Man hat mich gebeten, heute Abend über das Thema Karma zu sprechen, insbesondere mit Bezug auf das Thema „Freier Wille im Vergleich zum Determinismus“. Determinismus ist die Lehre bzw. Auffassung von der kausalen Vorbestimmtheit allen Geschehens oder Handelns; Anm. des Lektors Wenn wir dieses Thema „freier Wille kontra Determinismus“ erörtern, hat das offensichtlich mit dem Thema von Ursache und Wirkung zu tun und zwar insbesondere mit der verhaltensbezogenen Ursache und Wirkung (also dem Aspekt von Ursache und Wirkung, der sich auf unser Verhalten bezieht). Denn beim Thema Karma geht es um eben diese verhaltensbedingte Ursache und Wirkung, und nicht einfach nur um Ursache und Wirkung in dem Sinne, dass Flüssigkeit aus einer Flasche herausfließt, wenn wir die Flasche herumdrehen.
Wenn wir das Thema Karma hier erörtern, so möchte ich es auf eine ziemlich einfache Weise präsentieren, obwohl es sich dabei um ein sehr komplexes Thema handelt. Vereinfacht können wir von karmischen Handlungen und karmischen Hinterlassenschaften (bzw. Nachwirkungen) in unserem Geisteskontinuum sprechen, die aus diesen karmischen Handlungen heraus resultieren. Und obwohl es viele verschiedene Aspekte dieser karmischen Hinterlassenschaften gibt, wollen wir uns hier auf eine schlichte Erörterung des Begriffs „karmische Tendenz“ begrenzen. Der Begriff „karmische Tendenz“ wird normalerweise als „Same“ übersetzt, aber der Begriff „Same“ ergibt in diesem Kontext wirklich nicht viel Sinn. Und dann haben wir den Begriff der „karmischen Wirkung“. Wir wollen uns also, wenn wir dieses Thema vom Standpunkt von Ursache und Wirkung aus betrachten, auf die karmischen Tendenzen als Ursache und auf die karmische Wirkung als Resultat beschränken. Wir reden also einfach nur über die Tendenzen und Wirkungen als Ursache und Wirkung.
Die Frage ist dann: „Haben wir eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Wirkung, die wir erfahren werden?“ Das wäre das Extrem des freien Willens. Oder wir fragen uns: „Gibt es Gewissheit darüber, was wir als Wirkung erfahren werden?“ Und wenn wir darüber Gewissheit haben, bedeutet dies dann, dass feststeht, was zukünftig geschehen wird? Dies sind also die grundlegenden Fragen, mit denen wir uns hier nun befassen wollen: Haben wir eine Wahlmöglichkeit in Bezug auf die Wirkung oder steht die Wirkung schon fest?
Existierende und nicht-existierende Phänomene
Um diese Frage zu prüfen, müssen wir uns näher ansehen, was wir im Buddhismus unter einem existierenden Phänomen und einem nicht-existierenden Phänomen verstehen. Existierende Phänomene sind Objekte, die gültig wahrgenommen werden können, beziehungsweise gültig erkannt werden können. „Gültige wahrnehmen (bzw. erkennen)“ – dies ist das wichtigste Wort in dieser Definition. „Gültig“ bedeutet nicht nur, dass wir etwas mit Gewissheit feststellen, „gültig wahrnehmen“ bedeutet, dass wir etwas korrekt und mit Gewissheit erkennen. Tatsächlich bedeutet „gültig“ nur korrekt/richtig. Und ein nicht-existierendes Phänomen – ein Schildkrötenhaar zum Beispiel – kann ein Objekt der Wahrnehmung, aber kein Objekt der gültigen Wahrnehmung (gültigen Erkenntnis) sein. Daher ist ein Schildkrötenhaar ein nicht-existierendes Phänomen.
Auf diese Weise sind „existierend“ („existent“) und „nicht-existierend“ („nicht-existent“) im Buddhismus in Bezug auf ein Bewusstsein definiert, welches das Objekt wahrnehmen bzw. erkennen kann. Daher müssen wir, wenn wir über Ursachen und Wirkungen sprechen, insbesondere über karmische Ursachen und Wirkungen reden. Dann müssen wir bezüglich der Wirkung, die karmische Wirkung kennen und etwas über den ganzen damit verbundenen Prozess wissen – wir müssen also wissen, was ein existierendes Phänomen ist und was ein nicht-existierendes Phänomen ist.
Mit anderen Worten: Wir können uns vorstellen, dass das, was sich ereignet, vollständig auf freiem Willen beruht, oder wir könnten uns vorstellen, dass das Geschehen vollständig festgelegt ist. Aber dann stellt sich die Frage: „Ist das eine gültige Wahrnehmung des Geschehens?“, was bedeuten würde, dass das Geschehen existent ist, dass es sich also tatsächlich ereignet? „Oder ist es nicht-existent?“ Mit anderen Worten: „Ist das keine korrekte Wahrnehmung?“ Anders ausgedrückt: Wenn wir entweder denken, dass wir einen vollkommen freien Willen haben oder aber, wenn wir denken, dass es vollkommenen Determinismus gibt, ist das dann eine korrekte Wahrnehmung oder nicht? Bezieht es sich auf etwas, das existiert, oder auf etwas, das nicht existiert?
Falsche Vorstellungen vom freien Willen
Wir wollen uns jetzt einmal näher ansehen, was nicht-existent eigentlich heißt. Mit anderen Worten: Wenn wir Dinge als nichtexistent auffassen würden, so wäre dies nicht richtig. Eine Möglichkeit etwas in Bezug auf den freien Willen als nichtexistent aufzufassen wäre zu denken, dass es ein wahrhaft existierendes „Ich“ gäbe, das getrennt von wahrhaft existierenden Wahlmöglichkeiten existiert. Ein solches „Ich“ würde ganz für sich selbst, also getrennt von den wahrhaft existierenden Wahlmöglichkeiten existieren – das „Ich“ hier und diese „Wahlmöglichkeiten“ dort drüben, so als ob sich uns die Wahlmöglichkeiten wie auf einer Speisekarte präsentieren würden. Und dieses getrennt existierende, wahrhaft existierende „Ich“ könnte dann beispielsweise entscheiden, was zukünftig geschehen wird, oder was ich zum Abendessen essen werde. Ein solches „Ich“ und solche Art von Wahlmöglichkeiten existieren jedoch nicht. Das ist, worauf sich der Begriff „nicht-existierende Phänomene“ beziehen. Wir können das „Ich“ und die Wahlmöglichkeiten zwar in dieser Weise auffassen, aber dabei handelt es sich um eine falsche Auffassung.
Ich möchte an dieser Stelle das Thema Leerheit nicht ausführlich erörtern und auch nicht erörtern wie wahrhaft begründete Existenz widerlegt wird; das ist heute Abend nicht unser Thema. Es gibt keine Entität, die aus sich selbst heraus existiert. Es ist ausgeschlossen, dass etwas aus sich selbst heraus, also aus eigenen Kraft heraus seine Existenz begründet, unabhängig von allen anderen Phänomenen. Eine solche Existenzweise ist unmöglich.
Eine andere Variante von dem, was in Bezug auf den freien Willen nicht-existent ist, wäre nun, dass eine wahrhaft existierende Wirkung aus keiner Ursache heraus entstehen könnte. Das würde nämlich bedeuten, dass jedes beliebige Ereignis geschehen könnte. Ich könnte sonst beispielsweise einfach mit meinen Flügeln schlagen und zum Fenster hinausfliegen, wenn ich mich dafür entscheiden würde. Das ist also auch falsch; auch hierbei handelt es sich um einen nicht-existenten Vorgang. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass ich alles tun kann, was ich will, können wir doch ganz offensichtlich nur das tun, wofür wir im Vorfeld die Ursachen geschaffen haben. Aber dabei verhält es sich nicht so, als ob es ein „Ich“ gäbe, welches von den Ursachen getrennt ist, und ich würde einfach auswählen, welche der zahlreichen vorhandenen Ursachen ich zur Wirkung bringe möchte.
Falsche Vorstellungen vom Determinismus
Wie sieht es mit dem Extrem des Determinismus aus? Eine deterministische Erklärung wäre, dass ein wahrhaft existierendes außerhalb stehendes göttliches Wesen entschieden hat, was geschehen wird, oder dass ein solches göttliches Wesen bewirkt, dass bestimmte Dinge geschehen. Wenn wir die Dinge in dieser Weise auffassen, so handelt es sich dabei nicht um eine gültige Wahrnehmung. Die Einstellung: „Was geschieht, ist Gottes Wille“, ist von einem buddhistischen Standpunkt aus betrachtet, keine gültige Wahrnehmung; es handelt sich also um etwas Nicht-Existentes.
Die nächste Möglichkeit ist, dass ein wahrhaft existierende Wirkung zur Zeit der Ursache schon existieren würde, und dass die Wirkung tief in mir drinnen verborgen ist, also dort bereits in der Ursache verborgen schlummert und sich nur noch nicht manifestiert hat. Die Wirkung befindet sich bereits dort in der karmischen Tendenz, so als ob die Wirkung hinter einer Bühne sitzen würde und darauf warten würde, auf die Bühne zu treten und ihre Vorstellung zum Besten zu geben. Und danach würde die Wirkung dann wieder von der Bühne abgehen. Hierbei handelt es sich um die extreme Ansicht, dass die Wirkungen unserer Handlungen schon von vornherein feststeht. Aber wenn die Wirkung schon in der Ursache existieren würde, sich also schon vollständig in der Ursache befinden würde, wie könnte die Wirkung dann später erneut entstehen? Die Wirkung existiert ja gemäß dieser Sichtweise bereits in der Ursache. Wie könnte das Geschehen in Gang kommen, wenn es bereits im Gang ist? Auch eine solche Situation ist unmöglich.
Und die dritte Möglichkeit ist: Die Wirkung ist wahrhaft nicht-existent, bevor sie zustande kommt, und dann wird die Wirkung plötzlich wahrhaft existent, sobald sich die Wirkung entfaltet. Das würde besagen, dass ein Nichts zu einem Etwas wird. Aber wenn etwas wirklich ein Nichts ist, wie könnte es sich jemals ereignen? Daher kann es nicht sein, dass die Wirkung vorher vollständig und wahrhaft ein Nichts war, etwas das nicht existiert, und sich dann plötzlich als eine Wirkung entfaltet. Es könnte sich aus dem Zustand heraus Nichts zu sein, niemals in etwas anderes verwandeln.
Wir haben also all diese falschen Ansichten und müssen zu dem Schluss kommen, dass das, was sich tatsächlich in Bezug auf karmische Ursachen und Wirkungen ereignet, keines dieser beiden Extreme sein kann. Was bezüglich Ursache und Wirkung geschieht, ist keinem der zwei Extreme zuzuordnen, weder dem freien Willen noch dem Determinismus. Was existiert denn dann eigentlich? Und was könnte daher mit gültiger Wahrnehmung erkannt werden?
Gültige und ungültige Phänomene
Wir müssen jetzt eine andere Unterteilung vornehmen. Es gibt etwas, das als ein „gültiges Phänomen“ bezeichnet wird. Ein „gültiges Phänomen“ ist ein Phänomen, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit gültiger Wahrnehmung erkannt werden kann, und ein „ungültiges Phänomen“ ist ein Phänomen, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit gültiger Wahrnehmung erkannt werden kann. Solch ein Phänomen schließt sowohl existierende Phänomene als auch nicht-existierende Phänomene ein. So ist ein ungültiges existierendes Phänomen ein Phänomen, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich ein Objekt gültiger Wahrnehmung sein kann, aber es könnte zu einer anderen Zeit mit gültiger Wahrnehmung wahrgenommen werden. Ein ungültiges nicht-existierendes Phänomen ist ein Phänomen, das niemals ein Objekt gültiger Wahrnehmung sein kann, zu keinem Zeitpunkt – nicht nur jetzt nicht. Das wäre ein „niemals gültiges Phänomen“. In welcher Beziehung steht das nun zu Ursache und Wirkung? Welche Bedeutung hat dies hinsichtlich der drei Zeiten? Das ist unsere Fragestellung hier; es handelt sich dabei hier um eine sehr komplexe Frage.
Die drei Zeiten
Die ganze Art und Weise, wie wir uns die drei Zeiten vorstellen, ist in der westlichen und in der buddhistischen Denkweise sehr verschieden. Die westliche Denkweise behandelt Zeit in Bezug auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Das bezieht sich auf eine Abfolge der drei Zeiten aus der Perspektive der Gegenwart. Aus der Perspektive des gegenwärtigen Jahres 2009 bezieht sich zum Beispiel die Vergangenheit auf das letzte Jahr 2008, die Gegenwart auf das gegenwärtige Jahr 2009 und die Zukunft auf das kommende Jahr 2010.
In der buddhistischen Terminologie drücken wir Zeit anders aus. Wir würden vom Nicht-mehr-Stattfinden des Jahres 2008, dem gegenwärtigen Geschehen des Jahres 2009 und dem Noch-nicht-Stattfinden des Jahres 2010 sprechen. Also reden wir jetzt über drei verschiedene Jahre – 2008, 2009 und 2010. Aber was hier in unserer Erörterung der drei Zeiten im Buddhismus eine größere Rolle spielt, ist dass wir die drei Zeiten wie ein Objekt oder ein Ereignis betrachten – zum Beispiel betrachten wir das Jahr 2009 einmal bevor es geschieht, einmal während es stattfindet und einmal nachdem es stattgefunden hat. Diese Tatsache ist für die Erörterung der karmischen Wirkung relevant. Wie können wir etwas über die karmische Wirkung einer Handlung wissen, bevor sie sich ereignet, während sie sich ereignet oder nachdem die Handlung geschehen ist? Wie ist der Status der Wirkung bevor sie eintritt? Wie ist der Status der Wirkung, während sie geschieht? In welchem Zustand befindet sich die Wirkung, nachdem sie sich entfaltet hat? Wie erkennen wir die Wirkungen und was wissen wir über sie?
Wenn wir uns dies von einem westlichen Standpunkt aus ansehen, würden wir in westlicher Ausdrucksweise sagen, dass das Jahr 2009, bevor es sich ereignet, in der Zukunft liegt. Wenn das Jahr 2009 stattfindet, ist es in der Gegenwart. Nachdem das Jahr 2009 stattgefunden hat, liegt es in der Vergangenheit. Von einem buddhistischen Standpunkt aus sind die Zukunft, die Vergangenheit und die Gegenwart nun nicht wie drei verschiedene Zimmer, wobei sich das Jahr 2009 in diesen drei verschiedenen Zimmern zu verschiedenen Zeiten ereignet. Von einem buddhistischen Standpunkt ist es so nicht, dass sich das Jahr 2009 zuerst in der Zukunft befindet, dann macht das Jahr es sich in der Gegenwart bequem, und schließlich geht das Jahr vorüber und befindet sich dann in der Vergangenheit. So ist es nicht! Da wäre gemäß der buddhistischen Vorstellung nicht möglich. Es verhält sich nicht so, dass wir irgendwie in einem Raumschiff schneller als das Licht fliegen können und dann in einem Raum ankommen, der als Zukunft oder Vergangenheit bezeichnet wird, und wir dann dort sehen könnten, welche Wirkungen meine karmischen Handlungen haben werden.
In buddhistischer Begrifflichkeit werden die drei Zeitperspektiven folgendermaßen ausgedrückt: Das Noch-nicht-Stattfinden des Jahres 2009, das wäre ein gültiges Phänomen im Jahr 2008. Richtig? Im Jahr 2008 gibt es das noch-nicht-stattfindende Jahr 2009, nicht wahr? Es findet noch nicht statt. Das kommt daher, weil im Jahr 2008 das Jahr 2009 noch nicht stattfindet, was wiederum im Jahr 2009 oder im Jahr 2010 ein ungültiges Phänomen wäre. Weder im Jahr 2009 könnte man vom „noch-nicht-stattfindenden Jahr 2009“ sprechen, wenn wir das Jahr als Ganzes betrachten, noch im Jahr 2010. Wir könnten im Jahr 2010 „das noch-nicht-stattfindende Jahr 2009” nicht mit gültiger Wahrnehmung erkennen. Wir hätte es nicht verpassen können. Mit anderen Worten, das gegenwärtige Stattfinden des Jahres 2009 ist im Jahr 2008 ein ungültiges Phänomen, und auch im Jahr 2010 ein ungültiges Phänomen; es ist nur im Jahr 2009 ein gültiges Phänomen. Nur im Jahr 2009 kann „das gegenwärtig stattfindende Jahr 2009” tatsächlich erkannt werden. Und das Nicht-mehr-Stattfinden des Jahres 2009 ist im Jahr 2008 ein ungültiges Phänomen, und auch im Jahr 2009ungültig, es ist nur im Jahr 2010 ein gültiges Phänomen. So können wir verstehen, dass – wenn wir über ein Jahr reden – das „Noch-nicht-Stattfinden” usw. nur für einen bestimmten Zeitraum gültig ist. Das jetzt noch-nicht-stattfindende Jahr 2010 ist ein existierendes Phänomen und kann mit gültiger Wahrnehmung erkannt werden. Es kann jedoch nur für einen bestimmten Zeitraum mit gültiger Wahrnehmung erkannt werden: nämlich in dem Zeitraum vor dem Jahr.
Es gibt drei Dinge, die in diesem Kontext erörtert werden könnten. Wir wollen uns hier jedoch auf das Noch-nicht-Stattfinden, also auf die Zukunft konzentrieren, weil das unser Thema Determinismus betrifft. Haben wir einen freien Willen in Bezug darauf, was geschieht, oder steht die Zukunft bereits jetzt fest? Im Buddhismus machen wir hier einen Unterschied. Wir reden über drei verschiedene Dinge: Das Noch-nicht-Stattfinden des Jahres 2010, das noch-nicht-stattfindende Jahr 2010 und das Jahr 2010, welches noch nicht stattgefunden hat. Das sind drei verschiedene Dinge, ich will hier jedoch die Unterschiede zwischen diesen Dreien nicht zu sehr im Detail erläutern. Wenn wir in Bezug auf die Zukunft einmal betrachten, was die Wirkung sein wird, betrachten wir dann die Wirkung oder betrachten wir die Tatsache, dass die Wirkung noch nicht eingetreten ist? Was betrachten wir dabei eigentlich genau? Das sind verschiedene Fragen. Was ist das Wirkung, die noch nicht eingetreten ist? Will ich wissen, was die Wirkung ist, die noch nicht eingetreten ist? Oder will ich wissen, dass etwas noch nicht geschehen ist – will ich also das Noch-nicht-Stattfinden einer Wirkung näher betrachten? Es gibt hier folglich verschiedene Phänomene, die wir differenzieren können.
Der Unterschied zwischen diesen drei Dingen gleicht der Differenzierung der Zeit in westlichen Begriffen. Die drei Phänomene von einem westlichen Standpunkt aus betrachtet lassen sich wie folgt formulieren: die Zukunft eines Objekts, ein zukünftiges Objekt und ein Objekt, das in der Zukunft liegt. Man beachte, dass nur während der Zeitspanne des noch-nicht-stattfindenden Jahres 2010, also nur in dieser Zeitspanne vor Beginn des Jahres 2010, können das noch-nicht- stattfindende Jahr 2010 und das Jahr 2010, welches noch nicht stattgefunden hat, gültige Phänomene sein.
Das ist ein kleines bisschen kompliziert. Angenommen wir befinden uns jetzt im Jahr 2009. Das ist die Zeit des Noch-nicht- Stattfinden des Jahres 2010. Daher wäre es nur jetzt, in dieser Zeit vor Beginn des Jahres 2010 ein gültiges Phänomen, von dem noch-nicht-stattfindenden Jahr 2010 oder von dem Jahr 2010 zu reden, das noch nicht stattgefunden hat. Das können wir nur zu diesem Zeitpunkt gültig wissen, also vor einem gegenwärtig stattfindenden Jahr 2010.
Das Joghurt-Beispiel
Ein anderes Beispiel ist die Zeit des „noch-nicht-stattfindenden Joghurts“ zur Zeit der Milch. Nur zu dieser Zeit kann man den noch-nicht-stattfindenden Joghurt erkennen. Nun gibt es einen dem gesunden Menschenverstand gemäß identischen Joghurt, der von einem räumlichen Standort zu einem anderen gelangen kann. Der sich gegenwärtig auf dem Tisch befindliche Joghurt, und der sich gegenwärtig im Kühlschrank befindende Joghurt – man kann diese beiden Joghurts nicht zur selben Zeit wahrnehmen. Der Joghurt kann nicht an beiden Orten zur selben Zeit erscheinen. Ein Joghurt kann sich nicht zur selben Zeit gleichzeitig auf dem Tisch und im Kühlschrank befinden. Wir können lediglich hintereinander erst den Joghurt auf dem Tisch und dann den Joghurt im Kühlschrank gültig wahrnehmen – also wir können nur einen nach dem anderen wahrnehmen. So kann sich derselbe Joghurt an verschiedenen räumlichen Standorten befinden – derselbe gemäß dem allgemeinen Verständnis identische Joghurt.
Wir haben also diesen dem gesunden Menschenverstand gemäß identischen Joghurt, der von einem räumlichen Standort zu einem anderen gelangen kann. Dann stellt sich die Frage: „Können wir einen im allgemeinen Verständnis identischen Joghurt haben, der von einem zeitlichen Standort zu einem anderen zeitlichen Standort gelangt?“ Es gibt mit anderen Worten folgende zeitliche Abfolge: der noch-nicht-stattfindende Joghurt zur Zeit der Milch und der gegenwärtig stattfindende Joghurt zur Zeit des Joghurts und der nicht-mehr-stattfindende Joghurt zur Zeit des Käses. Bezieht sich dies auf zeitliche Koordinaten desselben Joghurts, während sich der Joghurt durch die Zeit bewegt? Haben diese Joghurts einen gemeinsamen Ort? Gibt es einen einzigen Joghurt, der das im allgemeinen Verständnis identische Objekt zur Zeit der Milch, zur Zeit des Joghurts und zur Zeit des Käses ist?
Aus Prasangika-Sicht, wie sie von der Gelug-Tradition erklärt wird, gibt es ein solches Phänomen nicht, nicht einmal konventionell. Es gibt nichts, das durch die drei Zeiten hindurch wandert, so als ob es sich auf einem Förderband befinden würde, das sich durch eine Halle bewegt. Gemäß dem gesunden Menschenverstand gibt es also keine konventionell existierende Wirkung, die sich durch die drei Zeiten hindurch bewegt. Es ist nicht so, dass es lediglich ein einziges Objekt gibt – nämlich die Wirkung. Und es ist nicht so, dass sich diese Wirkung lediglich jetzt noch nicht ereignet, dann stattfindet und später dann nicht mehr stattfindet. Die Wirkung ist nicht ein einziges, gemäß dem gesunden Menschenverstand identisches Objekt. Können Sie dem folgen?
Karmisches Wirkung
Was ist eigentlich ein karmisches Wirkung? Die noch-nicht-stattfindende Wirkung, die gegenwärtig stattfindende Wirkung, und auch die nicht-mehr-stattfindende Wirkung – die letztere wollen wir jetzt jedoch nicht erörtern. Belassen wir die Erörterung bei der noch-nicht-stattfindenden und bei der momentan-stattfindenden Wirkung. Wenn wir diese Wirkungen nun analysieren wollen, so ist das nicht so einfach, besonders wenn wir über karmische Ursachen und Wirkungen sprechen. Lassen Sie uns von der zeitlichen Abfolge sprechen, bei der jemand eine karmische Ursache schafft und dessen karmische Wirkungen erfährt.
Wir haben also eine verursachende Handlung. Wenn wir zum Beispiel jemanden im Zorn mit einem Gegenstand schlagen und als karmisches Wirkung erfahren, das uns dann gleichfalls jemand einen Tonkrug auf den Kopf schlägt, und wir zudem den Wunsch verspüren, die Person, die uns geschlagen hat, gleichfalls zu vermöbeln. Wir haben hier eine klassische Abfolge von karmischer Ursache und karmischer Wirkung. Was sind nun die karmischen Tendenzen, die aus dieser Handlung, die wir im Zorn begangen haben, folgen werden? Und zu welchen Wirkungen werden diese karmischen Tendenzen heranreifen? Die Wirkung, die wir hier erfahren, ist nicht einfach eine fest umrissene Sache, so dass sich nicht genau ablesen lässt, welche Wirkung aus welchen Ursachen heraus entsteht. Zunächst einmal haben wir das Hauptbewusstsein, das beim Erfahren einer Wirkung beteiligt ist, die ihrer Ursache ähnelt. Wir reden hier über das Körperbewusstsein der physischen Empfindung, die wir dabei haben, wenn uns jemand ein Tongefäß auf den Kopf haut. Auf den Kopf geschlagen zu werden, ist ein Wirkung, die dem ähnelt, dass wir früher selber jemand anderen in ähnlicher Weise geschlagen haben. Richtig? Ein Wirkung, die wir erfahren, ist also dieses Körperbewusstsein, welches zu der Zeit gegenwärtig ist, wenn wir die Erfahrung machen, geschlagen zu werden.
Ferner existiert in uns der Geistesfaktor, mit dem wir gerne eine Handlung begehen möchte oder uns wünschen eine bestimmte Handlung zu begehen, die derjenigen Handlung ähnelt, die wir zuvor begangen haben. Wir hegen beispielsweise den Wunsch, die Person, die uns mit einem Tontopf auf den Kopf geschlagen hat, gleichfalls zu schlagen oder ihr einen Blumentopf über den Kopf zu hauen. Dann gibt es das Augenbewusstsein, mit dem wir die Person sehen, die uns schlägt, während wir zurückschlagen wollen. Zudem erleben wir eine Gefühl von Glück oder Leiden, das dieses Hauptbewusstsein begleitet. Zudem bringen wir noch unseren menschlichen Körper und seine physischen Elemente mit in die Situation, aber nur in dem Zusammenhang, dass sie als physische Grundlage für das oben genannte Hauptbewusstsein und die Geistesfaktoren dienen. Und schließlich gibt es noch unser körperliche Sinnesempfindungen, die wir in dieser Situation und in diesem Zusammenhang erleben.
Wir können nun verstehen, dass es sehr viele Komponenten gibt, aus denen sich diese Wirkung zusammensetzt, nicht wahr? Das Bewusstsein, das Erblicken der anderen Person, wir fühlen, wie etwas auf unseren Kopf schlägt, wir empfinden Zorn. Zudem gibt es den Geistesfaktor, unser gegenüber nun gleichfalls schlagen zu wollen, und es ist Leid da, und es gibt wahrscheinlich auf beiden Seiten ein Empfinden von Zorn, und es gibt unseren Körper, der für dies alles die Grundlage bildet. Es gibt also all diese Dinge, die in der Situation zusammenwirken. Sie reifen jedoch nicht alle aus derselben karmischen Tendenz heran. Die Wirkung ist ein bestimmtes Geschehen. Dieses Geschehen setzt sich aus all diesen verschiedenen Teilen zusammen, die nicht alle aus derselben Ursache entstehen. Das Gefühl des Leidens in dieser Situation ist die Wirkung von unheilsamen Taten im Allgemeinen. Wenn wir Leid erfahren, stammt dieses folglich von irgendeiner karmischen Tendenz einer zuvor begangenen unheilsamen Handlung. Dieser menschlicher Körper, den ich erhalten habe, ist das Resultat einer karmischen Tendenz einer zuvor begangenen heilsamen Handlung. Und dann gibt es da noch diese anderen Phänomene, wie das Augenbewusstsein, sowie der Wunsch, die andere Person jetzt gleichfalls verprügeln zu wollen usw. – all diese Phänomene entstehen aus den Tendenzen dieser speziellen unheilsamen Handlung, dass wir jemand anderen geschlagen haben.
Neben den karmischen Tendenzen gibt es noch einige andere Arten von Tendenzen. Es gibt Tendenzen für die Geistesfaktoren wie Zorn. Und aus dieser Neigung zum Zorn heraus entsteht der Zorn, der dieses Geschehen, dieses resultierende Ereignis begleitet. Aus dieser Neigung heraus entsteht also der Zorn; wobei es sich hier nicht um eine karmische Tendenz handelt, sondern um eine Neigung zu einer Unruhe-erzeugenden Emotion. Diese beiden Tendenzen, also diese karmischen Tendenzen und die Neigung zum Zorn, reifen nicht in Form physischer Phänomene heran. Mit anderen Worten: Sie reifen nicht zu einem Blumentopf heran, mit dem uns der andere Menschen dort auf den Kopf haut, obwohl dieser Blumentopf auch ein Teil des Geschehens ist, nicht wahr? Der Topf entsteht jedoch Kraft seiner eigenen Ursachen und Bedingungen. Die Ursachen und Bedingungen für das Entstehen eines Tongefäßes sind: Der ungebrannte Ton, der Brennofen, die Hitze des Ofens, die Töpferscheibe, der Töpfermeister selber, der den Ton töpfert usw. So kommt die Verbindung zwischen unserem Karma und dem Tongefäß lediglich im Kontext unserer Wahrnehmung einer physischen Empfindung zustande, wenn der Topf auf unserem Kopf zerbricht, bzw. im Kontext unseres Sehbewusstseins, wenn wir den Blumentopf erblicken, bevor er auf unserem Kopf niedergeht.
Und es gibt verschiedene karmische Ursachen im Geisteskontinuum der Person, die uns den Topf auf den Kopf schlägt. Diese karmischen Ursachen im Geisteskontinuum dieser Person sind dahin gehend gereift, dass sie uns schlagen wollte, und haben zu der Tat geführt, uns mit dem Tongefäß auf den Kopf zu schlagen. Das geschieht nicht aufgrund unseres eigenen Karmas, sondern es geschieht aufgrund des Karmas der anderen Person. Und obwohl unser Körper, dem von jemandem mit dem Tontopf auf den Kopf geschlagen wird, aus einer karmischen Tendenz gereift ist, und wir in diesem Moment, wenn wir geschlagen werden, diese physische Empfindung in Bezug auf unseren Körper erfahren, ploppte unser Körper nicht einfach als ein materielles Objekt aus der karmischen Tendenz in unser Geisteskontinuum hinein. Unser Körper hat viele andere Ursachen, wie beispielsweise das Sperma und das Ei von unseren Eltern, und auch die Gebärmutter unserer Mutter.
Nach dem Auftreten einer gegenwärtig stattfindenden karmischen Handlung haben wir also in unserem Geisteskontinuum ein Noch-nicht-Stattfinden der Wirkung. Aber was ist das Noch-nicht-Stattfinden der Wirkung? Ist es das Noch-nicht-Geschehen des Körperbewusstseins? Ist es das Noch-nicht-Geschehen des Leids oder des Schmerzes, den wir empfinden werden? Ist es das Noch-nicht-Geschehen des Zorns, den wir in uns spüren werden? Ist es das Noch-nicht-Geschehen des Tontopfes, mit dem wir geschlagen werden? Ist es das Noch-nicht-Geschehen unseres Körpers in dem Moment, wenn er von dem Gegenstand getroffen werden wird? Ist es das Noch-nicht-Geschehen der Person, die uns noch nicht mit dem Tontopf geschlagen hat, aber es tun wird? Und das Noch-nicht-Stattfinden des Körpers der anderen Person? Oder das Noch-nicht-Stattfinden der Handlung der Person, uns zu schlagen? Oder handelt es sich hier um das gesamte noch-nicht-stattfindende Ereignis, von jemandem mit einem Tontopf auf den Kopf geschlagen zu werden – als Ganzes mit all diesen Teilen betrachtet?
Wenn wir die Situation also analysieren: „Worüber reden wir, wenn wir über eine Zukunft reden?” Steht bereits jetzt fest, was geschehen wird, oder habe ich eine Wahlmöglichkeit? Da sind all diese verschiedenen Aspekte zu berücksichtigen, nicht wahr? Diese verschiedene Aspekte entstehen alle aus verschiedenen Ursachen. Selbst wenn wir zu dem Zeitpunkt, an dem sich eine zu einer Wirkung führende karmische Tendenz entfaltet, in der Lage sind, ein Wirkung, die noch nicht stattfindet, mit all diesen verschiedenen Bestandteilen zu erkennen, können wir zu diesem Zeitpunkt auch erkennen, dass ein Wirkung, die gegenwärtig geschieht, aus dieser karmischen Tendenz heraus entsteht?
Mit anderen Worten: Wenn wir ein Wirkung, die noch nicht stattfindet, mit all diesen verschiedenen Aspekten kennen würde, ist diese Wirkung, die noch nicht geschehen ist, ein gegenwärtig stattfindende Wirkung? Nein. Jetzt sitze ich hier auf diesem Stuhl. Ich habe jemandem in einem früheren Leben auf den Kopf geschlagen, und hier sitzt du nun heute neben mir mit einem Tontopf in deiner Hand, und jetzt nehme ich gültig wahr, dass mir gleich von diesem Menschen dort dieses Tongefäß auf den Kopf geschlagen wird. Ich kann das gültig erkennen. Also erkenne ich dieses noch-nicht-stattfindende Geschehen – ich erkenne somit die karmische Wirkung. Ich stelle mir vor, was gleich passieren wird; ich schlussfolgere es, und ich nehme an, dass es gleich geschehen wird. Vielleicht hält jemand die andere Person auf; ich weiß es nicht. Sie kennen diese Art von Beispielen: Jemand tritt Ihnen mit einem Messer oder einer Schusswaffe entgegen, und Sie stellen sich vor: „Jetzt bringt er mich gleich um.”
Ok, das ist ein noch-nicht-stattfindendes Ereignis, und ich nehme jetzt wahr, dass es gleich geschehen wird. Ob es geschehen wird oder nicht, ist etwas anderes. Weiß ich zu diesem Zeitpunkt, wenn ich an dieses noch nicht stattfindende Von-ihm-mit-dem-Topf-den-er-dort-hinter-seinem-Rücken-hält-geschlagen-Werden denke, mit gültiger Wahrnehmung, dass ich auf den Kopf geschlagen werde? Nein. Nicht einmal ein Buddha könnte das wissen, weil das ein ungültiges Phänomen ist. Ein solches Phänomen kann jetzt nicht erkannt werden. Es könnte dann erkannt werden, wenn es gegenwärtig geschieht. Aber dieses Ereignis sitzt nicht irgendwo und wartet darauf, auf die Bühne zu treten und zu geschehen. Und es ploppt nicht einfach aus dem Nichts hervor. Sie bekommen hier eine gewisse Vorstellung davon, warum die Unterscheidung in „gültig“ und „ungültig“ sehr wichtige ist. Ganz gleich ob wir es jetzt wahrnehmen können oder nicht. Vielleicht können wir es später wahrnehmen, aber nicht jetzt.
Gewissheit von Karma
Lassen Sie uns jetzt über den Faktor der Gewissheit von Karma reden. Karmische Impulse – ebenso wie karmische Ursachen – und deshalb auch die karmischen Tendenzen, können bezüglich des Zeitpunkts, wann sie eine gegenwärtig-stattfindende Wirkung hervorbringen, bestimmt oder unbestimmt sein. Es gibt Karma, das mit Sicherheit in diesem Leben heranreift, und es gibt solches Karma, das mit Sicherheit im nächsten Leben heranreifen wird, und es gibt auch Karma, das mit Sicherheit in irgendeinem anderen Leben danach heranreifen wird. Und es gibt Karma, bei dem es keine Gewissheit gibt, wann es reifen wird. Es gibt also eine Aufteilung, wie das Thema Karma dargestellt wird.
Und dann gibt es noch den Faktor der Gewissheit bzw. der Ungewissheit, ob es überhaupt zu einer gegenwärtig-stattfindenden Wirkung führen wird, denn es gibt bestimmtes Karma, das bereinigt werden kann, so dass es sein Wirkung nicht hervorbringen wird. Also es gibt keine Gewissheit, dass bestimmtes Karma eine bestimmte Wirkung wirklich hervorbringt. Obwohl es, wenn es tatsächlich sein Wirkung hervorbringt, beispielsweise gewiss sein wird, wann es diese Wirkung hervorbringen wird. Aber es gibt keine Erörterung des Themas der Gewissheit oder Ungewissheit in Bezug auf spezifische Details darüber, was die gegenwärtig stattfindende Wirkung sein wird, die eintreten wird.
Können Sie mir soweit folgen? Sie können das Noch-nicht-Stattfinden des Mittagessens gültig erkennen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie wissen, was es zum Mittagessen geben wird, aber Sie wissen, dass es jetzt noch nicht stattfindet. Das Noch-nicht-Stattfinden des Mittagessens – Wir müssen nicht die Einzelheiten kennen, aus denen sich das Mittagessen zusammensetzen wird, um zu wissen, dass das Mittagessen jetzt noch nicht stattfindet. Genauso verhält es sich mit der karmischen Wirkung: Sie wissen, dass die Wirkung jetzt noch nicht eintritt, aber es gibt keine Gewissheit darüber, was zukünftig geschehen wird. So werden die spezifischen Details und der Zeitpunkt der Entstehung der Wirkung von vielen Umständen beeinflusst, die alle variabel sind. Variablen sind beispielsweise, dass wir unsere Tat bereuen, oder aber, dass wir die Handlung noch einmal wiederholen. Es gibt sehr viele verschiedene Variablen, welche den Umfang von dem beeinflussen, was zu einer Wirkung heranreifen wird, und die auch den Zeitpunkt beeinflussen, wann die Wirkung heranreifen wird. Zudem beeinflussen die variabler Faktoren auch, ob überhaupt eine Wirkung auftreten wird oder nicht – das hängt wiederum davon ab, in welchem Umfang es zu einer Anwendung von Gegenmitteln kommt.
Es gibt zwar nur einige Varianten, aber es gibt einen weiten Bereich von dem, was insgesamt möglich ist. Dennoch nimmt das allwissende Bewusstsein eines Buddha in einem Moment alle Varianten gleichzeitig wahr. Ein Buddha nimmt wahr, was noch nicht geschieht, was gegenwärtig geschieht und was nicht mehr geschieht. Da stellt sich die Frage: Wenn ein Buddha eine karmische Tendenz im Geisteskontinuum von jemandem erkennt. Erinnern Sie sich bitte daran, dass es verschiedene Arten von Tendenzen gibt, die ein Ereignis entstehen lassen können. Wir wollen das hier jedoch beispielhaft vereinfachen. Betrachten wir hier einmal die karmische Tendenz oder einen Aspekt der Wirkung: Wenn ein Buddha also diese Tendenz oder Neigung erkennt, erkennt ein Buddha alle möglichen Wirkungen, die vielleicht im Allgemeinen geschehen könnten. Heißt das, dass ein Buddha nicht weiß, welches Ereignis im Einzelnen geschehen wird? Das ist nebenbei bemerkt nicht der Fall. Oder erkennt ein Buddha lediglich die eine Wirkung, die jetzt noch nicht geschieht, aber bestimmt geschehen wird? Oder nimmt ein Buddha all die Wirkungen wahr, die noch nicht eingetreten sind, die aber theoretisch eintreten können, aber die bestimmt nicht eintreten werden? Die Wirkungen könnten eintreten, aber sie tun es nicht. Und nimmt ein Buddha alle anderen Wirkungen wahr, die noch nicht eingetreten sind und die auch niemals eintreten können? Genau das ist der Fall; das ist das, was ein Buddha wahrnimmt.
Aber dabei handelt es sich jetzt um Determinismus. Deshalb müssen wir diese Aussage besser verstehen. Wenn wir also über eine karmische Tendenz reden, ist eine Facette bzw. ein Aspekt davon die Fähigkeit, ein Wirkung entstehen zu lassen, die noch nicht eingetreten ist. Die Frage ist: „Um welche Sache handelt es sich bei dem, was noch nicht eingetreten ist ?“ Was noch nicht geschieht, lässt ein Wirkung entstehen. Und wenn die Wirkung entsteht, wird es keine noch-nicht-stattfindende Wirkung sein, die jetzt entsteht. Es wird ein gegenwärtig-stattfindende Wirkung entstehen. Aber die karmische Tendenz hat die Fähigkeit, nicht nur eine einzige, feststehende Wirkung entstehen zu lassen, die gegenwärtig geschieht. Die karmische Tendenz hat die Fähigkeit, viele verschiedene Wirkungen hervorzubringen, die gegenwärtig geschehen. Dies wird durch die Tatsache deutlich, dass starke Reue die Fähigkeit der Tendenz beeinflussen kann, eine bestimmte Wirkung entstehen zu lassen, so dass die gegenwärtig-stattfindende Wirkung schwächer sein wird.
Wir haben also eine Tendenz, die viele verschiedene Facetten und Potenziale besitzt. Sie hat die Fähigkeit, diese eine Wirkung hervorzubringen; sie hat aber auch das Potenzial, jene Wirkung entstehen zu lassen, wie auch das Potenzial, eine noch ganz andere Wirkung hervorzubringen – je nachdem, welche anderen Umständen und welche anderen Ursachen und Bedingungen noch mit ins Spiel kommen. Die karmischen Tendenzen haben also sehr viele verschiedene Anlagen und Potenziale, und jede dieser Potenziale ist mit einer anderen Facette der karmischen Tendenz verbunden. Die karmische Tendenz lässt ihre gegenwärtig-stattfindende Wirkung vorläufig nicht entstehen, solange die Umstände für das Entstehen der Wirkung unvollständig sind. Wenn die Umstände nicht vollständig sind, entsteht diese Wirkung nicht – das bedeutet eine gegenwärtig-stattfindende Wirkung wird nicht hervorgebracht. Es ist dabei nicht so, dass die noch-nicht-stattfindende Wirkung hier irgendwo in der Tendenz drinnen sitzt und dann entstehen wird, hierher zu mir kommt und sich dann ereignet. Es geschieht etwas anderes.
Folglich gibt es also viele auch lediglich potenzielle, nie gegenwärtig werdende Wirkungen dieser karmischen Tendenz, die noch nicht geschehen, und bei all diesen handelt es sich um gültige Phänomene, weil sie zur Zeit der karmischen Tendenz mit gültiger Wahrnehmung erkannt werden können. Jetzt existiert in mir eine karmische Tendenz, und ich weiß, dass, solange die Wirkung noch nicht eingetreten ist, die karmische Tendenz zu dieser Wirkung heranreifen könnte. Wenn ich hingegen Gegenmittel anwende, wird die karmische Tendenz zu jener anderen Wirkungen heranreifen. Wenn ich die Tat aufgrund meiner Neigung wiederhole, wird die karmische Tendenz zu noch einer anderen Wirkung heranreifen. All diese verschiedenen Wirkungen kann ich gültig wahrnehmen. Diese Wirkungen ereignen sich alle noch nicht, weil die Umstände für ihr Auftreten noch nicht vollständig sind. Die tatsächliche gegenwärtig-stattfindende Wirkung, welche durch die karmische Tendenz ins Entstehen gebracht wird, hängt also von verschiedenen Umständen ab.
Ungewissheit
Solange diese Umstände unvollständig sind, ist es also ungewiss, was die gegenwärtig-stattfindende Wirkung tatsächlich sein wird. Was für eine Wirkung in Erscheinung treten wird, entscheidet sich in Abhängigkeit von den Umständen. Jetzt ist die Frage: „Ist es für jedes Lebewesen ungewiss, welche Wirkung eintreten wird ?“ Aus Sicht eines gewöhnlichen Wesen gibt es überhaupt keine Gewissheit darüber, welche Wirkung aus einer karmische Ursache und Tendenz reifen wird. Es gibt keine Gewissheit. Sie können lediglich vermuten, welche Wirkung sich aus unseren Handlungen ergeben wird. Wir wissen es nicht; aus unserer Sicht ist es ungewiss.
Arya-Bodhisattvas (Bodhisattvas auf dem Pfad der Heiligen), die sich irgendwo zwischen der ersten und zehnten Bhumi-Bewusstseins-Ebene befinden, haben nicht das allwissende Bewusstsein eines Buddha, aber sie besitzen erweiterte Wahrnehmungen, sprich außersinnliche Wahrnehmungen und Fähigkeiten. Solche Arya-Bodhisattvas sind beispielsweise in der Lage, die karmischen Tendenzen im Geisteskontinuum einer Person wahrzunehmen. Zudem können sie die verschiedenen Potenziale wahrnehmen, die jede Tendenz besitzt. Das heißt die Arya-Bodhisattvas können die verschiedenen möglichen Wirkungen wahrnehmen, die aus einer karmischen Tendenz entstehen können. Und sie können auch gültig einen gewissen Bereich von möglichen Wirkungen wahrnehmen, die noch nicht geschehen sind. Insofern hängt es davon ab, auf welcher Bhumi-Ebene sich ein Arya-Bodhisattva befindet. Es hängt demnach von der Art des Bhumi-Bewusstseins ab, wie viele Weltzeitalter ein Arya-Bodhisattva in die Vergangenheit zurückblicken bzw. in die Zukunft schauen kann; und es hängt auch von der Art des Bhumi-Bewusstseins ab, ob er mit Gewissheit wahrnehmen kann, welche Wirkungen heranreifen werden.
So haben die Arya-Bodhisattvas die Gewissheit darüber, welche Wirkung aus einer karmischen Ursache und Tendenz innerhalb einer gewissen Zeitspanne heranreifen wird, aber sie haben keine Gewissheit über diese Zeitspanne hinaus. Aber, wie wir gesehen haben, ist die gegenwärtig stattfindende Wirkung ein sehr komplexes Phänomen, dessen Geschehen von vielen verschiedenen Ursachen abhängt. Welche Wirkung sich zeigen wird, hängt unter anderem von folgenden Faktoren ab: Von den Tendenzen im Geisteskontinuum der einen Person, von all den anderen Menschen, die am Geschehen beteiligt sind, von deren Geisteskontinuum etc. – also von sehr vielen Dingen. Nur ein Buddha kann die gesamte, unendliche Zeitspanne wahrnehmen, die keinen Anfang und kein Ende hat.
Ein Buddha weiß daher genau, was aus jeder karmischen Tendenz im Geisteskontinuum jedes einzelnen Lebewesens heranreifen wird. Ein Buddha nimmt dabei allerdings die noch-nicht-stattfindende Wirkung wahr. Was ein Buddha weiß, bezieht sich auf einen Buddha, der jetzt existiert. Diese in Zukunft gegenwärtig-stattfindenden Wirkungen sind zu diesem Zeitpunkt ungültige Phänomene, sogar für einen Buddha. Sie treten jetzt nicht als Möglichkeit auf. Buddha weiß, dass es noch nicht geschieht. Es gibt eine Tendenz und sehr viele Potenziale dieser Tendenz, so auch die Möglichkeit, viele noch-nicht-stattfindende Wirkungen entstehen zu lassen. Und ein Buddha kennt all die Umstände, die vollständig sein werden, damit diese eine Wirkung heranreift. Und er weiß, dass die anderen möglichen Wirkungen nicht reifen werden, weil die Umstände nicht vollständig sein werden. Und er weiß dies, weil ein Buddha alles weiß, und alles wird diese eine Wirkung beeinflussen. Aber ein Buddha kennt nicht die in Zukunft gegenwärtig-stattfindende Wirkung, weil sie sich noch nicht ereignet.
Es ist ein kleines bisschen schwierig, dies wirklich zu verstehen. Es gibt eine Form eines noch-nicht-stattfindenden Ereignisses, das nur, – nun, in diesem Fall vom allwissenden Geist eines Buddhas erkannt werden kann, – aber im Allgemeinen einfach von einem geistigen Bewusstsein wahrgenommen werden kann, wie ein Traumbild. Aber es ist nicht etwas, dass man dort drüben sieht, wie in der Zukunft, weil es noch nicht geschieht. Daher gibt es vom Standpunkt eines Buddha Gewissheit darüber, was für ein Wirkung aus einer karmischen Ursache und karmischen Tendenz heranreifen wird. Aus Sicht eines gewöhnlichen Wesens gibt es keine Gewissheit darüber, was reifen wird.
Es gibt all diese Tendenzen, all diese Möglichkeiten und die vielen noch-nicht-stattfindenden Wirkungen. Aus Sicht eines gewöhnlichen Wesens, das all diese Variablen betrachtet, gibt es keine Gewissheit darüber, was geschehen wird. Aus Sicht eines Arya-Bodhisattva ist es gewiss, was innerhalb einer gewissen Zeitspanne geschehen wird, aber nicht darüber hinaus. Und vom Standpunkt eines Buddha aus betrachtet, der die gesamte, unendliche Zeitspanne wahrnehmen kann, ist es gewiss, was geschehen wird. Welche Sichtweise ist nun tatsächlich wahr? Alle diese Sichtweisen sind wahr, sie sind alle gültig; es handelt sich bei all diesen Sichtweisen um gültige Wahrnehmungen.
Von der Existenzform abhängige Wahrnehmung
Entsprechend müssen wir das Beispiel eines konventionell existierenden Phänomens heranziehen, das von Menschen als Joghurt, von den Geistern als Eiter und von den Göttern als Nektar wahrgenommen werden kann. Jede dieser drei Wahrnehmungen ist eine gültige Wahrnehmung in Bezug auf die jeweilige Art von Lebewesen. Die Existenz als Joghurt, die Existenz als Eiter und die Existenz als Nektar sind also nicht von der Seite des konventionell existierenden Objekts festgelegt, sondern sie entstehen abhängig davon, dass die Substanz ein Bezugsobjekt der gültigen geistigen Bezeichnung durch eine Gruppe von Lebewesen ist.
Können Sie mir folgen? Als ein Mensch – betrachte ich die Substanz, esse sie, und bezeichne sie als „Joghurt“. Und ich erlebe die Substanz als Joghurt. Was ist also der Joghurt? Er ist das Bezugsobjekt dieser Bezeichnung, also das, worauf sich diese Bezeichnung bezieht. Ein Geist macht das Gleiche mit der Substanz, betrachtet sie und erlebt sie als Eiter. Wodurch wird demnach festgelegt, dass es sich bei der Substanz um Eiter handelt? Der Eiter wird dadurch in seiner Existenz begründet, worauf sich die Bezeichnung „Eiter“ bezieht. Das Gleiche geschieht, wenn die Götter diese Substanz als Nektar wahrnehmen. Es ist auf der Seite des Objekts nicht irgendetwas aufzufinden, was die Substanz tatsächlich lediglich zu einer von diesen drei Substanzen machen würde oder was den Stoff von der Seite des Objekts her zu allen drei Substanzen machen würde. Diese Aussagen führen uns in die Diskussion über Leerheit. Das ist nicht so einfach zu verstehen. Und es gibt dort auf der Seite des Objekts auch nicht irgendetwas, das jedes Wesen unterschiedlich bezeichnen könnte.
Und genauso verhält es sich mit dieser karmischen Tendenz. Auf der Seite dieses Objekts bzw. dieser Tendenz existiert keine bestimmte Art Faktor, kein sogenannter „Faktor der Gewissheit“, den gewöhnliche Wesen dann aber als Ungewissheit erfahren. Welche Ausprägung hat dieser Gewissheitsfaktors? Der Gewissheitsfaktor ist gerade so stark ausgeprägt wie der Geschmacksfaktors dieses Objekts; beide Faktoren sind ganz ähnlich stark ausgeprägt. Für gewöhnliche Wesen ist die Ausprägung dieses Gewissheitsfaktors „ungewiss”. Für Aryas (Personen auf dem Pfad der Heiligkeit) ist er bis zu einem gewissen Grad „beschränkt gewiss”. Und für Buddhas ist dieser Faktor vollkommen gewiss. Es handelt sich um dieselbe Sache: Um Joghurt, Eiter und Nektar. Sie sehen, das Problem ist: Was als Wirkung heranreifen wird, hängt von sehr vielen Ursachen und Umständen ab. Gewöhnliche Wesen nehmen all diese Ursachen und Umständen nur in einem sehr beschränkten Ausmaß wahr. Aus diesem Grunde ist es ungewiss, was zukünftig geschehen wird. Ein Arya-Bodhisattva nimmt einige dieser Faktoren innerhalb einer begrenzten Zeitspanne wahr, aber nicht darüber hinaus. Aber ein Buddha nimmt alle Einflussfaktoren wahr; er nimmt also alles wahr, was die Situation beeinflussen wird.
Wahlmöglichkeit als bedingte Wahrnehmung
Der Gewissheitsfaktor ist davon abhängig, wie viele Umstände wir kennen. Der Gewissheitsfaktor ist allerdings nur eine von Außen angeheftete Benennung. Der Gewissheitsfaktor befindet sich nicht auf der Seite des Objekts. Weil gewöhnliche Wesen außerstande sind, ein signifikantes Ausmaß dieser Grundlage dafür, etwas als „gewiss“ zu benennen, zu erkennen – sie nehmen eben bei Weitem nicht alle Einflussfaktoren wahr – , ist es für sie ungewiss, was zukünftig geschehen wird. Weil gewöhnliche Wesen Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft erfahren, erleben sie folglich die Entscheidungen, die sie treffen, so als seien diese in Folge einer freier Wahlmöglichkeit entstanden. Sie haben das Gefühl von freier Wahl, weil sie das volle Ausmaß der Faktoren nicht wahrnehmen, die ihre sogenannte „Wahl“ beeinflussen. Trotzdem ist ihre Wahrnehmung von Wahlmöglichkeiten und Auswahlentscheidung für sie eine gültige Wahrnehmung, genauso wie ein Buddha „Gewissheit“ wahrnimmt, und diese Wahrnehmung für ihn eine gültige Wahrnehmung ist.
Für mich als ein gewöhnliches Wesen ist es eine gültige Wahrnehmung, dass es keine Gewissheit gibt. Ich weiß nicht, was als Nächstes oder in Zukunft geschehen wird. Dass ich dies nicht weiß, ist für mich eine gültige Wahrnehmung. Ich kenne nicht all die Umstände, die beeinflussen, was zukünftig geschehen wird, und so ist es für mich ungewiss, was geschehen wird, und das ist eine gültige Wahrnehmung. In eben dieser Weise erlebe ich die Situation. So erlebe ich zum Beispiel die Situation in einem Restaurant so, als ob ich die Wahl hätte, was ich zum Mittagessen zu mir nehmen möchte. Das ist meine Erfahrung. Wenn ich für mich erlebe, dass ich eine Wahl habe, so ist das für mich eine gültige Wahrnehmung, ebenso wie mein Erleben, dass dies hier vor mir Joghurt ist. Aber das leugnet nicht die Tatsache, dass es für die Wahrnehmung eines Buddha gewiss ist, was geschehen wird, – das ist eben eine gültige Wahrnehmung für einen Buddha.
Können Sie mir folgen? Also für mich ist es eine gültige Wahrnehmung, dass ich eine Wahlmöglichkeit habe, und für einen Buddha ist es eine gültige Wahrnehmung, was geschehen wird, also was für eine Auswahl ich treffen werde. Und beide Wahrnehmungen sind gültig. Was geschehen wird, ist offensichtlich zu diesem Zeitpunkt kein gegenwärtiges Geschehen. Und trotz der Tatsache, dass ein Buddha vollständige Gewissheit darüber hat, was die Wirkung aller kausalen Phänomene sein wird, macht dies die Aussage nicht ungültig, dass kausale Phänomene in der Lage sind, ganz verschiedene Wirkungen hervorzubringen, von denen manche jedoch nie eintreten werden.
Die Vielfalt potenzieller Wirkungen
Wenn hier einmal eine karmische Tendenz annehmen, so ist es völlig korrekt und entspricht gültiger Wahrnehmung, dass diese karmische Tendenz die Fähigkeit hat, sehr viele verschiedene Wirkungen hervorzubringen. Zudem haben wir die Tatsache, dass ein Buddha weiß, was geschehen wird, und dass er die Gewissheit darüber hat, welches der Potenziale zur Reife kommen wird, – obwohl ein Buddha Gewissheit darüber hat, welche der Anlagen reifen werden, steht das nicht der Tatsache entgegen, dass diese eine Tendenz hier all diese verschiedenen Anlagen in sich trägt. Diese anderen Anlagen werden sich nicht entfalten, aber diese Tendenz trägt dennoch all diese Anlagen in sich. Die anderen Anlagen werden kein Wirkung hervorbringen, aber die karmische Tendenz trägt all diese Potenziale in sich.
Was also das Karma betrifft, haben karmische Tendenzen in unserem Geisteskontinuum die Fähigkeit, eine Vielfalt von karmischen Wirkungen hervorzubringen. Bitte erinnern Sie sich daran, dass wir hier über die Tendenzen sprechen, zornig zu werden, über die Neigung, sich unglücklich zu fühlen, über die Möglichkeit, dass uns irgendetwas passieren könnte. Was ich sagen möchte ist, dass wir hier über all diese verschiedenen Tendenzen reden, oder über bestimmte Dinge, die uns zustoßen könnten, oder dass wir den Impuls verspüren, jemand anderem etwas zu Leide zu tun. All diese Tendenzen haben das Potenzial, eine Vielfalt von karmischen Wirkungen hervorzubringen, je nachdem, ob wir die Tat nochmals wiederholen oder nicht, oder ob wir die ursächliche Handlung bereuen, welche die Wirkungen entstehen ließ, oder ob wir Gegenmittel anwenden oder nicht.
Einflussnahme
Bevor wir Buddhas werden, können wir gültig wahrnehmen oder zumindest durch Vermutung wissen, dass diese Möglichkeiten existieren, und auf der Grundlage dieses Verständnisses haben wir die Wahl, wie wir handeln wollen. Auf diese Weise können wir beeinflussen, welche Wirkung aus diesen karmischen Tendenzen entstehen wird. Und daher können wir die Dinge beeinflussen: Wir wissen, dass dieses oder jenes geschehen wird, wenn ich eine negative Handlung nochmals wiederhole. Wenn wir die Handlung bereuen, wird jenes geschehen. Wenn ich die Gegenmittel anwende, die Vajrasattva-Praxis durchführe oder irgendwelche anderen Gegenmittel anwende, wird die Wirkung vielleicht überhaupt nicht eintreten. Wir können also gültig wissen oder zumindest vermuten, dass bestimmte Dinge geschehen werden. Wir wissen demnach nicht mit Gewissheit, was zukünftig geschehen wird – das ist für uns eine gültige Wahrnehmung. Aber wir wissen mit Sicherheit, dass wir das, was geschehen wird, beeinflussen können, – folglich können wir selber etwas dafür tun, welche Wirkung eintreten wird.
Aus unserer Perspektive haben wir eine Wahl. Das ist eine gültige Wahrnehmung. Aber weil unsere karmischen Tendenzen all diese Möglichkeiten in sich tragen, können wir beeinflussen, was diese Tendenzen wiederum an Wirkungen hervorbringen werden. Und weil all diese Potenziale, wie auch die Wahl, die wir treffen, auf früheren Ursachen basieren, die ein Buddha alle gültig wahrnehmen kann, sind sich die Buddhas gewiss, welche Wirkungen sich tatsächlich aus Handlungen ergeben werden. Es gibt all diese Tendenzen, es gibt all diese Möglichkeiten, und wir selber sind in der Lage, diese Tendenzen und Anlagen zu beeinflussen. Was auch immer wir auch tun, resultiert aus Ursachen, und ein Buddha kennt all die Ursachen. Aus diesem Grund ist es aus der Sicht eines Buddha gewiss, was zukünftig geschehen wird. Auf diese Weise können wir beschränkten Wesen die Zukunft beeinflussen, während Buddhas die Zukunft gültig wahrnehmen können, ohne dabei vorherzubestimmen, wie die Zukunft sein wird. Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Es ist nicht so, dass der Buddha entschieden hat, was in Zukunft geschehen wird. Es ist nicht so, dass die Wirkung schon in der Ursache existiert.
Auch wenn Sie es vielleicht nicht glauben, so handelt es sich hierbei um eine vereinfachte Form der Erörterung des Themas „Freier Wille versus Determinismus“. Es handelt sich dabei um ein sehr kompliziertes, schwieriges Thema, das schwierig zu erklären und schwierig zu verstehen ist, weil es von so vielen verschiedenen Dingen abhängt. Wir müssen all die verschiedenen Faktoren bezüglich Karma verstehen, wir müssen die Leerheit von Ursachen und Wirkungen verstehen, wir müssen das Konzept der mit dem Denken verbundene Benennung verstehen, wir müssen das buddhistische Denkmodell der drei Zeiten verstehen, wir müssen das buddhistische Denkmodell der gültigen Wahrnehmung verstehen. Und nur wenn wir all diese Themen als Grundlage für unsere Überlegungen verwenden, können wir das Thema unseres Seminars wirklich verstehen: „Handelt es sich bei dem, was geschieht, um freien Willen oder um Determinismus?“
Wir müssen also zwischen der Erklärung, die wir für das Geschehen haben und wie wir uns das Geschehen erklären unterscheiden, mit anderen Worten müssen wir zwischen dem differenzieren, was ich erlebe, und wie ich es erkläre. Wenn ich es auf eine bestimmte Weise erkläre oder verstehe, ist das korrekt oder falsch? Ist das, was geschieht, möglich oder unmöglich? Wir haben über existierende und nicht-existierende Phänomene gesprochen. Ich erlebe also, dass ich eine Wahl habe. Und wir haben verstanden, dass es für meine Art, die Dinge zu erleben, eine gültige Wahrnehmung ist. Von meinem Standpunkt aus betrachtet ist es eine gültige Wahrnehmung zu denken, ich hätte eine Wahlmöglichkeit. Aber was nicht-existent ist, was also keine gültige Wahrnehmung ist, ist, dass es hier drüben ein gesondert existierendes „Ich“ gibt und die verschiedenen Auswahlmöglichkeit befinden sich dort drüben völlig getrennt von mir, wie auf einer Speisekarte von der ich wählen kann. Das wäre unmöglich. So etwas gibt es nicht. So funktioniert es nicht.
Und es nicht ist so, dass das, was geschieht, aus überhaupt keiner Ursache heraus entsteht. Und wenn ich höre, dass ein Buddha weiß, was geschehen wird – also bereits jetzt mit Gewissheit die noch-nicht-stattfindende Wirkung wahrnimmt, obwohl diese Wirkung jetzt noch nicht geschieht. Das bedeutet nicht, dass der Buddha darüber entscheidet, was geschehen wird, und das, was geschehen wird, sich irgendwo in mir befände und darauf wartet zu geschehen, oder dass die Wirkung wahrhaft nicht-existent wäre, und dass plötzlich das Licht angehen würde und die Wirkung dann in diesem Augenblick zu existieren beginnen würde. Aber ein Buddha kannte die eintretende Wirkung bereits vorher. Was genau nimmt ein Buddha dann eigentlich wahr? Oder wusste ein Buddha nichts? Das wäre unwahrscheinlich. Folgendes grundlegende Verständnis können wir – so denke ich – aus diesem Vortrag mitnehmen: Dass es von meinem Standpunkt aus betrachtet korrekt ist, dass ich eine Wahl habe – das ist eine gültige Wahrnehmung – , und dass es ist vom Standpunkt eines Buddhas aus betrachtet korrekt ist, dass es gewiss sein wird, für welche Wahlmöglichkeit ich mich entscheiden werde, und dass dies nur in einer Weise geschehen kann, die möglich ist. Die zukünftige Wirkung entsteht in Abhängigkeit. Sie ist abhängig von geistiger Benennung und dem geistigen Horizont der Person, die die Wirkung wahrnimmt. Wovon die Wirkung besonders abhängt, ist die geistige Benennung. Vom Standpunkt eines Buddhas aus betrachtet wird das Geschehen geistig in dieser einen Weise benannt, und dabei handelt es sich um eine gültige Wahrnehmung. Für gewöhnliche Wesen wird die Wirkung geistig anders benannt, und das ist gleichfalls eine gültige Wahrnehmung. Warum ist das so? Weil jedes Bewusstsein sich auf einer anderen Entwicklungsstufe befindet und jedes Bewusstsein eine unterschiedliche Grundlage für die Benennung all der Faktoren kennt, die die Wirkung beeinflussen werden.
Das Wetter-Beispiel
Nehmen wir als Beispiel das Wetter, das ist ein sehr gutes Beispiel. Als gewöhnlicher Mensch, der einfach aus dem Fenster schaut, nehmen wir nur ein sehr beschränkten Umfang an Faktoren wahr, die das Wetter beeinflussen. Und wir lesen vielleicht in der Zeitung etwas darüber, wie das Wetter morgen werden soll. Das ist alles, was wir wissen. Auf der Grundlage dieser Informationen können wir vielleicht erraten, wie sich das Wetter entwickeln wird, aber es ist ziemlich ungewiss. Ich weiß nicht, wie das Wetter morgen sein wird. Aber es ist gewiss, dass morgen etwas geschehen wird, nicht wahr? Ich weiß, dass es morgen irgendeine Art von Wetter geben wird. Das Wetter von morgen findet jetzt noch nicht statt. Das morgige Wetter ereignet sich noch nicht. Aber es ist nicht so, dass wir momentan in England ein bestimmtes Wetter haben und dann kommt dieses Wetter hier rüber zu uns, oder? Und der Meteorologe – oder die Meteorologin, wenn Sie wollen – kennt noch einige weitere Faktoren, die das Wetter beeinflussen, aber auch seine/ihre Informationen sind ebenfalls begrenzt. Er kennt nicht jeden einzelnen Faktor, der das Wetter beeinflusst. Er hat ein kleines bisschen mehr Gewissheit über das, was in einem bestimmten Zeitraum geschehen wird, aber er hat keine Kenntnis über alle Wetterlagen, die sich in den nächsten hundert Jahren ereignen werden. Er hat zum Beispiel keine Gewissheit darüber, wie sich die globale Erwärmung entwickeln wird.
Aber ein Buddha würde all die Faktoren kennen, welche auf das Wetter und die globale Erwärmung einwirken. Und so würde ein Buddha mit Gewissheit wahrnehmen, was geschehen wird. Aber diese Zukunft hat sich bislang noch nicht ereignet, oder? Die Zukunft geschieht noch nicht jetzt. So ist es für mich eine gültige Wahrnehmung, dass die Zukunft ungewiss ist. Für mich ist es eine gültige Wahrnehmung. Ich weiß nicht, was geschehen wird, wie das Wetter morgen sein wird, ganz zu schweigen davon, wie sich das Klima in den nächsten hundert Jahren entwickeln wird. Und die Ungewissheit ist für mich gültig, weil mein Verstand sehr beschränkt ist. Was die sogenannten „Experten“ betrifft, raten sie manchmal ziemlich gut. Sie geben uns eine ziemlich gute Abschätzung von dem, wie sich die globalen Erwärmung entwickeln kann. Und das ist eine gültige Wahrnehmung von ihrem Standpunkt aus, auf Grundlage von ihrem Wissen – das ist der wichtige Punkt. Auf Grundlage der Informationsmenge, die sie jetzt zur Verfügung haben, sind die Schlussfolgerungen, zu denen sie kommen, korrekt.
Und so ist meine Ungewissheit darüber, was zukünftig geschehen wird, von meinem Standpunkt aus korrekt: Ich weiß es nicht. Wenn ich es vortäusche und sage: „Ich weiß, was geschehen wird“, so ist das falsch. Ich weiß es nicht. In Ordnung? Die Voraussage der Experten geschieht auf der Grundlage der Informationsmenge, die sie zur Zeit zur Verfügung haben, und ist somit gültig. Ein Buddha hingegen kennt alle Umstände. Die Experten kennen nicht alle Umstände. Ein Buddha kennt alle Umstände, daher ist für einen Buddha das, was geschehen wird, wirklich gewiss. Ein Buddha nimmt korrekt wahr, was geschehn wird. Und trotzdem ist es wahr, dass bei einer gegebenen gegenwärtigen Situation viele verschiedene Dinge geschehen können, aber nur eine der möglichen Zukünfte wird tatsächlich geschehen. Das ist gewiss. Wenn wir diese Vorgänge hier also am Ende des Vortages in dieser sehr einfachen Form zusammenfassen, so ist es das, worüber wir reden, wenn wir über die Zukunft sprechen. Ich denke, dass die globale Erwärmung ein sehr gutes Beispiel ist, mit dem wir uns in Bezug auf das Thema hier identifizieren können.
Fragen
...ist die Gültigkeit von irgendetwas nicht absolut, sondern nur relativ in Abhängigkeit von der Meinung einer Gruppe?
Richtig, die Wahrnehmung davon, was geschehen wird, ist nur gültig in Bezug auf oder relativ zu oder abhängig von der Konvention einer Gruppe, von ihrem jeweiligen Kenntnisstand.
Ja, dann ist meine Frage: Gibt es irgendetwas „Falsches“? Weil, wenn ich entsprechend meinem Wissen eine Meinung A habe und du hast entsprechend deinem Wissen eine Meinung B, wie können wir tatsächlich kommunizieren oder gibt es irgendetwas wie eine falsche Meinung?
Nun, gibt es irgendetwas wie eine falsche Ansicht? Natürlich. Es gibt eine direkte gültige Wahrnehmung: Ich schaue nach draußen, und ich sehe, dass es regnet. Das ist korrekt. Wenn ich nach draußen sehe und sage, dass es nicht regnet, wenn es regnet, so ist das eine falsch Ansicht. Also habe ich eine falsche Meinung.
Ok, klar, das ist ein einfaches …
Ok, das ist ein einfaches Beispiel. Dann gibt es noch Schlussfolgerungen, bzw. ein korrektes schlussfolgerndes Verständnis. Ich höre beispielsweise ein bestimmtes Geräusch auf dem Dach, und ich schließe daraus, dass es regnet. Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber ich ziehe aus den Geräuschen, die ich höre, Schlussfolgerungen. Es gibt verschiedene Arten etwas wahrzunehmen – einige Wahrnehmungen sind gültige Wahrnehmungen, einige sind ungültig. Wir können Vermutungen anstellen, die Vermutung kann auch richtig oder falsch sein – das ist eine weitere Variable. Die Experten können sich all die Daten ansehen, und die eine Person kommt zu einem richtigen Schluss, und eine andere Person kommt zu einem falschen Schluss. Und die anderen Leute überprüfen ihre Arbeit und sagen: „Schau her, du hast einen Fehler in der Berechnung gemacht, so dass du zu einer falschen Schlussfolgerung gekommen bist.“ Also ist die eine Schlussfolgerung richtig, die andere Schlussfolgerung falsch – die Plausibilitätsprüfung findet dabei jeweils auf der Grundlage der gültigen Gedanken anderer Menschen statt, die sich auf der gleichen Bewusstseinsebene befinden. Die Schlussfolgerung wird also von anderen Menschen bestätigt, die sich auf der gleichen Bewusstseinsebene befinden.
Unser Wissen ist so beschränkt …
Wenn unser Wissen beschränkt ist, wie können wir wissen, dass ein Buddha alles weiß, und wie können wir wissen, dass ein Buddha tatsächlich allwissend ist? Das ist keine Frage, die man mit nur wenigen Worten beantworten kann, leider. Wir müssen die Natur des Geistes erkennen und dass der Geist nicht von seiner eigenen Seite her befleckt oder beschränkt ist – inhärent ist, sollte ich sagen – und dass, ganz gleich welche Beschränkungen oder Befleckungen es auch geben mag, diese entfernt werden können. Weil alle Beschränkungen beseitigt werden können, ist es für jemanden möglich, allwissend zu werden. Um das besser zu verstehen, müssten wir die Natur des Geistes vollständig erörtern und analysieren. Dann gibt es auch die Argumentationskette, die darauf basiert, was der Buddha über verborgene Phänomen wie Leerheit gesagt hat. Wenn wir dann darüber meditieren und die Natur des Geistes verstehen, und wir dann erfahren, dass wir vom Leiden befreit werden können – Sie begreifen dann also, dass wir uns von den Ursachen unserer Leiden vollständig befreien können – und wenn ein Buddha in der Lage war, sein hohes Niveau von auf Mitgefühl beruhender Weisheit zu erreichen, dann gibt es keinen Grund, warum der Buddha in Bezug auf äußerst verborgene Phänomene wie Karma und wie Ursache und Wirkung gelogen haben sollte. Um dies zu verstehen, können wir diese Argumentationsabfolge selber nachvollziehen, die der indische Meister Dignaga einst benutzt hat, um zu zeigen, dass es Allwissenheit gibt.
Es tut mir leid, dass ich Ihnen heute viel zum Verdauen mitgegeben habe, aber ich wurde darum gebeten, eine große Mahlzeit zu servieren. Ich denke, dass wir anhand der Beispiele von globaler Erwärmung und der Wettervorhersage beginnen können, dieses Thema ein bisschen zu verstehen. Wir wollen den Vortrag nun mit einer Widmung beenden. Was auch immer an Verständnis und an positiver Kraft durch das Nachdenken über dieses Thema entstanden sein mag, möge unser Verständnis tiefer und tiefer gehen, und als Ursache dafür wirken, zum Nutzen von allen Lebewesen die Erleuchtung zu erlangen, und möge unser tieferes Verständnis eine Ursache dafür sein, dass nicht nur ich meine eigene Erleuchtung erlangen möge, sondern dass jedes Lebewesen die Erleuchtung erlangen möge.