Die Zwei Sammlungen: Technische Darstellung

Tibetische Übersetzung des Sanskrit-Begriffes „Sambhara“ 

Gemäß dem Werk des indischen Meisters Haribhadra gegen Ende des achten Jahrhunderts: „Ein Kommentar zur Klärung der Bedeutung“ (tib. ‘Grel-ba don-gsal), das Maitreyas „Filigranschmuck der Verwirklichungen“ (tib. mNgon-rtogs rgyan, Skt. Abhisamaya-alamkara) kommentiert, bedeutet der Sanskrit-Begriff sambhara auf Tibetisch yang-dag-par sgrub-pa, Reines-Bildendes.

Aus der Perspektive dieses Kommentars ist die tibetische Übersetzung als tshogs, Ansammlungen oder Netzwerke ungenau. Statt punyasambhara und jnanasambhara als „ein Netzwerk positiver Kraft“ (tib. bsod-rnams-kyi tshogs, Ansammlung von Verdienst, Ansammlung von positivem Potential) und „ein Netzwerk tiefen Gewahrseins“ (tib. ye-shes-kyi tshogs, Ansammlung von Weisheit) zu übersetzen, werden sie akkurater als „Reines-bildende positive Kraft“ und „Reines-bildendes tiefes Gewahrsein“ wiedergegeben.

Ob wir den Begriff sambhara auch als „Netzwerke“ verstehen können oder nicht, ist eine andere Frage, der wir uns im Nachfolgenden zuwenden werden.

Zwei Arten von Reines-Bildende

Es gibt zwei Arten von Reines-Bildende:

  • Jene, die mithilfe des Shravaka- oder Pratyekabuddha-Pfads nach Befreiung streben, sammeln gewöhnliches Reines-Bildende an.
  • Jene, die mithilfe der Bodhisattva-Pfade nach Erleuchtung streben, sammeln vollständig der Definition entsprechende Reines-Bildende an.

Nennen wir um der Klarheit willen Ersteres „Befreiungsbildendes“ und Letzteres „Erleuchtungsbildendes“. 

Samsara-Bildende und Reines-Bildende

Positive Kraft (tib. bsod-nams, Verdienst, positives Potential) und tiefes Gewahrsein (tib. ye-shes, Weisheit, Einsicht) haben beide sowohl Samsara-bildende als auch Reines-bildende Formen. Der Unterschied ergibt sich aus:

  • der Motivation (tib. kun-slong), mit der wir die konstruktive Handlung (tib. dge-ba, tugendhafte Handlung) oder meditative Konzentration (tib. mnyam-bzhag, meditative Ausgewogenheit) über die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten, mit der die positive Kraft bzw. das tiefe Gewahrsein aufgebaut werden, durchführen, und
  • der anschließenden Widmung (tib. bsngo-ba).

Im Buddhismus bedeutet der Begriff „Motivation“ die Intention oder Absicht (tib. ‘dun-pa) – mit anderen Worten der Wunsch etwas zu tun, zu dem wir uns entschieden haben, gegenüber einem Objekt für das wir uns entschieden haben, um es herbeizuführen oder nicht, oder um von ihm getrennt zu werden oder nicht. Die Motivation umfasst auch die positiven oder negativen Emotionen wie Eifersucht, Abneigung gegenüber unserem Leiden oder Mitgefühl gegenüber anderen – welche die Intention begleiten. Samsara bezieht sich auf unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt aufgrund der Einflüsse zwanghaften karmischen Verhaltens und störender Emotionen und Geisteshaltungen, und zeichnet sich durch Leid aus.

Führen wir derartige Handlungen oder Meditationen aus, mit einer weltlichen Motivation oder keiner bestimmten Motivation im Sinn, und widmen wir sie im Anschluss der Erfüllung dieses weltlichen Ziels oder überhaupt nicht, fungieren die damit verbundene positive Kraft und das tiefe Gewahrsein als Samsara-bildend. Sie dienen lediglich als Ursachen, um gemäß den Gesetzen des Karma eine der besseren samsarischen Situationen, samsarisches Glück und samsarische Klugheit zu erleben. Es verhält sich wie bei der Standardeinstellung eines Computers. Sie tragen automatisch zur Verbesserung des Samsara bei, es sei denn, wir ändern unsere Grundeinstellung und setzen uns bewusst ein anderes Ziel und widmen sie dementsprechend.

Wenn wir auf der anderen Seite konstruktive Handlungen oder meditative Versenkung über die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten in Verbindung mit der Motivation der Entsagung (tib. nges-‘byung) ausführen – der Entschlossenheit, frei von Samsara zu sein und Befreiung zu erlangen – und sie anschließend dem Erreichen dieses Ziels widmen, fungieren die sie begleitende positive Kraft und das tiefe Gewahrsein als befreiungsbildend. Sie führen zur Befreiung von Samsara und dem Erlangen des Glücks und des tiefen Gewahrseins der Befreiung. Auf dem Weg zur Befreiung reifen die befreiungsbildende positive Kraft und das tiefe Gewahrsein auch zu kostbaren menschlichen Wiedergeburten mit dem Glück und der Intelligenz, die für das Erlangen der Befreiung förderlich sind.

Führen wir konstruktive Handlungen oder meditative Versenkung in Verbindung mit einer Bodhichitta-Motivation aus und widmen sie anschließend dem Erreichen der Erleuchtung zum Wohle aller Wesen, wirken die sie begleitende positive Kraft und das tiefe Gewahrsein als erleuchtungsbildend. Sie führen zum Erlangen der Erleuchtung, der Fähigkeit, anderen mit dem glückseligen Gewahrsein, tiefen Gewahrsein und den erleuchtenden Fähigkeiten eines Buddhas so weitgehend wie möglich zu helfen. Auf dem Weg zur Erleuchtung reifen die erleuchtungsbildende positive Kraft und das tiefe Gewahrsein auch zu Umständen und Möglichkeiten, die es erleichtern, anderen zu helfen, und die für das Erlangen der Erleuchtung förderlich sind.

Zwei Ebenen der zwei Arten von Reines-Bildendem 

Sowohl Befreiungsbildendes wie Erleuchtungsbildendes hat zwei Ebenen:

  • „Nachgeahmte Reines-Bildende“ (naturgetreue Nachbildung des tatsächlichen Reines-Bildenden), bevor man einen aufbauenden Pfadgeist (tib. tshogs-lam, Pfad der Ansammlung) erlangt hat, den ersten der fünf Arten von Pfadgeist, die zu Befreiung oder Erleuchtung führen.
  • „Begriffsbestimmende Reines-Bildende“, vom ersten Erlangen eines aufbauenden Pfadgeistes bis zum letzten Moment des vierten Pfadgeistes, einem sich gewöhnenden Pfadgeist (tib. sgom-lam, Pfad der Meditation) unmittelbar vor dem Erlangen der Befreiung oder Erleuchtung.

Um die angenäherte Ebene handelt es sich, wenn Entsagung und Bodhichitta durch Bemühung entstehen (tib. rtsol-bcas), das heißt, wenn sie erzeugt werden, indem man sich ihnen mithilfe von Logik und Argumentation in Schritten nähert. Im Falle von Bodhichitta kann die Argumentation die der siebenteiligen Methode von Ursache und Wirkung sein oder die des Gleichsetzens und Austauschens unserer Geisteshaltungen in Bezug auf uns selbst und andere. Selbst wenn man Entsagung und Bodhichitta durch Anstrengung erzeugt, können sie dennoch ernsthaft empfunden werden. 

Was das begriffsbestimmende Reines-Bildende betrifft, müssen Entsagung und Bodhichitta mühelos (tib. rtsol-med) sein. Sie müssen entstehen, ohne dass man sich zu ihnen in eben erwähnter Weise vorarbeitet. Gemäß der Panchen- (tib. Pan-chen bSod-nams grags-pa) Textbücher, denen man im Drepung Loseling- (tib. ‘Bras-spungs Blo-gsal gling Grva-tshang) und Ganden Shartse- (tib. dGa’-ldan Shar-rtse Grva-tshang) Kloster folgt, sind sowohl bemühtes als auch müheloses Bodhichitta tatsächliches Bodhichitta. Gemäß der Jetsunpa- (tib. rJe-btsun Chos-kyi rgyal-mtshan) Textbücher, denen man im Sera Je (tib. Se-ra Byas Grava-tshang) und Ganden Jangtse- (tib. dGa’-ldan Byang-rtse Grva-tshang) Kloster folgt, ist nur müheloses Bodhichitta tatsächliches Bodhichitta.

Das Erreichen von Entsagung oder Bodhichitta ohne Bemühung ist ein Zeichen dafür, dass man einen aufbauenden Pfadgeist erlangt hat. Zudem sind die Entsagung und das Bodhichitta eines aufbauenden Pfadgeists in ihrer Kontinuität ungebrochen. Ob wir uns ihrer bewusst bleiben oder nicht, wir verlieren nie unsere Intention, Befreiung von unserem Leid oder auch Erleuchtung zu erlangen, um allen anderen dabei zu helfen, sich ihres Leids zu entledigen.

Zudem muss Reines-bildendes tiefes Gewahrsein nicht die unbegriffliche Wahrnehmung der vier edlen Wahrheiten oder der Leerheit sein, mit der wir einen sehenden Pfadgeist erlangen (Pfad des Sehens). Es kann eine begriffliche meditative Vertiefung auf eines von ihnen sein, zum Beispiel mit den vier festen Ausrichtungen der Vergegenwärtigung (tib. dran-pa nyer-bzhag, Pali: satipattana). Daher muss die Vertiefung nicht unbedingt mit einsgerichteter Konzentration (tib. ting-nge-‘dzin, Skt. samadhi) einhergehen.

Die Notwendigkeit, beide Reines-Bildende zusammen zu haben

Nur ein Reines-Bildendes, entweder das von positiver Kraft oder das von tiefem Gewahrsein, ohne das andere zu haben reicht nicht aus, um das Ziel zu erlangen. Ohne die Kraft tiefen Gewahrseins kann positive Kraft aus konstruktiven Handlungen, die entweder der Befreiung oder der Erleuchtung gewidmet sind, kein wahres Aufhören (wahre Beendigung) des Leids und seiner Ursachen bewirken. Das kann es nur in Verbindung mit tiefem Gewahrsein geschehen, dem tatsächlichen Gegenspieler, der Samsara, also mangelndes Gewahrsein (Unwissenheit), an seiner Wurzel packt.

Auf ähnliche Weise ist tiefes Gewahrsein, selbst wenn es der Befreiung oder Erleuchtung gewidmet ist, ebenfalls unzureichend, um diese Ziele zu erlangen. Es braucht die positive Kraft aus konstruktivem Verhalten, um die inneren und äußeren Umstände zu schaffen, die der Meditation zuträglich sind, von erfolgreicher Meditation ganz zu schweigen.

Daher dient die positive Kraft aus konstruktiven Handlungen als herbeiführende Ursache (tib. nyer-len-gyi rgyu, materielle Ursache) für den Körper und das Glück eines befreiten oder erleuchteten Wesens. Das tiefe Gewahrsein aus der meditativen Vertiefung über die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten fungiert hingegen als die gleichzeitig wirkende Bedingung (tib. lhan-cig byed-rkyen, begleitende Umstände) für diese Errungenschaft. Für den Geist und das tiefe Gewahrsein eines befreiten Wesens oder eines erleuchteten Wesens ist es anders herum.

Zwei Auslegungen für Reines-Bildendes 

Gemäß einer Auslegung von Haribhadras Erklärung wird der Begriff sambhara in Verbindung mit den Begriffen „positive Kraft“ und „tiefes Gewahrsein“ nur in dem Fall benutzt, wenn beide direkt Reines-bildend sind. Zudem beziehen sie sich auf eine einzige konstruktive Handlung von positiver Kraft oder einer einzigen Meditation über tiefes Gewahrsein und nicht auf ein Netzwerk von vielen. Ist eine derartige Handlung oder Meditation samsarabildend, nennt man sie nicht sambhara.

Wir können sambhara auch im Kontext der Buddha-Natur-Lehren auslegen, in welchem Fall positive Kraft und tiefes Gewahrsein Buddha-Natur-Faktoren sind. In diesem Zusammenhang müssen wir von Netzwerken positiver Kraft und tiefen Gewahrseins sprechen (unabhängig davon, ob es korrekt ist, sambhara auf Tibetisch als tshogs zu übersetzen oder nicht), und nicht nur von einzelnen Handlungen oder einzelnen Meditationssitzungen.

Als Buddha-Natur-Faktoren sind die beiden Netzwerke erleuchtungsbildend auf allen drei Stufen:

  • auf der grundlegenden Stufe, wenn sie ungereinigt sind und direkt als Samsara-bildend für die Wiedergeburtszustände fungieren, die förderlicher dafür sind, auf die Erleuchtung hinzuarbeiten,
  • auf der Stufe des Pfads, wenn sie teilweise ungereinigt und teilweise gereinigt sind und teils direkt als Samsara-bildend oder befreiungsbildend agieren und teilweise direkt als erleuchtungsbildend,
  • auf der Ergebnisstufe, wenn sie vollkommen gereinigt sind und als die Formkörper (Skt. rupakaya) und der erleuchtende Geist (Skt. dharmakaya) eines Buddha wirken.

Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins 

Von welcher Auslegung von sambhara wir auch ausgehen, wir müssen ein Verständnis haben von der Beziehung zwischen:

  • einzelnen konstruktiven Handlungen und Meditationen,
  • Karma (tib. las, karmische Impulse),
  • positiver Kraft, und
  • Netzwerken positiver Kraft.

Begrenzen wir unsere Erörterung darauf, wie die Thematik laut der Gelug-Tradition in den zwei Madhyamaka-Unterteilungen des Svatantrika und des Prasangika dargelegt wird. Wir werden auch nicht über die gegenwärtig stattfindende (tib. da-lta-ba) positive Kraft und die nicht länger stattfindende (tib. ‘das-pa) positive Kraft, sowie über den Unterschied dieser beiden reden.

Die Svatantrika-Sichtweise

Die Sichtweise des Svatantrika ist auf den Chittamatra-Text „Eine Anthologie spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa kun-las btus-pa, Skt: Abhidharma-samuccaya) von Asanga, dem indischen Meisters des dritten Jahrhunderts, zurückzuführen. Gemäß dieser Sicht ist ein karmischer Impuls ausschließlich eine Art, sich etwas bewusst zu sein (tib. shes-pa): ein Geistesfaktor (tib. sems-byung, Nebenbewusstsein), das ein Primärbewusstsein (tib. rnam-shes), zum Beispiel das Augenbewusstsein oder geistige Bewusstsein, begleitet. Ein karmischer Impuls ist also genau genommen der Geistesfaktor eines Dranges.

  • Ein Drang (tib. sems-pa) ist der Geistesfaktor, der das Bewusstsein und dessen andere begleitende Geistesfaktoren beeinflusst, sich auf ein Objekt zuzubewegen, es wahrzunehmen und im weiteren Sinne eine Handlung von Körper, Rede oder Geist gegenüber dem Objekt auszuführen.

Bei jeder karmischen Handlung gibt es Dränge, die sie einleiten, aufrechterhalten und beenden. Das Karma einer Handlung ist daher nicht dasselbe wie die Handlung selbst. Eine karmische Handlung ist eine nichtkongruente beeinflussende Variable (tib. ldan-min ‘du-byed) – ein nichtstatisches Phänomen, dass weder die Form eines physischen Phänomens, noch eine Weise, sich etwas gewahr zu sein, ist. Als solche ist sie ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des Pfades eines karmischen Impulses.

  • Ein „Zuschreibungsphänomen“ (tib. btags-pas ‘dogs-pa) ist ein Phänomen, das nicht unabhängig von einer Grundlage der Zuschreibung (tib. gdags-gzhi) existieren und nicht getrennt von dieser Grundlage wahrgenommen werden kann. Im wahrsten Sinne des Wortes ist es ein Phänomen, das an eine Grundlage gebunden ist.
  • Der „Pfad eines karmischen Impulses“ (tib. las-lam) umfasst 1.) eine Grundlage, auf die eine Handlung gerichtet ist, 2.) die Geistesfaktoren der Absicht (tib. ‘dun-pa), Unterscheidung (tib. ‘du-shes) und eine positive oder negative Emotion, 3.) die Anwendung einer Methode, um die Handlung auszuführen, und 4.) das Endziel. Der Pfad beinhaltet nicht den karmischen Impuls selbst.

Als Zuschreibungsphänomen wird die karmische Handlung von einer Person ausgeführt und die verschiedenen Komponenten des Pfades eines karmischen Impulses werden als Teile der fünf Aggregate wahrgenommen, welche die Person als Teil ihres geistigen Kontinuums wahrnimmt. Diese karmischen Handlungen sind ganz offensichtlich eine positive Kraft, wenn sie konstruktiv sind.

  • „Offensichtlich“ heißt hier nicht, dass die karmische Kraft gesehen oder gehört werden kann, wenn man eine karmische Handlung des Körpers oder der Rede sieht oder hört. Es handelt sich lediglich um eine einfache Weise, diese Phase der karmischen Kraft auf der Grundlage einer Handlung zu kennzeichnen, die gesehen oder gehört werden kann und somit „offensichtlich“ ist.

Ist die Handlung beendet, existiert die positive Kraft weiter als nichtkongruente beeinflussende Variable, die auf der Grundlage des geistigen Bewusstseins der Person, die die Handlung ausgeführt hat, ein Zuschreibungsphänomen ist, aber nun zu einer „positiven Kraft , die sich in etwas verwandelt hat, dass die essentielle Natur einer Tendenz (Samen) besitzt“ (tib. sa-bon-gyi ngo-bor gyur-ba) wird. Sie setzt sich nun als eine nicht-offensichtliche positive Kraft fort. 

Eine positive Kraft mit der essentiellen Natur einer karmischen Tendenz ist ein konstruktives Phänomen (tib. dge-ba), so wie die karmische Handlung, die ihr vorangegangen ist. Diese konstruktive Art der karmischen Tendenz (tib. sa-bon) ist nicht dasselbe, wie die Art der karmischen Tendenz, die ein unspezifisches Phänomen (tib. lung ma-bstan) ist – ein Phänomen, das von Buddha nicht als konstruktiv oder destruktiv spezifiziert wurde – und das auch eine Hinterlassenschaft der konstruktiven Handlung, aber keine karmische Kraft ist.

  • Ist etwas eine positive karmische Kraft, ist es demzufolge (tib. khyab), auch ein konstruktives Phänomen.
  • Ist etwas ein konstruktives Phänomen, folgt daraus nicht, dass es auch eine positive Kraft ist. Die geistigen Dränge, welche die karmischen Impulse sind, die zu den karmischen Handlungen von Körper, Rede und Geist führen, sind konstruktive Phänomene, jedoch keine positiven karmischen Kräfte.

Der Begriff „positive Kraft“ bezieht sich also sowohl auf diese offensichtlichen, als auch auf die nicht offensichtlichen Phasen, die beide auf der Grundlage des Kontinuums, insbesondere des Kontinuums des geistigen Bewusstseins, nichtkongruente beeinflussende Variablen sind. In beiden Phasen ist die positive Kraft ein konstruktives Phänomen.

Die Momente positiver Kraft von jeglicher konstruktiver Tat verknüpfen sich genau wie die Kontinua positiver Kraft von vielen konstruktiven Handlungen sich untereinander verbinden und sich gegenseitig stärken können und somit an Kraft gewinnen. Daher gibt es, als ein Zuschreibunsphänomen auf der Grundlage all jener, die noch nicht ausgereift sind, ein Netzwerk (eine Ansammlung) von positiver Kraft. Dieses Netzwerk ist außerdem auf der Grundlage des Kontinuums des geistigen Bewusstseins der Person, die diese Handlungen ausgeführt hat, eine nichtkongruente beeinflussende Variable.

Die Gelug-Prasangika-Sichtweise

Diese Sichtweise ist laut dem Kommentar „Klare Worte“ (tib. Tshig-gsal, Skt. Prasannapada) von Chandrakirti, dem Meister des 8. Jahrhunderts, auf das 17. Kapitel von Nagarjunas Werk aus dem 2. Jahrhundert: „Wurzelverse auf dem Mittleren Weg“ (tib. dBu-ma rtsa-ba shes-rab, Skt. Prajnanama Mulamadhyakarika) zurückzuführen. Alle Details dieser Sichtweise kann man jedoch in Vasubandhus Text „Ein Schatzhaus spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa’i mdzod, Skt. Abhidharma-kosha) aus dem 4. oder 5. Jahrhundert finden, in dem nähere Einzelheiten im Kontext des Vaibhashika-Lehrsystems präsentiert werden.

Obwohl in dieser Sichtweise eine karmische Handlung von Körper, Rede oder Geist eine Grundlage erfordert, gegenüber der die Handlung ausgeführt wird, sowie eine Absicht, eine motivierende Emotion und die Anwendung einer Methode zum Ausführen der Handlung, werden diese Dinge nicht zusammen als Pfad eines karmischen Impulses betrachtet. Vielmehr bezieht sich die Sichtweise auf die Anwendung einer Methode zum Ausführen der Handlung als Pfad eines karmischen Impulses.

Gemäß dieser Sichtweise ist ein karmischer Impuls des Geistes der Geistesfaktor eines Dranges, der das Bewusstsein zusammen mit den begleitenden Geistesfaktoren zu einem Objekt mit der Absicht bewegen kann, eine karmische Handlung mit Körper, Rede oder Geist zu begehen, die auf das Objekt gerichtet ist.

Im Falle von karmischen Handlungen des Geistes:

  • Der karmische Impuls für eine karmische Handlung des Geistes ist der Geistesfaktor eines Dranges.
  • Der Pfad für den karmischen Impuls ist die Anwendung einer Methode zum Ausführen der karmischen Handlung des Geistes, also das Denken mit einer störenden oder konstruktiven Emotion. Solches Denken, das in den Schriften nur als störende oder konstruktive Emotion bezeichnet wird, ist die karmische Handlung des Geistes. Einige Meister betrachten jedoch die karmische Handlung des Geistes als ein Hauptgewahrsein (tib. gtso-sems), was dann nicht nur die störende oder konstruktive Emotion, sondern auch das geistige Bewusstsein und alle anderen Geistesfaktoren umfassen würde, die eine Kongruenz mit ihnen aufweisen. Dies wird von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama in seinem Vortrag zu (Tsongkhapas) „Umfassender Darstellung des Stufenpfades zur Erleuchtung“ (tib. Byang-chub lam-rim chen-mo’i bka’-khrid) erwähnt.
  • Im Falle von kontruktiven Handlungen des Geistes, ist die offensichtliche positive Kraft die karmische Handlung des Geistes, während die nicht-offensichtliche karmische Kraft die Phase ist,  in der sich die offensichtliche karmische Kraft in etwas verwandelt hat, das die essentielle Natur einer konstruktiven karmischen Tendenz besitzt.

Die karmischen Impulse für Handlungen von Körper und Rede sind grundsätzlich Formen physischer Phänomene (tib. gzugs) und die Anwendungen von Methoden zum Ausführen einer karmischen Handlung von Körper oder Geist. Es handelt sich immer noch um karmische Impulse, aber in diesem Fall um physische Impulse statt um geistige. Der karmische Impuls für eine Handlung von Körper oder Rede hat zwei Aspekte:

  1. Die „offenbarende Form“ (tib. rnam-par rig-byed-kyi gzugs) der Handlung, die sich entweder auf die Bewegungen des Körpers oder die Äußerungen des Klangs der Stimme als Anwendung einer Methode zum Ausführen der Handlung bezieht. Vasubandhu hat sie einfach als Gestalt des Körpers oder Klang der Worte bezeichnet. Sie ist durch visuelle oder hörende Wahrnehmung erkennbar und in dem Sinne offenbarend, als sie die Motivation offenbart. Sie besteht während der Anwendung von vorangehenden, tatsächlichen und nachfolgenden Methoden zum Ausführen einer körperlichen oder verbalen Handlung. Somit würde sie im Fall von konstruktiven Handlungen des Körpers die offenbarenden Formen der Bewegung des Körpers umfassen, wenn man beispielsweise eine Fliege am Fenster mit einem Glas fängt, ein Stück Papier darunter schiebt, das Fenster öffnet und sie freilässt, anstatt sie zu töten. Oder im Falle von konstruktiven Handlungen der Rede würde es sich zum Beispiel auf die Äußerungen des Klangs von Worten beziehen, die während einer Debatte gesprochen werden, anstatt grobe Worte zu benutzen, wenn eigene Fehler aufgedeckt werden, um dann die Debatte fortzusetzen.
  2. Die „nicht-offenbarende Form“ (tib. rnam-par rig-byed ma-yin-pa’i gzugs) der Handlung, die wie ihre subtile Energie ist, kann nur durch geistige Wahrnehmung erkannt werden und ist nicht-offenbarend, da sie die Motivation nicht offenbart. Sie besteht nicht nur während der Anwendung der vorangehenden, tatsächlichen und nachfolgenden Methoden des Ausführens einer körperlichen oder verbalen Handlung, sondern setzt sich auch mit dem geistigen Kontinuum fort, nachdem die Handlung aufgehört hat, und zwar so lange wie die Absicht besteht, die Handlung zu wiederholen. Sie hört auf, wenn man die Absicht hat, die Handlung nicht mehr zu wiederholen. 

Im Falle von konstruktiven karmischen Handlungen von Körper und Rede sind die offenbarenden und nicht-offenbarenden Formen dieser Handlungen positive karmische Kräfte, auch wenn die geistigen Dränge, die karmische Impulse des Geistes sind und diese karmischen Handlungen hervorrufen, sowie jene, die karmische Handlungen des Geistes hervorrufen, keine karmischen Kräfte sind.

  • Während der drei Phasen der konstruktiven Handlung ist die offenbarende Form eine offensichtliche positive Kraft. Am Ende der nachfolgenden Handlungen, falls es solche geben sollte, ändert sich diese offensichtliche karmische Kraft in etwas, das die essentielle Natur einer konstruktiven karmischen Tendenz hat und wird so zu einer nicht-offensichtlichen positiven karmischen Kraft.
  • Während der drei Phasen der konstruktiven Handlung ist die konstruktive nicht-offenbarende Form eine nicht-offensichtliche positive karmische Kraft. Am Ende der nachfolgenden Handlungen, falls es solche geben sollte, setzt sich diese nicht-offensichtliche positive karmische Kraft als eine konstruktive nicht-offenbarende Form fort, solange man nicht die Absicht aufgibt, die konstruktive Handlung zu wiederholen. Gibt man diese Absicht auf, ändert sich die konstruktive nicht-offenbarende Form in etwas, das die essentielle Natur einer konstruktiven karmischen Tendenz hat und setzt sich nun als eine konstruktive nicht-kongruente beeinflussende Variable fort.

Die positiven karmischen Kräfte, die offensichtliche oder nicht-offensichtliche Formen physischer Phänomene sind und jene, die offensichtliche Weisen sind, sich etwas gewahr zu sein, sind Komponenten der fünf Aggregate der Person, die diese karmischen Handlungen begangen hat. Bei den nicht-offensichtlichen positiven karmischen Kräften, die nichtkongruente beeinflussende Variablen sind, handelt es sich um Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage des konventionellen „Ichs“ der Person, die diese Handlungen begangen hat.

Hier ist das Netzwerk positiver Kraft eine konstruktive nichtkongruente beeinflussende Variable, die ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage all dieser verschiendenen Arten offensichtlicher und nicht-offensichtlicher positiver karmischer Kraft ist – jene, die Formen physischer Phänomene sind; jene, die Weisen sind, sich etwas gewahr zu sein; sowie jene, die nichtkongruente beeinflussende Variablen sind – solange ihre konstruktiven karmischen Tendenzen nicht aufgehört haben zu reifen. Außerdem ist es ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des konventionellen „Ichs“ der Person, die diese Handlungen begangen hat.

Netzwerke von Reines-bildender positiver Kraft 

Die oben erwähnten beiden Analysen gelten für Samsara-bildende positive Kraft im Kontext von Karma. Schließlich ist es Karma, zusammen mit störenden Emotionen und Geisteshaltungen, das uns in Samsara auf und ab kreisen lässt, von einem Leben zum nächsten.

Reines-bildende positive Kraft ist kein Phänomen des Karma, da sie zu Befreiung und Erleuchtung führt und nicht zu Samsara. Daher gibt es in Bezug auf die positive Kraft und das Potential aus konstruktiven Handlungen auf der Stufe des Pfades, wenn das erleuchtungsbildendende Netzwerk positiver Kraft teilweise ungereinigt und teilweise gereinigt ist, zwei Aspekte:

  1. Vom Standpunkt jeglicher störenden Emotionen oder dem Greifen nach wahrer Existenz, das die konstruktive Handlung begleitet, ist die positive Kraft Samsara-bildend durch den karmischen Prozess.
  2. Vom Standpunkt der Bodhichitta-Motivation und Widmung ist die positive Kraft erleuchtungsbildend und hat nichts mit dem karmischen Prozess zu tun.

Die Basis für die Zuschreibung von Netzwerken positiver Kraft, die sie in zukünftige Leben weiterträgt 

Aufgrund des oben erwähnten Unterschieds beschreiben die Mahayana-Lehrsysteme wie Chittamatra und Yogachara Svatantrika-Madhyamaka, wenn sie von „Alayavijnana“ (tib. kun-gzhi rnam-shes, alles-umfassendes grundlegendes Gewahrsein, Speicherbewusstsein) sprechen, dieses als das grundlegende Gewahrsein, auf dessen Grundlage nur die Samsara-bildende Kraft ein Zuschreibunsphänomen ist. Das liegt daran, dass Alayavijnana ein rein samsarisches Phänomen ist und als solches die nicht-offensichtlichen Komponenten der Netzwerke Samsara-bildender positiver und negativer karmischer Kraft in zukünftige samsarische Leben trägt. Je nach Auslegung endet die Kontinuität des Alayavijnana entweder mit der Befreiung oder mit der Erleuchtung.

Erleuchtungsbildende positive Kraft ist kein Zuschreibunsphänomen auf der Grundlage des Alayavijnana, sondern ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des Raumes der Wirklichkeit (tib. chos-kyi dbying, Skt. dharmadhatu) des Geistes, der mit der Leerheit des Geistes vergleichbar ist. Die nicht-offensichtlichen Komponenten des Netzwerkes erleuchtungsbildender positiver Kraft werden durch seine Kontinuität in zukünftige Leben und bis zur Erleuchtung getragen.

Parallel zu dieser Unterscheidung wird im Nyingma-Dzogchen-System der „Alaya der Gewohnheiten“ (tib. bag-chags-kyi kun-gzhi, alles-unfassende Grundlage der Gewohnheiten) als Basis beschrieben, auf dessen Grundlage nur die Samsara-bildende karmische Kraft ein Zuschreibungsphänomen ist, und auf dessen Grundlage die nicht-offensichtlichen Komponenten dieser karmischen Kraft, die nicht aufgehört haben zu reifen, in zukünftige Leben weitergetragen werden. Erleuchtungsbildende positive Kräfte und ihr Netzwerk sind als Buddha-Natur-Faktoren grundsätzlich Phänomene, die Zuschreibungsphänomene und Eigenschaften auf der Grundlage des „ursprünglichen, tiefsten Alaya“ (tib. ye-don kun-gzhi, ursprüngliche, tiefste alles-umfassende Grundlage) sind, einem Synonym für „Rigpa“ (tib. rig-pa, reines Gewahrsein).

Im Gelug-Prasangika-System setzen sich sowohl die nicht-offensichtlichen Komponenten Samsara-bildender wie erleuchtungsbildender positiver Netzwerke als nicht-offenbarende Formen in zukünftigen Leben als Teil des Aggregats der Formen fort, obwohl sie während der Todesexistenz vorübergehend die essentielle Natur eines positiven karmischen Potentials als ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des konventionellen „Ichs“ annehmen. Die nicht-offensichtlichen Komponenten dieser Netzwerke, die positive Tendenzen sind, die noch nicht aufgehört haben zu reifen, setzen sich in zukünftigen Leben als Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage des konventionellen „Ichs“ fort. Im Falle von erleuchtungsbildenden positiven Kräften setzt sich ihre Kontinuität in zukünftigen Leben bis hin zur Erleuchtung entweder als manifestiertes Hauptgewahrsein oder unmanifestiert als Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des konventionellen „Ichs“ fort, solange Bodhichitta nicht mit voller Absicht zurückgewiesen wird.

Obwohl ich keinen spezifischen Text mit dieser Analyse gesehen habe, wäre es im allgemeinen Anuttarayoga-Tantra dennoch angemessen, nicht-offenbarende Formen als Formen von Energiewind (tib. rlung) darzustellen. Bei der Samsara-bildenden positiven Kraft, welche die konstruktiven nicht-offenbarenden Formen enthält, würde es sich dann um die subtilen Formen von Energiewinden (samsarische Phänomene) handeln. In der Kalachakra-Terminologie wäre diese Art von Samsara-bildender positiver Kraft die „Winde des Karma“ (tib. las-kyi rlung) und die erleuchtungsbildende Form dieser Art der positiven Kraft wären auf der anderen Seite ausschließlich Formen des subtilsten Energiewindes, die den Geist des klaren Lichts stützen.

Diese Erklärung würde mit den Theorien, die von getrennten Grundlagen für die Zuschreibung von Samsara-bildender und erleuchtungsbildender positiver Kraft sprechen, übereinstimmen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass sich nur der subtilste Energiewind durch das klare Licht des Todes in zukünftige Leben fortsetzt. Während des klaren Lichts des Todes lösen sich die Winde des Karma vorübergehend auf und nur ihre Gewohnheiten (tib. bag-chags, Instinkte) sind vorhanden. Bei dieser Gelegenheit nehmen die Winde des Karma die essentielle Natur nichtkongruenter beeinflussender Variablen an, die Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage des konventionellen „Ichs“ sind, welches seinerseits ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des Geistes des klaren Lichtes und seines subtilsten Energiewindes ist.

Top