Warum sind wir nicht alle schon erleuchtet?

Samsara ist anfangslos und doch kann es ein erstes Mal geben, eine Bodhichitta-Ausrichtung zu entwickeln. Wie kommt es, dass dieses Streben nach dem Erlangen der Erleuchtung zum Wohle aller Wesen entsteht? Ist es eine Sache des freien Willens und entscheiden wir uns, nach Erleuchtung zu streben? Wird alles durch unser Karma vorherbestimmt und geschieht dies ganz mechanisch, sodass wir gar keine Wahl haben? Oder ist die Frage vielschichtiger?

Weder freier Wille noch Determinismus 

Weder durch freien Willen noch durch Determinismus lässt sich erklären, wie wir Entscheidungen treffen. Freier Wille setzt ein wahrhaft existierendes „Ich“ voraus, das unabhängig Entscheidungen treffen kann, ohne von Ursachen und Bedingungen beeinflusst zu werden. Es setzt zudem voraus, dass Entscheidungen unabhängig für sich existieren, wie Auswahlmöglichkeiten in einem Menü. Würde es solch ein „Ich“ geben, könnte es keine Entscheidungen treffen oder irgendetwas tun, denn es würde unabhängig für sich existieren, als wäre es in Plastik gehüllt.

Determinismus setzt voraus, dass das Resultat bereits wahrhaft existiert, in der Ursache zu finden ist und nur darauf wartet herauszukommen und sich zu manifestieren. Wäre das der Fall, würde das Resultat bereits erzeugt worden sein und könnte nicht mehr durch irgendwelche auftretenden Bedingungen beeinflusst werden. Darüber hinaus müsste etwas, das bereits entstanden ist, nicht erneut entstehen.

Diese letzte Widerlegung ist dieselbe, wenn das Resultat bereits, festgelegt zum Zeitpunkt der Ursache, wahrhaft existiert. Es wäre nicht nötig, es erneut hervorzubringen. Auf der anderen Seite könnte das Resultat nicht beginnen zu existieren, wenn es zum Zeitpunkt der Ursache völlig nicht existierend wäre. Ein wahrhaft existierendes „Nichts“ kann kein wahrhaft existierendes „Etwas“ werden.

Spielen also beim Treffen von Entscheidungen weder der freie Wille noch der Determinismus eine Rolle, läuft unsere Diskussion hier im Grunde auf eine Analyse hinaus, wie wir unsere Entscheidungen treffen, wenn wir uns beispielsweise entscheiden, erstmalig Bodhichitta zu entwickeln, also das Erlangen der Erleuchtung zum Wohle aller anzustreben und darauf hinzuarbeiten.

Warum sind alle bereits unsere Mütter gewesen, obwohl nicht alle bereits Erleuchtung erlangt haben? 

Dies würde ich gern in Bezug auf eine größere Frage analysieren: Wenn unsere geistigen Kontinua keinen Anfang haben und demzufolge jeder in einem früheren Leben bereits unsere Mutter gewesen ist, warum haben sich dann nicht alle bereits entschieden, Bodhichitta zu entwickeln und Erleuchtung zu erlangen?

Genau genommen müsste man fragen: Angesichts dessen, dass Zeit anfangslos, die Zahl der begrenzten Wesen beschränkt, jeder ebenbürtig ist und es schon immer Buddhas gab, warum haben dann nicht alle begrenzten Wesen bereits Befreiung und Erleuchtung erlangt?

Diese Situation ist eine ganz andere, als die Frage: Wenn Zeit anfangslos, die Zahl der begrenzten Wesen beschränkt und jeder ebenbürtig ist, warum waren dann alle Wesen irgendwann meine Mutter?

Warum alle Wesen unsere Mutter gewesen sind 

Was das betrifft, so gibt es keine anfangslose, sich gegenseitig ausschließende Gegenkraft, die jemanden davon abhält, meine Mutter zu sein. Nichts Anfangsloses muss überwunden werden, damit jemand meine Mutter sein kann. Darüber hinaus hatte ich in jedem Leben, in dem ich aus einem Mutterleib oder einem Ei geboren wurde, eine Mutter und somit hatte ich eine unendliche Anzahl von Müttern.

Der Prasanga-Beweis dazu lautet: wenn ein Wesen meine Mutter gewesen ist, sind alle bereits meine Mutter gewesen, denn jeder ist ebenbürtig und es muss keine anfangslose Gegenkraft überwunden werden, um meine Mutter zu sein. Wäre das nicht der Fall und würde ein Wesen nicht schon einmal meine Mutter gewesen sein, würde daraus die absurde Schlussfolgerung folgen, dass niemand jemals meine Mutter gewesen ist, einschließlich meiner Mutter in diesem Leben, denn jeder ist ebenbürtig und keine anfangslose Gegenkraft musste überwunden werden, um meine Mutter zu sein.

Warum jeder nicht bereits Erleuchtung erlangt hat 

Im Fall, dass jeder bereits Befreiung und Erleuchtung erlangt hat, verhält es sich anders. Hier gibt es sich gegenseitig ausschließende Gegenkräfte, die uns davon abhalten, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, nämlich mangelndes Gewahrsein (Unwissenheit) und das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz, sowie deren Tendenzen und ständige Gewohnheiten. Alle begrenzten Wesen gleichen sich darin, dieses mangelnde Gewahrsein und Greifen als Teil ihres anfangslosen Geisteskontinuums gehabt zu haben.

Allerdings stimmt es auch, dass alle begrenzten Wesen sich auch darin gleichen, als Teil ihres anfangslosen Geisteskontinuums, die Faktoren der Buddha-Natur gehabt zu haben, welche diesem mangelnden Gewahrsein und Greifen für immer ein Ende setzen können. Diese Faktoren umfassen ihre Netzwerke positiver Kraft (Ansammlung von Verdienst) und tiefen Gewahrseins (Ansammlung von Weisheit), sowie die tiefste Natur ihres Geistes, die Leerheit (Leere). Wird jedoch die anfangslose Kombination der zwei Netzwerke von anfangslosem mangelnden Gewahrsein und dem Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz begleitet, dienen sie als Ursachen für anfangslose samsarische Wiedergeburt. Das liegt daran, dass die Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins, wenn sie nicht von Entsagung oder Entsagung und Bodhichitta begleitet werden, Samsara-bildende Netzwerke sind.

[Siehe: Die zwei Sammlungen: Technische Darstellung]

Damit die zwei Samsara-bildenden Netzwerke Reines-bildende Netzwerke werden können, die zu Befreiung oder Erleuchtung führen, muss ein begrenztes Wesen erstmalig Entsagung oder Entsagung und Bodhichitta aufbauen und sie dann weiterentwickeln. Im Gegensatz dazu, meine Mutter zu werden, können Entsagung und Bodhichitta nicht natürlich auftreten, ohne die Inspiration und die Lehren eines Buddhas und ohne eigene Bemühung. Die Fähigkeit unseres Geisteskontinuums, inspiriert zu werden, sowie die anfangslosen Geistesfaktoren, durch die Bemühung möglich ist, sind Teil unserer Buddha-Natur, doch sie sind bedeckt durch anfangsloses mangelndes Gewahrsein und dem Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz.

Warum haben manche Wesen Bodhichitta erstmalig entwickelt und andere nicht? 

Gäbe es einen Anfang und würden sich am Anfang alle begrenzten Wesen darin gleichen, genauso starkes mangelndes Gewahrsein und Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz zu haben, wäre es schwierig zu erklären, warum sich diese beschränkte Zahl von begrenzten Wesen spirituell unterschiedlich entwickelt hat. Warum haben manche begrenzten Wesen erstmalig Entsagung und Bodhichitta entwickelt, sowie Befreiung und Erleuchtung erlangt, und andere nicht? Schließlich reicht ein korrektes unterscheidendes Gewahrsein der Leerheit, das zum Überwinden des mangelnden Gewahrseins und Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz notwendig ist, nicht einmal aus, um Erleuchtung zu erlangen. Die korrekte unterscheidende Wahrnehmung der Leerheit muss durch die Kraft von Bodhichitta getragen werden.

Da es jedoch keinen Anfang gibt, ist jedes begrenzte Wesen ein Individuum mit unterschiedlich ausgeprägtem mangelnden Gewahrsein und Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz, unterschiedlichen Ausprägungen der zwei Samsara-bildenden Netzwerke, unterschiedlichen Ausprägungen karmischer Hinterlassenschaft und Tendenzen störender Emotionen und Geisteshaltungen, sowie unterschiedlich starken Geistesfaktoren, die spirituelles Wachstum fördern, wie Konzentration und unterscheidendes Gewahrsein. Wegen diesen Unterschieden entwickeln manche begrenzten Wesen gelegentlich Entsagung und Bodhichitta. Damit das passieren kann, ist es allerdings notwendig, viel Samsara-bildende positive Kraft aufzubauen, bevor das Netzwerk positiver Kraft stark genug ist, um dazu heranzureifen, einem Buddha zu begegnen, Lehren zu empfangen, ihnen zu folgen und erstmalig Entsagung und Bodhichitta zu entwickeln. Dann braucht es drei Zillionen von Zeitaltern des Aufbauens positiver Kraft, um Erleuchtung zu erlangen. Doch auch nur einen positiven Gedanken zu haben, der nicht unter dem Einfluss störender Emotionen steht, ist äußerst selten.

Wie Shantideva in „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (I.5-6) schrieb:

So wie ein Blitz in einer dunklen, Wolken verhangenen Nacht für einen Augenblick lang alles hell erleuchtet, so erscheint durch die Macht der Buddhas in dieser Welt eine verdienstvolle Geisteshaltung nur selten und für sehr kurze Zeit.

Daher ist das konstruktive (Verhalten) stets schwach, wohingegen die negativen Kräfte extrem kraftvoll und äußerst unerträglich sind. Gibt es, abgesehen von einer vollständigen Bodhichitta-Ausrichtung, irgendetwas Konstruktives, das es vermag, diese (Kräfte) zu überstrahlen?

[Siehe: Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas, Kapitel 1]

Haben alle bereits Erleuchtung erlangt, ohne dass wir es erkennen? 

Hier mag ein Zweifel auftauchen. Vielleicht haben alle bereits Erleuchtung erlangt, aber wir erkennen es einfach nicht, wie wir auch nicht erkennen, dass alle bereits unsere Mutter gewesen sind, obwohl es tatsächlich so ist.

Was das betrifft, so findet der „Zustand, meine Mutter zu sein“ in Bezug auf alle anderen begrenzten Wesen, außer meiner Mutter in diesem Leben, wenn sie noch da ist, nicht länger statt. Der „Zustand der Erleuchtung“ findet jedoch weiter gegenwärtig statt, wenn er einmal erlangt wurde. Wenn also aufgrund anfangsloser Zeit jeder bereits Erleuchtung erlangt haben sollte, würde der „Zustand der Erleuchtung“ nach wie vor gegenwärtig stattfinden, auch mein eigener. Das wird jedoch durch die gültige Wahrnehmung zumindest meines eigenen Handelns, Sprechens und Denkens widerlegt. Ich bin nicht erleuchtet. Es lässt sich also nicht damit vergleichen, dass alle bereits meine Mutter gewesen sind, ich es jedoch nicht erkenne, weil sie es in diesem Leben nicht sind. Es ist nicht so, dass alle bereits Erleuchtung erlangt haben, ich es aber nicht erkenne, weil sie nicht in diesem Leben erleuchtet sind.

Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und die Rolle der positiven Kraft und der Gebete 

Nun können wir uns fragen: Wie kommt es, dass manche, aber nicht alle begrenzten Wesen genügend positive Kraft aufgebaut haben, einen Buddha zu treffen, Lehren zu empfangen, ihnen zu folgen und erstmalig Entsagung und Bodhichitta zu entwickeln? Welche Rolle hat hier das Treffen von Entscheidungen gespielt?

Um meine Mutter zu werden, war keine positive Kraft notwendig, noch war das Treffen von Entscheidungen daran beteiligt. Es geschieht einfach, dass jemand unsere Mutter wird, weil im Laufe unendlicher Zeit jeder mit jedem zusammenkommt. Das liegt daran, dass alle Wesen in dem Sinne ebenbürtig sind, samsarische Aktivitäten auszuführen und Wiedergeburten zu durchlaufen. Es ist wie mit dem Beispiel, in dem alle Staubteilchen im Raum in einem unbegrenzten Zeitraum zusammenstoßen werden, weil sich alle gleichermaßen in Bewegung befinden. Wir können es nicht damit vergleichen, in all unseren Leben dem Dharma zu begegnen, spirituelle Lehrer zu treffen und bei ihnen zu lernen, weil wir Gebete dargebracht und unsere positive Kraft gewidmet haben, damit dies geschieht. Niemand würde für gewöhnlich Gebete darbringen und die positive Kraft widmen, damit er oder sie in allen Leben als das Kind einer bestimmten Person wiedergeboren wird.

Auch wenn die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu der Schlussfolgerung führen, dass jeder irgendwann meine Mutter gewesen ist, führen sie nicht zu der Schlussfolgerung, dass jeder irgendwann einem Buddha begegnet ist. Warum nicht? Weil ein Ansammeln von positiver Kraft notwendig ist, um einem Buddha zu begegnen, Lehren zu erhalten und so weiter. Gäbe es einen Anfang, an dem das Netzwerk positiver Kraft von allen gleich ist, käme die gleiche Schlussfolgerung zur Geltung, die beweist, dass alle bereits meine Mutter waren. Hätte eine Person einen Buddha getroffen, wären alle einem begegnet und hätte eine Person keinen Buddha getroffen, wäre niemand jemals einem begegnet, einschließlich den persönlichen Schülern von Shakyamuni.

Da es jedoch keinen Anfang gab, war das Netzwerk positiver Kraft von allen immer unterschiedlich stark ausgeprägt. Aus diesem Grund haben nur manche begrenzten Wesen genügend positive Kraft aufgebaut, um einen Buddha zu treffen. Wir müssen eine kostbare menschliche Wiedergeburt erlangt haben. Haben wir daher, wie in den Lam-rim-Texten erklärt wird, genügend positive Kraft für das Erlangen einer vollkommen ausgestatteten kostbaren menschlichen Wiedergeburt aufgebaut, verfügen wir über die Arbeitsgrundlage zum erstmaligen Entwickeln von Entsagung und Bodhichitta sowie zum Fortsetzen unseres Weges zum Erlangen von Befreiung und Erleuchtung.

Zusammenfassung 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir alle gleichermaßen über Folgendes verfügen:

  1. anfangslose Faktoren der Buddha-Natur;
  2. anfangsloses mangelndes Gewahrsein gegenüber der Realität und Greifen nach wahrer Existenz; 
  3. anfangslose andere Geistesfaktoren, die wir in jedem Leben zusammen mit den fünf Aggregaten haben:
    1. neutrale, wie Drang, Absicht, geistiges Fixieren, unterscheidendes Gewahrsein;
    2. konstruktive, wie eine fürsorgliche Geisteshaltung (sich um seine Nachkommen zu kümmern);
    3. störende Emotionen und Geisteshaltungen, wie Wut, Gier und Anhaftung.

Es ist nicht so, dass ihr Wert irgendwo bei Null anfing, denn es gab keinen Anfang. Die Stärke von allen ist also in jedem Wesen immer anders.

Was brauchen wir, um die Entscheidung treffen zu können, auf die Erleuchtung hinzuarbeiten? 

Die nächste Frage ist: Wenn wir mit der Wahl konfrontiert werden, erstmalig Bodhichitta zu entwickeln oder nicht, wie treffen wir dann eine Entscheidung, wenn sie weder durch freien Willen noch Determinismus zu erklären ist?

Zunächst ist es so: Um überhaupt in der Lage zu sein, uns zu entscheiden, ob wir Erleuchtung anstreben wollen, um allen anderen bestmöglich von Nutzen zu sein, brauchen wir den zuversichtlichen Glauben an die Existenz der Qualitäten eines Buddhas, unsere Fähigkeit sie zu erlangen und ein Streben, sie selbst zu erlangen.

Um dies zu entwickeln, müssen wir auf die Lehren eines Buddhas treffen, an ihnen und einem Lehrer, einem Buddha der sie gelehrt hat, Interesse zeigen, also keine feindselige verzerrte Einstellung ihnen gegenüber haben. Außerdem benötigen wir Liebe und Mitgefühl, um anderen zu helfen, dies ebenfalls zu erlangen.

Zum Entwickeln dieser Dinge brauchen wir zumindest eine kostbare menschliche Wiedergeburt, damit die Lehren und Lehrer verfügbar und zugänglich sind – wir sind also ein menschliches Wesen, wir begegnen den Lehren und Lehrern, sind offen ihnen gegenüber und so weiter.

Die Ursachen für eine kostbare menschliche Wiedergeburt sind ethische Disziplin, Gebete und die anderen fünf weitreichenden Geisteshaltungen. Durch sie wird die positive karmische Kraft oder das Potenzial aufgebaut, eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen.

  • Ethische Disziplin bezieht sich auf das Unterlassen von schädlichem Verhalten beruhend auf unterscheidendem Gewahrsein gegenüber den Nachteilen schädlichen Verhaltens und den Vorteilen, es zu unterlassen.
  • Gemäß Vasubandhus „Schatzhaus spezieller Themen des Wissens (tib. Chos mngon-pa'i mdzod, Skt. Abhidharmakosha) bedeutet unterscheidendes Gewahrsein „intelligentes Gewahrsein“ (tib. blo-gros), das als der Geistesfaktor definiert wird, der entschieden festlegt, ob etwas korrekt ist oder nicht, ob etwas konstruktiv oder destruktiv ist, und so weiter. Er fügt dem Bestimmen eines Objektes der Wahrnehmung eine Ebene der Entschiedenheit hinzu – auch wenn diese Ebene äußerst schwach ist – und kann korrekt oder fehlerhaft sein.

Doch wir können solch ein unterscheidendes Gewahrsein (die Ursache für eine kostbare menschliche Wiedergeburt) nur während einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt entwickeln. Handelt es sich somit um einen kumulativen Prozess, dass wir um so mehr kostbare menschliche Wiedergeburten erlangen werden, je mehr unterscheidendes Gewahrsein wir aufbauen und desto mehr konstruktives Verhalten wir an den Tag legen? Wäre das der Fall, sollten wir aufgrund anfangsloser Wiedergeburten – mit Hinblick auf die drei zahllosen Weltalter des Aufbauens positiver Kraft – mittlerweile alle genug positive Kraft oder Potenzial aufgebaut haben, um Bodhichitta erstmalig zu entwickeln und Erleuchtung zu erlangen.

Warum haben wir nicht schon genug positive Kraft aufgebaut, um Bodhichitta zu entwickeln? 

Doch das ist nicht passiert. Warum nicht? Dafür gibt es folgende Gründe:

  • Mangelndes Gewahrsein gegenüber der Realität ist anfangslos und obgleich wir auch seit anfangsloser Zeit über den Geistesfaktor des unterscheidenden Gewahrseins verfügen, ist unser korrektes unterscheidendes Gewahrsein nicht anfangslos – wie das unterscheidende Gewahrsein gegenüber dem, was auf lange Sicht nützlich und was schädlich ist (nicht nur auf kurze Sicht, wenn wir instinktiv vor Gefahr davonlaufen), gegenüber der Leerheit oder gegenüber den vier edlen Wahrheiten. Es muss ebenfalls erstmalig entwickelt werden.
  • Wir können solche Arten des korrekten unterscheidenden Gewahrseins nur während einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt entwickeln.
  • Trotz anfangsloser Wiedergeburt ist die unbegrenzte Anzahl niederer Wiedergeburten, die wir hatten, weit größer, als die unbegrenzte Anzahl unserer kostbaren menschlichen Wiedergeburten. Haben wir beispielsweise für jede kostbare menschliche Wiedergeburt eine Million niederer Wiedergeburten, ist die unbegrenzte Anzahl von Wiedergeburten in niederen Bereichen, die wir hatten, größer, als die unbegrenzte Anzahl unserer kostbaren menschlichen Wiedergeburten. Sowohl laut westlicher als auch laut klassischer indischer Mathematik können Unendlichkeiten unterschiedlich groß sein.
  • Wir bauen negative karmische Kraft auf und stärken die Kraft unseres mangelnden Gewahrseins sowie unserer störenden Emotionen in all unseren Wiedergeburten, doch wir stärken unsere positive karmische Kraft und unser unterscheidendes Gewahrsein nur manchmal in manchen Wiedergeburten. Daher sind unsere negative karmische Kraft und unsere Unwissenheit viel stärker und hartnäckiger, als unsere positive karmische Kraft und unser korrektes unterscheidendes Gewahrsein.
  • Obwohl konstruktives Verhalten negative karmische Potenziale und destruktives Verhalten positive karmische Potenziale schwächen kann, schwächen wir ungeachtet dessen ständig unsere positiven karmischen Potenziale oder unsere positive karmische Kraft, da das Maß an unserem destruktiven Verhalten viel größer ist, als das Maß an unserem konstruktiven Verhalten.
  • Und obwohl negative und positive karmische Potenziale nicht weiter existieren, wenn sie einmal zur Reife gekommen sind, haben wir stets mehr negative karmische Potenziale als positive, da sie zahlenmäßig überlegen sind.

Wie können wir also unsere Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins stärken, damit wir durch sie unsere negativen Potenziale und unsere Unwissenheit überwinden können, um eine kostbare menschliche Wiedergeburt erlangen und erstmalig Entsagung und Bodhichitta entwickeln zu können? Können wir uns einfach aus freiem Willen dazu entscheiden, ist es festgelegt oder gibt es dafür eine andere Erklärung? Um dies zu analysieren, ist es notwendig, diese zwei Netzwerke genauer zu betrachten.

Die zwei Netzwerke 

Unsere Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins können entweder Samsara-bildend, Befreiungsbildend oder Erleuchtungsbildend sein, abhängig von der Motivation und der Widmung, mit denen wir sie aufbauen. Lasst uns unsere Diskussion jedoch nur auf Samsara-bildende und Erleuchtungsbildende positive Kraft begrenzen.

Wird unsere positive Kraft mit mühelosem Bodhichitta aufgebaut, kann sie nicht durch destruktives Verhalten geschwächt werden und erschöpft sich nicht. Sie reift immer weiter, bis hin zur Erleuchtung, heran. Müheloses Bodhichitta ist Bodhichitta, das entsteht, ohne es durch Schritte und Argumentationsketten aufbauen zu müssen und beispielsweise alle Wesen als unsere Mütter zu betrachten. Gemäß den Panchen-Lehrbüchern trifft dies auch zu, wenn unsere positive Kraft mit mühevollem Bodhichitta, Bodhichitta, das durch Schritte und Argumentationsketten entsteht, aufgebaut wird. Doch im Fall von mühevollem Bodhichitta ist es notwendig, die Geistesfaktoren eines jeden Schrittes zum Entwickeln von Bodhichitta zu erzeugen – Gleichmut, Liebe, Mitgefühl, der außergewöhnliche Entschluss und dann Bodhichitta. Auf der anderen Seite kann Samsara-bildende positive Kraft, wie eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu haben, beispielsweise durch Wut geschwächt werden.

Es ist also möglich, dass positive Kraft die negative Kraft besiegt, wenn diese positive Kraft Erleuchtungsbildend ist, denn positive Kraft, die mit echtem Bodhichitta (mühevollem oder mühelosem) aufgebaut wird, kann nicht geschwächt oder zerstört werden. Doch zunächst brauchen wir Samsara-bildende positive Kraft, um eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu erlangen; und nur in einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt können wir Ebenbild-Bodhichitta aufbauen, damit wir die Ebenbild-Erleuchtungsbildende positive Kraft erzeugen, die schließlich zu mühevollem und dann zu mühelosem Bodhichitta, sowie dem Aufbauen echter Erleuchtungsbildender positiver Kraft führen kann.

Die Rolle des Karmas 

Wo gibt es in dieser Analyse das Treffen von Entscheidungen und welche Rolle spielt Karma dabei? Wir sollten uns auch klar darüber sein, worauf sich Karma wirklich bezieht. Karma als etwas, das wir überwinden und loswerden wollen, bezieht sich nicht auf Handlungen, denn sonst müssten wir einfach nur damit aufhören, etwas zu tun, zu sagen oder zu denken, um Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen. Karma bedeutet Zwanghaftigkeit. Gemäß den Lehrsystemen des Sautrantika, Chittamatra und Svatantrika ist Karma der Geistesfaktor der Zwanghaftigkeit (tib. sems-pa, ein zwanghafter Drang), der uns antreibt, auf bestimmte Weise zu denken, zu sprechen oder zu handeln. Laut den Lehrsystemen des Vaibhashika und des Gelug-Prasangika ist Karma der Geistesfaktor der Zwanghaftigkeit, der uns lediglich antreibt, auf eine bestimmte Weise zu denken. Was das Handeln oder Sprechen betrifft, so ist Karma die zwanghafte Form, die unser Körper annimmt, wenn wir handeln, oder der zwanghafte Klang, den unsere Stimme annimmt, wenn wir sprechen, sowie die subtile zwanghafte Energie, die sie begleitet und sich danach weiter als Teil unseres Geisteskontinuums fortsetzt, solange wir den Wunsch nicht aufgeben, die Handlung zu wiederholen. Aus diesen Definitionen wird klar, dass Karma nicht „Handlungen“ bedeutet, obwohl die tibetische Übersetzung des Sanskrit-Wortes „karma“, „las“, das umgangssprachliche tibetische Wort für „Handlungen“ ist.

Die Analyse des Treffens der Entscheidung, destruktives Verhalten zu unterlassen 

Kommen wir zur Analyse: Um noch mehr Samsara-bildende positive Kraft aufzubauen, benötigen wir das korrekte unterscheidende Gewahrsein, um uns in Bezug auf das Unterlassen von destruktivem Verhalten zwischen zwei Gefühlen oder Wünschen, die auftauchen, zu entscheiden:

(1) dem Gefühl oder Wunsch, schädlich zu handeln, der aus einem negativen karmischen Potenzial heranreift und auftritt, bevor der Zwang (das Karma) entsteht, der uns antreibt zu denken, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen; und

(2) dem Gefühl oder Wunsch, konstruktiv zu handeln (also destruktives Handeln zu unterlassen), der aus einem positiven karmischen Potenzial heranreift.

Laut Vasubandhus „Schatzhaus spezieller Themen des Wissens ist dieser Wunsch (tib. ‘dod-pa) zu handeln oder es zu unterlassen gleichbedeutend mit einer Absicht (tib. ‘dun-pa), dem Geistesfaktor etwas zu tun, ein Objekt oder Ziel zu erreichen oder etwas mit diesem Objekt oder Ziel zu tun, wenn wir es erreicht haben.

Doch die Möglichkeit, diese Entscheidung zu treffen, wird nur da sein, wenn ein negatives karmisches Potenzial heranreift, den Wunsch des destruktiven Handelns hervorzubringen und auch ein positives karmisches Potenzial heranreift, den Wunsch hervorzubringen, destruktives Handeln zu unterlassen. Nur dann können wir unentschlossenes Schwanken zwischen den zwei Wünschen erleben. Negative und positive Potenziale reifen jedoch nur, wenn bestimmte Umstände vorhanden sind.

Damit negative Potenziale reifen können, gibt es folgende Umstände:

  • eine störende Emotion der Wut, der Gier oder der Anhaftung;
  • der negative Einfluss auf andere;
  • fehlerhafte Betrachtung (wie Leid als Glück anzusehen); oder
  • eine physische Situation (wie das Hungern, die Armut, und somit aus Not Nahrungsmittel zu stehlen).

Positives Potenzial wird heranreifen und das Unterlassen wird stattfinden, wenn wir:

  • einen konstruktiven Geistesfaktor der Loslösung, der Geduld, des Gleichmutes oder der Gelassenheit (nicht wütend zu werden) haben;
  • den möglichen positiven Einfluss auf andere haben;
  • Inspiration von den Buddhas und unseren Lehrern erfahren; 
  • achtsam sind – uns an ihre Lehren erinnern; oder
  • uns auf sie konzentrieren.

Es müssen also zahlreiche Umstände vorhanden sein, um in eine Situation zu kommen, in der wir uns entscheiden können, entweder destruktiv zu handeln oder es zu unterlassen, und jeder dieser Umstände entsteht durch seine eigenen Ursachen.

Doch sogar, wenn die Umstände da sind, wird das positive karmische Potenzial, wenn es zu schwach ist, nicht den Wunsch hervorbringen, destruktives Handeln zu unterlassen, wie es meist der Fall ist. Wenn der Wunsch, destruktiv zu handeln (wie jemanden anzuschreien) auftaucht und von einer störenden Emotion (Wut), einer fehlerhaften Betrachtung (zu meinen, es würde uns glücklich machen) oder ähnliches begleitet wird, entsteht neues Karma (neue Zwanghaftigkeit). Mit dieser Zwanghaftigkeit denken wir daran, jemanden anzuschreien und handeln dann mit einer zwanghaften Form unseres Körpers oder einem zwanghaften Klang unserer Stimme. Die ganze Abfolge tritt ohne Überlegung auf, einfach zwanghaft.

Entsteht also aus dem negativen karmischen Potenzial der Wunsch, jemanden anzuschreien, können wir nicht mit Bedacht die Handlung unterlassen, wenn nicht auch ein positives karmisches Potenzial den Wunsch hervorbringt, das Anschreien zu unterlassen. Zusätzlich dazu muss das positive Potenzial stark sein, damit der Wunsch stark ist und all die unterstützenden Umstände und Faktoren, den Wunsch in die Tat umzusetzen, wie Ausdauer, ethische Disziplin etc. müssen ebenfalls aus ihren Tendenzen hervorgegangen und stark sein.

Wir können allerdings nur positive karmische Potenziale haben, wenn wir sie durch das Unterlassen destruktiven Verhaltens aufgebaut haben. Und um das zu tun, müssen wir unterscheidendes Gewahrsein gehabt haben.

Da dieses unterscheidende Gewahrsein, das man zum Aufbauen positiver Kraft braucht, nur während einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt aufgebaut werden kann und wir positive karmische Kraft benötigen, um solch eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu bekommen, doch ständig unsere positive karmische Kraft durch Wut und dergleichen schwächen, ist es, als würden wir versuchen, einen Eimer mit Wasser zu füllen, der ein Loch hat. Das beschreibt Samsara und den Grund, warum alle Wesen noch keine Erleuchtung erlangt haben. Kurzum liegt es an Folgendem:

  • es müssen so viele positive Umstände zusammenkommen und sie sind nicht anfangslos;
  • die negativen Umstände entstehen aus anfangslosen Ursachen;
  • die negativen Ursachen schwächen oder zerstören fortwährend die positiven, die wir aufgebaut haben.

Warum Erleuchtung möglich ist 

Doch Erleuchtung ist möglich. Der Grund, warum sie überhaupt möglich ist, liegt darin, dass fehlerhaftes unterscheidendes Gewahrsein durch korrektes unterscheidendes Gewahrsein eingedämmt werden kann, doch korrektes unterscheidendes Gewahrsein nicht durch fehlerhaftes unterscheidendes Gewahrsein beeinträchtigt werden kann, wenn der Geistesfaktor der festen Überzeugung, also die Entschiedenheit, vorhanden ist.

  • Laut Asangas „Anthologie spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa kun-las btus-pa, Skt. Abhidharmasamuccaya) richtet sich feste Überzeugung (tib. mos-pa) auf eine Tatsache, die wir gültig als dies und nicht jenes festgestellt haben. Ihre Funktion liegt darin, unseren Glauben, dass eine Tatsache wahr ist (tib. dad-pa), so zu festigen, dass die Argumente oder Meinungen anderer uns nicht davon abbringen.

Wie entsteht nun eine Entscheidung, wenn man mit zwei auftretenden Gefühlen oder Wünschen konfrontiert wird – destruktiv zu handeln oder dies zu unterlassen? Wie entsteht sie, entweder beruhend auf Vermutung (wir vermuten, dass es besser ist, die Handlung zu unterlassen, aber sind nicht völlig überzeugt) oder beruhend auf gültiger Schlussfolgerung, gründend auf der Überzeugung, dass Buddha eine gültige Quelle der Information hinsichtlich karmischer Ursache und Wirkung ist? In beiden Fällen erleben wir das Auftreten einer Entscheidung, die als das „Treffen einer Entscheidung“ auftaucht, doch wie geschieht das?

Wie ist es möglich, eine Entscheidung zu treffen? 

Wie bereits besprochen, geschieht es nicht durch freien Willen, weil es kein unabhängig, wahrhaft existierendes „Ich“ gibt, das getrennt von diesen zwei Gefühlen (destruktiv zu handeln oder es zu unterlassen) und getrennt von dem unentschlossenen Schwanken existiert – die alle als Teil unserer fünf Aggregate entstehen. Andererseits ist es nicht festgelegt, weil wir der Grundlage dieser Abwesenheit einer gegenwärtig stattfindenden Entscheidung keine gegenwärtig stattfindende Entscheidung gültig zuschreiben können, auch wenn wir das Noch-nicht-Stattfinden einer Entscheidung auf der Grundlage der Abwesenheit einer gegenwärtig stattfindenden Entscheidung in unserem Geisteskontinuum gültig zuschreiben und wahrnehmen können. Eine gegenwärtig stattfindende Entscheidung kann also nicht innerhalb dieser Abwesenheit einer gegenwärtig stattfindenden Entscheidung in unserem Geisteskontinuum existieren, vorbestimmt und nur darauf wartend herauszukommen.

Wenn eine gegenwärtig stattfindende Entscheidung auftritt, bedeutet dies, dass wir eine Möglichkeit wahrnehmen, wie das Anschreien zu unterlassen, mit korrektem unterscheidenden Gewahrsein, dass diese Vorgehensweise nützlich ist. Optimalerweise beruht diese Unterscheidung darauf, die Möglichkeiten analysiert zu haben, und zwar mit den Geistesfaktoren des groben Feststellens (tib. rtog-pa), um die Situation grob zu prüfen, sowie jenen der subtilen Unterscheidungsfähigkeit (tib. dpyod-pa), um genaustens die Einzelheiten zu untersuchen. Diese Analyse kann nur stattfinden, wenn wir die Gewohnheit des Analysierens geschaffen haben, sodass diese Tendenz des Analysierens die Geistesfaktoren hervorbringt, die auf dem Vorhandensein verschiedener Bedingungen, wie Motivation, beruhen. Optimalerweise haben wir dann mit grobem Feststellen und subtilen Unterscheidungsvermögen die Bedingungen analysiert, welche diese zwei Wünsche hervorgebracht haben – jemanden anzuschreien oder es zu unterlassen. Anders ausgedrückt haben wir analysiert, warum wir das Gefühl haben, jemanden anzuschreien oder es zu unterlassen. Wir können auch analysieren, warum wir jemanden anschreien oder es unterlassen wollen, und warum wir jemanden anschreien oder es unterlassen müssen. Mit korrektem unterscheidenden Gewahrsein haben wir die Stärke und Gültigkeit all der Gründe dafür eingeschätzt und korrekt die Nachteile des Anschreiens und die Vorteile des Unterlassens festgestellt. Als Schlussfolgerung dieses Vorgangs findet die Entscheidung mit einem entstehenden Drang statt, der uns antreibt, das Anschreien zu unterlassen. Dieser Drang wird von dem korrekten unterscheidenden Gewahrsein der Vorteile dieser Handlungsweise begleitet. Er wird auch von den positiven Geistesfaktoren, wie die Vergegenwärtigung des Dharma, begleitet, welche das positive karmische Potenzial des Unterlassens dazu gebracht haben, heranzureifen. Subjektiv erleben wir diesen Vorgang als das Treffen einer Entscheidung.

Die Rolle der Willenskraft 

Wo steht die Willenskraft in dieser Analyse des Treffens einer Entscheidung? Die Willenskraft ist ein Teil der rüstungsgleichen Ausdauer, der Ausdauer, alle Schwierigkeiten, die beim Umsetzen unserer Entscheidung auftauchen mögen, zu ertragen. Ausdauer ist jedoch ein Komplex zahlreicher Komponenten. In „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (sPyod-’jug, Skt. Bodhicharyavatara), erklärt Shantideva sechs von ihnen:

  • Elan und Stärke, begleitet von einer festen Absicht, unsere Entscheidung umzusetzen;
  • Standhaftigkeit, um nicht von unserer Entscheidung abzulassen und Selbstachtung, mit der wir denken: „ich werde meine Entscheidung in die Tat umsetzen können“;
  • zufrieden und glücklich mit der Entscheidung zu sein, die wir treffen, denn sonst werden wir später darunter leiden und sie bedauern;
  • Loslassen, was sich in diesem Fall des Treffens einer Entscheidung darauf bezieht, uns nicht weiter mit der Entscheidung zu beschäftigen, nachdem wir sie getroffen haben, sondern damit, was als nächstes kommt;
  • die Schwierigkeiten bereitwillig in Kauf zu nehmen, die sich aus unserer Entscheidung ergeben mögen; sowie
  • sich selbst zu beherrschen, um Faulheit zu überwinden und sich zu entschließen, es zu tun.

In „Eine Anthologie spezieller Themen des Wissens“ erklärt Asanga fünf weitere Aspekte der Ausdauer:

  • rüstungsgleicher Mut, um Schwierigkeiten zu ertragen, den wir bekommen, wenn wir uns an die Freude erinnern, mit der wir unsere Entscheidung getroffen haben;
  • uns fortwährend und respektvoll der Aufgabe des Umsetzens unserer Entscheidung zu widmen;
  • uns niemals wegen unserer Entscheidung entmutigen oder verunsichern zu lassen;
  • niemals von ihr abzulassen; sowie
  • nie selbstzufrieden zu sein und beispielsweise zu meinen, es sei genug, einmal das Herumschreien zu unterlassen und sich nicht weiter in der Zukunft darin üben zu müssen.

All diese Faktoren und Aspekte der freudigen Ausdauer stehen miteinander in Wechselwirkung und geben dem Prozess des Treffens von Entscheidungen Kraft und Energie. Wir können das Netzwerk dieser Faktoren als „Willenskraft“ bezeichnen und wenn wir unser konventionelles „Ich“ dieser Willenskraft zuschreiben, erfahren wir das Stattfinden der Entscheidung des Unterlassens dieses Anschreiens als „ich habe die Entscheidung getroffen“. Und das ist eine korrekte geistige Bezeichnung. Niemand anderer hat die Entscheidung getroffen.

Doch wenn wir dieser Komplexität ein wahrhaft existierendes „Ich“ zuschreiben, glauben wir, dass wir die Entscheidung, nicht herumzuschreien, beruhend auf freiem Willen getroffen haben und es fühlt sich so an. Schreiben wir der unabhängig entstandenen Entscheidung, die stattgefunden hat, eine wahrhaft existierende „Entscheidung nicht zu schreien“ zu, glauben wir, dass die Entscheidung, nicht zu schreien, festgelegt war und es fühlt sich so an. Doch wenn wir das bloße konventionelle „Ich“ der Grundlage all der gegenwärtig stattfindenden fünf Aggregat-Faktoren unserer Erfahrung zuschreiben, die zum Treffen der Entscheidung, nicht zu schreien, dazugehören, und nicht nach der wahrhaft begründeten Existenz der drei so genannten beteiligten Kreise greifen – das „Ich“, die Entscheidung und das Treffen der Entscheidung – wird unsere Entscheidung auch von korrektem unterscheidenden Gewahrsein der Realität begleitet.

Abhängiges Entstehen 

Am Ende haben wir gesehen, dass das erstmalige Entwickeln von Bodhichitta abhängig von zahlreichen, ganz grundlegenden Faktoren und Bedingungen entsteht – einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt, dem Unterlassen von destruktivem Verhalten und all den Ursachen und Bedingungen für beides. All diese Faktoren und Bedingungen können in zwei zusammengefasst werden: positive Kraft und unterscheidendes Gewahrsein. Die Möglichkeiten, diese zwei zu entwickeln, gibt es nur in den seltenen Gelegenheiten, in denen wir eine kostbare menschliche Wiedergeburt erlangt haben. Daher ist es wesentlich, dass wir Nutzen aus der kostbaren menschlichen Wiedergeburt ziehen, die wir momentan haben, und sie einsetzen, um Bodhichitta, Erleuchtungsbildende positive Kraft und korrektes unterscheidendes Gewahrsein zu entwickeln.

Die Inspiration von den Buddhas kann nicht die Zwanghaftigkeit unseres Karmas überwinden. Das liegt daran, dass die Kraft des erleuchtenden Einflusses der Inspiration Buddhas und die Kraft der Zwanghaftigkeit unseres Karmas gleich sind. Unser anfangsloses mangelndes Gewahrsein und das Greifen nach wahrhaft begründeter Existenz machen ständig den Fortschritt zunichte, den wir erzielt haben. Wir benötigen Willenskraft, um die Zwanghaftigkeit negativen Karmas zu überwinden, damit wir mit korrektem unterscheidenden Gewahrsein die korrekten Entscheidungen treffen, die schließlich zum erstmaligen Entwickeln von Bodhichitta und dem Aufbauen Erleuchtungsbildender positiver Kraft führen, die nicht mehr erschöpft werden können. Willenskraft besteht aus einem Netzwerk vieler Faktoren und entsteht in Abhängigkeit zahlreicher Faktoren, die alle aus wieder anderen Ursachen und Bedingungen entstehen. Willenskraft ist genau deswegen frei von selbst-begründeter Existenz, weil sie in Abhängigkeit entsteht.

Die Wichtigkeit der Willenskraft 

Tsongkhapa betonte die Wichtigkeit der Willenskraft in „Eine umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“ (tib. Lam-rim chen-mo) in seiner Darstellung der vier Kräfte, mit denen wir erstmalig Bodhichitta entwickeln können. Es geschieht durch:

  • die Kraft unserer eigenen Stärke – durch unsere eigene Bemühung und Willenskraft;
  • die Kraft anderer – indem wir uns auf die Inspiration, Betreuung und Hilfe anderer stützen, wie der unserer spirituellen Lehrer und unserer spirituellen Gemeinschaft;
  • die Kraft einer Ursache – durch die Kraft der Vertrautheit mit den Mahayana-Lehren in früheren Leben, entstehen Neigungen für Bodhichitta, wenn wir einfach nur Preisungen der Buddhas und Bodhisattvas in diesem Leben hören;
  • die Kraft des Umsetzens – indem wir uns in diesem Leben langfristig an konstruktive Faktoren gewöhnen, wie sich einem spirituellen Lehrer anzuvertrauen und über den Dharma, den wir gehört haben, nachzudenken.

Tsongkhapa zitiert dann Asanga, der in „Bodhisattva-Stufen des Geistes“ (tib. Byang-chub sems-dpa'i sa, Skt. Bodhisattvabhumi) schrieb, dass die Entwicklung von Bodhichitta durch das Stützen auf unsere eigene Kraft oder die Kraft einer Ursache aus früheren Leben stetig sein wird, während sie nicht so stetig sein wird, wenn wir uns auf die Kraft anderer oder auf das Umsetzen in diesem Leben stützen.

Aus diesen Zitaten ist klar, dass die Willenskraft auch eine große Rolle beim Treffen einer Entscheidung des Unterlassens des Handelns spielt, wenn wir das Gefühl haben, etwas Destruktives tun zu wollen. Und wie wir auch gesehen haben, ist abhängig entstehendes Treffen von Entscheidungen beruhend auf abhängig entstehender Willenskraft weder ein Fall des freien Willens, noch Determinismus.

Kurzum haben noch nicht alle Erleuchtung erlangt, weil die Vielzahl von Entscheidungen, die notwendig sind, um erstmalig Bodhichitta zu entwickeln, nur durch abhängiges Entstehen auftreten. Würden sie durch freien Willen oder Determinismus auftreten, würde jeder bereits erleuchtet worden sein, doch sie sind es nicht. Die Antwort auf die Frage: „Wie entwickeln wir erstmalig Bodhichitta?“ lautet somit: „durch abhängiges Entstehen“.

Wenn die Zeit anfangslos ist, haben wir dann nicht Bodhichitta schon unzählige Male aufgegeben? 

Das „Blumengirlanden-Sutra“ (tib. mdo Phal-cher, Avatamsaka Sutra) spricht von Bodhisattvas, die erstmalig Bodhichitta hervorbringen und Haribhadra legt dies ebenfalls in seinem „Kommentar zum Klären der Bedeutung“ (tib. ‘Grel-ba don-gsal, Abhisamayalamkaravrtti Sputartha) dar, der ein Kommentar zu Maitreyas „Filigranschmuck der Verwirklichungen“ (tib. mNgon-rtogs rgyan, Abhisamaya-alamkara) ist. Doch angesichts anfangsloser Zeit sind wir vielleicht immer noch nicht zufrieden mit unserer Analyse. Schließlich haben wir in Anbetracht der anfangslosen Zeit nicht nur in der Vergangenheit unzählige Male Bodhichitta entwickelt, sondern Bodhichitta auch genauso unzählige Male aufgegeben. Obwohl wir also unsere Analyse nutzen können, um zu erklären, wie es möglich ist, Bodhichitta erstmalig zu entwickeln, würden wir sie anders einsetzen. Wir könnten akzeptieren, dass es für uns nie ein erstes Mal gab, Bodhichitta entwickelt zu haben, und uns in der Analyse stattdessen fragen, wie es möglich ist, Bodhichitta erstmals nicht aufzugeben. Diese Frage ist wahrscheinlich relevanter, was unsere Praxis betrifft.

Um Erleuchtung zu erlangen, dürfen wir Bodhichitta niemals aufgeben, das ist klar. Geben wir Bodhichitta auf, verlieren wir unsere Bodhisattva-Gelübde und erleben infolgedessen eine große Anzahl von Wiedergeburten in schlechteren Wiedergeburtszuständen. Dann werden wir unglaublich viel positive Kraft ansammeln müssen, um wieder eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu bekommen und sogar noch mehr positive Kraft, um Bodhichitta erneut zu entwickeln. Aus diesem Grund wird so eine große Betonung darauf gelegt, die Bodhisattva-Gelübde abzulegen und sie rein zu halten. Das erklärt, warum wir beim Ablegen dieser Gelübde versprechen, sie niemals aufzugeben, auch wenn unser Leben davon abhängt. Wie Atisha in seinem Werk „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ (tib. Lam-sgron, Bodhipathapradipa) betont, ist es für das Ablegen und Bewahren der Bodhisattva-Gelübde erforderlich, vorher die Laien- oder Ordensgelübde abzulegen und rein zu halten, und was die Pratimoksha-Gelübde betrifft, so benötigen wir einen spirituellen Meister und eine gute und gesunde Beziehung zu ihr oder ihm. Dafür sind gut qualifizierte Lehrer und förderliche Umstände nötig, sowie Entschlossenheit, innere Stärke, Selbstdisziplin und Willenskraft. 

Am Ende gilt es dann, unsere Analyse zu verfeinern. Hier geht es nicht einfach darum, wie es möglich ist Bodhichitta erstmalig zu entwickeln, sondern darum, wie es möglich ist, Bodhichitta das erste Mal so zu entwickeln, dass wir es nicht wieder aufgeben. Die Schlussfolgerung ist somit, dass wir in unserer Praxis die Betonung darauf legen sollten, Bodhichitta niemals aufzugeben und die Bodhisattva-Gelübde so rein wie möglich zu halten.

Top