anfang. Ein Kontinuum kann keinen Anfang haben, in dem ein Nichts zu einem Etwas wird. Das ist das Problem mit einem absoluten Anfang. Ein Nichts kann nicht zu einem Etwas werden. 

Wie dem auch sei, wie entsteht die Entscheidung, das Erlangen der Erleuchtung zum Wohle aller Wesen anzustreben, wenn es erstmalig geschieht? Ist es eine Sache des freien Willens und entscheiden wir uns, nach Erleuchtung zu streben? Wird es alles durch unser Karma vorherbestimmt und passiert ganz mechanisch, sodass wir gar keine Wahl haben und es einfach geschieht? Oder ist es viel komplexer als das? Weder durch freien Willen noch durch Determinismus lässt sich erklären, wie wir Entscheidungen treffen. In beiden gibt es extreme Ansichten. Daher sollten wir unsere Leerheitsmeditation darauf anwenden. 

Leerheit

Wenn wir über Leerheit reden, beziehen wir uns auf eine Abwesenheit. Wir reden lediglich von einer Abwesenheit, aber eine Abwesenheit wovon? Von einer Sache, die wir uns vorstellen und projizieren, die jedoch nicht der Realität entspricht. Abwesend ist somit eine tatsächliche Entsprechung dessen, was wir uns vorstellen. „So etwas gibt es nicht.“ Wir stellen uns Dinge vor, die unmöglich sind, insbesondere etwas, das unmöglich ist, und unmögliche Existenzweisen. Zum Beispiel meinen wir, Dinge würden ganz für sich existieren, unabhängig von allem anderen, als wären sie in Plastik gehüllt und einfach nur da. Das entspricht nicht der Realität. Die Leerheit ist somit eine Abwesenheit davon. 

Wir reden also nicht von einem Glas, das leer von Wasser ist. Daher ist dieses englische Wort „emptiness“ oder „empty“ irreführend. Im Deutschen ist es ziemlich einfach, ihr habt nur ein Wort. Im Englischen gibt es zwei Worte, „empty“ und „void“, die beide eine ganz andere Bedeutung haben. Es geht hier nicht um etwas, das leer von etwas anderem ist, sondern um nichts: es ist einfach abwesend, so etwas gibt es nicht. (Das Wort „shunya“ im Sanskrit ist das Wort für Null, also nichts.) Doch dies bedeutet nicht, dass da nichts ist, sondern nur, dass das, was unmöglich ist, nicht existiert. 

Freier Wille

Wenn wir nun also über den freien Willen reden, worauf bezieht sich das dann? Es bezieht sich auf ein wahrhaft existierendes „Ich“, das unabhängig Entscheidungen treffen kann, ohne durch Ursachen und Bedingungen beeinflusst zu sein. Es bezieht sich darauf, dass Entscheidungen unabhängig für sich existieren – wie Auswahlmöglichkeiten in einem Menü, und dass das unabhängig existierende „Ich“ einfach auf dem Menü diese unabhängig existierenden Entscheidungen treffen kann. Doch das ist unmöglich. Gäbe es solch ein „Ich“, wäre es wie in Plastik eingehüllt, die Auswahlmöglichkeiten wären ebenfalls wie in Plastik gehüllt und es könnte keine Interaktion geben. Alles, was unabhängig existiert, kann nichts tun. Es kann nicht durch die Entscheidung beeinflusst werden, etwas zu tun. Es kann nicht dadurch beeinflusst werden, etwas getan zu haben, woraus sich eine Auswirkung ergibt. Es kann durch nichts beeinflusst werden. Die Alternative zum freien Willen ist im Grunde unmöglich, wenn wir den freien Willen wörtlich nehmen (dass man nichts tun kann.) Lasst das für ein paar Minuten einwirken. 

Ich gebe euch ein Beispiel: Ihr könnt euch nicht entscheiden zu essen, ohne dass es einen bestimmten Umstand dafür gibt, wie hungrig zu sein oder Speisen, die auf dem Tisch stehen, und diese Umstände bieten die einzige Möglichkeit zu essen. Ihr könnt euch nicht entscheiden zu essen, wenn es keine Nahrung gibt. Beim Analysieren ist man gezwungen an weitere Beispiele zu denken, um den Punkt zu machen und versucht Gegenbeispiele zu finden, welche die Aussage widerlegen. 

Die Schlussfolgerung von einer jeden solchen Analyse besteht übrigens darin, sich auf „so etwas gibt es nicht“ zu konzentrieren. Auf diese Weise fokussieren wir uns auf die Leerheit. Nehmen wir das Beispiel des Weihnachtsmanns. Viele Menschen denken, es gäbe einen Weihnachtsmann. Das ist eine Konvention. Sehr schön, aber sie entspricht nichts Realem. Es gibt keinen Weihnachtsmann, der mit seinen Rentieren am Nordpol lebt, falls es diesen Mythos auch hier in Deutschland gibt. So etwas gibt es also nicht; es entspricht nicht der Realität. So etwas, wie den Weihnachtsmann, gibt es nicht. Wie fokussieren wir uns darauf? Ich wollte hier eigentlich keine Vorlesung über die Leerheit halten, aber es ist nützlich. Könnt ihr sehen, dass da kein Apfel auf dem Tisch liegt? Was seht ihr? Nichts. Ihr seht nichts auf dem Tisch, aber ihr wisst, worauf sich dieses Nichts bezieht: es bedeutet kein Apfel, es bezieht sich auf die Abwesenheit eines Apfels und nicht auf die Abwesenheit eines Elefanten. Was erscheint ist nichts, doch wir verstehen, dass es sich auf keinen Weihnachtsmann bezieht. 

Dasselbe gilt für den freien Willen, den absolut freien Willen (man kann alles tun, ohne irgendeinen Grund). Wir widerlegen nicht das Treffen von Entscheidungen. Das Treffen von Entscheidungen findet statt. Wir sprechen darüber, wie das Treffen von Entscheidungen stattfindet. Wir fokussieren uns also auf „so etwas nicht“. Im Grunde achten wir nicht darauf, was unsere Augen sehen. Wir fokussieren uns nicht auf ein visuelles Nichts. Es geht um das Mentale. Versteht ihr? Wir achten also nicht darauf, was wir sehen. 

Es gibt viele Gründe dafür, warum wir im tibetischen Buddhismus die Menschen dazu ermutigen, mit offen Augen zu meditieren und nicht mit geschlossenen. Einer der Gründe bezieht sich sehr auf den Mahayana: Müsste man, um im täglichen Leben an Leerheit oder Mitgefühl zu denken, zuerst die Augen schließen, wäre es unmöglich, die Lehren im täglichen Leben anzuwenden. Verinnerlicht das mal für einen Moment und stellt euch vor, ihr müsstet jedes Mal eure Augen schließen, um Liebe und Mitgefühl zu empfinden. Die Menschen sind sich gar nicht darüber bewusst. Sie entwickeln diese feste Gewohnheit, immer ihre Augen zu schließen und zu sagen: „Lass mich in Ruhe, ich meditiere gerade.“ Man schließt die Welt aus,  was wirklich nichts mit Mahayana zu tun hat. Ich glauben, darüber sollten wir ein paar Momente nachdenken. 

Determinismus

Kommen wir zu dem anderen Extrem, dem Determinismus. Hat man Madhyamaka, die Lehren über Leerheit, studiert, kann man dieses Konzept des Determinismus (der ein westlicher Begriff ist) einer Kategorie zuordnen, die zu der Madhyamaka-Art der Analyse der Leerheit passen würde. Dieser Punkt ist überaus wichtig. Mit unserer westlichen Denkweise, die natürlich von Land zu Land verschieden ist, erfassen wir unsere Erfahrung auf eine ganz andere Weise, als wir es mit dem traditionellen Buddhismus tun. Es gibt so viele Dinge, die wir erfahren und die wirklich schwer im Tibetischen auszudrücken sind. Dabei geht es oft auch um ganz einfache Worte, wie „Unsicherheit“, ganz zu schweigen von Dingen, wie: „ich habe keinen Bezug zu meinen Gefühlen“, was im Tibetischen überhaupt keinen Sinn ergibt. 

Es ist also wichtig, unsere Denkweise von Dingen irgendwie dem buddhistischen System zuzuordnen, um sie als Hilfe nutzen zu können, und natürlich wird es keine genaue Übereinstimmung geben.  Das ist im Grunde der Schlüssel dafür, unsere buddhistischen Werkzeuge als Hilfsmittel im täglichen Leben nutzen zu können, denn wir nehmen unsere Erfahrung auf unterschiedliche Weise auf. 

Es geht um konzeptuelles Erfassen. Lasst mich zumindest dieses Wort erläutern, da viele Leute ein wirklich verwirrtes Verständnis darüber haben. „Konzeptuell“ heißt einfach, „in Kategorien zu denken“. Das ist alles, worauf es sich bezieht. Wir denken in Kategorien, wie „Mann“, „Frau“, „Hund“, „Apfel“, was auch immer. All das sind Kategorien, zu denen zahlreiche einzelne Beispiele gehören, die alle individuell und verschieden sind, aber wir können sie doch einer Kategorie zuordnen, wie „Mann“ oder „Frau“. Wir ordnen unsere emotionalen Erfahrungen Kategorien zu: „Unsicherheit“, „Nervosität“ oder „Depression“. Und natürlich müssen wir diese Kategorien haben, denn ihnen werden Worte zugewiesen. Man hat nicht für jeden Apfel im Universum eine anderes Wort; es gibt das Wort „Apfel“, das man für alle benutzen kann. 

Wir kategorisieren Dinge also unterschiedlich. Wie würden wir Determinismus kategorisieren? Determinismus heißt, dass das Resultat bereits auffindbar in der Ursache wahrhaft existiert. Es existiert dort auf wahrhafte Weise und wartet nur darauf herauszukommen und sich zu manifestieren. Es ist bereits festgelegt, was passieren wird, für was ich mich entscheiden werde. Diese Entscheidung ist bereits da, gewissermaßen hinter der Bühne und wartet nur darauf, auf die Bühne zu kommen, aufzutreten und dann die Bühne wieder zu verlassen. 

Im Buddhismus gibt es dafür die klassische Widerlegung, die man in all den Texten finden kann: Wäre das der Fall, würde das Resultat bereits erzeugt worden sein und könnte nicht mehr durch irgendwelche Bedingungen beeinflusst werden, die auftauchen. Keine Bedingungen könnten es entstehen lassen, weil es bereits entstanden ist. Darüber hinaus müsste etwas, das bereits entstanden ist, nicht erneut entstehen. Wie könnte eine Entscheidung stattfinden, die es bereits in unserem Geist gibt und die bereits stattgefunden hat? Wie gesagt, bedeutet „wahrhaft existierend“, als wäre etwas in Plastik eingehüllt, wenn man es auf vereinfachte Weise betrachten will. (Wenn ich eine Pause mache, heißt das: „denkt darüber nach“.) 

Wenn nun also alles festgelegt ist, hat gewissermaßen alles bereits stattgefunden und damit gibt es keine zeitliche Abfolge mehr: nichts könnte sich entwickeln, nichts könnte wachsen. Man kann es mit einer Blume vergleichen. Es ist nicht so, dass die Blume im Samen existiert und man nur auf einen Knopf drückt, damit sie herauskommt. Das ist die buddhistische Methode, absurde Beispiele zu benutzen. 

Diese letzte Widerlegung, die Widerlegung des Determinismus, können wir einem anderen Format der Leerheitsanalyse zuordnen: Das Resultat ist zum Zeitpunkt der Ursache weder wahrhaft existierend noch völlig nicht-existierend. Wenn es wahrhaft existiert, wenn das Resultat bereits existiert, kann etwas nicht nochmal dasselbe werden (wenn es bereits existiert). Hier reden wir über den Zeitpunkt der Ursache. Wenn das Resultat zum Zeitpunkt der Ursache bereits existiert, könnte es nicht erneut stattfinden. Wäre das Resultat andererseits zum Zeitpunkt der Ursache vollkommen nicht-existent, kann ein Nichts kein Etwas werden. Wie könnte ein Nichts beeinflusst werden, um ein Etwas zu werden, wenn es zum Zeitpunkt der Ursache vollkommen nicht-existent wäre? 

Hier muss ich leider hinzufügen, dass dies ein wirklich wichtiger Punkt ist, den es zu berücksichtigen gilt, wenn es um die Abtreibung geht. Wann beginnt das Leben? Das ist eine wirklich schwierige Frage. Ist es so, dass es sich für eine bestimmte Zeit während der frühen Schwangerschaft um ein Nichts handelt, dass dann plötzlich zu einem Etwas, einem menschlichen Wesen, wird? Zuerst ist es ein Nichts und dann wird es ein Etwas? Wäre es ein Nichts, wie kann es dann zu einem Etwas werden? Aus dieser Analyse ergeben sich unzählige weitere Fragen, auf die ich hier nicht weiter eingehen werde; das überlasse ich euch. Es ist eine ausgesprochen interessante und wichtige Analyse, wenn man einmal den buddhistischen Standpunkt zur Abtreibung beleuchten will. 

Warum sind alle bereits unsere Mütter gewesen, obwohl nicht alle bereits Erleuchtung erlangt haben? 

Gut. Gibt es also beim Treffen von Entscheidungen weder freien Willen noch Determinismus, läuft unsere Diskussion auf eine Analyse darüber hinaus, wie das Treffen von Entscheidungen stattfindet, beispielsweise die Entscheidungen, die mit dem erstmaligen Entwickeln von Bodhichitta zu tun haben (also der Entscheidung, zum Wohle aller Wesen Erleuchtung anzustreben und darauf hinzuarbeiten). Diese Angelegenheit würde ich gern in Bezug auf eine größere, eine ziemlich schwierige Frage, besprechen. Sie bezieht sich auf bestimmte Annahmen, die wir im Buddhismus haben. Hier hinterfragen wir jetzt die Grundsätze oder Glaubensvorstellungen des Buddhismus. Wir nehmen diese Grundsätze, verbinden sie miteinander und fragen uns, wie wir etwas weiter erklären können. Anders ausgedrückt fügen wir einige Puzzleteile zusammen und versuchen nun herauszufinden, worauf das hinausläuft. Wie können wir hier andere Teile zuordnen?  

Wenn unsere geistigen Kontinua keinen Anfang haben und jeder somit in einem früheren Leben unsere Mutter gewesen ist, warum hat dann nicht schon jeder entschieden, Bodhichitta zu entwickeln und bereits Erleuchtung erlangt? War die anfangslose Zeit nicht genug? Das ist die Frage. Denkt einmal darüber nach, denn das ist wirklich eine wichtige Frage. 

Gut, sehen wir uns die ganze Frage an, indem wir ein paar mehr Teile zusammenfügen. In Anbetracht dessen, 

  • dass es keinen Anfang für das Kontinuum gibt (in unserer gewöhnlichen Sprache würden wir sagen, die Zeit ist anfangslos, obwohl die Zeit kein Behälter ist),
  • dass die Anzahl der begrenzten oder fühlenden Wesen endlich ist,
  • dass jeder ebenbürtig ist,
  • dass es immer Buddhas gab, seit anfangsloser Zeit,

angesichts all dessen, all dieser Puzzleteile, ist die Frage: Warum hat nicht jeder schon Erleuchtung erlangt? Anfangslose Zeit, begrenzte Wesen – und mit jedem Wesen, das Erleuchtung erlangt, sind es weniger, also unzählige minus ein, unzählige minus zwei usw. Es gibt keinen Anfang. 

Die Situation hier unterscheidet sich erheblich von der anderen Frage: Angesichts dessen, dass Zeit anfangslos ist, die Zahl der begrenzten Wesen beschränkt ist und jeder ebenbürtig ist, wie kann man da sagen, dass alle Wesen irgendwann schon einmal meine Mutter gewesen sind? Weil das im Buddhismus so akzeptiert wird. Im Buddhismus geht man davon aus, dass alle schon meine Mutter waren und es wird auch gesagt, dass nicht jeder schon Erleuchtung erlangt hat. Wie beweisen wir diese beiden Aussagen? Das ist es, was wir analysieren, wenn wir uns in analytischer Meditation üben, und wir tun es, um uns von Zweifeln zu befreien. Worin besteht also der Unterschied? 

Warum alle Wesen unsere Mutter gewesen sind 

Was die Situation mit unseren Müttern betrifft, so besteht der Unterschied, wenn wir es analysieren, darin, dass es keine anfangslose, sich gegenseitig ausschließende Gegenkraft gibt, die jemanden davon abhält, meine Mutter zu sein. Nichts Anfangsloses muss überwunden werden, damit jemand meine Mutter sein kann. Darüber hinaus hatte ich in jedem Leben, in dem ich aus einem Mutterleib oder einem Ei geboren wurde, eine Mutter und somit hatte ich also eine unendliche Anzahl von Müttern. Das ist der Unterschied, einer der Unterschiede. 

Um Erleuchtung zu erlangen, muss man das mangelnde Gewahrsein oder die Unwissenheit überwinden. Dieses mangelnde Gewahrsein verhindert die Erleuchtung, doch es gibt nichts, was jemanden daran hindert, meine Mutter zu sein. Was ist das Gegenteil davon (wie Gewahrsein und mangelndes Gewahrsein)? Es gibt kein sich gegenseitig ausschließendes Gegenteil, das jemanden daran hindert, meine Mutter zu werden. 

Kommen wir zum Beweis, dass jeder meine Mutter gewesen ist. Dabei handelt es sich um einen Beweis im Prasanga-Stil. Meine Schüler sind darauf gekommen – man wird diesen Beweis in keinem Text finden – aber ich habe einige Geshes dazu befragt, und sie stimmten zu, dass es ein gültiger Beweis ist. Hier ist der Beweis: 

Wenn ein Wesen meine Mutter gewesen ist, dann waren alle Wesen schon meine Mutter, denn jeder ist ebenbürtig und es gab keine anfangslose Gegenkraft, die überwunden werden muss, um meine Mutter zu werden. Um etwas zu beweisen, brauchen wir das Subjekt, das wir beweisen wollen, und den Grund. Wenn nun eine Person meine Mutter war, waren alle meine Mutter, weil wir alle ebenbürtig sind. Nun die Prasanga-Methode (das Anbringen des Gegenteils): Wäre das nicht der Fall, würde aus der Annahme, dass ein Wesen nicht meine Mutter gewesen ist, aus genau dem gleichen Grund die absurde Schlussfolgerung folgen, dass niemand jemals meine Mutter gewesen ist, einschließlich meiner Mutter in diesem Leben, denn jeder ist ebenbürtig und keine anfangslose Gegenkraft musste überwunden werden, um meine Mutter zu sein. Darüber sollten wir nachdenken. Wenn jemand meine Mutter gewesen ist, waren alle schon meine Mutter, denn wenn jemand nicht meine Mutter war, war es niemand. Das ist eine Prasanga-Methode des Beweises. Denkt einmal darüber nach. 

Dies ist also der wichtige Punkt in diesem Argument. Wenn jemand meine Mutter gewesen ist, waren alle schon meine Mutter, denn nichts hält sie davon ab und wir sind alle ebenbürtig. Jeder ist gleich und nichts hält jemanden davon ab. (Und das würde auch beweisen, dass, wenn ein Wesen nicht meine Mutter gewesen ist, niemand meine Mutter war.) Weil wir alle gleich sind und es nichts gibt, was jemanden davon abhält, warum sollte jemand nicht meine Mutter gewesen sein? Nichts hätte dieses eine Wesen, das nicht meine Mutter war, davon abgehalten, meine Mutter zu sein. Diese Prasanga-Denkweise muss man verstehen. 

Wenn ihr Nagarjunas Texte mit all diesen Argumenten im Prasanga-Stil studiert, was ihr ja hoffentlich hier tut, wird euch klar werden, dass sie nicht einfach nur in diesen Lehrbüchern aufgeführt werden und Methoden der Analyse und des Beweisen sind, die sich auf die Themen der Texte begrenzen, sondern Werkzeuge, die wir nutzen können, um zahlreiche andere Dinge zu analysieren und zu verstehen. 

Warum jeder nicht bereits Erleuchtung erlangt hat 

Die Frage, warum jeder nicht schon Befreiung und Erleuchtung erlangt hat, ist eine andere. Was ist hier der Unterschied? Der Unterschied ist, dass es anfangslose, sich gegenseitig ausschließende Gegenkräfte gibt, welche Befreiung und Erleuchtung verhindern – die zwei Hindernisse oder Schleier, emotionale und kognitive – also mangelndes Gewahrsein oder Unwissenheit, Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz, dessen Tendenzen, dessen Gewohnheiten und so weiter. Und alle begrenzten Wesen, alle fühlenden Wesen, gleichen sich darin, dieses mangelnde Gewahrsein und Greifen als Teil ihres anfangslosen Geisteskontinuums gehabt zu haben. Das muss also in unserer Gleichung berücksichtigt werden. 

Doch nun – der klassische indische Stil des Kommentierens und der Analyse – kommt ein Zweifel auf. Diesen Zweifel muss man abwägen. In unserer Meditation, in unserer Analyse kommt er von Natur aus hoch. Ich werde es erst einmal ganz einfach sagen: Nun, jeder hatte anfangslose Unwissenheit, aber hatte nicht jeder auch eine anfangslose Buddha-Natur? Um es noch ausführlicher zu formulieren: Wir gleichen uns alle darin, als Teil unseres anfangslosen Geisteskontinuums, die Faktoren der Buddha-Natur zu haben, welche diesem mangelnden Gewahrsein und Greifen für immer ein Ende setzen können und die uns ermöglichen, diese anfangslosen Schleier zu überwinden. 

Das bezieht sich auf das, was ich als Netzwerk positiver Kraft (tib. bsod-rnams-kyi tshogs) und Netzwerk tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes-kyi tshogs) bezeichne. Für gewöhnlich nennt man sie Ansammlung von Verdienst und Ansammlung von Weisheit (auch Erkenntnis oder wie immer man es bezeichnen möchte). Ich wähle diese Begriffe, die ich dafür benutze, ganz bewusst. Hier geht es nicht um eine Sammlung, wie eine Briefmarkensammlung, mit der man, wenn man genug hat, einen Preis gewinnt. Ein Verdienst klingt wie Briefmarken oder Punkte in einem Spiel und wenn man genug Punkte oder Verdienst angesammelt hat, gewinnt man das Spiel. Darum geht es aber nicht. Man bekommt den Preis, die Erleuchtung, das stimmt, doch es geht um positive Kraft und all diese positive Kraft wird aufeinander einwirken und sich gegenseitig verstärken. 

Und Weisheit oder Erkenntnis ist völlig unangemessen, denn auch der Regenwurm verfügt darüber und man kann nicht sagen, der Regenwurm besäße Weisheit. Die Rede ist hier einfach von den Funktionsweisen des Geistes, von der Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, Dinge zusammenzufügen, zu wissen, was man damit macht und so weiter. Diese Dinge sind in dem Sinne recht tiefgründig, da sie die grundlegende Funktionsweise des Geistes sind. Und natürlich können sie in einem anderen Sinne, in Bezug auf das Leerheitsverständnis, tiefgründig werden. 

Das sind also die Faktoren der Buddha-Natur. Wir verfügen über diese zwei Netzwerke, was man beweisen kann. Wie beweisen wir es? Wir sollten es nicht einfach akzeptieren und sagen, dass es in den Texte so geschrieben steht. Wir müssen es beweisen. Was ist das Wesentliche, das aus der positiven Kraft heranreift? (Hier geht es um die grundlegenden Lehren über Karma, die ihr euch einprägen solltet.) Glücklichsein: Wir alle, egal wie schlecht es uns auch geht, haben irgendwann ein paar Momente des Glücklichseins erfahren, und das zeigt, dass wir über ein Netzwerk positiver Kraft verfügen. Was sind die Gesetze des Karma? Glücklichsein ist das Ergebnis positiver Kraft und Unglücklichsein – Leid – ist das Ergebnis negativer Kraft. Wie ihr sehen könnt, ist es etwas schwierig, wenn wir uns gedanklich auf Verdienst und Sünde beziehen, denn dann funktioniert es nicht. Und jeder hat ein Netzwerk tiefen Gewahrseins, denn wir können Informationen aufnehmen, wir können Dinge einander zuordnen. Sogar ein Regenwurm weiß, wenn er etwas sieht, dass es sich um Nahrung und nicht um einen Stein handelt, und er weiß, was er damit machen muss. Er weiß, dass er die Nahrung aufnehmen kann. Das würde man doch nicht als Weisheit bezeichnen. 

Wir haben also diese anfangslosen Netzwerke und die anfangslose Leerheit, die tiefste Natur des Geistes. Die zwei Netzwerke (anfangslos), sowie anfangsloses mangelndes Gewahrsein und Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz – wozu führen sie? Wenn wir diese zwei miteinander verbinden, was bekommen wir dann? Samsara, unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt und Leiden. Das liegt daran, dass die Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins, wenn sie nicht von Entsagung oder Entsagung und Bodhichitta begleitet werden, Samsara-bildende Netzwerke sind. Das ist ein Problem, nicht wahr? Ohne Entsagung oder Entsagung und Bodhichitta wird der Mechanismus, den wir haben, nur Samsara aufrechterhalten. Das ist hässlich oder nicht? 

Nun muss ich noch auf etwas anderes eingehen, bevor wir unsere Tee-Pause machen. Laut Haribhadras Kommentar zu Maitreyas „Abhisamayalamkara“ („Der Filigranschmuck der Verwirklichungen“) ist dieser Text der wichtigste. Die Tibeter studieren ihn fünf Jahre lang in ihrem Geshe-Programm. Haribhadras Kommentar ist der wesentliche Kommentar dazu; es handelt sich um einen indischen Kommentar. Es ist der Text, in dem es um die präzisesten Punkte darüber geht, was man auf diesen Stufen des Pfades entwickelt. Jedenfalls erklärt er in diesem Kommentar das Sanskrit-Wort, das die Tibeter mit dem Begriff übersetzen, der entweder „Ansammlung“ oder „Netzwerk“ bedeutet. Doch nur weil die Tibeter es auf eine bestimmte Weise übersetzt haben, heißt nicht, dass es sich dabei auch um die Bedeutung im Sanskrit handelt. Sie nehmen nur eine Bedeutung. Haribhadra erklärt es folgendermaßen: Es handelt sich um das Sanskrit-Wort „sambhara“. „Sam“ bedeutet „rein“ und „bhara“ bezieht sich auf „etwas, das aufbaut“; es geht also um etwas, das einen reinen Zustand schafft. Diese Netzwerke sind das, was uns in die Lage versetzt, den reinen Zustand der Befreiung oder Erleuchtung zu schaffen. Reden wir also beispielsweise von positiver Kraft, geht es in diesem Zusammenhang nicht um positive karmische Kraft. Wie gesagt wird Karma ja nur Samsara schaffen. Die karmische positive Kraft führt einfach zu schönen oder besseren Wiedergeburten. Doch das ist nicht das, was wir wollen. Es geht um eine andere Art der positiven Kraft, die man für drei zahllose Weltalter aufbauen muss, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Dabei handelt es sich um die Reines-bildenden, Befreiungsbildenden und Erleuchtungsbildenden. 

[Siehe: Die zwei Sammlungen: Technische Darstellung]

Das stammt aus einem anderen Text von Maitreya, dem „Uttaratantra“, („Weitest gehendes immerwährendes Kontinuum“; tib. rGzud bla-ma), den ebenfalls alle studieren. Es ist der grundsätzliche Text über die Buddha-Natur. Dort gibt es die Struktur von Grundlage, Pfad und Ergebnis, die Vorstellung von diesen Netzwerken als einer grundlegenden Ebene (was Samsara hervorbringt), der Ebene des Pfades, die sich darauf bezieht, wenn sie Befreiung und Erleuchtung hervorbringen, und der Ebene des Ergebnisses, also den zwei Körpern eines Buddhas, Rupakaya-Formkörper und Dharmakaya (Körper des Geistes, der Geist). 

Zum Analysieren und um mehr Werkzeuge zu haben, ist es also überaus wichtig, diese vielen verschiedenen Texte studiert zu haben und dann die kleinen Teile, die Puzzleteile, zu nehmen und zusammenzufügen. Das ist unsere Aufgabe, nicht die des Lehrers. Der Lehrer kann uns ein paar Möglichkeiten zeigen, um sie zusammenzufügen, aber es liegt an uns, immer mehr Teilchen zusammenzufügen. Auf diese Weise entwickeln wir uns und es ist interessant und macht Spaß. Je mehr wir uns darin üben, desto glücklicher macht es uns, denn all das, all die Lehren über freudige Ausdauer zielen darauf ab uns zu helfen, Leiden zu überwinden. Wir sollten es nicht damit vergleichen, Abends noch unsere Mathe-Schulaufgaben machen zu müssen. 

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